taz.die tageszeitung

Grün? Eine Typfrage
Spitzenkandidatenkandidaten im Test ▶ Seite 13
AUSGABE BERLIN | NR. 10997 | 16. WOCHE | 38. JAHRGANG
H EUTE I N DER TAZ
DIENSTAG, 19. APRIL 2016 | WWW.TAZ.DE
€ 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND
Vattenfall kauft sich raus
BRAUNKOHLE Der schwedische Stromkonzern gibt seine Tagebaue in
Ostdeutschland an einen tschechischen Konzern ab. Der bekommt dafür
sogar 1,7 Milliarden Euro, damit er den ganzen Dreck wegräumt ▶ SEITE 2, 12
Unglück im
Mittelmeer
gemeldet
Angeblich
400 bei Fahrt nach
Italien ertrunken
FLÜCHTLINGE
ROM dpa/taz | Im Mittelmeer
hat sich nach italienischen Angaben erneut eine Flüchtlingskatastrophe ereignet. „Es ist sicher, dass wir es genau ein Jahr
nach der Tragödie in libyschen
Gewässern wieder mit einer
Tragödie zu tun haben“, sagte
der italienische Außenminister Paolo Gentiloni am Montag
am Rande eines EU-Ministertreffens in Luxemburg. Zuvor
hatte der arabische Dienst des
britischen Senders BBC gemeldet, bei der Katastrophe seien
mehr als 400 Flüchtlinge ertrunken, die meisten von ihnen
Somalier. Die BBC berief sich dabei auf Verwandte von Ertrunkenen und somalische Diplomaten in Kairo. Die Internationale Organisation für Migration
(IOM) und Ärzte ohne Grenzen
konnten die Meldung nicht bestätigen.
▶ Ausland SEITE 10
THEATER Elfriede
Jelineks „Wut“ karikiert
Wutbürger, religiöse
Radikalisierung und
Polizeigewalt ▶ SEITE 16
COMIC Rodolphe Töpf-
fers „Liebesabenteuer“
begeisterten schon
Goethe ▶ SEITE 15
FRÜHLING Berlins Grün-
flächenämter schaffen
es nicht, die Parks zu
reinigen ▶ SEITE 21
Foto oben: Xueh Magrini Troll
Brasilien gegen
Präsidentin
VERBOTEN
Guten Tag,
meine Damen und Herren!
RIO DE JANEIRO epd/taz | Schwere
Der nationalkonservative polnische Parteichef Jarosław
Kaczyński hat Deutschland
Demokratiedefizite vorgeworfen. Der Vorsitzende der Partei „Recht und Gerechtigkeit“
(PiS), der als starker Mann
hinter der Regierung gilt, wies
Kritik wegen demokratischer
Missstände in seinem eigenen
Land am Montag zurück. Allerdings gebe es in Deutschland
„Probleme“. „Dort entstehen
ernst zu nehmende Aktivitäten, die darauf hinweisen, dass
die dortige Demokratie liquidiert wurde.“ verboten fühlt
sich schon ganz erschossen
und hat vor Schreck eine
Kartoffel verschluckt.
Blühende Landschaften? Bis der Braunkohletagebau Welzow in Brandenburg renaturiert ist, ist der Junge längst erwachsen Foto: Rene Zieger/Ostkreuz
Niederlage für Brasiliens angeschlagene Präsidentin Dilma
Rousseff: Das Parlament hat
für die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen
die 68-jährige Staats- und Regierungschefin gestimmt. Am
Sonntagabend votierten nach
einer 50-stündigen Marathonsitzung 367 von 513 Abgeordneten für Rousseffs Absetzung,
weit mehr als die erforderlichen zwei Drittel. Ein Sturz der
Präsidentin an der Spitze einer
Mitte-Links-Regierung ist damit
in greifbare Nähe gerückt. Einen
Rücktritt lehnt Rousseff weiter
ab. Das letzte Wort hat der Senat,
in dem die die Mehrheit für die
Opposition als sicher gilt.
▶ Schwerpunkt SEITE 3
▶ Meinung + Diskussion SEITE 12
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20616
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KOMMENTAR VON KLAUS HILLENBRAND ÜBER DEN AFD-NAZI-VERGLEICH
D
Auch Muslime können erschreckend dumm sein
ummheit ist ein religions- und
parteiübergreifendes Phänomen.
Dies einmal mehr zu beweisen,
trat am Montag der Zentralrat der Muslime in Deutschland an. Ihr Vorsitzender
sagte, mit der AfD gebe es „zum ersten
Mal seit Hitler-Deutschland eine Partei,
die erneut eine ganze Religionsgemeinschaft diskreditiert und sie existenziell
bedroht“.
Da ist er mal wieder, der beliebte NaziVergleich – schief und krumm, inhaltlich
blödsinnig, geschichtsvergessen und politisch gefährlich. Mit kaum etwas anderem lässt sich der politische Gegner so
nachhaltig diskreditieren. Und gleichzeitig kann man sich selbst in der Pose des
Verfolgten darstellen. Es braucht nicht
viel Verstand, um dieses Spiel zu durchschauen.
Wer sich auch nur ein wenig mit der
deutschen Vergangenheit beschäftigt
hat, der weiß, wie sehr ein solcher Vergleich die jüdischen Opfer herabwürdigt.
Sie werden als „Beweis“ für etwas instrumentalisiert, was nicht zu vergleichen ist.
Denn der schäbige Subtext lautet: Wenn
es mit den Juden damals so zuging wie
heute mit den Muslimen, dann kann es ja
alles nicht schlimm gewesen sein.
Die Gleichsetzung ist zudem von keinerlei Sachkenntnis getrübt. Denn mit
der NPD stand in der Parteiengeschichte
der Bundesrepublik schon einmal eine
Partei kurz vor dem Einzug in den Bundestag, die weiß Gott „eine Religionsgemeinschaft diskreditiert“. Und wer sich
ein wenig mit politischer Psychologie
auskennt, der kommt schnell darauf,
dass eine solche Behauptung dazu führt,
dass sich die in der Tat muslimfeindlichen AfD-Anhänger erst recht verfolgt
und damit bestätigt fühlen werden. In
diesem Fall haben sie damit sogar recht.
Mit nichts anderem
lässt sich der Gegner so
nachhaltig diskreditieren
Es taugt nicht als Rechtfertigung, dass
auch andere Kleingeister Nazi-Vergleiche
von sich gegeben haben, etwa der damalige Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller, der die angebliche Diskriminierung von Katholiken mit der Judenverfolgung gleichsetzte. Oder der
Ökonom Hans-Werner Sinn, der sagte,
1929 „hat es die Juden getroffen, heute
sind es die Manager“. Konsequenzen
muss der Vorsitzende des Zentralrats der
Muslime indes nicht fürchten: Zumindest in diesem Fall werden Muslime wie
Christen in Deutschland gleich behandelt – mit bemerkenswerter Nachsicht.
Übrigens, nur so als Anregung: Sinn hat
sich damals entschuldigt.
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
PORTRAIT
Schwerpunkt
DI ENSTAG, 19. APRI L 2016
Energie
Vattenfall stößt sein deutsches Braunkohlegeschäft
an den tschechischen Konzern EPH ab
Viel Schotter für die Kohle
LAUSITZ Rund 1,7 Milliarden Euro legt Vattenfall auf den Tisch, um die Braunkohle loszuwerden.
Einer der Hunde: der Australische
Cattle Dog „Jack“ Foto: dpa
Spürnase
gegen Wanzen
W
er an Gefährdungen
im
internationalen
Luftverkehr denkt, hat
wohl vor allem Terroristen und
Kriminelle, technische Mängel
und Wetterkapriolen im Kopf.
Manchmal aber lauern Gesundheitsgefahren dort, wo die wenigsten Passagiere sie vermuten: in den Sitzbezügen. Hier
verstecken sich hin und wieder
Bettwanzen, die den Fluggästen das Blut aussaugen, starken
Juckreiz bis hin zu Hautentzündungen hinterlassend. Dagegen
geht nun die Frankfurter Flughafengesellschaft Fraport immer professioneller vor: mit
dem Wanzenspürhund.
Wie ein klassischer Drogenoder
Sprengstoffspürhund
schnüffelt auch der ausgebildete Wanzensucher in jeder
Ritze des Flugzeugs herum, vor
allem aber auf den Teppichen
und Sitzen. Wird ein befallener Sitz identifiziert, kann der
schnell entnommen und ausgetauscht werden. Drei Hunde
sind in Frankfurt am Main bereits im Einsatz, ein vierter ist
in Ausbildung.
Die vier- bis sechsmonatige
Ausbildung ist teuer; sie kostet
etwa 10.000 Euro. Dennoch hat
der Einsatz der Spürhunde Vorteile, denn im Unterschied zum
klassischen Kammerjäger müssen keine Leisten abgeschraubt
oder Teppiche herausgerissen
werden, um die Plagegeister zu
finden.
Über mangelnde Nachfrage
jedenfalls können sich die
Hunde in Frankfurt nicht beklagen. „In Hotels gehen wir
nur noch, wenn es die Auftragslage zulässt“, sagte Hundeführer
Larry Hansen der Nachrichtenagentur dpa. Vor gut einem Jahr
begann er am Frankfurter Flughafen damit, Wanzen mit Hilfe
von Hunden aufzuspüren.
Haus- und Bettwanzen verbreiten sich weltweit rasant.
Sie sind in Hotels, Wohnungen,
öffentlichen Verkehrsmitteln,
Kinos und Theatern zu finden.
Die extrem flachen und bis zu
sechs Millimeter langen Insekten sind so etwas wie die Kehrseite der Globalisierung: Je
mehr Geschäfts-, Pauschal- und
Städtereisende um die Welt fliegen, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich irgendwo eine Wanze einfangen
und diese am Körper oder im
Gepäck in den nächsten Ort oder
nach Hause bringen. Mit mangelnder Hygiene hat das übrigens nichts zu tun.
RICHARD ROTHER
Der Käufer EPH ist dafür bekannt, Energiefirmen günstig aufzukaufen, um dann Geld herauszuziehen
VON BERNWARD JANZING
Der schwedische Staatskonzern
Vattenfall will seine Braunkohlesparte an den tschechischen
Energiekonzern EPH und dessen Finanzpartner PPF Investments abstoßen. Das gab das
Unternehmen gestern bekannt.
Das Geschäft umfasst alle Kraftwerke und Tagebaue von Vattenfall in Deutschland mit zusammen 7.500 Mitarbeitern: Die
Kraftwerke Jänschwalde, Boxberg, Schwarze Pumpe sowie
den 50-Prozent-Anteil am Kraftwerk Lippendorf, außerdem die
Tagebaue Jänschwalde, Nochten,
Welzow-Süd, Reichwalde und
den kürzlich ausgekohlten Tagebau Cottbus-Nord.
Vattenfall hat dem Käufer­
konsortium
Barmittel
in
Summe von umgerechnet rund
1,7 Milliarden Euro angeboten.
Dafür wollen die beiden Unternehmen das Braunkohlegeschäft einschließlich aller Anlagen übernehmen sowie außerdem die Verbindlichkeiten und
Rückstellungen, die sich für Rekultivierungen auf rund 2 Milliarden Euro belaufen.
Vattenfall teilte mit, das Geschäft werde sich in der Konzernbilanz des 2. Quartals mit
einem Verlust von rund 2,5 Milliarden Euro niederschlagen. Allerdings, so der Konzern, würden die negativen Auswirkungen auf die Bilanz noch größer
ausfallen, würde Vattenfall die
Braunkohlesparte behalten.
Die Mitgift Vattenfalls liegt
nicht weit entfernt von jenem
Betrag, den Greenpeace im
Herbst ausgerechnet hatte: Die
Organisation hatte angeboten,
bei Zahlung von 2 Milliarden
Euro Vattenfalls Braunkohle zu
übernehmen, wurde im Weiteren Verfahren aber nicht mehr
zugelassen (siehe unten). Interesse gezeigt hatten auch das
Stadtwerke-Konsortium Steag
sowie der überwiegend staatseigene tschechische Energiekonzern CEZ, doch beide stiegen aus.
Vattenfall teilte außerdem
gestern einige Rahmenbedingungen mit: Während der ersten
drei Jahre nach der Transaktion
dürfen keine Dividenden an den
neuen Eigentümer gezahlt oder
Zentraler Akteur ist
ein Unternehmer, der
als reichster Mann
Tschechiens gilt
Urlaub mal anders: TouristInnen im Tagebau Welzow in der Lausitz Foto: Rene Zieger/Ostkreuz
Klimakiller Nummer eins
■■Der Ausstoß: Braunkohlekraftwerke stoßen mehr klimaschädliches CO2 aus als jede andere
Art der Stromerzeugung. Pro
Kilowattstunde belaufen sich die
Emissionen – je nach Qualität der
Kohle und der Effizienz des Kraftwerks – auf 1.000 bis annähernd
1.200 Gramm CO2.
■■Die Kohle: Steinkohle liegt mit
rund 800 Gramm etwas niedriger als Braunkohle, wobei man
hier allerdings noch 100 bis 150
Gramm CO2 für die Bereitstellung
des Brennstoffs ansetzen muss,
weil Steinkohle oft weit transportiert wird. Die Braunkohle
hingegen wird zwar in der Regel
nahe der Lagerstätten verbrannt,
dennoch bleibt sie in der Gesamtbilanz der CO2-trächtigste
Energieträger.
■■Das Erdgas: Am günstigsten
unter den fossilen Energien ist
das Erdgas, das je nach Effizienz
des Kraftwerks zwischen 350
und 500 Gramm CO2 je Kilowattstunde ausstößt, zuzüglich 50 bis
100 Gramm für die Bereitstellung
des Brennstoffs. (bja)
Zumindest die SPD ist zufrieden
REAKTIONEN
Klimaschützer üben scharfe Kritik am Braunkohleverkauf
BERLIN taz | Die Landesregie-
rung von Brandenburg hat mit
Erleichterung auf die Entscheidung von Vattenfall reagiert, die
Braunkohlesparte an die tschechische EPH-Gruppe zu übertragen. „Die monatelange Unsicherheit für die Braunkohlekumpel, ihre Familien und
eine ganze Region hat damit
ein Ende“, sagte Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) am
Montag in Potsdam. Mit dieser
Erkenntnis stand er allerdings
ziemlich allein.
Zum einen ist unklar, ob die
Unsicherheit wirklich vorbei ist.
Denn die Entscheidung muss
noch vom schwedischen Staat
gebilligt werden, und der will
sich dafür nach eigenen Angaben mehrere Monate Zeit nehmen. Zum anderen gibt es bei
anderen Akteuren wesentlich
mehr Skepsis über die Absichten der Käufer. „Es wird deutlich,
dass sie vor allem auf schnellen
Profit aus sind“, meint etwa Annalena Baerbock, Grünen-Bundestagsabgeordnete aus Brandenburg. Der Konzern habe
bereits in der Vergangenheit
Kohlekraftwerke billig übernommen und später trotz Arbeitsplatzzusagen
dichtgemacht.
Auch die energiepolitische
Sprecherin der Linken im Bundestag, Eva Bulling-Schröder,
übt scharfe Kritik am angekündigten Verkauf: „Die Interessen
der Lausitz drohen dabei hintenanzustehen“, sagte sie. Zudem
drohe „das Abwälzen von Kosten auf die öffentliche Hand“.
Auch Umweltverbände lehnen die Pläne von Vattenfall
ab. Greenpeace-Aktivisten entrollten am Montag vor der Berliner Vattenfall-Zentrale ein
Transparent mit der Aufschrift
„Verantwortung kann man nicht
verkaufen“. Die Umweltorganisation hatte selbst ein Ge-
bot für Vattenfalls BraunkohleSparte abgegeben – mit dem
Ziel, diese abzuwickeln. Das verlangt Greenpeace nun vom bisherigen Eigentümer selbst: „Vattenfall muss sein schmutziges
Braunkohlegeschäft behalten
und sozial- und umweltverträglich abwickeln“, sagte Sprecherin
Kerstin Doerenbruch.
Blockade an Pfingsten
Das Aktionsbündnis „Ende Gelände“, das an Pfingsten eine
Blockade des Braunkohletagebaus in der Lausitz plant, lehnt
den Verkauf ebenfalls ab. Doch
die Initiatoren stellen sich schon
auf den neuen Eigentümer ein:
„Jeder neuer Investor kauft den
Widerstand der Klimabewegung
mit ein“, kommentiert Hannah
Eichberger von Ende Gelände.
„Ob Vattenfall oder EPH, wir
lassen nicht locker, bis der letzte
Tagebau geschlossen ist.“
MALTE KREUTZFELDT
Rückstellungen aufgelöst werden. In den folgenden zwei Jahren ist die Gewinnabschöpfung
vertraglich auf eine betriebsübliche Rendite begrenzt. Ein unmittelbarer Kapitalabfluss soll
so verhindert werden.
Was nach diesen Fristen geschehen wird, ist schwer abschätzbar – denn die genauen
Pläne der Investoren sind unklar. Schließlich sind die wirtschaftlichen Perspektiven der
Branche angesichts des wachsenden öffentlichen Drucks
auf die Braunkohle in Deutschland und der massiv gefallenen Strompreise im Großhandel eher bescheiden. Es liegt zumindest nahe, dass der Investor
EPH (Energetický a prumyslový
holding) auf Synergien hofft,
nachdem er über seine Tochter
EP Energy seit 2012 bereits alleiniger Gesellschafter der Mitteldeutschen Braunkohlengesellschaft mbH (Mibrag) ist.
EPH ist bekannt dafür, Energiefirmen günstig aufzukaufen, um dann Geld herauszuziehen. Zentraler Akteur ist der
Unternehmer Petr Kellner, der
als reichster Mann Tschechiens
gilt und Mehrheitseigner der
PPF ist. Seine Geschäftsmethoden werden zuweilen als „knallhart“ beschrieben. Laut Medienberichten im Zusammenhang
mit den jüngsten Enthüllungen der Panama-Papiere besitzen er und seine Frau mehrere
Briefkastenfirmen auf den Britischen Jungferninseln.
Obwohl Vattenfall sich nun
mit dem Käufer-Konsortium
geeinigt hat, ist das Geschäft
noch nicht gesichert. Denn die
schwedische Regierung als Eigner von Vattenfall muss es noch
genehmigen. Und das könnte in
Schweden zu einer öffentlichen
Debatte führen. Denn es steht
vor allem eine Frage im Raum:
Will ein Staat, der mit dem Abschied von der Braunkohle klimapolitische Ziele verfolgt, ein
Portfolio an einen Investor verkaufen, der das Geschäft unverändert weiterbetreibt?
Meinung + Diskussion SEITE 12
Löcher in der Landschaft
■■Der Abbau: Das Lausitzer
Braunkohlerevier im Südosten
Brandenburgs und Nordosten
Sachsens ist nach dem Rheinischen Kohlerevier die zweitgrößte Lagerstätte von Braunkohle
in Deutschland. Abbau findet in
Nochten, Reichwalde, WelzowSüd und Jänschwalde statt.
■■Die Region: Laut Kohlewirtschaft hat der Braunkohlebergbau in der Lausitz bereits 87.000
Hektar in Anspruch genommen.
Die Region sei durch die Tagebaue „regelrecht durchlöchert“,
beklagt die Umweltorganisation
Greenpeace; es seien inzwischen
136 Orte abgebaggert und mehr
als 27.000 Bewohner umgesiedelt worden.
■■Die Natur: Auch die Natur
leidet darunter, dass die Landschaft ausgebaggert wird: Für
den Abbau wird das Grundwasser massiv abgesenkt, Biotope
vertrocknen. Auch besonders
schützenswerte Flora-FaunaHabitat-Gebiete (FFH) hat der
Kohlebergbau in der Lausitz
schon zerstört. (bja)
Schwerpunkt
Brasilien
DI ENSTAG, 19. APRI L 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
Das Votum des Kongresses gegen die Präsidentin Rousseff treibt die
Spaltung des Landes weiter. Ein Wechsel an der Spitze rückt näher
Die Schlammschlacht der Volksvertreter
KRISE Mehr als zwei Drittel der Abgeordneten stimmen für eine Absetzung der Präsidentin. Doch auch ihre Gegner gelten als korrupt
VON ANDREAS BEHN
RIO DE JANEIRO taz | Ein zwei
Meter hoher Metallzaun soll
die verfeindeten Lager vor dem
Kongressgebäude in Brasília
auseinanderhalten. Hunderttausende sind an diesem Sonntag gekommen, um auf ihrer
Seite des Zauns entweder für
oder gegen die Amtsenthebung von Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff zu demonstrieren.
Die Spaltung im Land ist seit
Monaten zu spüren. Vielen gilt
die Mauer mitten im Regierungsviertel der Hauptstadt als
Symbol der politischen Zukunft
– jetzt, nachdem kaum noch jemand daran zweifelt, dass Präsidentin Rousseff und mit ihr die
Arbeiterpartei PT aus dem Präsidentenpalast gedrängt wird.
Weit über vier Stunden dauerte die Abstimmung im Parlament, die am Sonntagabend wie
ein Fußballspiel live auf Großleinwänden im ganzen Land gezeigt wurde. Und so tumultuös
und gefühlsgeladen wie beim
Fußball lief auch die Sitzung
ab. Kurz vor Ende jubelten die
meist grün-gelb geschmückten
Anhänger der Opposition: Mit
367 von 513 Stimmen stimmten
deutlich mehr als die notwendigen zwei Drittel der Abgeordneten für die Einleitung eines
Amtsenthebungsverfahrens.
Jetzt ist der Senat dran
Das ist mehr als eine Vorentscheidung. Denn im Senat benötigt die Opposition jetzt nur
eine einfache Mehrheit, dann
muss Rousseff zunächst für 180
Tage ihr Amt ruhen lassen. Nach
diesen sechs Monaten, in denen
die Amtsenthebung erneut geprüft wird, muss der Senat erneut votieren und diesmal mit
Zweidrittelmehrheit gegen die
Präsidentin stimmen.
Gespalten sind auch die ersten Reaktionen: Oppositionsführer Aécio Neves sprach von
einem „Sieg der Demokratie“.
Parlamentspräsident Eduardo
Cunha, der das Verfahren im
Dezember angestoßen hatte,
erklärte, Brasilien sei in der
Talsohle angelangt: „Jetzt ist es
notwendig, so schnell wie möglich neue politische Stabilität zu
schaffen.“
Für
Staatsminister
Jacques Wagner dagegen wurden
„30 Jahre Demokratie unterbrochen“. Im Namen der Präsidentin erklärte Bundesstaatsanwalt José Eduardo Cardozo,
dass Rousseff nicht zurücktre-
ten werde. Sie sei Opfer eines
Komplotts geworden. „Deswegen wird sie weiterkämpfen und
der Gesellschaft zeigen, dass
auf die schwer erkämpfte Demokratie nicht verzichtet werden kann.“
Die Abstimmung war der Höhepunkt einer monatelangen
Kampagne, in der Rousseff und
die PT für alle Übel im Land verantwortlich gemacht wurden:
Wirtschaftskrise, Korruption,
politische Stagnation, schlechte
Stimmung. Doch erst das drohende
Amtsenthebungsverfahren und das Überlaufen der
wichtigsten Koalitionspartner
zur Opposition kurz vor der Abstimmung brachten den Machtwechsel in greifbare Nähe.
Das Problem für Rousseffs
Kontrahenten war allerdings,
dass der Präsidentin vielleicht
politische Fehler, aber keine
Verbrechen vorzuwerfen waren.
Diese aber sind Voraussetzung
für ein solches Verfahren. Deshalb wurden in Brasilien durchaus übliche Haushaltstricks der
Rousseff-Regierung derart aufgebauscht, dass sie von Abgeordneten sogar als „Verbrechen
am Vaterland“ bezeichnet wurden. Konkret ging es um die Bezahlung von Staatsausgaben mit
Geldern von staatlichen Banken, was in Vorwahlzeiten dazu
diente, die kritische Haushaltslage zu verschleiern.
Die Regierung und ihre Anhänger kreiden den Gegnern
an, dass „ein Amtsenthebungsverfahren ohne nachgewiesenes
Verbrechen ein Staatsstreich“
sei. Mit diesem Vorgehen wolle
die Opposition den Weg zur
Macht abzukürzen.
Das Tauziehen um die Amtsenthebung und die Korruptionsvorwürfe haben das Vertrauen
in Politiker und Parteien erschüttert. Viele Brasilianer winken ab, wenn es um Politik geht.
Das ist eine Tendenz, vor der
fortschrittliche Kräfte seit Langem warnen. Vor allem populistischen rechten Kandidaten
mit markigen Sprüchen bringe
das Stimmen ein. Der heftige
Rechtsruck im Kongress bei den
Wahlen 2014, bei dem vor allem
die Agrarierfraktion, die evangelikalen und fundamentalistischen Hardliner und die Vertreter der Waffenlobby an Einfluss gewannen, wird auch auf
die Politikverdrossenheit zurückgeführt.
Der frenetische Jubel der Oppositionanhänger über ihren
Sieg im Parlament dürfte nicht
lange anhalten. Ihre Machtüber-
Das Verfahren
■■Was? Rousseffs Gegner werfen
ihr vor, im Wahlkampf 2014 die
Haushaltsdaten geschönt zu
haben.
■■Wann? Das Votum im Abgeordnetenhaus war nur der erste
Schritt des Verfahrens. Nun muss
der Senat bis Mitte Mai mit einfacher Mehrheit dem Amtsenthebungsverfahren zustimmen.
Rousseffs Amtsführung würde
danach für bis zu 180 Tage ausgesetzt. Am Ende des Verfahrens
muss der Senat mit zwei Dritteln
für Rousseffs endgültige Amtsenthebung stimmen. (afp)
Frenetischer Jubel: Rousseff-Gegner feiern im Abgeordnetenhaus Foto: Iano Andrade/dpa
Verzweifelte Unterstützer: eine Anhängerin der Regierung nach dem Votum in Brasília Foto: Felipe Dana/ap
nahme steht auf wackeligen Beinen. Sobald Rousseff ihr Amt –
voraussichtlich im Mai – ruhen
lassen muss, wird ihr Vize, Michel Temer, an ihre Stelle treten.
Seine PMDB war der wichtigste
Koalitionspartner von Rousseffs
PT und lief Ende März zur Opposition über. Es wird erwartet,
dass er sofort das Kabinett austauscht und eine breite Koalitionsregierung unter Ausschluss
der linken Parteien bildet.
Sollte Rousseff nun aber bei
der endgültigen Abstimmung
des Senats die Nase vorn haben, wäre das Politchaos perfekt. Sollte sie dagegen verlieren, muss Temer nicht nur die
Wirtschaftskrise in den Griff
kriegen, sondern auch die PSDB
von Oppositionsführer Aécio
Neves ruhigstellen. Die möchte
selbst so schnell wie möglich an
die Macht.
Zudem ist Temers PMDB auch
nicht beliebt. Den Rechten gilt
sie als mitverantwortlich für die
Regierungspolitik, den anderen
als untreuer Partner. Temer ist
überdies Verbündeter des umstrittenen Parteikollegen Cunha,
der sich im Korruptionsskandal
um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras als erster Politiker vor dem obersten Gerichtshof verantworten muss.
Er wäre unter Temer Vizepräsident; zudem ist er Aushängeschild eines Kongresses, der für
viele jede Legitimität eingebüßt
hat: Nach Angaben der Organisation Transparência Brasil sind
oder waren 273 der 513 Abgeordneten wegen Verbrechen wie
Geldwäsche, Bestechung, Betrug
und teils sogar schwereren Vergehen angeklagt oder wurden
verurteilt. Im Senat sieht es
nicht anders aus: Mit 45 zu 36
Senatoren liegt die Quote der
vor Gericht gestellten Politiker
deutlich über 50 Prozent.
Meinung + Diskussion SEITE 12
Die Verbrüderung
1992 wurde in Brasilien erstmals ein
Präsident seines Amts enthoben. Astrid Prange
war damals für die taz bei der Abstimmung
GESCHICHTE
BONN taz | Historisch. Erhebend.
Demokratisch. Am 29. September 1992 schrieb Brasilien Geschichte. Zum ersten Mal in der
Historie des Landes zwang eine
Korruptionsaffäre den Präsidenten, den Regierungspalast
vorzeitig zu verlassen. Mit einer überwältigenden Mehrheit
von 441 der 480 Abgeordneten stimmte das brasilianische
Parlament für ein Amtsenthe-
bungsverfahren gegen den damaligen Präsidenten Fernando
Collor de Mello.
Wie unter Starkstrom berichtete ich über diesen historischen Augenblick. 1992 war das
Jahr überhaupt für Brasilien. Im
Juni fand der Erdgipfel von Rio
statt, die UN-Klimakonferenz,
auf der sich erstmals die Weltgemeinschaft zum gemeinsamen Klimaschutz verpflichtete.
Kampfbereite Präsidentin: Sie werde nicht zurücktreten, ließ Rousseff ausrichten Foto: Antonio Lacerda/dpa
Und drei Monate später diese
Abstimmung. Den meisten Lateinamerikanern saßen noch
die politische Willkür und Verfolgung der Militärdiktatur in
den Knochen. Präsident Fer­
nan­do Collor de Mello war der
erste demokratisch gewählte
Präsident nach über 20 Jahren
Militärdiktatur. Ausgerechnet
er sollte zum Rücktritt gezwungen werden?
Bei der Abstimmung im Parlament spürte ich diese Angst,
obwohl kein einziger Abgeordneter es auch nur wagte, sie öffentlich auszusprechen. Ganz
Lateinamerika starrte gebannt
auf die Hauptstadt Brasilia.
Wenn es dort möglich war, korrupte Politiker auf demokratischem Wege ihres Amtes zu entheben, warum sollte dies woanders nicht auch möglich sein?
Ja, es war möglich. Und ich
gebe zu, es fiel mir schwer,
meine journalistische Distanz
zu bewahren. Ich war begeistert
von der bestandenen demokratischen Reifeprüfung, von der
demokratischen Lektion, die
Brasilien der Welt erteilte.
Doch Amtsvergehen ist nicht
gleich Amtsvergehen. Das 1992
erfolgreich genutzte Verfahren
kann politisch missbraucht wer-
den. Der Kampf gegen Korruption wird in Brasilien zurzeit je
nach Parteizugehörigkeit nach
anderen Kriterien ausgetragen.
Nach der Abstimmung am
1992 fielen sich im Plenarsaal
alle um den Hals, Politiker, Journalisten, sogar das Sicherheitspersonal und die Reinigungsfrauen umarmten sich. Am
17. April 2016 blieb diese Verbrüderung aus. ASTRID PRANGE