Im Internet grassiert der Judenhass - Schweizerischer Israelitischer

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Tages-Anzeiger – Montag, 21. März 2016
Zürich
Entköppeln
Die Aktion von
Philipp Ruch war
letztlich harmlos.
Kesb-Gegner
Verleger Bruno Hug
kämpft unbeirrt
gegen die Behörde.
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Im Internet grassiert der Judenhass
2015 ging die Zahl der antisemitischen Vorfälle zurück, doch es gab zwei massive Attacken auf Zürcher Juden.
Gegen die zunehmende Hetze im Internet haben jüdische Organisationen Anzeige erstattet – mit Erfolg.
Martin Sturzenegger
EXKLUSIVER
INNENEINRICHTER
SCHLIESST
BIS
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TOTAL
Es ist der 4. Mai 2015, früher Abend. Im
Zürcher Kreis 2 gehen drei Jugendliche
zu Fuss ins Fussballtraining des FC
­Hakoah – des grössten jüdischen Sportvereins in Zürich. Kurz vor dem Trainingsplatz in der Enge werden sie von
zwei unbekannten Jugendlichen abgefangen. Die Situation eskaliert. Die jüdischen Fussballer werden geschubst,
antisemitisch beschimpft, geohrfeigt
­
und getreten. Ein Passant, der die Szene
­beobachtet, stellt sich dazwischen. Es
gelingt ihm, die Täter, die kaum älter als
14 Jahre alt sind, zu vertreiben.
Die elf- und zwölfjährigen Opfer erstatteten Anzeige, doch die Täter konnten bis heute nicht identifiziert werden.
Die Stadtpolizei bestätigt die bisher unbekannte antisemitische Attacke. «Der
Vorfall ist für uns einzigartig», sagt Clubpräsident Marc Blumenfeld. Dass ein
Passant beherzt einschreite, sei jedoch
ein gutes Zeichen: «Es zeigt, dass die
­Ablehnung von Antisemitismus in der
Schweiz vergleichsweise hoch ist.» Dennoch ist der Fussballverein in Alarmbereitschaft. Die Trainingszeiten wurden
nach den Paris-Anschlägen von der Website gestrichen, und bei Grümpelturnieren ist jeweils ein Sicherheitsdienst vor
Ort. «Übergriffe wie jener im letzten Mai
beunruhigen uns. Auch einige Eltern
sind besorgt», sagt Blumenfeld.
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Rämistrasse 17 . 8001 Zürich
www.muraltoag.ch
Demo für «offene
Grenzen»
Das hat Seltenheitswert: Oerlikon war
am Samstag Schauplatz einer Demo.
Einige Hundert Teilnehmer forderten
­
«offene Grenzen» und ein Ende der
­«unmenschlichen Flüchtlingspolitik»
der Schweiz und der EU. Besammelt
­hatten sich die Demonstranten vor dem
Hallenstadion und damit in unmittel­
barer Nähe zur Messehalle, in der seit
Januar Flüchtlinge wohnen. Vor und
­
während der Demo geisselten Redner
die Abschottungspolitik und den Deal
der EU mit der Türkei. Ein Redner rief
zur Revolution auf: «Die Verteidiger des
Systems müssen angegriffen werden.»
Die Demo selbst war eine bunte,
friedliche Mischung: Eltern mit Kindern,
Senioren, Flüchtlinge, Punks, die Revolutionäre Jugend Zürich. Die Polizei
­begleitete den Zug diskret, zeigte aber
an neuralgischen Punkten Präsenz.
Nicht verhindern konnte sie Spuren in
Form von Wandzeitungen und Stickern.
Auch in Luzern, Basel, Genf, Lausanne und Neuenburg gingen am Samstag Menschen auf die Strasse. Die Demos
fanden im Rahmen des internationalen
Aktionstages gegen Rassismus und Faschismus statt. (leu)
Verbalattacken und Drohbriefe
Die Gewalttat ist im Antisemitismus­
bericht 2015 aufgeführt, den der Schweizerische Israelitische Gemeindebund
(SIG) und die Stiftung gegen Rassismus
und Antisemitismus (GRA) heute publizieren. Es gab letztes Jahr noch einen
zweiten physischen Übergriff in Zürich:
Die Attacke eines Nazimobs auf einen
­orthodoxen Juden im Juli in Wiedikon –
unweit vom ersten Tatort entfernt.
Ansonsten wurden vor allem verbale
­
­Attacken und Drohbriefe registriert.
«Die Terrorgefahr ist
gestiegen, unabhängig
davon, wie viele Juden
auf der Strasse beleidigt
werden.»
Viel Arbeit
für die Stadtpolizei
SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner
Der neuste Bericht ist auf den ersten
Blick erfreulich: Die Zahl der Vorfälle in
der Deutschschweiz sank gegenüber
dem Vorjahr deutlich – von 66 auf 14.
SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner
relativiert den Rückgang: «Antisemitismus ist latent vorhanden und dringt
meist durch äussere Anlässe an die
Oberfläche.» Als sich 2014 der Konflikt
zwischen Israel und Palästina verschärfte, stiegen die antisemitischen
Vorfälle in Zürich markant an. Die rückläufige Zahl von 2015 sei auch Ausdruck
der geringeren Spannung in Israel.
Die Kantonspolizei Zürich hat nach
den Paris-Anschlägen vom November
vermehrt jüdische Institutionen bewacht. Sie gibt auf Anfrage bekannt,
dass sie die Situation der jüdischen
­Gemeinde laufend beobachte und sich
vorbehalte, Massnahmen anzupassen.
«In unsere Lageanalyse fliessen verschiedene Aspekte ein – auch der Anti­
semitismusbericht», sagt Sprecherin
Carmen Surber.
Der Stadtzürcher Polizeivorsteher
­Richard Wolff will den Bericht zuerst eingehend studieren, bevor er sich ö
­ ffentlich
äussert. Der AL-Politiker brachte jüngst
Bewegung in die Sicherheitsdebatte, als
er sagte, dass die gestiegenen Sicherheitskosten für die jüdische Gemeinde
«fast nicht mehr tragbar» seien (TA vom
1. Februar). Allein in Zürich belaufen sie
sich auf rund eine Million Franken jährlich. Wolff zeigte Verständnis für die jüdische Forderung nach einer staatlichen
Kostenbeteiligung. Das VBS hat kürzlich
unter strengster Geheimhaltung eine Arbeitsgruppe gebildet, die Schutzmass-
Anzeige
Rund eine Million Franken wenden die jüdischen Gemeinden in Zürich für Sicherheitsmassnahmen auf. Bild: Thomas Egli
nahmen für ­jüdische Einrichtungen erarbeiten soll.
Jonathan Kreutner will die sicherheitspolitische Frage nicht mit der geringeren Zahl antisemitischer Vorfälle in
Zusammenhang bringen: «Die Terror­
gefahr ist gestiegen. Unabhängig davon,
wie viele Juden auf der Strasse beleidigt
werden.» Jüdische Einrichtungen seien
nach wie vor besonders gefährdet, dies
hätten die Anschläge der letzten Jahre in
Europa gezeigt.
Coiffeuse rief zum Mord auf
Wie angespannt die Lage ist, zeigen
­antisemitische Inhalte, die im Internet
verbreitet werden und die sich kaum
quantifizieren lassen. Sie werden deshalb auch nicht systematisch im Anti­
semitismusbericht erfasst. «In sozialen
Netzwerken fordern gewisse Leute unverhohlen, ‹Juden abzuschlachten›»,
sagt Kreutner. Kontrollieren lasse sich
die Onlinehetze kaum. Das Bundesamt
für Polizei (Fedpol) bestätigt, dass die
Meldungen wegen Rassendiskriminierung im Netz in den letzten Jahren stark
zugenommen haben. So verzeichnete
die interne Koordinationsstelle zur
­B ekämpfung von Internetkriminalität
(Kobik) von 2013 auf 2014 einen Anstieg
um über 100 Prozent. Die Zahlen für
2015 werden im Mai publiziert.
Weil es kaum Verurteilungen von Internetrassisten gab, wurde die jüdische
Gemeinde selbst aktiv. Allein 2014 zeigten der SIG und die GRA 25 Personen an.
Das häufigste Vergehen: Aufruf zu Gewalt oder Mord. Die Erfolgsquote der
Anzeigen ist hoch, in den meisten Fällen
resultierte eine rechtskräftige Verurteilung. Viele Absender nahmen sich nicht
die Mühe, ihre Identität zu verschleiern.
So etwa die harmlos erscheinende Coiffeuse O. M. (Name der Redaktion bekannt) aus Zürich, die auf ihrem Facebook-Profil dazu aufrief, alle Juden zu
erschiessen. Sie wurde zu 20 Tages­
sätzen à 20 Franken und einer zusätzlichen Busse von 750 Franken verurteilt.
Hürden für Strafverfolger
Treten die Antisemiten jedoch anonym
auf, ist die Chance auf eine Verurteilung
klein. «Wir können amerikanische
Unternehmen wie Twitter oder Face­
book nicht zur direkten Herausgabe
der Nutzerdaten verpflichten», sagt
Sandra Schweingruber vom Zürcher
­
Kompetenzzentrum für Cybercrime. Die
Staatsanwältin hat schon einige Anzeigen wegen Antisemitismus im Internet
bearbeitet. Liess sich die Identität der
Angezeigten nicht ausfindig machen,
scheiterte die Ermittlung in der Regel an
der Zusammenarbeit mit den amerikanischen Behörden. Wenn in den USA
Äusserungen unter die Meinungsfreiheit
fallen, die hierzulande verboten sind,
wird ein Rechtshilfeersuchen der hiesigen Behörden nicht ausgeführt. Durch
das globalisierte Internet wird den Strafverfolgern eine zusätzliche Hürde gestellt, sagt Schweingruber.
Auch wenn die Behörden an User­
daten gelangen, garantiert dies noch
­keinen Erfolg. Denn Schweizer Provider
wie Swisscom, Sunrise oder Salt behalten die IP-Adressen nur sechs Monate –
wie das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung vorschreibt. «Es müsste sich auf
politischer Ebene etwas bewegen», sagt
Staatsanwältin Schweingruber. «Ansonsten sind uns oft die Hände gebunden.»
Nicht weniger als sechs Diebe und Autoknacker hat die Stadtpolizei Zürich in
der Nacht von Samstag auf Sonntag in
den Stadtkreisen 4 und 5 verhaftet. «Die
Handschellen schnappten im Stundentakt zu», schreibt die Stadtpolizei in
­einer Medienmitteilung. Die verhafteten
Personen stammen alle aus Algerien,
Marokko und Tunesien, sie sind zwischen 18 und 33 Jahre alt. Zwei der Festgenommenen waren von Stadtpolizisten
an der Langstrasse in flagranti erwischt
worden, als sie ­einer Frau ein Handy aus
der Tasche klauten. Ein weiterer Dieb
wurde von ­einem Türsteher beobachtet,
als er ­einer Frau die Handtasche entwendete. Auch er konnte an der Lang­
strasse festgenommen werden. Aufmerksame Anwohner waren es schliesslich, die der Polizei drei Autoknacker
meldeten. Ein Mann hatte gegen 3 Uhr
morgens an der Röntgenstrasse die
Scheibe eines Personen­
wagens eingeschlagen, die beiden anderen waren
etwa eine halbe Stunde s­päter an der
Erismannstrasse in mehrere Fahrzeuge
eingebrochen. (leu)
Die Ecke
Ausgetrieben
Es ist ja nicht so, dass inszenierter
Aberglaube, öffentlich zelebrierte
schwarze Magie und das symbolische
Austreiben böser Geister eine unerhört
neue Idee des politischen Aktions­
theaters wären. In Zürich hat das alles
eine lange Tradition. Sie heisst Sechseläuten. (ese)