Grün? Eine Typfrage Spitzenkandidatenkandidaten im Test ▶ Seite 13 AUSGABE BERLIN | NR. 10997 | 16. WOCHE | 38. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ DIENSTAG, 19. APRIL 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Vattenfall kauft sich raus BRAUNKOHLE Der schwedische Stromkonzern gibt seine Tagebaue in Ostdeutschland an einen tschechischen Konzern ab. Der bekommt dafür sogar 1,7 Milliarden Euro, damit er den ganzen Dreck wegräumt ▶ SEITE 2, 12 Unglück im Mittelmeer gemeldet Angeblich 400 bei Fahrt nach Italien ertrunken FLÜCHTLINGE ROM dpa/taz | Im Mittelmeer hat sich nach italienischen Angaben erneut eine Flüchtlingskatastrophe ereignet. „Es ist sicher, dass wir es genau ein Jahr nach der Tragödie in libyschen Gewässern wieder mit einer Tragödie zu tun haben“, sagte der italienische Außenminister Paolo Gentiloni am Montag am Rande eines EU-Ministertreffens in Luxemburg. Zuvor hatte der arabische Dienst des britischen Senders BBC gemeldet, bei der Katastrophe seien mehr als 400 Flüchtlinge ertrunken, die meisten von ihnen Somalier. Die BBC berief sich dabei auf Verwandte von Ertrunkenen und somalische Diplomaten in Kairo. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) und Ärzte ohne Grenzen konnten die Meldung nicht bestätigen. ▶ Ausland SEITE 10 THEATER Elfriede Jelineks „Wut“ karikiert Wutbürger, religiöse Radikalisierung und Polizeigewalt ▶ SEITE 16 COMIC Rodolphe Töpf- fers „Liebesabenteuer“ begeisterten schon Goethe ▶ SEITE 15 FRÜHLING Berlins Grün- flächenämter schaffen es nicht, die Parks zu reinigen ▶ SEITE 21 Foto oben: Xueh Magrini Troll Brasilien gegen Präsidentin VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! RIO DE JANEIRO epd/taz | Schwere Der nationalkonservative polnische Parteichef Jarosław Kaczyński hat Deutschland Demokratiedefizite vorgeworfen. Der Vorsitzende der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), der als starker Mann hinter der Regierung gilt, wies Kritik wegen demokratischer Missstände in seinem eigenen Land am Montag zurück. Allerdings gebe es in Deutschland „Probleme“. „Dort entstehen ernst zu nehmende Aktivitäten, die darauf hinweisen, dass die dortige Demokratie liquidiert wurde.“ verboten fühlt sich schon ganz erschossen und hat vor Schreck eine Kartoffel verschluckt. Blühende Landschaften? Bis der Braunkohletagebau Welzow in Brandenburg renaturiert ist, ist der Junge längst erwachsen Foto: Rene Zieger/Ostkreuz Niederlage für Brasiliens angeschlagene Präsidentin Dilma Rousseff: Das Parlament hat für die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen die 68-jährige Staats- und Regierungschefin gestimmt. Am Sonntagabend votierten nach einer 50-stündigen Marathonsitzung 367 von 513 Abgeordneten für Rousseffs Absetzung, weit mehr als die erforderlichen zwei Drittel. Ein Sturz der Präsidentin an der Spitze einer Mitte-Links-Regierung ist damit in greifbare Nähe gerückt. Einen Rücktritt lehnt Rousseff weiter ab. Das letzte Wort hat der Senat, in dem die die Mehrheit für die Opposition als sicher gilt. ▶ Schwerpunkt SEITE 3 ▶ Meinung + Diskussion SEITE 12 TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.765 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. 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Da ist er mal wieder, der beliebte NaziVergleich – schief und krumm, inhaltlich blödsinnig, geschichtsvergessen und politisch gefährlich. Mit kaum etwas anderem lässt sich der politische Gegner so nachhaltig diskreditieren. Und gleichzeitig kann man sich selbst in der Pose des Verfolgten darstellen. Es braucht nicht viel Verstand, um dieses Spiel zu durchschauen. Wer sich auch nur ein wenig mit der deutschen Vergangenheit beschäftigt hat, der weiß, wie sehr ein solcher Vergleich die jüdischen Opfer herabwürdigt. Sie werden als „Beweis“ für etwas instrumentalisiert, was nicht zu vergleichen ist. Denn der schäbige Subtext lautet: Wenn es mit den Juden damals so zuging wie heute mit den Muslimen, dann kann es ja alles nicht schlimm gewesen sein. Die Gleichsetzung ist zudem von keinerlei Sachkenntnis getrübt. Denn mit der NPD stand in der Parteiengeschichte der Bundesrepublik schon einmal eine Partei kurz vor dem Einzug in den Bundestag, die weiß Gott „eine Religionsgemeinschaft diskreditiert“. Und wer sich ein wenig mit politischer Psychologie auskennt, der kommt schnell darauf, dass eine solche Behauptung dazu führt, dass sich die in der Tat muslimfeindlichen AfD-Anhänger erst recht verfolgt und damit bestätigt fühlen werden. In diesem Fall haben sie damit sogar recht. Mit nichts anderem lässt sich der Gegner so nachhaltig diskreditieren Es taugt nicht als Rechtfertigung, dass auch andere Kleingeister Nazi-Vergleiche von sich gegeben haben, etwa der damalige Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller, der die angebliche Diskriminierung von Katholiken mit der Judenverfolgung gleichsetzte. Oder der Ökonom Hans-Werner Sinn, der sagte, 1929 „hat es die Juden getroffen, heute sind es die Manager“. Konsequenzen muss der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime indes nicht fürchten: Zumindest in diesem Fall werden Muslime wie Christen in Deutschland gleich behandelt – mit bemerkenswerter Nachsicht. Übrigens, nur so als Anregung: Sinn hat sich damals entschuldigt. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT Schwerpunkt DI ENSTAG, 19. APRI L 2016 Energie Vattenfall stößt sein deutsches Braunkohlegeschäft an den tschechischen Konzern EPH ab Viel Schotter für die Kohle LAUSITZ Rund 1,7 Milliarden Euro legt Vattenfall auf den Tisch, um die Braunkohle loszuwerden. Einer der Hunde: der Australische Cattle Dog „Jack“ Foto: dpa Spürnase gegen Wanzen W er an Gefährdungen im internationalen Luftverkehr denkt, hat wohl vor allem Terroristen und Kriminelle, technische Mängel und Wetterkapriolen im Kopf. Manchmal aber lauern Gesundheitsgefahren dort, wo die wenigsten Passagiere sie vermuten: in den Sitzbezügen. Hier verstecken sich hin und wieder Bettwanzen, die den Fluggästen das Blut aussaugen, starken Juckreiz bis hin zu Hautentzündungen hinterlassend. Dagegen geht nun die Frankfurter Flughafengesellschaft Fraport immer professioneller vor: mit dem Wanzenspürhund. Wie ein klassischer Drogenoder Sprengstoffspürhund schnüffelt auch der ausgebildete Wanzensucher in jeder Ritze des Flugzeugs herum, vor allem aber auf den Teppichen und Sitzen. Wird ein befallener Sitz identifiziert, kann der schnell entnommen und ausgetauscht werden. Drei Hunde sind in Frankfurt am Main bereits im Einsatz, ein vierter ist in Ausbildung. Die vier- bis sechsmonatige Ausbildung ist teuer; sie kostet etwa 10.000 Euro. Dennoch hat der Einsatz der Spürhunde Vorteile, denn im Unterschied zum klassischen Kammerjäger müssen keine Leisten abgeschraubt oder Teppiche herausgerissen werden, um die Plagegeister zu finden. Über mangelnde Nachfrage jedenfalls können sich die Hunde in Frankfurt nicht beklagen. „In Hotels gehen wir nur noch, wenn es die Auftragslage zulässt“, sagte Hundeführer Larry Hansen der Nachrichtenagentur dpa. Vor gut einem Jahr begann er am Frankfurter Flughafen damit, Wanzen mit Hilfe von Hunden aufzuspüren. Haus- und Bettwanzen verbreiten sich weltweit rasant. Sie sind in Hotels, Wohnungen, öffentlichen Verkehrsmitteln, Kinos und Theatern zu finden. Die extrem flachen und bis zu sechs Millimeter langen Insekten sind so etwas wie die Kehrseite der Globalisierung: Je mehr Geschäfts-, Pauschal- und Städtereisende um die Welt fliegen, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich irgendwo eine Wanze einfangen und diese am Körper oder im Gepäck in den nächsten Ort oder nach Hause bringen. Mit mangelnder Hygiene hat das übrigens nichts zu tun. RICHARD ROTHER Der Käufer EPH ist dafür bekannt, Energiefirmen günstig aufzukaufen, um dann Geld herauszuziehen VON BERNWARD JANZING Der schwedische Staatskonzern Vattenfall will seine Braunkohlesparte an den tschechischen Energiekonzern EPH und dessen Finanzpartner PPF Investments abstoßen. Das gab das Unternehmen gestern bekannt. Das Geschäft umfasst alle Kraftwerke und Tagebaue von Vattenfall in Deutschland mit zusammen 7.500 Mitarbeitern: Die Kraftwerke Jänschwalde, Boxberg, Schwarze Pumpe sowie den 50-Prozent-Anteil am Kraftwerk Lippendorf, außerdem die Tagebaue Jänschwalde, Nochten, Welzow-Süd, Reichwalde und den kürzlich ausgekohlten Tagebau Cottbus-Nord. Vattenfall hat dem Käufer konsortium Barmittel in Summe von umgerechnet rund 1,7 Milliarden Euro angeboten. Dafür wollen die beiden Unternehmen das Braunkohlegeschäft einschließlich aller Anlagen übernehmen sowie außerdem die Verbindlichkeiten und Rückstellungen, die sich für Rekultivierungen auf rund 2 Milliarden Euro belaufen. Vattenfall teilte mit, das Geschäft werde sich in der Konzernbilanz des 2. Quartals mit einem Verlust von rund 2,5 Milliarden Euro niederschlagen. Allerdings, so der Konzern, würden die negativen Auswirkungen auf die Bilanz noch größer ausfallen, würde Vattenfall die Braunkohlesparte behalten. Die Mitgift Vattenfalls liegt nicht weit entfernt von jenem Betrag, den Greenpeace im Herbst ausgerechnet hatte: Die Organisation hatte angeboten, bei Zahlung von 2 Milliarden Euro Vattenfalls Braunkohle zu übernehmen, wurde im Weiteren Verfahren aber nicht mehr zugelassen (siehe unten). Interesse gezeigt hatten auch das Stadtwerke-Konsortium Steag sowie der überwiegend staatseigene tschechische Energiekonzern CEZ, doch beide stiegen aus. Vattenfall teilte außerdem gestern einige Rahmenbedingungen mit: Während der ersten drei Jahre nach der Transaktion dürfen keine Dividenden an den neuen Eigentümer gezahlt oder Zentraler Akteur ist ein Unternehmer, der als reichster Mann Tschechiens gilt Urlaub mal anders: TouristInnen im Tagebau Welzow in der Lausitz Foto: Rene Zieger/Ostkreuz Klimakiller Nummer eins ■■Der Ausstoß: Braunkohlekraftwerke stoßen mehr klimaschädliches CO2 aus als jede andere Art der Stromerzeugung. Pro Kilowattstunde belaufen sich die Emissionen – je nach Qualität der Kohle und der Effizienz des Kraftwerks – auf 1.000 bis annähernd 1.200 Gramm CO2. ■■Die Kohle: Steinkohle liegt mit rund 800 Gramm etwas niedriger als Braunkohle, wobei man hier allerdings noch 100 bis 150 Gramm CO2 für die Bereitstellung des Brennstoffs ansetzen muss, weil Steinkohle oft weit transportiert wird. Die Braunkohle hingegen wird zwar in der Regel nahe der Lagerstätten verbrannt, dennoch bleibt sie in der Gesamtbilanz der CO2-trächtigste Energieträger. ■■Das Erdgas: Am günstigsten unter den fossilen Energien ist das Erdgas, das je nach Effizienz des Kraftwerks zwischen 350 und 500 Gramm CO2 je Kilowattstunde ausstößt, zuzüglich 50 bis 100 Gramm für die Bereitstellung des Brennstoffs. (bja) Zumindest die SPD ist zufrieden REAKTIONEN Klimaschützer üben scharfe Kritik am Braunkohleverkauf BERLIN taz | Die Landesregie- rung von Brandenburg hat mit Erleichterung auf die Entscheidung von Vattenfall reagiert, die Braunkohlesparte an die tschechische EPH-Gruppe zu übertragen. „Die monatelange Unsicherheit für die Braunkohlekumpel, ihre Familien und eine ganze Region hat damit ein Ende“, sagte Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) am Montag in Potsdam. Mit dieser Erkenntnis stand er allerdings ziemlich allein. Zum einen ist unklar, ob die Unsicherheit wirklich vorbei ist. Denn die Entscheidung muss noch vom schwedischen Staat gebilligt werden, und der will sich dafür nach eigenen Angaben mehrere Monate Zeit nehmen. Zum anderen gibt es bei anderen Akteuren wesentlich mehr Skepsis über die Absichten der Käufer. „Es wird deutlich, dass sie vor allem auf schnellen Profit aus sind“, meint etwa Annalena Baerbock, Grünen-Bundestagsabgeordnete aus Brandenburg. Der Konzern habe bereits in der Vergangenheit Kohlekraftwerke billig übernommen und später trotz Arbeitsplatzzusagen dichtgemacht. Auch die energiepolitische Sprecherin der Linken im Bundestag, Eva Bulling-Schröder, übt scharfe Kritik am angekündigten Verkauf: „Die Interessen der Lausitz drohen dabei hintenanzustehen“, sagte sie. Zudem drohe „das Abwälzen von Kosten auf die öffentliche Hand“. Auch Umweltverbände lehnen die Pläne von Vattenfall ab. Greenpeace-Aktivisten entrollten am Montag vor der Berliner Vattenfall-Zentrale ein Transparent mit der Aufschrift „Verantwortung kann man nicht verkaufen“. Die Umweltorganisation hatte selbst ein Ge- bot für Vattenfalls BraunkohleSparte abgegeben – mit dem Ziel, diese abzuwickeln. Das verlangt Greenpeace nun vom bisherigen Eigentümer selbst: „Vattenfall muss sein schmutziges Braunkohlegeschäft behalten und sozial- und umweltverträglich abwickeln“, sagte Sprecherin Kerstin Doerenbruch. Blockade an Pfingsten Das Aktionsbündnis „Ende Gelände“, das an Pfingsten eine Blockade des Braunkohletagebaus in der Lausitz plant, lehnt den Verkauf ebenfalls ab. Doch die Initiatoren stellen sich schon auf den neuen Eigentümer ein: „Jeder neuer Investor kauft den Widerstand der Klimabewegung mit ein“, kommentiert Hannah Eichberger von Ende Gelände. „Ob Vattenfall oder EPH, wir lassen nicht locker, bis der letzte Tagebau geschlossen ist.“ MALTE KREUTZFELDT Rückstellungen aufgelöst werden. In den folgenden zwei Jahren ist die Gewinnabschöpfung vertraglich auf eine betriebsübliche Rendite begrenzt. Ein unmittelbarer Kapitalabfluss soll so verhindert werden. Was nach diesen Fristen geschehen wird, ist schwer abschätzbar – denn die genauen Pläne der Investoren sind unklar. Schließlich sind die wirtschaftlichen Perspektiven der Branche angesichts des wachsenden öffentlichen Drucks auf die Braunkohle in Deutschland und der massiv gefallenen Strompreise im Großhandel eher bescheiden. Es liegt zumindest nahe, dass der Investor EPH (Energetický a prumyslový holding) auf Synergien hofft, nachdem er über seine Tochter EP Energy seit 2012 bereits alleiniger Gesellschafter der Mitteldeutschen Braunkohlengesellschaft mbH (Mibrag) ist. EPH ist bekannt dafür, Energiefirmen günstig aufzukaufen, um dann Geld herauszuziehen. Zentraler Akteur ist der Unternehmer Petr Kellner, der als reichster Mann Tschechiens gilt und Mehrheitseigner der PPF ist. Seine Geschäftsmethoden werden zuweilen als „knallhart“ beschrieben. Laut Medienberichten im Zusammenhang mit den jüngsten Enthüllungen der Panama-Papiere besitzen er und seine Frau mehrere Briefkastenfirmen auf den Britischen Jungferninseln. Obwohl Vattenfall sich nun mit dem Käufer-Konsortium geeinigt hat, ist das Geschäft noch nicht gesichert. Denn die schwedische Regierung als Eigner von Vattenfall muss es noch genehmigen. Und das könnte in Schweden zu einer öffentlichen Debatte führen. Denn es steht vor allem eine Frage im Raum: Will ein Staat, der mit dem Abschied von der Braunkohle klimapolitische Ziele verfolgt, ein Portfolio an einen Investor verkaufen, der das Geschäft unverändert weiterbetreibt? Meinung + Diskussion SEITE 12 Löcher in der Landschaft ■■Der Abbau: Das Lausitzer Braunkohlerevier im Südosten Brandenburgs und Nordosten Sachsens ist nach dem Rheinischen Kohlerevier die zweitgrößte Lagerstätte von Braunkohle in Deutschland. Abbau findet in Nochten, Reichwalde, WelzowSüd und Jänschwalde statt. ■■Die Region: Laut Kohlewirtschaft hat der Braunkohlebergbau in der Lausitz bereits 87.000 Hektar in Anspruch genommen. Die Region sei durch die Tagebaue „regelrecht durchlöchert“, beklagt die Umweltorganisation Greenpeace; es seien inzwischen 136 Orte abgebaggert und mehr als 27.000 Bewohner umgesiedelt worden. ■■Die Natur: Auch die Natur leidet darunter, dass die Landschaft ausgebaggert wird: Für den Abbau wird das Grundwasser massiv abgesenkt, Biotope vertrocknen. Auch besonders schützenswerte Flora-FaunaHabitat-Gebiete (FFH) hat der Kohlebergbau in der Lausitz schon zerstört. (bja) Schwerpunkt Brasilien DI ENSTAG, 19. APRI L 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Das Votum des Kongresses gegen die Präsidentin Rousseff treibt die Spaltung des Landes weiter. Ein Wechsel an der Spitze rückt näher Die Schlammschlacht der Volksvertreter KRISE Mehr als zwei Drittel der Abgeordneten stimmen für eine Absetzung der Präsidentin. Doch auch ihre Gegner gelten als korrupt VON ANDREAS BEHN RIO DE JANEIRO taz | Ein zwei Meter hoher Metallzaun soll die verfeindeten Lager vor dem Kongressgebäude in Brasília auseinanderhalten. Hunderttausende sind an diesem Sonntag gekommen, um auf ihrer Seite des Zauns entweder für oder gegen die Amtsenthebung von Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff zu demonstrieren. Die Spaltung im Land ist seit Monaten zu spüren. Vielen gilt die Mauer mitten im Regierungsviertel der Hauptstadt als Symbol der politischen Zukunft – jetzt, nachdem kaum noch jemand daran zweifelt, dass Präsidentin Rousseff und mit ihr die Arbeiterpartei PT aus dem Präsidentenpalast gedrängt wird. Weit über vier Stunden dauerte die Abstimmung im Parlament, die am Sonntagabend wie ein Fußballspiel live auf Großleinwänden im ganzen Land gezeigt wurde. Und so tumultuös und gefühlsgeladen wie beim Fußball lief auch die Sitzung ab. Kurz vor Ende jubelten die meist grün-gelb geschmückten Anhänger der Opposition: Mit 367 von 513 Stimmen stimmten deutlich mehr als die notwendigen zwei Drittel der Abgeordneten für die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens. Jetzt ist der Senat dran Das ist mehr als eine Vorentscheidung. Denn im Senat benötigt die Opposition jetzt nur eine einfache Mehrheit, dann muss Rousseff zunächst für 180 Tage ihr Amt ruhen lassen. Nach diesen sechs Monaten, in denen die Amtsenthebung erneut geprüft wird, muss der Senat erneut votieren und diesmal mit Zweidrittelmehrheit gegen die Präsidentin stimmen. Gespalten sind auch die ersten Reaktionen: Oppositionsführer Aécio Neves sprach von einem „Sieg der Demokratie“. Parlamentspräsident Eduardo Cunha, der das Verfahren im Dezember angestoßen hatte, erklärte, Brasilien sei in der Talsohle angelangt: „Jetzt ist es notwendig, so schnell wie möglich neue politische Stabilität zu schaffen.“ Für Staatsminister Jacques Wagner dagegen wurden „30 Jahre Demokratie unterbrochen“. Im Namen der Präsidentin erklärte Bundesstaatsanwalt José Eduardo Cardozo, dass Rousseff nicht zurücktre- ten werde. Sie sei Opfer eines Komplotts geworden. „Deswegen wird sie weiterkämpfen und der Gesellschaft zeigen, dass auf die schwer erkämpfte Demokratie nicht verzichtet werden kann.“ Die Abstimmung war der Höhepunkt einer monatelangen Kampagne, in der Rousseff und die PT für alle Übel im Land verantwortlich gemacht wurden: Wirtschaftskrise, Korruption, politische Stagnation, schlechte Stimmung. Doch erst das drohende Amtsenthebungsverfahren und das Überlaufen der wichtigsten Koalitionspartner zur Opposition kurz vor der Abstimmung brachten den Machtwechsel in greifbare Nähe. Das Problem für Rousseffs Kontrahenten war allerdings, dass der Präsidentin vielleicht politische Fehler, aber keine Verbrechen vorzuwerfen waren. Diese aber sind Voraussetzung für ein solches Verfahren. Deshalb wurden in Brasilien durchaus übliche Haushaltstricks der Rousseff-Regierung derart aufgebauscht, dass sie von Abgeordneten sogar als „Verbrechen am Vaterland“ bezeichnet wurden. Konkret ging es um die Bezahlung von Staatsausgaben mit Geldern von staatlichen Banken, was in Vorwahlzeiten dazu diente, die kritische Haushaltslage zu verschleiern. Die Regierung und ihre Anhänger kreiden den Gegnern an, dass „ein Amtsenthebungsverfahren ohne nachgewiesenes Verbrechen ein Staatsstreich“ sei. Mit diesem Vorgehen wolle die Opposition den Weg zur Macht abzukürzen. Das Tauziehen um die Amtsenthebung und die Korruptionsvorwürfe haben das Vertrauen in Politiker und Parteien erschüttert. Viele Brasilianer winken ab, wenn es um Politik geht. Das ist eine Tendenz, vor der fortschrittliche Kräfte seit Langem warnen. Vor allem populistischen rechten Kandidaten mit markigen Sprüchen bringe das Stimmen ein. Der heftige Rechtsruck im Kongress bei den Wahlen 2014, bei dem vor allem die Agrarierfraktion, die evangelikalen und fundamentalistischen Hardliner und die Vertreter der Waffenlobby an Einfluss gewannen, wird auch auf die Politikverdrossenheit zurückgeführt. Der frenetische Jubel der Oppositionanhänger über ihren Sieg im Parlament dürfte nicht lange anhalten. Ihre Machtüber- Das Verfahren ■■Was? Rousseffs Gegner werfen ihr vor, im Wahlkampf 2014 die Haushaltsdaten geschönt zu haben. ■■Wann? Das Votum im Abgeordnetenhaus war nur der erste Schritt des Verfahrens. Nun muss der Senat bis Mitte Mai mit einfacher Mehrheit dem Amtsenthebungsverfahren zustimmen. Rousseffs Amtsführung würde danach für bis zu 180 Tage ausgesetzt. Am Ende des Verfahrens muss der Senat mit zwei Dritteln für Rousseffs endgültige Amtsenthebung stimmen. (afp) Frenetischer Jubel: Rousseff-Gegner feiern im Abgeordnetenhaus Foto: Iano Andrade/dpa Verzweifelte Unterstützer: eine Anhängerin der Regierung nach dem Votum in Brasília Foto: Felipe Dana/ap nahme steht auf wackeligen Beinen. Sobald Rousseff ihr Amt – voraussichtlich im Mai – ruhen lassen muss, wird ihr Vize, Michel Temer, an ihre Stelle treten. Seine PMDB war der wichtigste Koalitionspartner von Rousseffs PT und lief Ende März zur Opposition über. Es wird erwartet, dass er sofort das Kabinett austauscht und eine breite Koalitionsregierung unter Ausschluss der linken Parteien bildet. Sollte Rousseff nun aber bei der endgültigen Abstimmung des Senats die Nase vorn haben, wäre das Politchaos perfekt. Sollte sie dagegen verlieren, muss Temer nicht nur die Wirtschaftskrise in den Griff kriegen, sondern auch die PSDB von Oppositionsführer Aécio Neves ruhigstellen. Die möchte selbst so schnell wie möglich an die Macht. Zudem ist Temers PMDB auch nicht beliebt. Den Rechten gilt sie als mitverantwortlich für die Regierungspolitik, den anderen als untreuer Partner. Temer ist überdies Verbündeter des umstrittenen Parteikollegen Cunha, der sich im Korruptionsskandal um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras als erster Politiker vor dem obersten Gerichtshof verantworten muss. Er wäre unter Temer Vizepräsident; zudem ist er Aushängeschild eines Kongresses, der für viele jede Legitimität eingebüßt hat: Nach Angaben der Organisation Transparência Brasil sind oder waren 273 der 513 Abgeordneten wegen Verbrechen wie Geldwäsche, Bestechung, Betrug und teils sogar schwereren Vergehen angeklagt oder wurden verurteilt. Im Senat sieht es nicht anders aus: Mit 45 zu 36 Senatoren liegt die Quote der vor Gericht gestellten Politiker deutlich über 50 Prozent. Meinung + Diskussion SEITE 12 Die Verbrüderung 1992 wurde in Brasilien erstmals ein Präsident seines Amts enthoben. Astrid Prange war damals für die taz bei der Abstimmung GESCHICHTE BONN taz | Historisch. Erhebend. Demokratisch. Am 29. September 1992 schrieb Brasilien Geschichte. Zum ersten Mal in der Historie des Landes zwang eine Korruptionsaffäre den Präsidenten, den Regierungspalast vorzeitig zu verlassen. Mit einer überwältigenden Mehrheit von 441 der 480 Abgeordneten stimmte das brasilianische Parlament für ein Amtsenthe- bungsverfahren gegen den damaligen Präsidenten Fernando Collor de Mello. Wie unter Starkstrom berichtete ich über diesen historischen Augenblick. 1992 war das Jahr überhaupt für Brasilien. Im Juni fand der Erdgipfel von Rio statt, die UN-Klimakonferenz, auf der sich erstmals die Weltgemeinschaft zum gemeinsamen Klimaschutz verpflichtete. Kampfbereite Präsidentin: Sie werde nicht zurücktreten, ließ Rousseff ausrichten Foto: Antonio Lacerda/dpa Und drei Monate später diese Abstimmung. Den meisten Lateinamerikanern saßen noch die politische Willkür und Verfolgung der Militärdiktatur in den Knochen. Präsident Fer nando Collor de Mello war der erste demokratisch gewählte Präsident nach über 20 Jahren Militärdiktatur. Ausgerechnet er sollte zum Rücktritt gezwungen werden? Bei der Abstimmung im Parlament spürte ich diese Angst, obwohl kein einziger Abgeordneter es auch nur wagte, sie öffentlich auszusprechen. Ganz Lateinamerika starrte gebannt auf die Hauptstadt Brasilia. Wenn es dort möglich war, korrupte Politiker auf demokratischem Wege ihres Amtes zu entheben, warum sollte dies woanders nicht auch möglich sein? Ja, es war möglich. Und ich gebe zu, es fiel mir schwer, meine journalistische Distanz zu bewahren. Ich war begeistert von der bestandenen demokratischen Reifeprüfung, von der demokratischen Lektion, die Brasilien der Welt erteilte. Doch Amtsvergehen ist nicht gleich Amtsvergehen. Das 1992 erfolgreich genutzte Verfahren kann politisch missbraucht wer- den. Der Kampf gegen Korruption wird in Brasilien zurzeit je nach Parteizugehörigkeit nach anderen Kriterien ausgetragen. Nach der Abstimmung am 1992 fielen sich im Plenarsaal alle um den Hals, Politiker, Journalisten, sogar das Sicherheitspersonal und die Reinigungsfrauen umarmten sich. Am 17. April 2016 blieb diese Verbrüderung aus. ASTRID PRANGE
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