Reiseblatt FRANKFU RT ER A L LG EM E I NE Z E I TU NG D O N N E R S TAG , 2 6 . NOV E M B E R 2 0 1 5 · N R . 2 7 5 · S E I T E R 3 Manchmal darf’s auch Gamsbraten sein Ramsau ist das erste deutsche „Bergsteigerdorf“. Die Gemeinde im Berchtesgadener Land vermarktet sich jetzt als stilles Gegenmodell zur alpenweit grassierenden Sport- und Spaßdoktrin Von Gerhard Fitzthum ktivurlauber mit unwiderstehlichem Drang nach oben nennt man heute Alpinisten, Bergfexe oder Kletterer. Der Begriff „Bergsteiger“ scheint dagegen etwas aus der Mode gekommen. Wenn man ihm nicht das Adjektiv „Extrem-“ voranstellt, lässt er an die in Loden und Leinen gekleideten Gipfelstürmer des neunzehnten Jahrhunderts denken – oder an Naturburschen wie Luis Trenker, die Saurier der modernen Erlebnisgesellschaft. Doch kein Trend ohne Gegentrend. In Österreich hat der angestaubte Begriff jedenfalls eine überraschende Renaissance erlebt. Mehr als zwanzig kleinere Alpengemeinden bezeichnen sich dort inzwischen als „Bergsteigerdörfer“, nicht aus einem Anflug von Nostalgie, sondern aus Notwehr. Im alpentouristischen Verdrängungskampf stehen Ferienorte, die keine international konkurrenzfähigen Skiarenen aufweisen, auf verlorenem Posten. Die Verantwortlichen müssen sich nun entscheiden: Sie können, wie es die meisten tun, auf das Unmögliche spekulieren und vor allem durch Investitionen in Lifte und Schneekanonen mit den Großen mithalten wollen. Oder sie können aus der Wachstumslogik aussteigen und sich auf die eigentlichen Qualitäten des Ortes besinnen, also eine Art Vorwärtsverteidigung lancieren, bei der das, was eben noch als Zeichen der Rückständigkeit galt, zum Markenzeichen erhoben wird – die Langsamkeit in der Anpassung an die vermeintlichen Erfordernisse der Zeit, das Fehlen von Spaß- und Partyangeboten und die mangelnde Geschäftstüchtigkeit beim Ausverkauf der Heimat. Mit den „Bergsteigerdörfern“ hat die zweite Strategie nun einen Namen bekommen. Statt mit Neuigkeiten und Superlativen zu prahlen, werben die Gemeinden mit dem, was sie in der Vergangenheit nicht getan, auf welche Erschließungen sie verzichtet, welchen Trend sie ignoriert haben. Das Konzept stammt vom Österreichischen Alpenverein, der die Bewerbungen annimmt und auch das Siegel vergibt. Ziel ist es, einen natur- und sozialverträglichen Tourismus zu fördern, das über Jahrhunderte gewachsene Kulturgut zu erhalten und die lokalen Wirtschaftskreisläufe zu stärken. Die altertümlichbrave „Bergsteiger“-Vokabel erhält auf diese Weise einen umweltpolitischen Sinn und damit auch eine ganz neue Zielgruppe: Alpenurlauber allen Alters, die genug haben von technisch übererschlossenen Landschaften, vom Wuchern gesichtsloser Ferienwohnungsareale und dem Terror der Dauerbespaßung. Seit neuestem gibt es auch im deutschen Alpenraum einen Ort, der sich dieses „Zurück zu den Wurzeln“ auf die Fahnen geschrieben hat. Ramsau im Berchtesgadener Land hat sich vor wenigen Monaten als Bergsteigerdorf beworben und ist prompt aufgenommen worden – vom Deutschen Alpenverein, der die Initiative des OEAV eins zu eins übernommen hat. Die Tausendachthundert-Seelen-Gemeinde am Watzmann schien dafür prädestiniert. Sie liegt seit langem in einem Unesco-Biosphärenreservat und zu zwei Dritteln ihrer Fläche im einzigen Nationalpark der deutschen Alpen, wodurch sich massentouristische Tummelplätze von selbst verbieten. „Von Kehrtwende kann keine Rede sein“, versichert Bürgermeister Herbert Gschoßmann. „Wir waren nur auf der Suche nach einem prägnanten Motto, das auf den Begriff bringt, was wir seit Jahren machen – und sind mit dem ,Bergsteigerdorf‘ fündig geworden.“ In der Ramsau wisse man seit langem, dass das wichtigste Kapital eines alpinen Feriendorfes die intakte Natur sei und diese wiederum die Grundlage für einen intakten, zukunftsfähigen Tourismus darstelle. „Wer einen Weg einschlägt, bei dem die Landschaft stark strapaziert wird, etwa für den Skisport, der kann irgendwann nicht mehr umkehren, wird immer mehr Ressourcen verbrauchen und das Landschaftsbild ruinieren.“ Der weitverbreitete Erschließungswahn widerspreche nicht nur den Protokollen der internationalen Alpenkonvention, sondern auch den langfristigen Lebens- und Wirtschaftsinteressen der Einheimischen. Wer vom Rathaus aus ins Dorfzentrum wandert, hat keine Mühe, Gschoßmanns Ausführungen für glaubwürdig zu halten. Nirgendwo trüben Liftkabel, Hochspannungsleitungen, Hotelkästen und Großparkplätze das Idyll. Unbedrängt plätschert die Ramsauer Ache durch die A Nein, das ist keine Großbaustelle: Das Wimbachgries vor der dramatischen Kulisse der Palfelhörner. schmale Talaue, an deren Rand sich die eine oder andere Häusergruppe an den Hang duckt. Obwohl die meisten Gebäude neueren Datums sind, scheinen sie wie eingewachsen in einen Landschaftsteppich, der in diesen späten Novembertagen noch immer strahlend grün ist. Kein Zweifel, Ramsau gehört nicht zu den gesichtslosen Wucherungen, die anderswo im Alpenraum noch Dorf genannt werden. Es hat seinen bäuerlichen Ursprung nicht vergessen – ein paar Meter oberhalb der Wohnhäuser weiden die Schafe. Am deutlichsten wird der Dorfcharakter an der alten Holzbrücke, die Teil einer berühmten Postkartenansicht ist: Im Vordergrund strudelt der glasklare Wildbach, im Hintergrund erhebt sich stolz die Dorfkirche, deren schlanker Kirchturm auf die nackten Felswände der Mühlsturzhörner und des Wagendrischlhorns zeigt – dramatische Gebirgsnatur, so weit das Auge reicht. Zwei Kilometer talabwärts beginnt das Wimbachtal, das zu den schönsten Hochtälern Europas zählt. Weil es ins Herz des Nationalparks führt, sind sogar Mountainbikes verboten. Ohne allzu steil ansteigen oder gar klettern zu müssen, findet der Naturfreund hier, was es im europäischen Hochgebirge kaum sonst noch irgendwo gibt: einen Erholungsraum, aus dem die Errungenschaften der modernen Outdoorindustrie verbannt sind – ein Reich der Natur, in dem der Fußgänger noch König ist. reh- und Angelpunkt des tief eingeschnittenen Trogtals ist das Wimbachgries – ein kilometerlanger, bis dreihundert Meter breiter Erosionsstrom aus mehr oder weniger feinem Kalkschotter, der sich nur während des Frühjahrshochwassers in ein Bachbett verwandelt. Die endlose Steinwüste wirkt umso bizarrer, als die beiderseitigen Felswände immer höher und kahler werden. Am Wimbachschloss sieht man dann bis zur Mittelspitze des 2713 Meter hohen Watzmanns hinauf, ein monströses Gebilde aus Stein, eine sinnenfällige Provokation des menschlichen Ordnungssinns. Die einstige Jagdhütte der bayerischen Könige dient heute als Nationalpark-Einkehrstation. Seit drei Jahren wird sie von Catharina Lichtmannegger in einer Weise bewirtschaftet, die dem Nachhaltigkeitskonzept der Bergsteigerdörfer alle Ehre macht. Auf den Tisch kommen fast ausnahmslos regionale Produkte: Wild aus dem Nationalpark, Fleisch und Käse von einem namhaften Biobauern-Verband und die Eier von den zwanzig Hennen des eigenen Hofs. Ob die Gäste die frische Zubereitung und den Herkunftsnachweis zu würdigen wissen? „Nicht alle natürlich, aber die Zahl der positiven Rückmeldungen nimmt zu“, sagt die junge Mutter und setzt ihr gewinnendes Lächeln auf. Vor allem im Herbst sei ein anspruchsvolleres Publikum unterwegs, das schon mal einen Gamsbraten für vierzehn Euro bestelle und sich einen Teller Wildschinken als D DEUTSCHLAND Bayern Salzburg S aa lach Bad Reichenhall SAL Ramsau ZBU RG AL Saalfelden N ÖSTERREICH PE 2712m LK Watzmann S a l z a ch ER KA Königssee Berchtesgaden F.A.Z.-Karte lev. 100 km Vorspeise gönne. Im Hochsommer hingegen, wenn sie von Turnschuhtouristen überrannt werde, sei es vier von fünf Gästen völlig egal, was man ihnen vorsetze. Die meisten gingen auch achtlos an den Infotafeln des Nationalparks vorüber und wüssten deshalb gar nicht, wo sie seien. Im letzten Juli habe einer das Gries für eine Großbaustelle gehalten und gefragt, was hier gebaut werde. Von ihrem Kurs lasse sie sich aber nicht abbringen: „Für mich ist die Verpflichtung zur Regionalität kein betriebswirtschaftliches Kalkül, sondern ein Gebot der Selbstachtung.“ Im Hotel Rehlegg, der ersten Adresse in Ramsau, kommt man mit etwas weniger Idealismus aus. Besitzer Hannes Lichtmannegger, mit Catharina über zwei Ecken verwandt, meint, dass wenigstens die Hälfte seiner Gäste die regionale Speisekarte zu schätzen wissen. Weil die herkömmlichen Gästeschichten wegbrachen und eine Neuausrichtung nötig wurde, hat Lichtmannegger seinen Betrieb als klimaneutral zertifizieren lassen und sich heimische Qualitätslieferanten gesucht: eine Metzgerei aus dem Chiemgau, die auf Pinzgauer Rindfleisch spezialisiert ist, einen Biogeflügelhof, der gerade mit der Freilaufhaltung von schwarzen Alpenschweinen begonnen hat, und die Ramsauer Bäuerin Renate Aschauer, die das Alpine Steinschaf vor dem Aussterben rettet. Der Erfolg gibt ihm recht. „Durchschaubare und umweltverträgliche Wirtschaftskonzepte sind unabdingbar geworden, wenn man als glaubwürdig gelten will.“ Bedauerlich sei nur, dass wenige Ramsauer Wirte davon etwas wissen wollen. Das mit Umweltpreisen ausgezeichnete Wellnesshotel ist der größte der elf Partnerbetriebe des Bergsteigerdorfes und zugleich sein Aushängeschild. Was den offiziellen Kriterienkatalog anbelangt, bewegt es sich allerdings im Grenzbereich. Um den dörflichen Charakter zu bewahren, dürfte es in einem Bergsteigerdorf pro Betriebsstätte eigentlich nur fünfzig Arbeitsplätze geben, beim größten Arbeitgeber Ramsaus sind aber siebzig Personen beschäftigt. Eine Expansion ist damit ausgeschlossen. Die Werbewirksamkeit des neuen Siegels zu nutzen hat also auch eine unbequeme Rückseite. Die teilnehmenden Gemeinden müssen sich verpflichten, die strengen Kriterien einzuhalten, die die Bergsteigerverbände auf mehreren Seiten ausformuliert haben. Der Bau neuer Großhotels und Liftanlagen ist genauso tabu wie die weitere Aufrüstung mit Schneekanonen. Eingriffe ins Landschaftsbild sind ab einer gewissen Dimension verboten, so auch das Errichten von Windkraftanlagen und Staudämmen, zumindest, wenn es sich um ein Schutzgebiet handelt. Aus diesem Grunde blitzte das Oberallgäuer Hindelang ab, das Anfang des Jahres voreilig als erstes deutsches Bergsteigerdorf gefeiert worden war. Im Ortsteil Hinterstein soll ein Wasserkraftwerk entstehen, energiepolitisch korrekt zwar, im Blick auf das Landschaftsbild aber katastrophal. Ramsau hat in dieser Hinsicht Glück gehabt. Hier gibt es keine Projekte zur Stromerzeugung durch Wind und Wasser. Auch liegt der Ort weit genug von Autobahnen, Flugplätzen, Großstädten und Industriezonen entfernt. Das Gemeindegebiet verfügt zudem über die geforderte Infrastruktur mit Wanderwegen, Markierungen und Hütten. Gipfelstürmer kommen hier genauso auf ihre Kosten wie Genusswanderer und Spaziergänger. „Wir können mit den harten Auflagen gut leben“, sagt der Bürgermeister. Die Gutachter vom DAV hätten nur zwei Dinge moniert: die dürftige Bus-Anbindung zweier Ortsteile und das Fehlen naturorientierter Pauschalangebote. Im Grunde seien ihm die Einschränkungen des Handlungsspielraums sogar Foto Gerhard Fitzthum willkommen, schmunzelt Gschoßmann: Damit habe man endlich eine unmissverständliche Positionierung, eine eindeutige Handlungslinie, an der der Ruf nach neuen Liften und Funparks endgültig abprallt. „Es ist diese Festlegung, die unseren Ausstieg aus der Sachzwangspirale erst absichert.“ Kein Zweifel, dass er da recht hat: Ramsau schickt sich an, die erste deutsche Alpengemeinde zu werden, in der die Sirenenklänge der Wintersportlobby ungehört verhallen, in der also jene Resistenz gegen Veränderungen zurückkehrt, die man an den Alpenbewohnern einst so geschätzt hat. schoßmann kann auch deshalb entspannt bleiben, weil das Reglement keine Obergrenze für die Gästezahlen festlegt. Mit 330000 Übernachtungen ist Ramsau sicher nicht mehr weit von der Schmerzgrenze entfernt. Immerhin 80 000 Menschen stiefeln jedes Jahr durch die Wimbachklamm, und mindestens noch einmal so viele steigen noch zum Wimbachschloss hinauf, was einen erheblichen Druck auf die Landschaft bedeutet. „Im Sommer kommen auch wirklich genug“, sagt Fritz Rasp, der seit mehr als dreißig Jahren das Ramsauer Tourismus- G büro leitet. „In der kalten Jahreszeit ist unser Landschaftsparadies aber genauso gut zu entdecken, noch besser sogar, weil jetzt viel weniger Leute unterwegs sind.“ Deswegen soll das Augenmerk auf die Weiterentwicklung von Winterwanderangeboten, geführten Schneeschuhtouren und Skihochtouren gelegt und ein Rufbussystem eingeführt werden, das die Mobilität der Gäste auch in der Nebensaison sicherstellt. „Höhere Gästezahlen brauchen wir gar nicht, es geht uns in erster Linie um die bessere saisonale Verteilung und eine größere Wertschöpfung – und genau das wird das Bergsteigerdorf leisten.“ Es ist schwer, die Botschaft zu überhören: Die unverbaute Landschaft wird nicht mehr als Gratis-Dreingabe touristischer Angebote betrachtet, sondern als zentrales Qualitätsmerkmal, das seinen Preis haben muss. Natur wird teurer. Die Bevölkerung scheint den möglichen Gewinn begriffen zu haben, der in der freiwilligen Selbstbeschränkung liegt. Bei der einberufenen Bürgerversammlung sei kein Einziger aufgestanden, der gesagt habe, die Bergsteigerdorf-Idee sei ein Schmarrn, erzählt Renate Aschauer, die Schäferin aus dem Wimbachtal. Wer weiß, mit welchem Widerstand zu rechnen ist, wenn Bergler sich in ihrer Handlungsfreiheit bedroht sehen, muss dies als kleine Sensation begreifen. Spätestens seit der Ablehnung der Olympiabewerbung sind erste Anzeichen eines Bewusstseinswandels deutlich geworden. In der Ramsau glaubt jedenfalls kaum noch jemand den Versprechungen derer, die den Fremdenverkehr mit Events und Materialschlachten zukunftsfähig machen wollen. Der eigentliche Skandal, der mit der Bergsteigerdorf-Initiative zutage tritt, ist ein anderer. Er liegt in der Erkenntnis, wie wenige Orte es im deutschen Alpenraum noch gibt, die für eine Bewerbung überhaupt in Frage kommen. Fragen lässt sich allerdings, ob die Rückbesinnung auf den klassischen Bergsteiger nicht allzu romantisch ist. Renate Aschauer klagt jedenfalls über die Hightech-Ausrüstung der vermeintlich sanften Natursportler. Weil die Stirnlampen der neuesten Generation die Strahlkraft von Autoscheinwerfern erreicht hätten, stiegen immer mehr jetzt mitten in der Nacht vom Watzmannhaus ins Tal – direkt an ihrem Weideland vorbei. „Die Hütehunde bellen stundenlang, und die Schafe kommen nicht mehr zur Ruhe.“ Samstag, 28. November 2015, in der F.A.Z. FEUERWERK Mario Lohninger kocht ein Herbstmenü in sieben Gängen. MUNDWERK Korrespondenten schildern kulinarische Weihnachtsbräuche in aller Welt. KUNSTWERK Drei Sterneköche versuchen sich an den Zutaten eines Care-Pakets. HANDWERK Im besten Restaurant der Welt geht es locker zu. FACHWERK Harry’s Bar ist der berühmteste Treffpunkt in Venedig.
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