Du sollst nicht begehren

Zarabeth
Du sollst nicht begehren ...
Ein Ruhrpott-Roman
Rohfasszng, nicht korrigiert
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Kapitel 1 - Zwischen den Stühlen
Sandra erwachte vom schrillen Zirpen ihres Haustelefons. Auf dem Bauch
liegend, streckte sie lediglich die Hand aus, ohne das Gesicht aus dem Kissen zu
heben, in dem es zuvor vergraben gewesen war. Ihr Schädel drohte zu platzen
und dies war der einzige Grund, warum sie sich überhaupt bewegte. Ihre Finger
tasteten blind über das kühle Glas ihres altertümlichen Nachtschranks. Sie
streckte sich, den Anrufer verfluchend und bekam endlich das schnurlose Gerät
zu fassen. Neben ihr regte sich ihr Bettgenosse, drehte sich zu ihr um und legte
eine große, warme Hand auf ihren baren Rücken. Ihre Haut kribbelte angenehm
und übertünchte ihren ersten unwilligen Gedanken. Sie hatte Peter nach Sibirien
gewünscht.
»Bresinsky«, murmelte sie in den Apparat, die Augen gegen das grelle
Sonnenlicht fest zusammengepresst.
»Sandy, was zum Teufel soll das? Ich lasse seit einer Ewigkeit klingeln!«
Peter klang gewohnt ungehalten. Sandra brauchte keine Sekunde, um die
Fakten zu kombinieren und sich ein Bild von ihrer Situation zu machen. Mit
einem Ruck setzte sie sich auf, verbat sich auf ihren Bettnachbar zu schielen und
konnte den überraschten Ausruf dennoch nicht zurückhalten: »Peter!«
»Ich bin in zehn Minuten bei dir!« Er legte ohne einen Abschiedsgruß auf.
Sandra presste das Telefon trotzdem weiter ans Ohr. Als würde Peter sie
nach Hause begleiten! Oder sich sonst wie um sie bemühen. Schnell schob sie
den ketzerischen Gedanken beiseite. Er war leitender Ankläger. Er war eine
Koriphähe. Er hatte einfach keine Zeit für aufwendige Dates, den
Schnickschnack einer festen Beziehung. Und sie auch nicht! Was wollte sie
überhaupt? Er ließ sie mit ihm arbeiten. Er verbrachte seine wertvolle Zeit mit ihr,
einer Anfängerin. Sie konnte sich glücklich schätzen, dass er sie überhaupt
beachtete. Und jetzt hatte sie alles kaputtgemacht. Was immer sich aus der
Affäre entwickelt hätte. Sie schluckte und erinnerte sich an ihr Zeitlimit. Zehn
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Minuten.
Sie drehte sich, um ihren Liebhaber der letzten Nacht raus zu schmeißen. Sie
konnte später mit der Situation hadern, nun galt es, Beweise verschwinden zu
lassen. Den Typen, dessen Anwesenheit sie sich nicht ganz erklären konnte.
Gut, sie hatte sich nach dem Gespräch mit ihrem Vorgesetzten vorgenommen
irgendwo zu versacken, aber schließlich war dies ihr allabendlicher Plan seit
unzähligen Wochen. Nie hatte sie ihn tatsächlich umgesetzt. Sie begegnete den
blauen Augen ihres Bettgenossen, blinzelte und rutschte dann recht entsetzt aus
dem Bett, ohne einen Ton zu verlieren. Ihre Beine trugen sie, wenn auch zittrig,
bis in ihr Badezimmer, wo sie leise die Tür schloss und anschließend an der
gekachelten Wand direkt daneben herabsank. Das Klo vor Augen, gellte ein Wort
recht eindringlich in ihrem Hirn: Scheiße!
Ihr wurde schlecht. Als wäre es nicht schlimm genug, dass sie Peter betrogen
hatte, nein, sie musste es ausgerechnet mit ihm tun. Patrick Schulte-Henning.
Der leitende Ermittler ihres allerersten Mordfalls. Peters Erzfeind. Die Lider
klappten ihr zu und sich der neuerlichen Übelkeit zu widersetzen, war wesentlich
schwerer. Sandra vergrub leise stöhnend ihr Gesicht in ihren Armen.
Die Tür ging auf, sie spürte es an einem Luftzug. Oh, Gott, geh weg! Flehte
sie still und wusste, dass der Sadist im Himmel sie nicht erhören würde. Sie
trachtete danach ihn einfach zu ignorieren. Beließ den Kopf, wo er war, presste
fest die Zähne aufeinander und summte still vor sich her. Die Tür schloss sich
wieder mit einem sachten Ton, aber Sandra wusste es besser, als aufzusehen.
Er war nicht gegangen, oh, nein. Er stand neben ihr lässig am abblätternden,
beigefarbenen Rahmen gelehnt und sah sicher überaus selbstgefällig auf sie
herab. Nach weiteren langen Momenten, brach er das Schweigen: »Was wollte
Bauer?«
Sandra seufzte gequält. Vielleicht ging er, wenn sie ihre Misere eingestand?
Oh, sie glaubte es nicht eine Sekunde lang, aber die Hoffnung starb bekanntlich
zuletzt.
»Er ist auf dem Weg.« Ihre Stimme war ungewohnt piepsig und gab letztlich
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den Ausschlag. Sie wollte nicht den Eindruck erwecken schwach zu sein.
Unfähig mit Problemen umzugehen, oder Herausforderungen, wie es ihr
Vorgesetzter in der Verkehrsdeliktabteilung genannt hatte. Mit einem Zwinkern
und einem kameradschaftlichen Klaps auf die Schulter.
Sie hob den Kopf, fokussierte ihren Blick auf Schulte-Hennings
nachdenkliches Gesicht und zischte: »Verschwinden Sie!«
Gleich beide Brauen hoben sich im deutlichen Unglauben. Dennoch kam die
Replik umgehend: »Nein.«
Sie hatte es ja gewusst.
Schulte-Henning verschränkte die Arme vor der nackten Brust und Sandra
zwang sich, seinem Blick zu begegnen. Ja nicht herabsehen! Nicht, dass es nötig
wäre. Zu ihm aufzusehen gab ihr ohnehin einen vollen Überblick über seine alles
andere als abstoßende Gestalt. Es war deutlich, dass er das Angebot des
Polizeisports ausgiebig nutzte, dazu hätte es Peters abfällige Worte nicht
gebraucht.
»Ich habe dich für klüger gehalten.«
Die Bemerkung verwirrte Sandra und verärgerte sie zugleich, darauf
einzugehen verbat sie sich aber. Die Minuten verrannen wie Sand zwischen den
Fingern.
»Ich will, dass Sie gehen, Kommissar Schulte-Henning!« Sie rappelte sich
schwankend auf, wobei ihr die Wand in ihrem Rücken eine willkommene Stütze
war. Auch, wenn sie nicht ganz ausreichte. Sie war noch völlig damit beschäftigt
die Übelkeit niederzuringen und bemerkte daher nicht gleich, dass er nach ihrem
Ellenbogen gegriffen hatte und sie an sich zog. Erst sein Murmeln machte sie
darauf aufmerksam. Sie riss die Augen auf, sich von ihm los und überlegte es
sich dann doch wieder anders. Anstatt ihn anzupflaumen, drehte sie sich um und
sackte vor der Toilette zusammen. Zumindest würde sie das Erbrochene nicht
aufwischen müssen. Sie schloss die Augen und lehnte die Stirn an die Hand, die
auf der Brille ruhte, als der Brechreiz abflaute. Sie hatte es maßlos übertrieben.
Schulte-Henning lag nackt in deinem Bett, Sandra, selbstverständlich hast du
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es maßlos übertrieben!
Eine Hand legte sich in ihren Nacken.
»Hier«, raunte er nahe an ihrem Ohr und schickte ihr damit eine Gänsehaut
über den Rücken. »Spül dir den Mund aus. Hast du Alkaselza da?«
Im Flur bimmelte eine Bahnglocke. Irritiert sah Sandra auf und ließ sich das
Glas aufdrängen. Ein Mickey Mouse Glas aus Kinderzeiten, aus dem sie
gewöhnlich ihre KiBa schlürfte. Er war in der Küche gewesen.
»Ich muss da ran gehen.« Schulte-Henning zuckte die Schultern. »Ich bin im
Dienst.« Er grinste kurz und erhob sich. Die Tür ließ er offen und so konnte sie
das Gespräch verfolgen.
»Schulte-Henning. - Wo?« Er warf einen Blick zu ihr zurück. »Worum geht ...
- Ich bin ganz in der Nähe.« Er legte auf. »Arschloch!« Damit schob er sein
Mobiltelefon zurück in eine Jackentasche. »Wir haben fünf Minuten.« Er
verschwand in ihrem Schlafzimmer. »Mindestens. Da Bauer das Wort
Pünktlichkeit stets im Duden nachschlagen muss ... Vielleicht eine
Viertelstunde.« Er kam zurück und schloss sich auf dem Weg die Knöpfe an
seiner Jeans. Er schlüpfte in sein T-Shirt. »Du solltest duschen.« Er sah auf sie
herab. Seine Stirn wellte sich. »Brauchst du Hilfe?«
Soweit kam es noch! Sandra stellte das Glas beiseite und drückte sich
mühsam in die Senkrechte. Dennoch schwankte sie mehr, als dass sie ging zur
Dusche. Sie stützte sich an der Wand ab und zog lediglich am Wasserhahn. Das
Wasser war eisig und entlockte ihr einen kleinen Aufschrei. Sie senkte den Kopf
und ließ es auf sich herab prasseln. Es würde nicht helfen. Deswegen verwarf sie
jeden Abend ihren Vorsatz sich zu betrinken so schnell wieder, wie sie ihn fasste.
Für gewöhnlich. Nicht so in der letzten Nacht. Was war anders gewesen?
»Wie magst du deine Eier?«
Sandra sah über die Schulter zurück. Sie musste ihn falsch verstanden
haben.
»Es ist kein Brot im Haus und auch kein Müsli, lediglich sechs Eier ...« Er
legte den Kopf schräg. »Und Reis mit abgelaufenen MHD.«
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Alles in ihr drängte sie dazu, ihn die Hühnerprodukte essen zu lassen.
»Im Februar hat meine Schwester vorübergehend hier gewohnt. Es sind noch
ihre Eier.«
Es zuzugeben war nicht so übel. Zumindest sah sie ihn mal sprachlos. Er
fasste sich leider schnell wieder, zuckte die Achseln und kommentierte: »Dann
eben kein Frühstück.«
Er sah an ihr herab. Völlig ungeniert und trieb ihr damit die Zornesröte in die
Wangen.
»Raus!«, spie sie und warf ihm ihren Schwamm an den Kopf. Er gönnte sich
gelassen einen zweiten Blick, bevor er fröhlich vor sich hin pfeifend das Feld
räumte. Herrgott, wie hatte sie mit ihm im Bett landen können? Nun, er war
sicherlich nicht ihr erster dahingehender Fehltritt. Seufzend mahnte sie sich zur
Eile. In ihren flauschigen Bademantel gehüllt, huschte sie über den Flur,
keineswegs trittsicher und so stolperte sie in die Küche. Sie brauchte dringend
einen Kaffee und musste unbedingt Schulte-Henning loswerden, bevor Peter an
der Tür klingelte.
»Hopsalla«, raunte der an ihrem Ohr, als er sie abfing. Ihre Küche war eine
böse Entschuldigung für eine solche, bestand sie doch aus überfüllten vier
Quadratmetern und beherbergte gerade mal einen Kühlschrank, einen schmalen
Herd und eine winzige Spüle. Der Klapptisch war ausgezogen und blockierte
damit den ganzen Raum.
Sandra sah auf, noch unsicher, ob sie sich für die Hilfe bedanken, oder ihn
lieber für seine unangebrachte Berührung an schnautzen sollte. Seine Augen
strahlen in unglaublich bezwingenderweise und so blinzelte sie lediglich, als er
sich vorbeugte. Die Berührung seiner Lippen ließ sie erschrocken zurückzucken.
Es war wie ein Schlag gewesen. Ihre Glieder waren steif und folgten nicht ihrem
Befehl, sich aus seinen Armen zu winden, die sich nun fest um sie schlossen. Er
presste sie an sich und verschlang sie fast mit seinem Kuss. Ihre Lider fielen zu
und sie sackte zittrig gegen ihn. Er schob sie zurück, bis sich der Rahmen in
ihren Rücken bohrte und riss an der Schlaufe ihres Bademantels.
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»Sandra«, murmelte er an ihren Lippen. Seine Hände fuhren über ihren
Körper, schlossen sich um ihren Busen, dann um ihre Pobacken, um ihren
Schoß gegen seinen zu pressen. Sie würden noch erwischt werden. Aufregung
wusch durch ihre Adern und ließen ihren Atem stocken, oder waren es seine
Worte?
»Ich will dich«, murmelte er und fluchte verhalten. Seine Hand rutschte über
ihren Bauch und weiter in ihren Schoß. Sie stöhnte an seinen Lippen. Er neckte
sie mit kundigen Fingern. »Und du mich!«
Nein, ganz und gar nicht. Dennoch war es nicht sie, die ihn dabei stoppte,
sich die Hose aufzuknöpfen. Es klingelte. Einmal. Zweimal. Erschrocken riss
Sandra die Augen auf. Seine lagen unzufrieden auf ihr.
»Verdammt!«, zischte er und ließ sie los. Sie beobachtete ihn, wie er von ihr
ab rückte und sich schnell die Kleidung richtete. Erst sein Blick an ihr herab
rüttelte sie auf. Sie schlang den Mantel um sich. »Ich mache auf.«
»Nein!« Oh, Gott, er durfte nicht aufmachen. Peter würde doch sofort wissen,
was sie getan hatte. Und dies auch noch mit dem Mistkerl Schulte-Henning!
»Setz dich, trink deinen Kaffee.« Er drückte sie auf den Klapphocker nieder
und wendete sich durchs Haar fahrend ab. Ein Desaster. Ein fürchterliches
Desaster!
Patrick wartete angespannt hinter der geschlossenen Wohnungstür auf
Staatsanwalt Bauer. Lust brannte in seinen Adern. Er hätte sie ficken sollen. Er
hätte das Vorspiel ausfallen und sie einfach ficken sollen. Herrgott, sie fickte
schließlich auch das Schwein Bauer. Er wusste genug von dem feinen Herrn
Staatsanwalt, um sie dafür zu verachten. Nicht, dass es sie kümmern würde.
Wenn man sich selbst so gering achtete, um Bauers schneller Fick zu sein,
würde ihr seine fehlende Achtung kaum etwas aus machen. Wie Jen, würde sie
ihn einfach auslachen, wenn er ihr vorhielt, wie billig sie sich machte.
Der Gedanke an seine Ex kühlte sein Blut, auch wenn es nicht gerade dabei
half, ihn zur Ruhe kommen zu lassen. Es klingelte erneut und Patrick atmete
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langsam aus. Ruhe. Mit einem Ruck öffnete er die Tür, setzte eine gelangweilte
Miene auf und verzog die Lippen.
»Bauer.«
Der Staatsanwalt sparte sich einen Gruß und drängte sich an ihm vorbei. Er
sah sich um. Er kannte die Wohnung nicht. Patrick runzelte die Stirn. Hatte er
falsch gelegen? Schlief Sandra gar nicht mit Bauer?
Die bisher vermisste Gelassenheit legte sich beruhigend wie ein warmer
Umschlag um ihn. Sehr gut. Er würde den Störenfried los werden und Sandra
wieder ins Bett kriegen. Natürlich, nachdem er sich für den Dienst abgemeldet
hatte.
»Sandra!«, rief Bauer ungehalten und suchte nach der passenden Tür.
Patrick wies auf die Küche.
»Kaffee, Bauer?«
Gefragter stampfte los, blieb im Rahmen stehen und musterte die junge
Anwältin mit verkniffener Miene. Sie drehte sich ihm zu und verlor den letzten
Rest Farbe. Sie schluckte, öffnete ihre Lippen und schloss sie unverrichteter
Dinge wieder.
»Guten Morgen«, wisperte sie schließlich dünn. Patrick seufzte lautlos.
Solange sie zusammenarbeiteten, wäre eine Affäre unprofessionell.
»Wie zum Teufel siehst du aus?«, fuhr Bauer sie an. »Herrgott, es ist gleich
acht!«
»Es ist Samstag«, soufflierte Patrick. »Selbst Anwälte dürfen sich hin und
wieder amüsieren, nicht wahr?« Er hielt seinen Ton leicht, wusste aber, dass
Bauer wohl verstand. Eben jene Worte hatte Bauer Patrick an den Kopf
geworfen, bei einem anderen Fall, an einem anderen Morgen, in einer anderen
Küche, bevor Patrick herausfand, dass sein Trauzeuge, Peter Bauer, mit seiner
Verlobten Jennifer schlief. Zehn Jahre waren seitdem vergangen, vergessen
hatte er es nicht. Bauers scharfe, schwarze Augen verengten sich.
»Wir stecken mitten in der Prozessvorbereitung und du hast Zeit ...« Er
glühte vor selbstgerechtem Zorn.
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Sandra schloss kurz die Augen, bevor sie ihr Kinn hob und mit ihm die Lider,
um ihrem Ankläger ruhig anzusehen. »Ich hielt es für notwendig, um den Baum
wieder zu sehen.« Sie nippte an ihrem schwarzen Kaffee. »Ich brauchte
Abstand. Eine Ablenkung.« Sie atmete tief ein. »Ich habe es übertrieben. Es tut
mir leid.«
Sie sollte sich bei ihm entschuldigen, dachte sich Patrick, schließlich hatte er
darauf verzichten müssen mit ihr zu schlafen. Weil es ihr zu übel ging und sie
ihm noch während des Vorspiels eingenickt war.
Bauer schüttelte den Kopf. »Zieh dich an.«
»Wozu?« Seine Frage ließ Sandra erneut erbleichen, während Bauer ihn
ärgerlich maß. »Ein Tatort wartet auf uns.«
Sandra würgte, schlug sich eine Hand vor den Mund und stieß ihn zur Seite.
Sandra zitterte am ganzen Leib. Die Fahrt ins Sauerland nahm fast zwei
Stunden in Anspruch. Zwei recht kurvige Stunden. Balve, ein kleiner Ort mitten
im Nirgendwo, war ihr Ziel und Sandra argwöhnte, dass der Sadist in den Wolken
sich ins Fäustchen lachte. Denn es gab keine schnelle Verbindung zwischen
Dortmund und Balve. Entweder man fuhr einen Umweg und nahm die Autobahn
nach Arnsberg, um von dort eine Stunde über kurvige Landstraßen zu fahren,
oder man versuchte sein Glück über Unna und Menden. Im letzten Ort, oder
besser kurz davor, beharrte Schulte-Henning auf sein Frühstück, was Peter fast
zur Weißglut brachte.
Dies, oder, dass Schulte-Henning darauf bestand, dass auch sie essen
musste. Sie hielten schließlich vor McDonalds, nachdem Peter den Vorschlag
einfach etwas mitzunehmen und es in seinem neuen Mercedes zu essen,
fluchend ausschlug. So kam Sandra zu einer Portion versalzener Eier,
Schulte-Henning war so freundlich gewesen, zwei Päckchen des Gewürzes
darüber zu schütten und einem weiteren Becher tiefschwarzen Kaffees. Ihr
Magen rumorte, obwohl sie sich schon besser fühlte, als vor ihrem Stopp.
Sie hasste ihn dafür. Er saß hinter ihr und machte sie verrückt mit seinem
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Starren. In der ersten Stunde war Schulte-Henning die wenigen bereits
vorhandenen Informationen durchgegangen. Die Leichen zweier junger Frauen
waren nahe der Schienen hinter der Reckenhöhle gefunden worden. Beide
verstümmelt, wie die Körper von Lena-Sophie Maier aus Waltrop und Mareike
Vulpius aus Bergkamen. Wie bei Lena-Sophie hatte man die beiden Leichen
einfach im Wald abgelegt und sich nicht darum geschert, ob sie gefunden
wurden. Immerhin waren es dieses Mal keine Kinder gewesen, die auf den
grausigen Fund gestoßen waren, sondern zwei Jäger. Nackt. Mit kahl rasiertem
Schädel.
Sandra konzentrierte sich auf den Asphalt vor ihr. In zweihundert Metern
rechts abbiegen, verlangte die klare, weibliche Stimme des Navigationssystems
und schreckte sie damit auf. Haus Recke, verkündete ein großes, nicht mehr
ganz neues Schild und verwies mit großen Lettern auch auf Führungen in der
Reckenhöhle. Peter ging auf die Bremse und sorgte bei ihr für neuerliche
Übelkeit. Er bog scharf ab und brachte das Auto dann abrupt zum Stehen.
»Schade«, seufzte Schulte-Henning laut und stieß die Wagentür auf. »Ich
hatte so gehofft, Frau Bresinsky kotzt dir in deinen schicken Mercedes!« Die Tür
schlug zu und brachte den Wagen ins Schaukeln. Sandra presste elendig die
Lippen aufeinander.
»Arschloch!«, spie Peter und sprach ihr damit aus dem Herzen.
Ihre Tür wurde geöffnet. »Frau Anwältin ...«
Fast meinte sie feine Frau Anwältin zu hören, in dem Ton mit dem
Schulte-Henning Peter gewöhnlich ansprach. Sie schauderte. Es war unmöglich
ihren unsäglichen Fehler geheim zu halten. Peter würde sie doch verachten,
ganz gleich, wie fürchterlich sie sich ohnehin schon deswegen fühlte. Gedemütigt
von ihrer eigenen Dummheit.
»Sandra?«
Die Fahrertür schlug zu und überdeckte fast die Ansprache.
»Brauchst du ...«
Flehentlich sah sie auf.
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»Bitte!«
So sollte Peter es gewiss nicht erfahren. Und so wollte sie damit nicht
konfrontiert werden. Gott, wie hatte das nur passieren können? Sie schob die
Frage erneut von sich, als sich Schulte-Henning zurück in ihr Gedächtnis rief.
»Brauchen Sie Hilfe, Frau Bresinsky?«
»Nimm dich endlich zusammen!«, knurrte Peter mit einem giftigen Blick.
»Rainer wird nie wieder aufhören zu spotten, wenn ...«
»Bauer, altes Haus!« Der Rufende winkte ihnen zu. »Hier rüber, oder
brauchst du vorher noch eine Stärkung? Im Restaurant haben sie die großen
Grünen.«
Peter setzte ein breites Grinsen auf und winkte zurück.
»Später gern!«, gab er zurück und murmelte ein kaum Vernehmbares:
»Blöder Affe!« Er drehte sich wieder zu ihr und das unechte Grinsen blieb haften.
»Nun, Sandra, wenn du noch einen Moment benötigst, gehe ich schon einmal
vor.« Er warf Schulte-Henning einen knappen Blick zu. »Bevor du die
Beweismittel kompromittierst.«
Sandra vergaß zu atmen. Ihre Augen, die auf Peters rigide Rückansicht
geheftet waren, begannen zu brennen und der Hals zog sich ihr zu. Sie wagte
nicht Schulte-Hennings Augen zu begegnen, in denen sicherlich heiße
Schadenfreude loderte.
»Pat? Wollen wir dann?« Er ließ sie stehen. Sie verfolgte, wie er den blöden
Affen freundschaftlich auf die Schulter schlug und eine Bemerkung machte, die
den runderen, etwas kleineren Mann, mit schütter werdendem Haar, zum Lachen
brachte. Er warf ihr einen anzüglichen Blick zu, der langsam an ihr herab
wanderte, bevor er mit seiner Antwort Peter ebenfalls auflachen ließ.
»Ich muss ihnen folgen, Sandra. Vielleicht solltest du dir tatsächlich noch
etwas Ruhe gönnen. Vielleicht noch einen Kaffee im Haus Recke?«
Besser sie brachte es sofort hinter sich. Bat ihn direkt, Stillschweigen zu
bewahren. Sie konnte nicht aufsehen.
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»Wir können uns bei den Vornamen nennen, Sandra. Möchtest du, dass ich
dich begleite? Ein paar Minuten lassen sich vertreten, ganz gleich, was Bauer
behaupten wird.«
Ihr Blick zuckte in sein Gesicht bei der Verleugnung des Staatsanwaltes.
»Hauptkommissar Rainer wird seine Jungs sicherlich gut instruiert haben.
Letztendlich haben wir lediglich das Recht auf Einsicht der Akten, alles andere ist
... Nennen wir es einen Freundschaftsdienst.«
Sandra klappte den Mund wieder zu und schluckte damit ihre Verteidigung
Peters herunter.
»Warum sind wir dann hier?«
»Wenn es kein Nachahmungstäter war ...«, begann Schulte-Henning mit
einem Schulterzucken.
»Dann sitzt der Falsche in Untersuchungshaft«, schloss Sandra
nachdenklich. Sie musste sich Carsten Kramer nicht ins Gedächtnis rufen, er
kam von selbst und mit ihm eine neue Welle Übelkeit. »Ich kriege dich!«, hatte er
gemurmelt, als sie nach der Vernehmung an ihm vorbei gegangen war. Seine
kalten, eisgrauen Augen hatten sie durchbohrt und sie hatte sich entblößt und
angreifbar gefühlt. Sie war Peter zittrig gefolgt und war ihm nur zu dankbar in die
Arme gesunken. Sie schloss die Augen, ohne die Erinnerung vertreiben zu
können. Eine schale Erinnerung, im Nachhinein. Und die Euphorie war schnell
verflogen gewesen.
»Ich komme mit«, murmelte sie. »Es muss ein Nachahmungstäter sein.
Mareike Vulpius Leiche lag in seinem Kofferraum!« Schulte-Henning sparte sich
einen Kommentar dazu.
»Bist du dir sicher?« Er hielt sie am Ellenbogen zurück. »Vielleicht solltest du
warten, bis die Leichen ...«
Sandra riss sich zittrig los.
»Lassen Sie das! Letzte Nacht war ein Fehler. Es wäre das Beste, wenn wir
das einfach vergessen!« Sie wendete sich brüsk ab und stapfte vom Wagen fort.
Ihre feuchten Hände wischte sie an ihrem Kostüm ab. Der knielange Rock
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schwang bei jedem Schritt und würde eine Herausforderung sein, wenn der Weg
so steil wurde, wie sie es beim ersten Anblick der Berge befürchtet hatte. Eine
Hose wäre zweckmäßiger gewesen.
Verbissen sah sie sich um. Sie hatte nicht mitbekommen, in welche Richtung
der blöde Affe und Peter verschwunden waren und der Parkplatz und das
angrenzende Waldstück, barsten vor Uniformierten.
»Der Weg ist gesperrt. Bitte nehmen Sie einen anderen für ihren
Spaziergang.«
Sandra presste die Lippen aufeinander. »Staatsanwältin Bresinsky. Mein
Kollege ...«
»Sie gehört zu mir, Stephens.« Schulte-Henning wies in den Wald. »Bauer
und Rainer sind bereits vorgegangen.«
»Bauer? Na, haben wir ein Glück!«, murrte Stephens und deutete hinter das
Haus zur Linken. »Der Weg ist abgesteckt. Kondome gibt es ...«
Sandra fiel vor Schreck die Kinnlade herab.
»Stephens!«, tadelte Schulte-Henning grinsend und schüttelte den Kopf. Der
Uniformierte warf ihr einen Blick zu, errötete und korrigierte sich mit einer
Erklärung. »Überzieher, Frau Staatsanwältin. Für die Schuhe. Um eventuelle
Beweise ...«
Sandra nickte schnell und zog das Absperrband aus dem Weg. Zumindest
ihre flachen Schuhe bewiesen Eignung, als der Weg steiler wurde. Sie folgte
dem rot-weiß gestreiften Band, hielt sich dabei am Rand und sah sich um. Unter
ihr verschwand der Parkplatz hinter dichtem Laub, allerdings konnte sie eine
halbwegs befestigte Straße wenige Meter neben ihrer Position ausmachen.
Schleifspuren und Fußabdrücke von zwei Personen führten tiefer in den Wald.
Sandra runzelte die Stirn.
»Parallel zur Straße«, murmelte Schulte-Henning hinter ihr. Auch er sah
zurück zum Parkplatz. »Nicht einsehbar.«
»Wenn es zwei Leichen sind, wurde nur eine geschleift. Es wäre unmöglich
...« Sandra brach ab und ging in die Hocke, um sich die Abdrücke genauer
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anzusehen. Die Fußabdrücke schienen gleich groß zu sein. »Warum?«
Ihr Magen grollte vernehmlich und Sandra presste die Lippen aufeinander.
»Darf ich Ihnen aufhelfen, Frau Anwältin?« Er hielt ihr die Hand entgegen.
Sein Anblick vom Morgen stand ihr ungebeten vor Augen. Sie schloss die Lider.
Scheiße!
Tief durchatmend schüttelte sie den Kopf.
»Keine Sorge, Frau Anwältin, ich habe Sie durchaus verstanden. Obwohl
sich Ihre Chancen auf Bauers Interesse lediglich erhöhen würde, wenn wir ...«
Er brach ab, aber wohl nicht wegen ihres bösen Blickes. Hinter ihr knackten
Äste. Sandra kam schwankend auf die Füße.
»Ah, Patrick, was tust du in der Heimat?« Der Fragende grinste
Schulte-Henning kurz an, bevor er Sandra die Hand entgegen streckte.
»Sind Sie seine neue Kollegin? Sie sind hübscher, als er Sie beschrieben
hat.« Das Grinsen hatte etwas eigentümlich vertrautes.
»Bitte, Papa, Frau Staatsanwältin versteht deinen Humor nicht.«
Sandra fuhr zu ihm herum. Das gleiche Grinsen lag auf Schulte-Hennings
Lippen und er zuckte die Schultern.
»Staatsanwältin? Doch nicht Peters Staatsanwältin.« Das Lächeln
verschwand umgehend und die blauen Augen des älteren Mannes fuhren an ihr
herab.
»Zumindest nicht die meine.«
Sandra sog scharf den Atem ein. »Nun, das mit Sicherheit nicht. Ich gehöre
niemandem!«
»Natürlich«, murmelte der Ältere, ohne überzeugt zu wirken und
Schulte-Henning seufzte.
»Nun, Frau Anwältin, mein Vater Dr. Schulte-Henning. Er ist der für diese
Gegend zuständige Gerichtsmediziner.«
Dr. Schulte-Henning streckte ihr die Hand entgegen und schüttelte ihre fest.
»Können Sie schon etwas über den Todeszeitpunkt sagen?« Sandra hielt
den Atem an und ignorierte den scheelen Blick.
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»Die Leichenstarre ist noch nicht voll ausgeprägt, demnach in den Letzten
...«
Sandra schluckte und legte sich die Hand auf den Bauch. Das Gesicht
wendete sie ab, zu peinlich war es ihr, ihre Schwäche nicht in den Griff zu
bekommen. Wieder griff Schulte-Henning nach ihrem Ellenbogen, um sie zu
stützen.
»Verdammt, Sandra, ich bringe dich zurück zur Recke. Du hättest nicht
mitfahren sollen.«
Sandra schüttelte ihn ab, irritiert über die Besorgnis in seinen Augen.
»Staatsanwalt Bauer ...«
»Ist ein Arsch.«
»Bestand darauf, wie Sie sehr wohl wissen! Und es geht mir gut!«, schloss
sie verbissen und drehte ihm den Rücken zu. »Dr. Schulte-Henning ...«
»Sind Sie schwanger?« Der Blick des Mediziners legte sich auf die immer
noch auf den Bauch gepresst Hand.
»Nein!«
»Sie sind bleich wie der Tod, Sandra. Nehmen Sie irgendwelche Drogen?
Bewusstseinserweiternde Mittel? Ritalin?«
Sandra klappte der Mund auf, aber sie fasste sich schnell wieder.
»Selbstverständlich nicht!« Dr. Schulte- Henning war ebenso unausstehlich wie
sein Sohn.
»Sie ist betrunken und sollte besser ihren Rausch ausschlafen. Hast du
zufällig Beweissicherungstüten dabei? Bauer erwürgt sie, sollte sie seinen Tatort
...«
»Ich habe mich im Griff, Kommissar Schulte-Henning!«, zischte sie, ohne ihn
anzusehen. Ihre Fingernägel schnitten tief in ihre Handballen.
»Nun, sicher ist sicher«, murmelte der Arzt und zückte besagte Tüten aus der
Jackentasche. Er hielt sie ihr hin. Sandra verkniff die Lippen. Der Polizist nahm
sie entgegen und schlug sie sich in die Hand.
»Schickst du mir eine Kopie von dem Bericht?«
»Du sollst nicht begehren ...«
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»Komm doch zum Essen, deine Mutter würde sich freuen.«
»Wohl nicht«, schlug Schulte-Henning aus. »Eines noch: Achte auf
Vergewaltigungsspuren.«
»Es hat mich gefreut Sie kennen zu lernen, Sandra«, bemerkte Dr.
Schulte-Henning und klang dabei wenig aufrichtig. Sie erwiderte den Gruß und
sah ihm nach, als er vorsichtig den Pfad entlang ging. Dann senkte sie den Blick,
der auf die Spuren im Waldboden fiel.
»Achtundvierzig Zentimeter? Ungewöhnlich groß, selbst für einen
Herrenschuh und eine Information, die nicht öffentlich gemacht worden ist.« Sie
konnten unmöglich den Falschen angeklagt haben. Sandra fröstelte in der lauen
Spätsommersonne. Ich kriege dich! Und schlang die Arme um sich.
»Sandra?«, sprach er sie sanft an. »Vielleicht solltest du ...«
»Kommissar Schulte-Henning, hören Sie auf ...« Die Vibration ihres
Mobiltelefons lenkte sie ab. Sie zog es aus der Tasche ihres Blasers und
erkannte am Display den Anrufer. Peter Bauer. Sie schloss die Augen und nahm
den Anruf entgegen. »Bres ...«
»Ist Patrick noch bei dir?«, fragte er harsch. »Er soll seinen Arsch hier hoch
bewegen!«
Sandra fehlte die Spucke zu einer Erwiderung.
»Und du könntest dich auch endlich heraufbequemen. Hier wartet Arbeit, die
erledigt werden muss! Du kannst deinen Rausch später ausschlafen.«
»Wir sind auf dem Weg«, murmelte Sandra verdattert. »Und sprachen
gerade ...«
»Ich habe dich schon einmal gewarnt. Patrick ist ein Arschloch! Wenn du
weißt, was gut für dich ist, dann sprichst du nur das Nötigste mit ihm.« Eine
ungemein freundliche Warnung, die Peter noch toppte, indem er, wenn schon
weicher, fortfuhr: »Schon gar nicht von uns. Glaube mir, er würde alles tun, um
dazwischen zu funken. Er gönnt mir keine junge, hübsche Freundin.«
Sandra klappte fast der Mund auf. Freundin? Oh, was hatte sie nur
angestellt? »Was hältst du von einem romantischen Abendessen?«
»Du sollst nicht begehren ...«
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Das Grauen schlug über ihr zusammen. Wie sollte sie ihm sagen, was sie
getan hatte? Gerade jetzt, da sie anscheinend tatsächlich eine Beziehung
führten? Wie kam sie nur immer wieder in solche Dilemmata?
»Ich ...«
»Sieh zu, dass du hier rauf kommst. Ich brauche dich.«
Sandra klappte den Mund wieder zu bei dem Umschwung seiner zuvor
freundlichen Stimme in den groben Befehlston.
»Sie sind auf dem Weg ... Weibliches Schuhwerk ...« Dann war die Leitung
tot. Wie am Morgen presste sie das Telefon einen Moment länger an ihr Ohr,
bevor sie es langsam sinken ließ. Sie spürte Schulte-Hennings Blick auf sich und
schob ihre mannigfaltigen Stimmungen beiseite. Sie konnte sich später noch den
Kopf zerbrechen.
»Warum hast du mich angerufen und nicht Bauer?«
»Bitte!« Sie drehte sich um. »Ich habe Sie sicherlich ...«
»Letzte Nacht.« Er deutete auf ihr Handy und Sandra hob es automatisch,
um auf das Display herab zu sehen. »22:00 Uhr. Deine Nummer ...«
Sandra scrollte über ihr Verzeichnis. Es gab ein Dutzend eingehende Anrufe
und diverse SMS von einer unterdrückten Nummer und darunter einen
ausgehenden Anruf. Sie tippte auf wählen und hielt den Atem an. Binnen
Augenblicken erklang das Bimmeln einer Bahnglocke. Schulte-Henning zog sein
Mobilfon hervor und hielt es ihr unter die Nase. Ihr Name leuchtete auf dem
Display. Bresinsky, Sandra, Staatsanwältin. Sie schluckte und brach den Anruf
ab.
»Ich kann mich nicht erinnern«, rechtfertigte sie sich peinlich berührt und
verfluchte die Röte, die ihr in die Wangen schoss. »Ich ...«
»Na, das ist eine nette Ausrede.« Er schüttelte den Kopf. Sandra biss die
Zähne aufeinander und zischte: »Es ist keine Ausrede! Ich habe keine Ahnung
...«
»Mir ist es gleich, Sandra. Du hast mich gebeten zu kommen, und da ich
ohnehin in der Nähe war ...« Er zuckte die Schultern und wendete sich ab. »Ich
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werde mich wohl noch wundern dürfen. Schließlich hättest du auch mit dem
Typen ins Bett gehen können, mit dem du dich so angeregt unterhieltest, als ich
bei dir eintraf.«
Sandra stülpte sich der Magen um. »Wollen Sie nicht gleich eine Rundmail
schicken, damit es jeder Beamte im Umkreis mitbekommt?«
Sie ballte die Hände und sah mit trübem Blick wieder auf ihr Telefon herab.
22 Uhr. Alle eingehenden Anrufe, im stündlichen Abstand, waren nach zehn Uhr
am Abend erfolgt. Sie öffnete die sms und las den letzten Eintrag. Er ist ein
Arschloch, ein Wichser! Du hast Besseres verdient als ...
»Meine Begleitung war nicht zufällig lang und dürr, mit strähnigem,
hellblondem Haar und einer unmodischen Brille auf der etwas zu großen
Nase?«, fragte sie resigniert und wunderte sich nicht mehr, ihn angerufen zu
haben. Sie brauchte auch keine Bestätigung. Stattdessen tippte sie auf ihre
Kurzwahl. Schulte-Henning ließ sie stehen und mühte sich weiter über den
weichen Waldboden.
»Frank? Sandra hier. Es geht wieder los. Ich werde ...« Ihr Herz galoppierte
los und sie streckte die Hand aus, um dem Schwindel mit sicherem Halt zu
begegnen. Ihr Magen hob sich erneut und sie presste sich den Handrücken auf
den Mund.
»Was ist vorgefallen? Sandra? Sandra bist du noch ...«
Sie sackte zu Boden und ließ sich geistesgegenwärtig zur Seite fallen, um die
Spuren nicht zu kontaminieren.
»Vorsicht«, murmelte Schulte-Henning und drückte ihr eine
Beweissicherungstüte in die Hand. Sandra verfluchte ihn innerlich.
»Sandra? Halte durch, ich werde die Polizei ...«
Schulte-Henning klaubte ihr Telefon vom Boden auf. »Schulte-Henning,
Kriminalpolizei Dortmund, mit wem spreche ich?«
Sandra bemühte sich um Fassung. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn und
sie zitterte am ganzen Leib. Ihre Stimme schwankte, als sie das Telefon zurück
verlangte.
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»Kriminalpolizei? Kann ich Ihre Dienstnummer abgleichen? Von welchem
Dezernat?«
»Mit wem spreche ich?«, erkundigte sich Schulte-Henning erneut, diesmal
deutlich schärfer.
»Mein Anwalt!«, spie Sandra und versuchte vergeblich auf die Füße zu
kommen. »Geben Sie mir ...«
Er zögerte noch einen Augenblick, dann reichte er ihr das Handy.
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Kapitel 2 - Zwei Leichen im Wald
»Staatsanwalt Bauer wartet bereits auf Sie, Kommissar Schulte-Henning. Ich
schlage vor, Sie gehen schon einmal zu ihm. Dies hier ist privat!« Sie hob
kämpferisch das schmale Kinn und sah dennoch schlicht jämmerlich aus.
»Verschwinden Sie!«
Obwohl er keineswegs vorhatte, sie hier hilflos sitzen zu lassen, stapfte er
missmutig den Pfad hinauf. Beruhigt wendete sie sich ab und wisperte in ihr
Telefon: »Ich weiß nicht genau ...« Sie brach ab und rief ihm dann hinterher: »Wo
war ich?«
Patrick drehte sich zu ihr um. Hatte sie tatsächlich einen totalen Blackout?
»Tropicana.«
Sie runzelte die Stirn. »Wann ... kamen Sie an?«
»Vielleicht zehn Minuten nach deinem Anruf.«
»Habe ich irgendetwas gesagt? Warum Sie kommen sollten?«
Patrick schüttelte langsam den Kopf. Sie hatte ihm am Telefon lediglich
gesagt, wo sie war und gefragt, ob es ihm etwas ausmachte sie dort zu treffen.
Das Tropicana lag nicht gerade auf seinem Heimweg, dennoch war es ihm recht
gewesen und so hatte er keine weiteren Fragen gestellt.
»War ... meine Begleitung aufdringlich? Oder aufgebracht, als wir gingen?«
Wieder schüttelte er den Kopf, wobei er sich fragte, worauf sie hinaus wollte.
»Er war nicht glücklich über meine Ankunft und auch nicht darüber, dass du
mit mir gehen wolltest. Umgehend. Wenn es von Bedeutung ist. Du warst schon
recht betrunken.«
Dennoch hatte er die Gelegenheit genutzt und hatte sie, als sie sich vor ihrer
Tür von ihm verabschieden wollte, in die Arme gezogen und geküsst. Sie
wiederholte seine Angaben.
»Ich werde die Anzeige aufgeben, sobald ich wieder in Dortmund bin.«
Sie schloss die Lider. »Oder morgen. Schließlich gibt es Zeugen und ich
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habe die sms.«
Sie legte auf und versteckte das Gesicht in den Händen.
»Stalking?«
Ihre Schultern versteiften sich. Da er bereits involviert war, konnte sie ihm die
Sachlage auch offenbaren. »Stalking. Eine alte Geschichte.«
Sandra rappelte sich auf, den Blick auf den Waldboden geheftet. Die
Abdrücke des Mörders vor Augen. Sie überlappten sich nicht, hielten sich
auffällig nebeneinander. Man hätte glauben können, dass ein Mann, bei der
Größe der Abdrücke konnte eine weibliche Verdächtige ausgeschlossen werden,
der zwei Mal den gleichen Weg nahm, über seine Abdrücke hinweg lief. Also
zwei Verdächtige?
Sandra folgte dem Verlauf etwas den Hang hinauf und wieder hinab. Zwei
Verdächtige mit derselben Schuhgröße. Eine Leiche wurde getragen und eine
hinterher geschleift.
»Welche Schuhgröße haben Sie?«
»48 ist recht durchschnittlich. Sollten die Spuren von zwei Tatverdächtigen
herrühren, wäre die Größe nicht von Bedeutung.« Er kam den Hang wieder
herab. Bei Lena-Sophie Maiers Leiche waren Abdrücke der Größe 48 gefunden
worden. Eine Spur.
»Sollte es sich um einen Nachahmungstäter handeln, sollten wir uns auf die
Unterschiede konzentrieren«, bemerkte Schulte-Henning und reichte ihr die
Hand, um ihr aufzuhelfen. Sandra ignorierte ihn und schoss ein Foto von den
Abdrücken.
»Es sind Nachahmer.« Davon war sie überzeugt. Das Handy wegpackend
sah sie zu ihm auf. »Kramer ist schuldig. Warum sonst überfuhr er fast die alte
Frau an der Kreuzung und wollte sich mittels ...«
»Keine voreiligen Schlüsse ziehen, Frau Anwältin. Lass uns sehen, was es
noch gibt.«
Sie ergriff seine Hand und ließ sich hochziehen, überrascht von seiner Kraft,
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fiel der Protest aus, als sie gegen ihn stieß und er den Arm um sie schlang, um
sie zu stützen. Sandra schluckte verlegen. »Kommis ...«
»Patrick, Sandra.« Sein Atem wusch über ihre Lippen, bevor sich seine sacht
auf sie legten.
Sandra erstarrte erschrocken, unfähig sich zu rühren. Sie machte immer alles
falsch. Angefangen vom Freund ihrer besten Freundin, über die Affäre mit ihrem
Professor für soziales Recht und nun auch noch der Erzfeind ihres Freundes.
Ganz schweigen von Tramitz, ihrem Langzeitstalker. Sie war verflucht. Noch
bevor sie ihn von sich schieben konnte, unterbrach er seine Annäherung mit
einem Seufzen.
»Entschuldige, das war nun wirklich unangebracht. Ich verspreche, mich
zurückzuhalten.«
Er schob sie von sich, den Pfad entlang und Sandra bemühte sich die
Gänsehaut zu vertreiben, die sein Kuss heraufbeschworen hatte. Die Tüte in
ihrer Hand knisterte und lenkte sie Gott sei Dank genügend ab, um Peter und
dem blöden Affen nicht ganz verstört gegenübertreten zu müssen.
»Na endlich!«, murrte der Staatsanwalt und zog sie am Arm zu sich. »Karl,
das ist meine talentierte Kollegin Sandra Bresinsky.«
»Wie nett, Frau Bresinsky. Ich muss schon sagen, die hübschen Frauen zieht
es offensichtlich in die Justiz.« Er zwinkerte vertraulich und sah dann nur auf,
weil Schulte-Henning seine Aufmerksamkeit einforderte.
»Was haben wir hier?«
»Doppelmord, Herr Kommissar.« Und zu ihr gewandt: »Nichts für die sanften
Augen einer jungen, hübschen Frau.«
Sandra umklammerte ihr Kotztütchen, sicher doch noch Verwendung für es
zu haben.
»Ich nehme an, die Leichen ...«
Karl schoss einen giftigen Blick auf Schulte-Henning ab.
»Wir sind nicht hier, um nett zu plauder, Rainer!«
Sandra gewahrte Peters Verärgerung und entwand sich seinem Griff.
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»Kommissar Schulte-Henning hat Recht, Kommissar Rainer. Bitte seien Sie
so freundlich und geben uns eine kurze Einführung.«
Rainer grinste zweideutig. »Zu gern, Frau Staatsanwältin.« Er drehte sich zur
Lichtung und deutete auf das Team der Beweissicherung. »Zwei Leichen,
weiblich, im Unterholz abgelegt.«
»Wo genau? Können wir näher herangehen?«
Rainer sah vor den Kopf geschlagen auf sie herab. »Natürlich, Frau
Bresinsky. Allerdings müssen Sie ...«
»Kondome verwenden?«, knirschte sie und benutzte absichtlich die
Bezeichnung des Polizisten vom Parkplatz. »Das kommt schon mal vor,
Kommissar Rainer. Wenn es nötig ist, zwänge ich mich auch in den Anzug.
Solange ich nicht völlig umsonst am Samstag am frühen Morgen aus dem Bett
gerissen wurde!«
Sie presste die Lippen aufeinander.
»Sie hat Feuer«, kommentierte Rainer, bevor er sich abwendete und einem
der im Schutzanzug steckenden zu rief, für Kondome zu sorgen. »Aber damit
kannst du ja umgehen, Peter!«
Sandra bewahrte nur mit Mühe die Fassung.
»Du bist ein Schwein, Karl«, zischte Schulte-Henning leise. »Manieren wären
hin und wieder angebracht!« Er schüttelte warnend den Kopf, was Peter zum
Anlass nahm, noch Salz in die Wunde zu reiben: »Wo er recht hat ... Aber Patrick
erträgt eben keine Hitze.«
Sandra wünschte im Boden versinken zu können, was natürlich nicht
geschah, dank des allmächtigen Possenspielers.
»Ich habe es nur nicht nötig mit meinen Bettgeschichten zu prahlen«,
knirschte Schulte-Henning und sie musste sich ein Schnauben verkneifen.
Daraus wurde ein Stöhnen, weil Peter die Angelegenheit nicht ruhen lassen
wollte.
»Oh, dann hast du mal wieder eine Ahnungslose gefunden, die sich nun von
dir zu Tode langweiligen lässt? Armes Ding! Du musst wissen, Sandy ...«
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»Lass sie aus dem Spiel!«
»Kommissar Rainer, vielleicht könnten Sie schon ...«, versuchte Sandra
schnell abzulenken. Nicht auszudenken Schulte-Henning würde andeuten, dass
sie die Ahnungslose war!
»Er ist einschläfernder als Chloroform!«
Rainer lachte, Schulte-Henning knirschte mit den Zähnen und Peter grinste
zufrieden. »Was weißt du schon von ...«
»Komm schon, Patrick, jeder weiß das!«, fuhr Rainer dazwischen. Sandra
stöhnte und fragte sich ernsthaft, womit sie das verdient hatte.
»Ich weiß es nicht und interessiere mich auch nicht dafür!«, stellte sie schnell
fest. »Können wir uns bitte auf die Sachlage konzentrieren?«
»Ganz mein Mädchen«, murmelte Peter durchaus vernehmbar und trieb ihr
damit heiße Röte in die Wangen. Nur konnte sie das keineswegs so stehen
lassen. Wenn Schulte-Henning nun mit der letzten Nacht herausplatzte!
»Der Fall, Herr Kollege!« Schließlich gab es doch Erbarmen. Die Überzieher
wurden gebracht und Schulte-Henning deutete auf einen umgestürzten
Baumstamm wenige Meter entfernt.
»Vielleicht möchten Sie sich setzen, um die Schutzschuhe überzuziehen?«
Sandra runzelte die Stirn.
»Selbstverständlich spiele ich auch gerne den Prinzen und ...« Er grinste auf
sie herab und machte Anstalten auf die Knie zu gehen. Ein Arschloch, wie er im
Buche stand!
»Sie sind ...«, begann Sandra und schluckte die Beleidigung dann hinunter.
»Zu freundlich, Kommissar Schulte-Henning, aber ich denke, ich nehme den
Stamm!«
»Vorsicht, Peter, der Gute scheint es auf Frau Staatsanwältin abgesehen zu
haben!«, warnte Rainer lachend.
Sandra ignorierte die Männer, auch wenn ihr ein kalter Schauer über den
Rücken jagte.
Peter fiel mit ein. »Sandy ist nicht so dumm, sich auf ihn einzulassen.«
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Schulte-Henning hielt, Gott sei Dank, den Mund und Sandra schloss die
Augen. Sie war so dumm. Etwas zittrig stapfte sie zurück. Kommissar Rainer
nahm es als Startschuss zu seiner langatmigen Erklärung der Auffindesituation.
»Zwei ortsansässige Jäger auf der Pirsch stolperten heute Morgen gegen
fünf Uhr dreißig über zwei leblose Frauenkörper. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Sie stapften hier durch den Wald, von ihrem Hochsitz knappe zwei Kilometer
nördlich zurück zum Parkplatz an der Recke. Sie lagen übereinander, die
Leichen, nicht die Jäger. Einer von ihnen zog die eine Leiche von der anderen,
deswegen ist die Anordnung auf den Tatortbildern anders. Sie wollten sich wohl
versichern, dass beide Frauen Tod sind.«
Sandra stoppte neben dem Kommissar und biss die Zähne aufeinander. Sein
ausgestreckter Finger deutete auf eine große Blutlache.
»Sie wurden hier ermordet?«, hakte sie atemlos nach und kämpfte dabei
einmal mehr mit der Übelkeit. Das zumindest sprach für einen Nachahmer.
»Dazu mochte sich unser Gerichtsmediziner nicht äußern«, knirschte Rainer
und warf dem Kollegen einen verärgerten Blick zu.
»Aber das viele Blut ...«
»Mutmaßungen, Sandy, und nebensächlich«, unterbrach Peter harsch. »Zwei
Leichen und weiter?«
»Nackt. Bisher sind weder Kleidungsstücke noch persönliche Gegenstände
aufgefunden worden.«
Sandra hatte sich bei der Zurechtweisung abgewendet und ließ den Blick
über den Boden gleiten. Ein unüberschaubarer Wust an Abdrücken, die meisten
von den Beamten der Tatortsicherung, die selbst die Schleifspur verdeckten. Und
alles getränkt in Blut. Die Lichtung umfasste vielleicht vierzig Quadratmeter und
war keineswegs frei von Holz. Vermutlich eine der Nachwirkungen von Cyrill,
einem Sturm, der vor fast zehn Jahren den Baumbestand im Sauerland
beachtlich dezimierte. Moos bedeckte umgefallene Stämme, während nur wenige
Zentimeter weiter erste Triebe eines jungen Baumes durchbrachen.
Sandra drehte sich im Kreis, während sie abwesend Rainers Worte aufnahm.
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»Bisher nicht identifiziert. Das Gesicht zur Unkenntlichkeit zerschnitten und der
Körper verstümmelt. Das war auch der Grund für meinen Anruf, Peter. Ich habe
die Anfrage gestern auf dem Tisch gehabt. Zum Feierabend. Tja, habe sie
mitgenommen und bei Carmen studiert, als der Anruf rein kam.«
»Anfrage?«, erkundigte sich Peter verbissen. Sie spürte seinen sengenden
Blick im Rücken. Zeitverschwendung hatte er es genannt. Unbedeutend.
Lediglich eine Ablenkung von den wichtigen Dingen: der Klagevorbereitung.
Sandra hatte es anders gesehen und um eine Abklärung ähnlicher Fälle
gebeten. Gestern, vor Feierabend. »Ähnlicher Fälle. Babsi hat sich gleich
drangesetzt, als ich sie heute Morgen bat, dich zu verständigen. In Kürze werden
wir wissen, ob es schon ähnliche Fälle im Umkreis gab.« Er zwinkerte. »Ist
immer noch vernarrt in dich, die arme Seele.«
Die Lichtung war nahezu kreisrund. Die Strahlen der Sonne fielen dennoch
gefiltert durch das grüne Dach. Hatten die Frauen die Sterne gesehen, als sie
ermordet wurden, oder das Gesicht ihres Mörders.
»Wurde die Tatwaffe gefunden?«
»Nein.«
Peter seufzte. »Also nichts Brauchbares? Du bist keine Hilfe, mein Freund.«
»Zumindest nicht für dich, Peter. Der Verteidigung dafür umso mehr.« Wieder
lachte Rainer. Er schlug Peter auf den Rücken. »Komm ich lade dich auf einen
Jägermeister ein.«
Patrick wartete geduldig auf das Summen des Türöffners. Damit war die
erste Hürde genommen. Sie hatte ihn nicht bereits vor der Haustür zum Teufel
gejagt. Begeistert war sie jedoch auch nicht gewesen. Er ließ den Fahrstuhl links
liegen und nahm die Stufen im Laufschritt. Die vollen Plastiktüten ausgestreckt,
damit sie ihn nicht behinderten. Die Eier hatten ihn den ganzen Tag über nicht
losgelassen. Wer hatte schon tatsächlich nichts im Schrank?
Nicht einmal Milch, obwohl sie ihren Kaffee gewöhnlich weiß nahm. Die
Wohnungstür war geschlossen, als er das vierte Stockwerk erreichte und er
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klopfte ungeduldig an. Es dauerte nur einen Augenblick, dann zog sie die Tür
auf. Das Sicherheitsschloss war noch vorgelegt und sie späte argwöhnisch durch
den Spalt.
»Was wollen Sie!«
»Dich zum Abendessen einladen.« Das nahm ihr den Wind aus den Segeln.
Für eine Staatsanwältin war sie verdammt leicht aus dem Konzept zu bringen.
»Ich sagte doch ...« Sie hatte seine Einladung bereits ausgeschlagen. Im
Haus Recke, wo Bauer, ihr noch einen Kaffee gegönnt hatte und sich selbst
einen Jägermeister. »Kommis ...«
»Patrick.«
»... sar Schulte-Henning.« Dann wiederum konnte sie verflucht beharrend
sein. »Ich werde nicht mit Ihnen ausgehen.« Sie presste die Lippen aufeinander.
»Bitte belassen Sie unsere Bekanntschaft beruflich.«
Patrick zuckte die Achseln. »Gut. Vielleicht interessiert dich der vorläufige
Bericht über die Balve-Leichen?«
Wieder verkniff sie die Lippen, aber er hatte sie geködert. Ihre Körperhaltung
sprach Bände. Dennoch ließ sie ihn erst nach weiteren langen Sekunden ein. Sie
schloss die Tür, nahm die Sicherheitskette ab und wich zur Seite. Hinter ihm
versperrte sie sorgsam die Tür.
»Dein Stalker, wie weit ging er?«
Sandra sah erschrocken zu ihm auf, fasste sich aber schnell wieder und
deutete auf seine Tüten. »Sie hätten Ihren Einkauf im Wagen lassen können,
solange werden wir doch nicht brauchen ...«
Sie steckte in ihrem flauschigen Bademantel, wenn auch nicht nackt, wie am
Morgen, sondern in Sporthose und Shirt. Vermutlich ihr Schlafensemble.
»Abendessen, Sandra.« Das andere Thema ließ er fallen. Er konnte es am
Montag auf der Wache in Erfahrung bringen. Sie stutzte.
»Wir kochen. Ich dachte an Königsberger Klopse. Meine Großmutter brachte
das Rezept aus ihrer alten Heimat mit. Sie ist in Insterburg aufgewachsen.
Ostpreußen.« Patrick ließ sie stehen und stellte die Tüten auf dem Herd ab. »Du
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hast doch Töpfe?«
Sie war ihm gefolgt und sah ihn an, als zweifle sie an seinem
Geisteszustand.
»Wir brauchen etwas mehr Platz. Ich habe alles dabei, was rein kommt,
allerdings weder Töpfe, noch Besteck, oder Geschirr.« So leer konnte keine
Küche sein.
Sie deutete auf den Unterschrank zur Spüle. »Das dauert Stunden.«
Genau deswegen hatte er es dem Takeaway vorgezogen. Er zuckte die
Schultern. »Es ist Samstagabend. Solltest du nicht noch ein Date verschweigen,
gibt es keinen Grund zur Eile.«
»Ich habe zu arbeiten. Der Prozess ...«, murmelte sie, die Lebensmittel
überfliegend. »Müsli? In Königsberger Klopsen?«
»Frühstück«, räumte Patrick ein und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen,
als ihr die Röte ins Gesicht schoss.
»Sie werden ...«
»Ich habe auch Nachtisch dabei.« Er zwinkerte ihr zu. »Ich hoffe, du magst
Tiramisu.«
»Kommissar Schulte-Henning, Sie haben offensichtlich nicht verstanden ...«
»Letzte Nacht war ein Fehler. Da stimme ich zu.« Allerdings aus völlig
anderen Gründen. Sie klappte den Mund zu. Ihre Wangen brannten lichterloh.
»Verzeihung, ich ...«
»Wir machen die Klopse fertig und werfen dann einen Blick in den Bericht.
Einverstanden?«
Sie nickte und machte einen nervösen Wink zum Klapptisch. »Wir werden
den Tisch brauchen.«
»Kein Problem. Stellst du den Wein in den Kühlschrank?«
Protestlos stellte sie alle verderblichen Lebensmittel kalt und holte zwei große
Bretter und kleine Messer aus dem Hängeschrank über der Spüle. Patrick hatte
den Tisch aufgestellt und schob ihr den Hocker zu.
»Ich nehme an, kochen gehört nicht zu deinen Hobbys?« Patrick nahm ihr
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gegenüber Platz und schälte eine Zwiebel. Sandra schüttelte den Kopf.
»Wir hatten in der Küche nichts zu suchen und ... Nein.«
»Geschwister?«
»Zwei.« Sie konzentrierte sich auf ihre Knoblauchzehe.
»Ich habe eine Schwester und einen Bruder. Beide sind älter als ich. Steffi ist
verheiratet und hat zwei entzückende Töchter. Fabian ist zwar verheiratet, aber
kinderlos. Er ist Arzt und besitzt eine Praxis in Amecke. Der Stolz unseres
Vaters. Nun, wie die Mädchen. Ich konnte es ihm leider bisher nicht recht
machen. Weder mit meiner Berufswahl noch mit meinem Familienstand.«
Sandra sah auf. »Wie viel Knoblauch ...«
Besser nicht zu viel. »Kommt darauf an, wen du morgen küssen möchtest.«
Sie riss die Augen auf. »Sie mit Sicherheit nicht!«
»Dachte ich mir, dann noch den Rest der Knolle.«
Sie schob das Brett von sich. »Sie sind zum Kotzen!« Sie stand auf. »Lassen
Sie mich vorbei.«
Er tat ihr den Gefallen. Schnell mischte er das Hack mit den anderen Zutaten,
portionierte die Klopse und setzte Wasser auf. Dann machte er sich auf die
Suche nach ihr. Sandra saß im Wohnzimmer in der Ecke. Papiere um sie herum
ausgebreitet und machte sich Notizen. Ihr Haar löste sich aus dem Zopf in ihrem
Nacken. Es war dunkel im Raum. Schwere Vorhänge blockten den abendlichen
Sonnenschein und nur die kleine Lampe auf dem überquellenden Schreibtisch
vor ihr spendete etwas Licht. Es machte sie gespenstisch bleich.
»Es tut mir leid, Sandra. Ich werde mich mit Anspielungen zurückhalten, in
Ordnung.«
Sie wendete ihm das Gesicht zu, ohne ihn anzusehen. Sie öffnete die Lippen
und nickte dann lediglich.
»Möchtest du in der Küche essen, oder hier?« Der Wohnzimmertisch war
sicherlich nicht weniger geeignet, wie sein Pendant im Nebenraum.
»Hier.« Sie befeuchtet sich die Lippen. »Brauchen Sie noch Hilfe?«
»Nein. Die Kartoffeln kochen, wenn du dir den Bericht ansehen möchtest.«
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Sie seufzte und legte ihren Block ab. »Natürlich.«
»Ich hole meinen Laptop.« Und den Wein. Sie erwartete ihn auf der Couch,
die Stirn gerunzelt und deutete neben sich. Den Wein wies sie zurück. Patrick
stellte seinen tragbaren Computer auf dem Tisch ab und öffnete gerade die
Datei, als sein Mobiltelefon bimmelte. Er zog es aus der Hosentasche, hoffend
nicht wieder Bauer an der Strippe zu haben und stutze.
»Papa, alles in Ordnung?« Gewöhnlich rief er seine Eltern an, wenn er die
Zeit dazu hatte.
»Du musst dich entscheiden, mein Sohn, willst du Informationen, oder deine
Ruhe?«, murrte sein Vater und beschloss die Antwort auf die Frage schon zu
kennen, denn er fuhr fort: »Ich hätte einen vorläufigen Autopsie-Bericht für dich.
Allerdings ...«
»Inoffiziell.« Es war nicht sein Fall und alle Fakten sicherlich noch nicht
ausgewertet. »Kannst du ihn mir schicken? Sonst hole ich ihn mir morgen ab.«
»Nun, Nicky ist auf dem Weg nach Hause, ich frage sie, ob ...«
»Kaiserstrasse 17. Gib ihr meine Nummer, dann sage ich ihr, wo sie klingeln
soll.«
»Doch nicht Peters Anwältin.« Sein Vater war leider zu hellsichtig.
»Nicht, wenn ich es verhindern kann.«
»Patrick«, hob er an und seufzte dann angespannt. »Du bist erwachsen und
musst wissen ...«
»Richtig. Schick Nicky. Danke, Papa.« Er legte auf und steckte das Telefon
zurück in die Tasche. Dabei fiel sein Blick auf die ihn konzentriert beobachtende
Anwältin in ihrem flauschigen Bademantel. Ihr Anblick vom Morgen tauchte vor
seinem geistigen Auge auf. Noch nass von der Dusche. Das Wasser war aus
ihrem Haar über ihren Hals und weiter in ihr Dekolleté gerollt. Das zweite Mal,
dass er nahe dran gewesen war. Fingerbreit, sozusagen, schließlich hatte er sich
bereits die Hose aufgeknöpft. Einen Augenblick später und Bauer hätte die Tür
eintreten müssen, um sie zu unterbrechen.
»Etwas Ungewöhnliches bei der Autopsie?«, mutmaßte sie leise und riss ihn
»Du sollst nicht begehren ...«
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damit aus der anregenden Erinnerung.
»Mein Vater schickt uns den Bericht zu.«
Sandra seufzte geschlagen. »Sie hätten ihm diese Adresse nicht nennen
dürfen.«
»Dann verfolgt dein Stalker dich nach Hause?«
Sie schüttelte den Kopf. »Der Ermittlungsbericht ...« Sie wendete sich dem
Monitor zu, dessen Licht gespenstisch über ihr Antlitz flackerte.
»Was ist da gelaufen, Sandra? Hat er dich angegriffen.« Das Stalken an sich
war selten das Problem. Meist eskalierte die Verfolgung jedoch in Einbrüche,
Diebstähle und nicht selten in Gewalttätigkeiten, wenn das Opfer die Fantasie
des Stalkers nicht gerecht werden konnte, oder wollte. »Vergewaltigt?«
Sie reagierte nicht, was Patrick einigermaßen nervös machte. Er hatte
offenbar ein Faible für schwierige Frauen. Jen, die sich lieber demütigen ließ und
nun Sandra, die wohl gar nicht wusste, in welch gefährlichem Umfeld sie sich
befand. Bauer roch die Schwachpunkte anderer und nutzte sie schamlos aus.
Dummerweise waren seine Opfer immer zu vernarrt in ihn, als dass sie ihn zur
Rechenschaft zogen. Wie Steffi, die ihn trotz seiner unzähligen Affären nicht
verlassen wollte. Patrick berührte Sandras Arm. Sie zuckte zusammen und
rutschte von ihm fort.
»Sandra.«
»Das ist lange her und ich will darüber nicht sprechen!« Sie sprang auf und
ließ ihn sitzen. Die Badezimmertür schlug zu. Patrick sah sich erneut um. Es gab
ein Ikea-Regal mit Fernseher an der gegenüberliegenden Wand, die Couch und
den Schreibtisch. Ihr Schlafzimmer war ähnlich spartanisch eingerichtet. Das
altmodische Bett, der dazu passende Nachtschrank und ein windschiefer
Kleiderschrank. Keinen Schnickschnack, Nippes, oder Deko, wie es seine
Schwägerin nannte. Nicht einmal Bilder an der Wand. Wenn er raten müsste:
Eine Vagabundin. Nie lange an einem Ort. In der Küche brodelte das Wasser. Es
war Zeit sich dem Essen zu widmen.
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Kapitel 3 - Keine Fahrt ins Grüne
Sandra erschauerte wohlig. Seine Lippen wanderten federleicht an ihrem
Hals herab. Seufzend drehte sie ihm das Gesicht zu, um einen Kuss zu
ergattern. Mit seiner Berührung rutschte seine Hand unter ihr Shirt. Der Flausch
ihres Morgenmantels kitzelte ihre Wange. Sie legte ihre Finger an seine.
Stoppeln kratzten über ihre Haut und sie stöhnte leise. Er umschloss ihre Brust,
streichelte sacht mit dem Daumen über deren verhärtete Spitze, bevor er sie
massierte. Sanft. Viel sanfter als sonst.
Sein Kuss wurde leidenschaftlicher, raubte ihr fast den Atem. Er war immer
schnell. Überfuhr sie mit seinem Verlangen. Jetzt presste er sich an sie. Trotz
des Bademantels konnte sie ihn spüren. Sein Glied an ihrem Po. Sie wünschte,
er würde sich mehr Zeit lassen. Mehr von ihr berühren, als ihren Busen. Als hätte
er ihren stummen Wunsch vernommen, rutschte seine Hand herab. Über ihren
Bauch, in ihren Schoß. Zu schnell. Sie presste die Lider fester aufeinander. Er
hatte keine Zeit für ...
Sie stöhnte, als sein Finger über ihre Klitoris rieb. Sie hatte keine Zeit ihre
Gedanken abwandern zu lassen. Es wäre ohnehin zu schnell vorbei, besser sie
blieb bei der Sache. Ohnehin schob er sich schon tiefer. Sie seufzte enttäuscht.
Ihr Professor hatte sich immerhin die Mühe gemacht sie zuvor zu erregen, auch
wenn der Sex an sich stets ein einseitiges Vergnügen blieb. Peter vergaß das
leider auch zu häufig. Sein Finger glitt in sie. Er stöhnte an ihren Lippen und zog
sich langsam wieder zurück, um sie weiter zu necken. Unglaublich! Sie erbebte
in seinen Armen. Wollte ihn. Sie wollte ihn spüren, in sich. Sofort. Ganz gleich,
ob sie damit wieder auf die Stimulation verzichten musste. Ihr Magen flatterte
bedenklich. Ihr konnte nicht schon wieder übel sein. Nicht jetzt.
Seine Finger schoben sich wieder in sie und sie unterbrach den Kuss für
einen kleinen Schrei. Oh Gott, jetzt nur nicht aufhören! Wieder erhörte er ihr
Flehen. Sie drängte sich an seinen Schoß, wollte trotz der Liebkosung viel lieber
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ihn in sich spüren. Sein Glied, Schwanz, Penis, wie auch immer er es betiteln
wollte. Ein Schauder rollte über ihren Leib, gefolgt von einer Gänsehaut, als ihr
der Atem stockte. Ihr Schoß zog sich zusammen und er sich zurück, um sie mit
wenigen reibenden Berührungen ganz um den Verstand zu bringen. Sie schrie
auf und klammerte sich an ihn. Gott im Himmel, sie würde ihn sicherlich nicht
mehr aus dem Bett lassen! Sie öffnete die Augen, um ihm ihren Beschluss
mitzuteilen und blinzelte verwirrt in ein blaues Gegenstück. Sie erfror und ihr
Herz zersprang in tausend Stück. Sie konnte sich nicht rühren, konnte ihn nur
anstarren. Er senkte sich ihr entgegen, küsste sie zärtlich und zog sich seufzend
zurück.
»Frühstück?« Er rutschte aus dem Bett. »Dann erzählst du mir, was
vorgefallen ist. Ich nehme an, seine Zeit ist um und man vergaß, dich von seiner
Entlassung in Kenntnis zu setzen?«
Sandra würgte ein Arschloch, das er entweder nicht hörte, oder aber
ignorierte. Seine Berührung brannte auf ihrer Haut. In ihrem Schoß, ihren Lippen.
Sie schloss die Augen. Kein Scheiße! hallte in ihr wieder, sondern ein
fassungsloses oh Gott!
Sandra blieb im Bett. Das war es jedoch nicht, was Patrick störte, sondern
ihre Reaktion auf seinen Anblick. Das zweite Mal in Folge. Nun, heute Morgen
hatte sie zumindest nicht gekotzt, noch nicht. Er warf einen Blick in den Flur. Sein
Laptop besaß eine gesicherte Internetverbindung, mit der er in Notfällen auf die
Datenbank aller öffentlichen Behörden zugreifen konnte. Er beschloss, dass es
ein Notfall war. Während die Kaffeemaschine gluckerte und die Eier in der
Pfanne brutzelten, frisch gekaufte, nicht die der Schwester, ließ er in der
Polizeidatenbank nach der Fallakte Bresinsky, Sandra suchen. Sollte der Fall
älter sein, als 2001 würde er nichts finden, allerdings wäre sie da noch ein Kind
gewesen und der Sachverhalt kein Stalking. Und Vergewaltigung keine
Vergewaltigung, sondern Kindesmissbrauch.
Nervös stellte er den Herd niedriger und schmierte Butter auf zwei Scheiben
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Brot. Da das Frühstück bereitet und der Computer noch keinen Treffer gelandet
hatte, schob er die Recherche auf nachher.
Sandra lag zusammengerollt im Bett und richtete sich auf, als er das zum
Tablett umfunktionierte Brett auf die Matratze abstellte.
»Ich hoffe, du magst Spiegelei.«
Ihr Blick klebte verständnislos auf dem Frühstück. »Was soll das?«, murmelte
sie aufsehend. »Was ...«
»Frühstück, Sandra, du wirst doch schon im Bett gefrühstückt haben?«
Ihre Pupillen weiteten sich und sie verpasste einen Atemzug. Oder auch
nicht. Kein Wunder, dass sie an Bauer geraten war, andererseits hatte er Jen
häufiger im Bett überrascht.
»Also?« Er reichte ihr eine Tasse Kaffee. »Wenn du Rührei bevorzugst ...«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich ...« Ihre Zunge huschte über ihre Lippen. Das
sollte sie lassen. Es erinnerte ihn nur daran, was er sich versagt hatte. Nun, mit
Entsetzen hatte er auch nicht gerechnet. Nicht, nachdem sie so spielend leicht zu
erregen gewesen war. Einige Küsse auf ihren schlanken Hals hatten genügt. Sie
senkte den Blick und er folgte. Ihre Hände zitterten.
»Sie müssen gehen. Ich will nicht ...« Sie sprach leise und betont
bestimmend. Opfertraining erkannte Patrick. Ruhe bewahren in
Ausnahmesituationen, um die Oberhand zu gewinnen. Selbstbewusst wirken,
Stärke und Sicherheit demonstrieren. Sie würde aufsehen und ihre Forderung
souverän ausdrücken. Sie hob den Blick. »... dass Sie hier sind. Sie werden nicht
...«
»Wie lange ist es her? Fünf Jahre? Wie alt warst du? Zwanzig? Sandra, es
ist nicht ...«, unterbrach er sie sanft und streckte die Hand nach ihr aus. Sie
zuckte zurück und der Kaffee schwappte über.
»Sie werden ...« Die Puste ging ihr aus und Patrick stellte das Tablett auf
dem Nachtschrank ab, damit sie es bei ihrer Flucht nicht umwarf. Mit der Tasse
in der Hand, gestaltete sich das von ihm fort rutschen schwierig. »... gehen!
Herrgott noch mal, dass Sie ...«
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Er fing sie ab. Umklammerte vorsichtig ihr Handgelenk, um ihr den Kaffeepott
abzunehmen. »Lenk nicht vom Thema ab, Sandra. Du ziehst ständig um, damit
er dich nicht findet, belässt alles im Dunkeln, um möglichst nicht entdeckt zu
werden. Ich wette, du fährst Umwege, wenn du nach Hause willst.«
Sie hob herausfordernd das Kinn, aber in ihren Augen stand die Bestätigung
geschrieben. »Das ist Unsinn, Kommissar Schulte-Henning.«
»So? Warum hast du dann Angst vor mir?«
Verblüfft riss sie die Augen auf und er beschloss, nicht auf ihre Replik zu
warten. Er zog sie an sich und presste seinen Mund auf ihren. Sie keuchte und
versuchte ihn von sich zu schieben. Patrick drückte sie nieder. Streng
genommen bedrängte er sie. Bei ihrem Verhältnis zueinander konnte man sogar
von sexueller Belästigung sprechen, am Arbeitsplatz. Er musste aufhören, seinen
Punkt hatte er auch so gemacht. Er löste widerwillig seine Lippen von ihren. Und
begegnete ihrem Schrecken.
»Gehen Sie runter von mir!«
Nur sehr, sehr ungern. »Antwortest du mir dann?«
Sie reckte das Kinn. Ständig auf Abwehr.
»Ich war sechzehn, als es anfing. Daniel Tramitz war der Freund meiner
Schwester. Platonisch. Sie hingen zusammen rum, gingen in die Eishalle, oder
ins Schwimmbad ...« Sie schloss erschauernd die Augen und der Druck ihrer
Hände an der Brust ließ nach. »Er half ihr mit den Hausaufgaben und sie nahm
ihn dafür mit, wenn sie sich mit ihrer Clique traf.«
Patrick spannte sich an. Was immer folgte, war sicher nichts, was man von
der Frau wissen wollte, mit der man Sex wollte. Es machte die Dinge nur
kompliziert. »Weiter.«
Sie presste die zittrigen Lippen aufeinander.
»Es begann harmlos. Er brachte mir Kleinigkeiten mit. Sticker zum Tauschen.
Süßigkeiten. Dann fand er heraus, dass ...« Sie brach ab und als sie fortfuhr,
öffneten sich ihre braun-grünen Augen. »Er hat mich nicht vergewaltigt und, da er
selbst noch nicht einundzwanzig war, wurde die Sache vor dem Jugendgericht
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verhandelt. Seine erste Straftat, ein Kavaliersdelikt, schließlich ...« Ihre Lider
flatterten und senkten sich halb. »Seitdem habe ich vier einstweilige Verfügungen
erwirkt und vor sechs Jahren wurde er aufgrund des neuen Stalkinggesetzes
verurteilt: drei Jahre Haft. Zwei Jahre Bewährung.«
Damit waren seine Auflagen abgegolten und rechtlich konnte er nicht mehr
belangt werden, wenn er sich Sandra erneut näherte. Zumindest nicht, bis sie
erneut eine einstweilige Verfügung erwirkte, oder er wegen eines Übergriffs
erneut verurteilt wurde.
Patrick strich ihr das Haar aus dem Gesicht. »Es ist gut, dass du mich
angerufen hast, Sandra.«
Ihre Lider öffneten sich wieder und er konnte ihre Zweifel sehen, neben den
Tränen.
»Ich kümmere mich darum.« Er beugte sich vor, um sie sanft zu küssen.
»Nicht«, hauchte sie, was er aber ignorierte. Er verschloss ihren Mund und
verlagerte seine Position. Er hatte nur halb auf ihr gelegen, um sie unter
Kontrolle zu bekommen, ohne sie zu offensichtlich zu bedrängen. Er hatte sie
zum Reden bringen wollen. Nun rutschte er über sie, um sie zu spüren. Ihre
Brust an seiner, wie sein Schoß an ihrem. Sie weigerte sich, Platz zu machen. Er
ließ seine Hand an ihr herab gleiten, bis zu ihrer Hüfte und schob sie unter ihrem
Shirt wieder hoch. Ihre fielen ebenfalls herab, von seiner Brust, wo sie
abwehrend gegen ihn gedrückt hatten, zu seiner erkundenden Hand. Sie quiekte.
Patrick grinste an ihren Lippen, als sie erschauerte. Ihr Nippel drückte sich hart in
seine Handfläche und ihr Widerstand erlahmte. Dennoch flehte sie sogleich, als
er ihre Lippen verließ, um an ihrem Hals herabzugleiten: »Nicht! Bitte, Sie ...«
Und brach keuchend ab, als er seine Lippen um ihre Brustspitze schloss. Gott, er
wollte sie schmecken! Eilig zog er ihr Shirt hoch, um sie barrierefrei zu liebkosen.
Ihre Finger krallten sich in seine Schulter.
»Bitte nicht!«
Patrick hielt kurz inne. Seine Hände waren auf dem Weg zu ihrem Po,
halbwegs in ihrer Hose. Er würde sie mit herabziehen, wenn er tiefer rutschte.
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Ihre salzige Haut, ihr in Stößen kommender Atem und ihr bebender Leib
sprachen von Erregung und doch bat sie wiederholt, er möge von ihr lassen.
Hatte sie gelogen? War sie vergewaltigt worden und schämte sich, es
einzugestehen? Fürchtet sie sich vor Intimität. Er konnte nicht weiter machen,
wenn es so war. Dann würde sie Zeit brauchen und Vertrauen. Er stöhnte an
ihrem Busen. Er war verflucht!
Sandra bebte am ganzen Körper. Seine Hände lagen knapp unterhalb ihrer
Hüfte an ihrer blanken Haut, während sein Gesicht in ihrem Dekolleté vergraben
war. Er stöhnte ihren Namen oder etwas, was so ähnlich klang. Sein Leib war
angespannt und sie spürte harte Muskelstrange unter ihren Fingern. Ihre Arme
zitterten und sie bestand darauf, dass die Ursache dafür die Anstrengung war,
ihn fort zu drücken. Eine heiße Träne rollte über ihre Schläfe. Sie durfte das nicht
zulassen. Sie durfte Peter nicht schon wieder betrügen! Obwohl es keine Rolle
spielte. Obwohl einmal schon zu oft war. Sie schluchzte auf und ihr Widerstand
brach zusammen. Sandra drehte das Gesicht fort, als er aufsah. Sein heißer
Atem netzte die Haut im Tal ihrer Brüste. Dann rutschte er an ihr herauf.
Überrumpelt gestattete sie ihm den Platz zwischen ihren Schenkeln.
»Sandra?« Er drehte ihr Gesicht herum. »Sag mir die Wahrheit.«
Ihr Herz stockte. Sie wollte es nicht sagen müssen, nicht eingestehen. Auch
ihm nicht gegenüber. Wenn er erfuhr, dass sie Peters Freundin war, würde
Schulte-Henning Peter doch brühwarm erzählen, was vorgefallen war. Und dann
musste sie mit beiden zusammenarbeiten, die sie für eine Schlampe hielten.
Allein die Kommentare, die sie sich gefallen lassen müsste. Ihr Ruf wäre
unrettbar dahin. Und zu Recht. Sie war eine Schlampe! Herrje, sie schlief mit
dem Freund ihrer besten Freundin, ihrem Professor, ihrem Vorgesetzten! Sie
schniefte, einigermaßen erleichtert, dass ihre unangenehmen Gedanken den
Wunsch, mit Schulte-Henning zu schlafen, zerstreuten.
»Sandra?«
Sie blinzelte verdutzt. Sein Ton war ungewöhnlich weich. Er wischte ihr die
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Tränen aus dem Gesicht. »Sag es mir.«
Seine blauen Augen hielten ihre fest und sie hätte schwören mögen, dass ihr
der Atem verging. Die Knöpfe seiner Jeans drückten sich unangenehm gegen
ihren Schoß, aber es war ausgeschlossen, sich zu bewegen.
»Sandra, sag mir«, murmelte er und sank ihr entgegen, um seinen Mund
über ihren gleiten zu lassen. »Wovor du dich fürchtest.«
Ihre Lippen prickelten verboten. Scheiße! Sie wollte das. Sein sachter Kuss
ließ sie stöhnen.
»Davor?«, raunte er und presste seinen Schoß an ihren.
Scheiß Knöpfe, scheiß Hose!
»Du brauchst keine Angst haben, ich werde zärtlich sein. Vertrau mir.«
Er verschloss ihren Mund, während seine Rechte an ihr herab flog und sich
zwischen sie zwängte.
Wenn sie ihn jetzt nicht stoppte, wäre sie verloren!
»Ich habe keine Angst«, japste sie, als seine Finger in ihrer Hose
verschwanden, die noch feucht war von seiner morgendlichen Bemühung. Sie
musste ihn aufhalten. Sie würde ihn noch anflehen, wenn sie ihn jetzt nicht
stoppte. Sie würde ihn noch bitten mit ihr zu schlafen, obwohl sie doch gar nicht
wollte! »Ich habe Sex! Ich ...« Sie verschluckte sich, weil sein Daumen über ihre
Klitoris rieb. »Schlafe«, keuchte sie, abgewürgt von seinem Kuss. Sie erstarrte
entsetzt und erschauerte zugleich. Tränen rollten in ihr Haar und sie gestand es
ein: mit dem Arschloch Patrick Schulte-Henning. Ihr Telefon schrillte und Sandra
murmelte, plötzlich frei von fordernden Lippen: »Oh, bitte nicht!«
Wieder einmal hatte der zuhauf angebetete Sadist im Himmel kein Erbarmen
mit ihr. Schulte-Henning streckte sich nach dem Gerät, als im Flur der
Anrufbeantworter ansprang.
»Sandy? Verdammt, ich hoffe, du bist nicht schon wieder zu nichts zu
gebrauchen! Nimm ab!«
Peter war ungehalten wie stets.
»Ich bin nicht in Dortmund geblieben, damit ich die Decke in meinem
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Hotelzimmer anstarren kann! Zumindest nicht allein.«
Schulte-Henning erstarrte über ihr. Sein Blick klebte am Telefon, obwohl
Peters Stimme natürlich aus dem Flur kam, aus seinem Rücken. Sandra
beobachtete, wie sich sein Kiefer verkrampfte. Jetzt konnte sie sich die
Offenbarung offensichtlich sparen. Nun, Peter übernahm sie für sie und Sandra
schloss verzweifelt die Augen. »Komm zu mir. Sofort, Sandra. Ich will dich. Beeil
dich.«
Die Leitung knackte, als Peter auflegte. Die Stille, die sich anschloss, war
bleiern. Sandra wagte kaum zu atmen und zuckte zusammen, als
Schulte-Henning harsch feststellte: »Er fickt dich?«
Welch zutreffende Anklage. Sie schluckte mühsam und verbat sich ihre
Feigheit. Sie hob die Lider, um seinem brennenden Blick zu begegnen und
korrigierte schwach: »Wir schlafen ...«
Er stieß sich von ihr ab und sprang aus dem Bett. Vielleicht hätte sie es
früher eingestehen sollen. In der Freitagnacht, bevor sie auch mit
Schulte-Henning geschlafen hatte.
»Er ist ein Arschloch, Sandra! Verdammt noch mal, warum ...«
Sandra raffte sich auf, zog die Beine an und den Plüschmantel eng um sich.
Sie presste die Lippen aufeinander und bedachte ihn mit einem Ach wirklich
Blick.
»Er fickt jede, Sandra! Vermutlich unterhält er gleichzeitig noch drei weitere
Affären! Gott, du solltest ...«
Schulte-Henning und seine miesen Verleugnungen. Sie setzte zum
Widerspruch an, aber er blieb schneller: »Benutzt er ein Kondom?« Er fluchte
und riss sie aus dem Bett. »Benutzt er ein Kondom?« Er umschloss fest ihre
Schultern und sie war sich sicher, er würde sie schütteln, sollte sie nicht schnell
genug antworten. Sandra schluckte. »Es geht Sie ...«
»Verdammt!«, spie er und ließ sie plötzlich los. Sie sackte zurück aufs Bett.
Schulte- Henning stand mit dem Rücken zu ihr und fuhr sich durch das kurze,
helle Haar. »Zieh dich an!«
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Sandra klappte der Mund auf. Für wen hielt er sich eigentlich?
»Nein!« Er stoppte auf dem Weg nach draußen und drehte sich um. Es war
nicht schwer zu erkennen, wie aufgebracht Schulte-Henning war. Sie hob das
Kinn. Er würde sie nicht einschüchtern.
»Sie werden gehen, Kommissar Schulte-Henning«, verlangte sie fest. »Und
mich in Frieden lassen.«
Seine Augen wanderten über sie.
»Zieh dich an, Sandra, sonst nehme ich dich so mit!«
Sandra rutschte in ihrem Sitz so weit von ihm fort, wie möglich. Sie konnte es
immer noch nicht so ganz fassen, dass er sie tatsächlich aus ihrer Wohnung
gezerrt und ins Auto gesperrt hatte. Mittels der Kindersicherung. Das nagte an
ihrem Selbstbewusstsein. Nun, und nährte Befürchtungen. Männer und Autos
waren nicht gerade eine passende Kombination, wenn es sie betraf. Tramitz
hatte sie entführt und war durchs halbe Land gefahren. Bulgarien war sein Ziel,
wo sie glücklich zusammen sein konnten, seiner Meinung nach. Und Kevin, der
untreue Freund ihrer damaligen besten Freundin, hatte sie in seinem alten VW
Polo mehr als einmal verführt. Sie wollte keines von beiden wiederholen, schon
gar nicht mit Schulte-Henning.
Sie starrte auf ihre Finger, die die kühlen Riemen ihrer Handtasche
umklammerten, und analysierte ihre Fehler. Sie hätte schreien sollen, als er sie
zwang in sein Auto zu steigen. Sie hätte versuchen sollen fortzulaufen, als sie
das Haus verließen und er ihren Ellenbogen losließ, um in seiner Jackentasche
nach seinem Wagenschlüssel zu fischen. Sie hätte sich in ihrem Zimmer
einschließen sollen, oder die Polizei rufen. Sie schnaubte verdrossen.
Wie hätte sie die Situation erklären sollen? Die Sachlage sprach deutlich
gegen sie. Sie hatte ihn angerufen, mit ihm geschlafen und mit ihm auch die
letzte Nacht verbracht. Er hatte ihr Frühstück ans Bett gebracht! Niemand hätte
ihr geglaubt, dass sie ihn abscheulich fand und seine Gesellschaft nicht wollte.
Ganz abgesehen davon, dass ihr feuchtes Höschen auch noch das Gegenteil
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bewies. Sie presste die Lippen aufeinander.
»Wir halten bei McDonalds. Dann kannst du frühstücken.« Sie spürte seinen
Blick auf sich. Das leise Klicken des Blinkers verriet ihr, dass sie abbiegen
würden. Wieder. Entsprechend der bisherigen Route fragte sie sich, welcher
McDonalds das sein sollte. Sie waren auf der Rheinallee und bogen nun ab auf
die B1. Sie würden Dortmund verlassen. Der Wagen fuhr an und Sandra sah auf.
Richtung Unna.
»Der McDonalds am Bahnhof hat 24/7 geöffnet«, knirschte sie, obwohl sie
natürlich wusste, dass er sie nicht aus dem Haus geschleift hatte, um mit ihr zu
frühstücken.
»Er hat aber keinen McDrive.«
Sandra lenkte ihren Blick zurück auf ihre Tasche. Ihr Handy befand sich in
dem kleinen Fach gleich unter ihrer Hand. Sollte sie es versuchen? Besser, wenn
er abgelenkt war.
Er beschleunigte und fuhr deutlich mehr, als es die hiesige
Geschwindigkeitsbegrenzung vorschrieb. Na, so etwas, er hielt sich nicht an
Vorschriften. Sie umklammerte ihre Tasche etwas fester. Sie hasste Raser.
»Sag mir bitte, wenn dir schlecht wird. Ich hänge an meinem Wagen, auch
wenn es keine A-Klasse ist.« Wieder mal eine völlig unangebrachte Anspielung.
»Wohin bringen Sie mich?« Ihr Herzschlag verdoppelte sich und sie hielt den
Atem an, eine andere Autofahrt vor Augen. In einem alten, klapprigen Audi
Quatro.
»Nach Amecke.« Er überholte einen kleinen, vollbesetzten Fiat Punto. Kinder
balgten sich auf dem Rücksitz, während die Mutter vom Beifahrersitz zu
intervenieren suchte.
Amecke? Sie runzelte die Stirn. »Warum?«
Er warf ihr einen abschätzenden Blick zu. »Du brauchst einen Arzt.«
Das war natürlich Unsinn.
»Du wirst dich testen lassen.«
Mit Sicherheit nicht. Sie schüttelte den Kopf.
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»Es ist zu deinem Besten.«
»Das entscheide ich.«
Schulte-Henning bog auf die A1 ab und wechselte sofort auf die 515. Erst, als
er wieder von der Autobahn ab- und rechts Richtung Menden weiterfuhr,
widersprach er sanft: »Dieses Mal nicht.«
Es drückte ihr die Luftröhre zu. Sie mühte sich um Atem. Okay, sie hatte ein
Problem. Nein, eine Herausforderung. Sie schloss die Augen. Sie hatte ein
Problem.
»Es ist zu deinem Besten.«
»Das kommt mir bekannt vor«, krächzte Sandra. Sie musste Ruhe bewahren,
die Situation abschätzen und gezielt handeln. Sie konnte die Polizei rufen. Wenn
er abgelenkt war, konnte sie den Notruf verständigen. Wieder warf er ihr einen
Blick zu, als ahne er ihre Gedanken.
»Wofür wurde der Typ verurteilt?«
Sie presste die Lippen aufeinander. Sie hätte den Mund halten sollen.
»Oder, nicht verurteilt?«
Sie wendete sich ab und starrte auf das wogende Kornfeld. Windparks
verschandelten die Aussicht.
»Dir ist klar, dass ich ohne weiteres Einsicht in die Akten nehmen könnte?«,
drohte Schulte-Henning gelassen, als wäre es keine Straftat.
»Sie würden ...«
»Keine Probleme dabei haben, oder gar kriegen.« Er klang verdammt sicher.
Ein Schauer rann über ihren Rücken und dieses Mal war es kein angenehmer.
Unwillkürlich musste sie an den Autopsiebericht denken. Das war auch nicht
nach Vorschrift gelaufen, da konnte man sicher sein. Was würde er herausfinden
können? Wenn er nach Sandra Bresinsky suchte: Nichts. Aber wenn er nach
Tramitz forschen würde? Nichts über die Entführung, schließlich war die Akte
geschlossen, wenn schon nicht gelöscht worden. Niemand bekam ohne
richterlichen Beschluss Zugriff darauf. Also lediglich den Verlauf des Stalkings
danach. Ihre Schulzeit und zu Beginn ihres Studiums in Aachen, weit weg von
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der Heimat, in der Hoffnung Tramitz würde seine berufliche Zukunft nicht
dadurch gefährden, dass er ihr durchs halbe Bundesland folgte. Und ihren
Namen. Sie schluckte schwer. Besser sie gab ihm die Informationen, die er
wolle.
»Er ist eingebrochen und hat Kameras installiert. Ich habe ihn dabei
erwischt.« Sie hasste ihn.
»Hat er dich verletzt?«
Tränen stiegen ihr in die Augen und sie verbat sich zu schniefen. Sie hatte
sich das Bein gebrochen, als sie die Treppe in ihrem Wohnheim hinunterfiel.
Dadurch hatte sie einen Schlüssel für die Aufzüge der Uni bekommen und in
einem Professor Anders kennen gelernt. Ihre Affäre hatte immerhin zwei Jahre
gewährt, dann fand er es zu schwierig, ihre Arbeiten unvoreingenommen zu
bewerten. Das, oder eine andere Studentin hatte ihm besser gefallen. Je
nachdem, wem man Glauben schenken mochte. Dem Professor, oder einer
Kommilitonin, die steif und fest behauptet ihn mit einem Erstsemester erwischt zu
haben.
»Nein.«
Die Straße schlängelte sich und Sandra wurde schlecht. Sie schloss einmal
mehr die Augen und lehnte den Kopf gegen das vibrierende Glas.
»Es ist wohl zu spät für einen McEgg, ziehst du einen Burger vor, oder etwas
aus dem McCafé?«
»Kaffee«, gab sie nach. Ihr Magen knurrte zustimmend. Ihr Handy zirpte
leise. Ein eingehender Anruf. Sandra drückte ihre Hand auf das Taschenfach.
Schulte-Henning bog ab, auf den Parkplatz von McDonalds.
»Die Beagle sind frisch, allerdings kann ich eher dem Schockobrownie hier
nie widerstehen ...« Er zwinkerte ihr zu. Dann schoben sich seine Brauen
zusammen und er zog die Handbremse an. »Stimmt was nicht?« Und sah an ihr
herab. Verraten.
»Bauer?«
Verärgert sah er auf.
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»Hast du einen hübschen Klingelton, der dir sofort verrät, dass er anruft?«
Seine Lippen verzogen sich grimmig. »Gib es mir.«
Oh, nein. Er streckte ihr die Hand entgegen.
»Dein Handy, Sandra!«
Sie presste die Tasche an sich.
»Gut, dann die ganze Tasche!«, knurrte er und griff nach dem Henkel.
»Nein!« Nach einigem Rumgezerre gab sie nach. »Ich gebe Ihnen mein
Handy! Lassen Sie meine Tasche los.«
»Was ist noch da drin, Sandra? Pfefferspray? Ein Taser?« Ertappt ließ sie
sich überrumpeln. Schulte-Henning zog ihr Mobiltelefon aus der Tasche und
checkte die Nummer. »Natürlich Bauer! Willst du zurückrufen und ihm sagen,
dass er sich heute eine andere zum Ficken suchen muss?«
Sandra gefror innerlich, dann schäumte Wut in ihr auf und sie holte aus, um
ihn zu schlagen und stieß gegen die Armatur. Aufschreiend zog sie die Hand
zurück und kämpfte mit den Tränen.
»Scheiße!« Er sprach ihr aus dem Herzen. »Zeig mir deine Hand.« Er zog sie
zu sich, bevor sie protestieren konnte. »Womit bist du gegen geschlagen?
Finger, oder Handrücken? Verflixt! Wir sind noch eine gute Stunde unterwegs
und ich habe meine Sporttasche nicht dabei.« Er bemerkte ihre Verwirrung.
»Elastisches Verbandszeug, Voltarenspray und Schmerzmittel.«
»Ich habe Paracetamol ...« Sie klappte den Mund zu. Das hatte sie gar nicht
sagen wollen, sondern, dass er sie loslassen sollte.
»Gut. Ich habe Wasser im Kofferraum, wenn du sie nicht mit deinem Kaffee
herunterspülen mochtest. Er gab ihr die Tasche zurück und steckte ihr Handy
ein.
»Es gibt keinen Grund mich anzugreifen, Sandra, in Ordnung?«
Es gab jede Menge Gründe ihm 10000 Volt in den Leib zu jagen.
Patrick behielt sie im Auge. Obwohl sie einen Beagel gegessen und sogar
zwei Latte Macchiato getrunken hatte, war sie immer noch ungewöhnlich blass.
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Natürlich konnte dies an der steten Schlangenlinie liegen, die sie gezwungen
waren zu fahren. Immerhin lag nun Balve direkt vor ihnen und damit ihr Ziel in
unmittelbarer Nähe. Sie schluckte schwer und Patrick seufzte. Er hätte bei der
Reckenhöhle halten sollen, nun blieb ihm kaum etwas anderes übrig, als
weiterzufahren. Sie stöhnte unterdrückt und Patrick fluchte.
»Scheiße!« Man konnte nicht am Straßenrand stoppen, denn es gab keinen.
Er ließ das Fenster runter und drosselte die Geschwindigkeit. Die
Warnblinkanlage einschaltend kam er zum Stehen. Er schnallte sich ab, um sich
ihr zuzuwenden. »Möchtest du ein paar Schritte gehen?«
Sie sah sich um. »Wo sind wir?«
Er deutete zur Straße. »Balve in fünf Kilometern. Langscheid zehn und keine
sechzehn bis Amecke.«
Balve formten ihre Lippen und bestätigten seine Vermutung, dass sie nicht
mitbekommen hatte, dass sie praktisch dieselbe Strecke wie am Vortag
zurücklegten. Er löste ihren Gurt und fing ihren entsetzten Blick auf.
»Wir gehen ein paar Schritte.«
Sie sah an ihm vorbei und dann um.
»Da ist mehr, nicht wahr?«
Sie zuckte zusammen. »Bitte?«
»Du hast ein Opferschutztraining hinter dir.«
Ertappt. Wieder einmal. »Nein!«
Und wieder die Lüge. Sie schrumpfte unter seinem Blick.
»Was haben Sie vor?« Sie befeuchtete sich nervös die Lippen. »Bringen Sie
mich ...«
»Später.«
Sie klappte den Mund wieder zu.
»Das ist keine Entführung, Sandra. Und ich werde dich weder umbringen,
noch vergewaltigen.«
Nun presste sie die Lippen aufeinander, seinen Augen begegnete sie aber
nicht.
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»Bestimmt nicht.«
Sie wendete sich ab.
»Sie haben mich gezwungen in Ihr Auto zu steigen, Kommissar
Schulte-Henning! Wie möchten Sie das nennen!?«
»Hauptkommissar. Und sicherlich nicht Entführung«, korrigierte er gelassen.
»Frau Staatsanwältin Bresinsky. Wenn das tatsächlich dein Name ist.« Was er
nicht war, bei dem Ausmaß, in dem sie erbleichte. Es war nur gut, dass sie
Anwältin war, als Kriminelle hätte sie pausenlos Geständnisse abgelegt. Damit
war seine Anfrage sinnlos. Nun, dann würde er sie über Tramitz finden. In den
Prozessakten stände auch ihr Geburtsname.
»Sondern, Hauptkommissar?«, wisperte sie um Fassung bemüht, aber
immerhin kämpferisch. Kein Opfer, oder zumindest wollte sie keines sein.
»Nötigung, wenn es hochkommt. Allerdings gibt es mildernde Umstände.« Er
unterbrach sich, weil sie keuchte.
»Wollen Sie mir drohen?« Sie atmete kontrolliert aus, dann langsam wieder
ein.
»Nein, Sandra.« Er schüttelte den Kopf, ohne sie aus den Augen zu lassen.
»Du musst dich testen lassen. Bei positiven Ergebnissen würde dein Arzt sich
gezwungen sehen den Fall ans Gesundheitsamt zu melden. Das wiederum führt
dazu, dass du deine Sexualpartner angeben müsstest, die dann offizielle Post
bekämen ...«
Sie sah ihn an, als wären ihm Hörner gewachsen.
»Bauer hat ständig wechselnde Partner, Sandra. Er...«
Ihre Augen flammten auf und Röte färbte ihre Wangen. »Sie ...« Sie sprach
nicht zuende, sondern stieß ihre Tür auf. Patrick bereute es nun, die
Kindersicherung bei McDonalds entfernt zu haben. Verärgert stieg er aus und
schlug die Tür zu. Sandra marschierte die Straße entlang.
»Er sucht regelmäßig eine stadtbekannte Crackhure auf und sicherlich nicht
zur Seelsorge!«, rief er ihr hinterher und schlug gegen den Rahmen.
»Scheiße!« Sie war genauso dumm wie Jen. Blind. Vernarrt. Die Realität
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würde sie einholen. Irgendwann. Wenn ihr Körper erste Anzeichen einer
Erkrankung zeigten. Wenn sie ihn mit einer Anderen erwischte. Wenn er sie wie
eine heiße Kartoffel fallen ließ. Was ging es ihn an? Wenn sie so dumm war,
bitteschön! Oder so vertrauensselig, wie Stefanie? Und war es nicht im Grunde
gleich? Fluchend hastete er ihr nach.
»Sandra! Verdammt noch mal, er ist ein Arschloch! Willst du deine
Gesundheit darauf verwetten, dass er immer ein Kondom benutzt?«
Er griff nach ihr und sie riss sich sofort wieder los.
»Schließen Sie nicht von sich auf andere!«, spie sie Tränen in den Augen.
Patrick biss die Zähne zusammen.
»Gut«, knurrte er. »Ich habe kein Kondom benutzt!« Und das war nicht
einmal gelogen. Sie schloss die Lider und Patrick machte sich bereit sie
aufzufangen, sollte sie die Besinnung verlieren.
»Oh Gott!«
Sandra reichte dem blonden Arzt die Hand, ohne den Elan aufzubringen
zuzugreifen.
»Deine Patientin, Fabian.«
»Wie schön, Frau ...«
»Sandra«, fuhr Schulte-Henning ihm über den Mund und drückte sie auf
einen Stuhl nieder. Der Arzt musterte erst sie, dann den Kommissar.
»Für die Akte ...«, begann er und setzte sich auf die Schreibtischplatte.
»Keine Akte. Wir brauchen umfassende Bluttests und ...«
Sandra schloss die Augen. Sie hasste ihn. Und würgte. Die Hand an den
Mund pressend wendete sie sich ab.
»Oh, nein!«, stöhnte der Arzt. »Nicht schon wieder!«
Dann brachte Schulte-Henning also häufiger seine Liebschaften her, um sie
auf Geschlechtskrankheiten zu testen, die er ihnen angehangen hatte?
»Kann er seinen Schwanz nicht in der Hose lassen!«, fluchte er verdrossen
und rutschte vom Tisch, um im Sprechzimmer auf und ab zu gehen. Ihr wäre es
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mehr als lieb gewesen, wenn Schulte-Henning seinen Schwanz tatsächlich in der
Hose gelassen hätte! Ihr Schoß zog sich zusammen.
»Das kann nicht ewig so weitergehen, verdammt! Worauf wartet Steffi? Dass
er sie mit HIV ansteckt?«
Schulte-Henning seufzte neben ihr. »Eine erstklassige Frage. Sandra, worauf
wartest du?«
Irritiert sah sie zu ihm auf. »Bitte?«
»Was muss passieren, damit du ihn verlässt?«
Ihr wurde schlecht, dann speiübel.
»Die Toiletten sind gleich gegenüber der Rezeption.«
Mehr Aufforderung brauchte sie nicht, würgend stolperte sie ins WC.
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Kapitel 4 - Spurensuche
»Wo hat er die nun her?« Fabians Frage blieb genervt. »Und warum bringst
du sie her? Hat sie auch gedroht, Steffi ...«
»Nein«, wies Patrick heftig zurück, wohl wissend, dass er sich verriet. »Bist
du verrückt?«, fragte Fabian ungläubig. »Du solltest doch am besten wissen,
dass ...« Man eine Frau von Bauer nicht zurück bekam.
»Sie ist anders.«
»Oh, Patrick! Bitte sei kein Vollidiot!«, stöhnte Fabian und legte ihm die Hand
auf die Schulter. »Mann, du bist erfolgreich, gut aussehend und ...«
»Zu spät.« Viel zu spät, auch wenn es ihm schwer fiel, es einzugestehen.
Selbst, nachdem er mit Sicherheit wusste, dass Bauer sie fickte, wollte er sie
immer noch.
»Du bist verrückt, Patrick.«
Fabian ließ ihn stehen, um an seinem Schreibtisch herumzuwühlen.
»Schwangerschaftstest? Herrgott, ich hoffe, du schläfst nicht mit ihr!«
Patrick grinste müde. »Bei Jen war es noch ein Ovulationstest.«
Fabian sah böse auf. »Das ist nicht spaßig, Patrick! Verdammt noch mal, du
könntest dich ...« Er brach ab und streckte unangenehm berührt die Schulter.
Patrick sah sich um. Sandra lehnte im Türrahmen und sah irritiert von einem zum
Anderen. Gut, dass er Fabian nicht beruhigt hatte.
»Ich bin nicht schwanger«, stellte sie klar. »Ich nehme an, Sie werden mir
Blut abnehmen?« Sie senkte den Blick, schluckte und fuhr zittrig fort: »Dabei
sollte ich besser liegen.«
»Ist Ihnen unwohl ... Sandra?« Fabian trat ihr entgegen und auch Patrick war
alarmiert. »Seit wann erbrechen Sie sich?«
Sie schüttelte den Kopf und Patrick antwortete für sie: »Gestern. Sie hat in
der Freitagnacht getrunken und ...«
»Vielen Dank, Hauptkommissar Schulte-Henning, ich bin in der Lage auf eine
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Frage selbstständig zu antworten!« Ihre müden Augen blitzten verärgert auf.
»Sie hat einen totalen Blackout und erinnert sich an nichts«, fuhr er ungerührt
fort. »Allerdings waren wir gestern stundenlang mit Bauer unterwegs und du
kennst seinen Fahrstil.«
Fabian rollte die Augen und komplimentierte Sandra zur Liege.
»Unterlassen Sie Ihre ...« Sandra brach ab, ihre Pupillen weiteten sich
bestürzt und sie hauchte fast: »Sie kennen ...«
Fabian drückte sie auf die Liege nieder.
»Mein Bruder, Sandra, selbstverständlich kennt er den feinen Herrn
Staatsanwalt.«
»Oh, ja«, murrte der Arzt und schloss die Manschette des
Blutdruckmessgerätes um Sandras Arm. Sie wendete das Gesicht ab. »100 zu
65. Vielleicht sollten wir Sie zunächst etwas zur Ruhe kommen lassen.
»Zucker?«, soufflierte Patrick und deutete zum Schreibtisch. »Hast du ...«
»Warten wir einen Moment«, schlug der Bruder aus und zog sich einen
Hocker heran. »Sandra leiden Sie gewöhnlich an niedrigen Blutdruck? Häufiger
Schwindel?«
»Nein.«
Patrick seufzte, nicht sicher, ob sie nicht wieder einmal log. »Nein zu was,
Sandra?«
Sie schluckte und atmete zittrig ein, bevor sie sich demonstrativ an Fabian
wendete: »Mein Arzt hat meinen Blutdruck bisher nie bemängelt und mir ist
eigentlich nie schwindelig. Meine Übelkeit rührt sicherlich von ... der
Freitagnacht.«
»Sie erinnern sich an nichts? Wie viel Sie getrunken haben, was? Wann Sie
nach Hause kamen, wie?«
Tränen glitzerten in ihren Augen. »Normalerweise trinke ich nicht so viel.
Zwei Cocktails, vielleicht drei ...«
»Aber am Freitag?«, fragte Fabian sanft und Sandra schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es nicht.«
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Fabian nickte und warf einen Blick zurück zu ihm. Wir müssen reden, sagte
der deutlich. »Das Letzte, woran Sie sich erinnern?«
Sandra schloss die Augen und runzelte konzentriert die Stirn. »Ich war am
Gericht und sprach mit meinem Vorgesetzten. Ich bin mit meinen Berichten im
Rückstand.«
»Wann war das?«
Sie blinzelte verdutzt. »Gegen ... acht?«
Fabian nickte. »Und das Nächste?«
Hitze schoss ihr in die Wangen und sie verriet sich mit einem schnellen Blick
zu ihm.
»Sandra, ich werde einige Dinge brauchen. Patrick wird mir helfen, sie zu
holen. Brauchen Sie noch etwas? Wasser? Wir werden ein paar Minuten
beschäftigt sein.«
Sie schüttelte den Kopf, ohne zu Fabian aufzusehen. Patrick folgte seinem
Bruder zögerlich.
»Was wird hier gespielt, Patrick! Hat er sie vergewaltigt? Muss er die Frauen
nun schon vorher außer Gefecht setzen?«
»Nicht, dass ich wüsste.« Patrick hielt ihn zurück. »Außer Gefecht? Denkst
du an ...«
»Hör zu, ich schicke die Proben unter anonymes Vergewaltigungsopfer ein,
allerdings ...« Werden etwaige Spermaspuren bei der Untersuchung in die
Datenbank aufgenommen. »Ich habe nicht mit ihr geschlafen.«
Fabian atmete beruhigt aus. »Gut. Soll ihn doch der Teufel holen.«
»Er auch nicht. Zumindest nicht seit Freitagnacht und sie hat geduscht. Du
wirst keine Spuren finden.«
Fabian kniff die Augen zusammen. »Und das weißt du so genau, weil ...?«
»Ich bei ihr war.«
»Wenn ihr etwas verabreicht worden ist ...«
»Ich habe eine Vermutung«, unterbrach Patrick schnell. »Ich kümmere mich
darum.«
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Fabian schnaubte. »Du bist ein Idiot!«
Sandra starrte an die Decke. Sie fühlte sich total ausgelaugt und hätte
einiges für ein Nickerchen getan. Sie schloss die schweren Lider und mühte sich
Ruhe zu finden. Emotionale Ruhe. Geistige, auch wenn an Schlaf wohl nicht zu
denken war. Geschlechtskrankheiten. Definitiv etwas, was ihr zum Glück noch
fehlte. Schulte-Henning sollte verflucht sein! Tränen drängten sich in ihre Augen.
Und dann brachte er sie zu seinem Bruder, damit er nicht aufflog!
Die Tür öffnete sich und sie drehte das Gesicht, um sich schnell die
Feuchtigkeit fortzuwischen.
»So, alles da. Wir werden einige Röhrchen füllen müssen, Sandra, aber
zumindest können Sie dann sicher sein, nichts vergessen zu haben.«
»Ein Schwangerschaftstest ist unnötig. Ich nehme ...«
»Welches Präparat?«, unterbrach er sie knapp.
»Diane.«
»Wie alt sind sie?« Er musterte sie kritisch. »Seit wann?«
»Ich bin ... Wofür ist das von Bedeutung? Ich ...«
»Diane ist ein Einstiegspräparat für Mädchen und junge Frauen. Ungeeignet
für Frauen in den Dreißigern.«
Dreißigern? Himmel, sah sie so alt aus?
»Wie charmant, Fabian. Sandra ist doch noch keine dreißig.«
Arschloch! Sie riss die Augen auf und funkelte ihn an. »Achtundzwanzig!«
»Siehst du. Achtundzwanzig.«
Wo zum Teufel war ihr Taser?
Er grinste zufrieden. »Etwas jung für eine ...«
»Arschloch«, formulierte sie deutlich. Er war schlicht unausstehlich.
»Ich bitte dich, Sandra, er meinte es nicht böse. Und er ist junge Mädchen
einfach nicht gewohnt.« Er zwinkerte. Sandra wiederholte ihre Einschätzung
seines Charakters und zuckte zusammen, als die Nadel in ihren Arm stach. Sie
verzog das Gesicht. Sie hasste Nadeln.
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»Schon vorbei«, murmelte der Arzt routiniert und befestigte das erste
Röhrchen. »Wir machen uns ein ganzes Bild, Sandra. Besser einen Test zu viel,
als zu wenig.«
»Aber ich bin nicht ... Es kann ja nicht ganz abwegig sein, mir Diane zu
verschreiben.«
»Die Hormonkombination ist falsch. Ein sicherer Schutz vor einer
Schwangerschaft ist damit nicht gegeben, selbst, wenn Sie sie zuverlässig
einnehmen. Ganz abgesehen davon, dass kein Schutz besteht, wenn man sich
erbricht.«
Sandra klappte den Mund zu. Bei ihrem Glück wäre sie tatsächlich
schwanger. Sie schluckte. Und auch noch von Schulte-Henning. Sie richtete
ihren Blick wieder an die Decke.
»Mir ist schwindelig«, murmelte sie schläfrig. »Sandra? Sandra?« Doktor
Schulte-Hennings Ruf verlor sich.
»Schieb die Rolle unter die Beine!«, orderte Fabian, bereits auf den Füßen
und Sandra ins Gesicht schlagend. »Sandra?«
Ihre Lider flatterten und sie stöhnte leise.
»Zucker?«
»Patrick!«, knirschte Fabian mit einem verärgerten Blick. »Hat sie
gegessen?«
Er bestätigte es mit einer Auflistung.
»Dann beginnen wir mit Wasser und Traubenzucker. In der untersten
Schublade.«
»Solltest du die Blutabnahme nicht ...«, bemerkte Patrick auf dem Weg zum
Tisch.
»Bist du der Arzt, oder ich?«, blaffte Fabian, ohne seine Bemühungen
Sandra aufzuwecken einzustellen. »Sandra?«
Patrick zog die Schublade auf.
»Du, allerdings lernt man ... Weiß Claudia, dass du hier Orgien feierst?« Die
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geöffnete Lade quoll über vor Präservativen.
»Rede keinen Mist, Mann! Eine Werbeaktion.«
»Ich kann mir kaum vorstellen, wie du sie bei deiner Kundschaft los wirst.«
Patrick wendete das eingeschweißte Kondom.
»Sie haben sexuell aktive Enkel«, schnappte der Bruder und forderte Sandra
auf ihn anzusehen. »Die andere Schublade und, verdammt nochmal, steck dir
welche ein!«
Patrick zuckte die Schultern. Schaden konnte es nicht. »Wasser? Aus dem
Spender am Empfang?« Er wartete nicht auf die Bestätigung.
»Bleiben Sie liegen, Sandra.«
Sie versuchte sich aufzusetzen und musste wieder herabgedrückt werden.
»Sie sollten nicht versuchen ...«
»Wasser.« Patrick schob seinen Bruder zur Seite und stützte Sandra, um ihr
etwas Wasser einzuflösen. »Du bekommst Traubenzucker, Sandra, dann sollte
sich dein Kreislauf stabilisieren. Versuche ruhig zu atmen. Es gibt keinen Grund
zur Panik.« Obwohl sie das bewiesenerweise anders sah. Sie schnaubte
schwach und steckte sich den gereichten Traubenzucker in den Mund.
»Ist es schon besser?«
Sie nickte und ließ sich wieder sinken.
»Kontrolliere ihren Puls, während ich die restlichen Abnahmen mache.
Informierte mich, wenn ...«, orderte Fabian gepresst und ersetzte bereits das
Röhrchen an der Infusionsnadel.
»Ihr Puls unter 50 Schläge fällt. Ich habe es nicht vergessen.« Er zählte
angespannt die Uhr im Auge behaltend. Nach einer Ewigkeit verkündete Fabian
endlich, das letzte Röhrchen gefüllt zu haben. »65 und stabil.«
Sein Bruder nickte mit einem Seufzen. Patrick übernahm seinen Hocker, als
er aufstand, um den Papierkram zu erledigen.
»Sehr schön«, murmelte er und nahm ihre Hand auf, um sie zu drücken.
Sandra versuchte ihn abzuschütteln. »Jetzt noch die Abstriche und ...«
»Was?!«, quiekte sie schrill. »Nein!« Sie kam in die Senkrechte wie ein
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Schnappmesser.
»Tripper, Clamydien, Pfeilwarzen ...«, zählte Patrick auf und unterbrach sich
nur, weil sie erbleichte.
»Gott, was sind Sie für ein Schwein!« Ihre Einschätzung schmerzte, auch
wenn sie ihn nicht verwunderte.
Er zuckte mit den Schultern. »Nicht wirklich. Was hältst du von einem
gutbürgerlichen Mittagessen?«
Ihre grün-braunen Augen zuckten über sein Gesicht und er konnte ihr ihre
Fassungslosigkeit an der Nasenspitze ablesen.
»Nein.« Sie versuchte erneut ihre Hand zu befreien. »Ich hätte das gleich
unterbinden müssen. Ich gehe lieber zu meinem Arzt. Es geschieht Ihnen recht,
wenn der Fall gemeldet wird!« Sie rutschte von der Liege und er rollte mit seinem
Hocker in ihren Weg.
»Und Bauer.«
Sie sah auf ihn herab, bemüht sicher zu wirken, was vielleicht funktioniert
hätte, wenn er es nicht besser wüsste. Sie schluckte und senkte die Lider.
»Lassen Sie mich vorbei«, flüsterte sie schließlich.
»Damit du mich mit deinem Taser bearbeiten kannst? Hast du eigentlich
einen Waffenschein dafür?« Damit entlockte er ihr zumindest ein süffisantes
Grinsen.
»Schon gut, ich warte gerne. Doktor Schulte-Henning beschäftigt doch eine
Putzfrau?«
»Lass sie gehen, Patrick, oder du wirst aufwischen!«, warnte Fabian genervt.
»Und es ist Schiller, Sandra. Ich habe den Namen meiner Frau angenommen.«
Sandra rauschte an ihm vorbei und schlug die Tür zu.
»Der Schein könnte trügen«, fuhr der Arzt fort, ohne von seiner Arbeit
aufzusehen. »Aber ich glaube, sie kann dich nicht ausstehen.«
»Das können viele nicht, die mit Bauer zu tun haben, das weißt du doch.«
Patrick rollte zum Schreibtisch.
»Mit denen planst du gewöhnlich aber nicht, ins Bett zu gehen.«
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»Ah, das Verhör. Ich bin der Polizist, Bruderherz.«
Fabian sah auf, schüttelte den Kopf und fuhr fort die Formulare auszufüllen.
»Wer ist sie?«
»Ich berufe mich auf mein Recht der Aussageverweigerung.« Sein Lachen
wurde mit einem dräuenden Blick quittiert.
»Wenn Mutter das mitbekommt ...« Fabian hob bedeutend eine Braue.
»Wird sie über glücklich sein und ihre Chancen auf weitere Enkelkinder
berechnen.«
»Und enttäuscht werden.« Wieder machte sich der Bruder an seine Arbeit.
»Hol deine Kratzbürste. Vergiss nicht Vater vorzuwarnen, damit er das Meer der
Tränen wenigstens kommen sieht.«
»Du gehst davon aus, dass ich unterliegen werde«, stellte Patrick fest und
dachte über die Möglichkeit nach.
»Bauer, Patrick. Aus irgendeinem Grund zieht er Frauen an und ich habe
noch nicht erlebt ...«
Patrick auch nicht, ganz im Gegenteil. Er hatte Jen verloren. Und nicht eines
der Mädchen, für die sie beide sich interessierten, hatte ihn vorgezogen. An dem
Brocken hatte er einen Moment zu kauen.
»Sie ist anders.«
Fabian schüttelte bedeutend den Kopf. Er brauchte es nicht sagen, er hielt
ihn für einen ausgemachten Idioten.
»Sie glaubt, dass wir miteinander geschlafen haben und es beschäftigt sie.«
»Weil sie Bauer betrog?« Fabian zuckte die Schultern. »Welche Bedeutung
hat es?«
»Dass sie nicht der Typ ist, der zweigleisig fährt. Ich glaube, dass sie
Konsequenzen ziehen wird.«
Fabian nannte ihn einen Vollidioten.
Sandra atmete kontrolliert durch die Nase ein und entließ die Luft durch den
Mund. Hundertundfünf. Es half nichts. Weder das Zählen ihres Atems, noch die
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Vorstellung auf einer blühenden Wiese zu sitzen. Sie kämpfte mit der Übelkeit.
Und der Panik. Geschlechtskrankheiten und auch noch schwanger! Dieser
verfluchte Mistkerl! Wenn sie nur nicht mitgegangen wäre. Wenn sie ihn nur nicht
angerufen hätte! Aber da war Tramitz gewesen. Sie hatte Hilfe gebraucht und
einen dummen Fehler begangen. Warum nur Schulte-Henning? Und das nach all
den Warnungen. Wie sollte sie das nur erklären? Peter, ich habe mit
Schulte-Henning geschlafen, keine Ahnung, wie das passieren konnte, aber es
tut mir leid.
Überzeugend. Nun, Melanie hatte ihr damals auch nicht geglaubt, dass Kevin
ihr versichert hatte, sie hätten Schluss gemacht. Und mit Melanie war sie
aufgewachsen. Sie waren ein Herz und eine Seele gewesen, bis das mit Kevin
anfing. Sandra schob die Vergangenheit von sich. Sie hatte andere Probleme,
und wie sie vor Peter irgendetwas rechtfertige, war nicht einmal das Dringendste.
Die meisten Krankheiten ließen sich gut behandeln und hatten keine
Langzeitauswirkungen. Und eine Schwangerschaft konnte man abbrechen. Ihre
Hände wurden feucht und sie wischte sie an ihrer Hose ab. Sie war nicht religiös.
Sie glaubte nicht, dass ein Abbruch Mord war und wusste doch, dass es nicht so
einfach war, wie es klang. Sich auf den gynäkologischen Stuhl zu setzen, das
weiße, eigene Laken an seinem baren Po zu spüren und zu wissen, dass es sich
bald schon Rot färben würde, von seinem eigenen Blut.
Auch wenn sie dem Baby sicherlich nicht hinterherweinen würde.
Schulte-Hennings Baby, mit dem sie sich die folgenden achtzehn Jahre um alles
Mögliche streiten müsste. Namen, Besuchsrecht, Kindergarten, Schule, Ausflüge
... Ein kleiner Fehler würde ihr ganzes Leben ruinieren.
»Sandra?«
Sie schreckte auf. Sie hatte nicht einmal vernommen, dass die Tür geöffnet
wurde.
»Geht es dir wieder besser? Fabian möchte jetzt gerne die Abstriche
machen. Er muss wieder rüber in die Klinik.« Er sah mit einem Stirnrunzeln auf
sie herab. Sie schüttelte den Kopf.
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»Ich kann das nicht.«
Sein Runzeln vertiefe sich und er kam in den schmalen Vorraum der Toilette.
Er kniete sich zu ihr und Sandra wurde erneut mulmig. Was sollte der Unsinn?
Er ergriff ihre Finger und drückte sie sacht. »Einen Abstrich machen lassen?
Zugegeben, ich weiß nicht, wie es ist, aber ...«
Sie riss an ihren Fingern und versteckte sie unter ihren Achseln. Das Gesicht
wendete sie ab und schloss die Augen. Sie hätte den Mund halten sollen.
»Es tut nicht weh.«
Arschloch!
»Oder?«
»Vielleicht finden Sie es toll, nackt vor allen möglichen Leuten
herumzuspringen, ich nicht!«, murrte sie gepresst. »Mein Frauenarzt kann ...«
»Er ist Arzt, Sandra. Und er hat schon die ein oder andere ... Vagina
gesehen«, stellte er belustigt fest. »Na, komm, du musst dich bestimmt nicht
ausziehen, und selbst wenn ...«
Ein Klopfen unterbrach ihn. Die Tür öffnete sich einen Spalt.
»Ich störe ungern, aber wir haben Personalmangel. Claudia lyncht mich,
wenn ich mir unnötig viel Zeit lasse.«
Sandra schloss die Augen.
»Einen Mord mehr, den wir zu klären hätten, so seine Leiche je auftaucht«,
behauptete Schulte-Henning ungerührt und wühlte nach ihrer Hand. Dabei fuhr
sein Daumen über ihre Brust, während alle anderen Finger auf ihrem Arm
blieben. Sandra lockerte ihre Umarmung, um seiner Berührung zu entgehen und
riss die Lider wieder auf. Sie sah direkt in seine eindringlichen Augen.
Sie schluckte mühsam. »Meine ... Meine Vagina gehört mir! Niemand ...«,
zischte sie und brachte ihn damit zum Lachen. Sie hasste ihn.
»Natürlich. Das befürworte ich vollends. Du kannst auch deinen Uterus
behalten. Lunge, Niere, Leber, Milz ...«
»Arschloch!«
»Dein Herz nicht, und ich fürchte, auf deine Brüste werden auch andere
»Du sollst nicht begehren ...«
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Anspruch erheben.«
Er zog sie auf die Füße.
»Glauben Sie ja nicht ...«, zischte sie ungehalten über seine Späße und
versuchte sich von seinem Griff zu befreien.
»Babys, Sandra. Meine Schwester schwor ...«
»Ich bin nicht ...«
»Noch nicht.«
Sie klappte den Mund zu. »Ich ... ich ...«, stotterte Sandra und erbebte unter
einem Schauer. Noch nicht. Natürlich würde sie nicht schwanger werden, das
war das Letzte, was sie wollte. Alleinstehend ein Kind aufziehen, dazu war sie
gar nicht in der Lage. Nicht damals, nicht jetzt, niemals. Er beugte sich vor und
ihr stockte der Atem. Ein Räuspern unterbrach seinen Kuss.
»Die Abstriche, ein nettes Mittagessen und dann ...« Schulte-Hennings
Augen gleißten auf und es war deutlich, was er weiterhin plante. Ihr Magen
revoltierte.
»Na, herrlich, Patrick, Sie findet dich zum Kotzen.«
Patrick schob seinen Bruder aus der Toilette. »Sehr komisch, Fabian! Du bist
keine Hilfe!«
»Wobei? Sie zu schwängern, oder deine Gesundheit zu bewahren?« Fabian
winkte ab. »Vergiss es. Was ist das Problem?«
»Du bist doch der niedergelassene Arzt, sag du es mir!«, gab Patrick die
Frage zurück und mutmaßte: »Wenn sie nicht schwanger ist ... Einen
Reizmagen? Wir haben gestern bei McDonalds gefrühstückt. Sie hatte nur
Kaffee. Im Haus Recke ebenfalls nur Kaffee und zum Abendbrot Königsberger
Klopse. Heute Morgen den Beagel und Kaffee.«
»Ich nehme an, du hast keine Beschwerden?«
Patrick schüttelte den Kopf. »Was macht sie beruflich?«
Patrick hob eine Braue. Sah allerdings ein, dass er ihre Identität kaum lange
verheimlichen konnte. »Juristin.«
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»Ah«, schnaubte Fabian. »Das hätte ich jetzt nicht gedacht.«
»Ich sehe nicht immer so aus, Dr. Schiller«, murmelte Sandra in seinem
Rücken und er fuhr herum.
»Geht es?«
Sie presste die Lippen aufeinander. »Nur wenn ich gegen meinen Willen aus
dem Haus geschleift werde.« Sie hielt seinen Blick fest.
»Ich bat dich, dich anzuziehen, Sandra.«
Wieder verkniff sie die Lippen.
»Und wenn du möchtest ...« Er deutete zur Tür.
»Kann ich gehen?« Sie schnaubte ungehalten, bevor die Wut verpuffte.
»Bringen wir es hinter uns, damit ich endlich nach Hause komme. Ich habe noch
tausend Berichte zu schreiben.« Sie drückte sich an ihm vorbei, die Arme um
sich geschlungen und trottete zum Behandlungszimmer.
»Patrick nimmt sie Antidepressiva, oder ...«
»Keine Ahnung. Ich halte es aber für möglich«, seufzte er leise. »Ich filze ihre
Tasche. Vielleicht hat sie was dabei und heute Abend ...«
»Ich hoffe, sie ist den Ärger wert, Mann«, unterbrach Fabian und folgte seiner
Patientin, die nervös auf der Liege herumrutschte.
»Seien Sie beruhigt, Sandra. Es dauert nur noch einen kleinen Moment, dann
sind wir hier fertig. Ich muss Sie allerdings bitten, sich untenherum Frei zu
machen.«
Sandra schloss die Augen und schlang die Arme fester um sich.
»Ich kann den Abstrich machen.«
Fabian drehte sich ungläubig zu ihm um, während Sandra ihn schockiert
anstarrte. »Jetzt übertreibst du es aber!«, warnte Fabian. »Mein Interesse ist rein
medizinisch und, verflucht noch mal, muss ich dich daran erinnern: Du hast sie
hergebracht!«
Patrick hob die Hände. »Es war nur ein Vorschlag. Sandra gefällt die
Vorstellung nicht, dass du es machst.«
»Also bitte, ich bin Arzt! Sandra, Sie können sicher sein ...«
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Sie senkte elendig den Blick.
»Frauenärztin nehme ich an?« Patrick seufzte gequält. »Fabian gibt es eine
Schwester im Hospiz, der du zutraust ...«
Fabian hob ungläubig beide Brauen. »Ich helfe dir gern, Patrick, aber ...«
»Stell dir vor, sie wäre Muslima, dann würdest du es auch akzeptieren, oder
nicht?«
Der Arzt presste die Lippen aufeinander und maß ihn deutlich verärgert,
bevor er zum Tisch stampfte und eine Nummer in sein Telefon tippte.
»Möchtest du dich danach umziehen?«
Sie reagierte nicht.
»Sandra, möchtest du dich danach umziehen?« Sie sah auf.
»Ich habe ein paar Sachen im Auto ...«
Sie runzelte die Stirn. »Ich möchte gar nicht wissen, was für Sachen. Mini,
Netzstrumpfhose und durchlöchertes Top? Soll ich fragen, warum Sie damit
spazierenfahren?« Sie schüttelte müde den Kopf.
»Deine Sachen, Sandra, obwohl dir das durchlöcherte Top und der Minirock
sicherlich ...« grinste er sich in der Vorstellung verlierend. Gut, es sähe billig aus
und sie sollte damit nicht vor die Tür, aber begeistern könnte er sich dafür schon.
»Meine?«
»Vom Wäscheständer. Ich dachte: Sicher ist sicher.« Er zuckte die Schultern.
Sie erbleichte.
»Sie waren auf meinem Balkon und haben meine Wäsche durchstöbert?«
»Deine hübsche Spitzenwäsche.«
»Arschloch!« Sie klammerte sich an die Liege.
»Dann möchtest du lieber in deiner Nachtwäsche bleiben.« Patrick sah an ihr
herab. Ihr Oberteil lag eng an und zeigte durchaus, dass sie im Bett keinen BH
trug. Ihre bequeme Hose umspielte dafür nur ihre Gestalt. Darunter trug sie
tatsächlich einen Schlüpfer.
»Oh, Gott, Patrick, du hast doch nicht wirklich ...« Fabian brach stöhnend ab.
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»Langsam bekomme ich das Gefühl, ich sollte besser die Polizei verständigen!«
»Sehr lustig, Fabian! Selbstverständlich habe ich ihre Wäsche nicht
durchstöbert, sondern lediglich einige Stücke vom Ständer genommen. Ich hole
sie.«
Patrick warf seinem Bruder noch einen verärgerten Blick zu, bevor er sich auf
den Weg machte. Einen solchen Aufstand zu machen, wegen einiger BHs und
Schlüpfer. Nun, Stringtanga, wenn man es genau nahm. Beides in schwarzer
Spitze und dazu halterlose Strümpfe. Kaum zu glauben, dass sie damit ins Büro
ging, vor Gericht. War sie damit auch gestern durch den Balver Wald gestapft?
Sein Hintern vibrierte. Genau genommen Sandras Handy. Er holte es heraus
und knirschte mit den Zähnen. Natürlich Bauer. Er hatte nicht übel Lust
abzunehmen und ihm selbst zu sagen, dass er sich eine andere suchen musste.
Mit Sandra würde er nicht mehr schlafen. Er kontrollierte den Verlauf. Neben
Bauer gab es nur noch weitere Anrufe einer unterdrückten Nummer und einen
Haufen sms. Das Briefchen blinkte bereits und warnte damit vor einem
überfüllten Postfach. Er steckte das Handy wieder ein und holte seinen Rucksack
aus dem Kofferraum. Als er zurückkam, erwartete Fabian ihn an der Rezeption.
»Nicky besucht ihre Großmutter, ich hoffe, es war dir recht ...«
»Natürlich.«
Fabian sah bedeutend auf seinen Rucksack. »Die Unterwäsche?«
»Rock und Bluse«, korrigierte Patrick gepresst. »Ich sammle keine
Unterwäsche von meinen ...«
»So!« Die Tür wurde aufgerissen. »Wir sind so weit. Oh, Hallo, Patrick.«
»Hallo, Nicky. Kannst du Sandra den Rucksack reinreichen?« Er grinste sie
an und Nicky grinste breit zurück. »Aber gern.«
»Danke, Nicky«, empfing Fabian die junge Frau, als sie zurückkam. »Für
deine Hilfe.«
Sie winkte ab. »Selbstverständlich. Ich bin dann wieder weg. Schau, Patrick!«
»Danke!« Er sah der molligen Aushilfe in der Gerichtsmedizin nach. »Die
Leichen.«
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»Lenk nicht vom Thema ab, Patrick! Als Juristin kennt sie sich mit Gesetzen
aus. Übertritt sie besser nicht, denn wenn du mich fragst: Sie kann dich nicht im
Geringsten leiden und Bauer sucht nur nach einem Grund ...«, warnte Fabian
eindringlich und griff nach seinem Arm. »Du musst wirklich ...«
Patrick wendete sich ihm zu. »So schlimm ist es nicht.«
»Verflixt, Patrick! Es gibt tausende hübsche Frauen, warum muss es ...« Er
brach ab, blinzelte und riss die Augen auf. Patrick drehte sich um. Sandra strich
ihren Rock glatt und seufzte. Sie hatte sich umgezogen, geschminkt und ihre
Haare hochgebunden. Obwohl sie keineswegs so akkurat aussah wie sonst, war
es eine riesen Veränderung zu vorher. Patrick grinste zufrieden und sah
genüsslich an ihr herab. Unter ihrer weißen Seidenbluse schimmerte ihr
schwarzer Spitzen-BH durch und unter ihrem knielangen Rock schlossen sich
nackte, schlanke Beine an, die durch ihre Pumps noch besser zur Geltung
kamen.
»Was haben Sie gegen Strümpfe?«, murrte sie mit einem spitzen Blick, bevor
sie näher trat und Fabian die Hand entgegen streckte. »Danke, Dr. Schiller, für
ihre Geduld.«
»Gern geschehen, Sandra«, murmelte er. »Ich werde die Ergebnisse Patrick
zuschicken.«
»Oh Gott, nein!«
»Natürlich. Ich sehe sie ohnehin jeden Tag«, meinte Patrick zufrieden und
nahm ihr seinen Rucksack ab.
»Nein!«, widersprach sie geschockt. »Ich will Sie ...«
»Ich dich auch, aber nicht in der Praxis meines Bruders. Komm«, unterbrach
er sie und schob sie vor sich her.
»Bitte! Ich glaube ...« Sie entwand sich ihm, blitze zu ihm auf und zischte:
»Ich gehe mit Ihnen nirgendwo hin!«
»Arnsberg ist hier ganz in der Nähe!«, erklärte er beiläufig, während er
Sandra weiter schob. »Wir könnten doch einen Blick auf die Leichen werfen.«
Ihr Kinn fiel herab, dann blinzelte sie und gab auf. Sie ließ sich ohne zu
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murren ins Auto setzen.
»Ich hasse Sie«, hielt sie ihm vor, als er sich anschnallte. Patrick sah sie
überrascht an. Das hatte er noch nie zu hören bekommen. Nicht einmal von Jen,
als er ihr wiederholt vorwarf, wie dumm sie war.
Sandra starrte angespannt aus dem Fenster. »Nein«, behauptete er kühn
und drehte den Zündschlüssel. Noch einmal sah er zu ihr rüber. Sie presste die
Lippen aufeinander. »Bestimmt nicht.«
Sandra erwachte durch eine Berührung. Sie blinzelte. Ihr Rücken schmerzte,
ihr Nacken und ihre Handflächen. Sie lockerte ihr Fäuste.
»Wir sind da, Sandra.«
Warmer Atem auf ihrem Gesicht, dann ein Kuss auf ihre Wange.
»Wach auf, Dornröschen.«
Sie hob die Hand, um ihn fort zu drücken. Schulte-Henning. Sie sah auf, in
seine strahlendblauen Augen. Natürlich Schulte-Henning. Sie schluckte, aber es
schmeckte gar nicht nach Galle.
»Nanu, es funktioniert wirklich.« Er zwinkerte und zog sich zurück.
»Arschloch!«
Er lachte und schlug die Tür zu. Sandra haderte mit ihrem Schicksal und dem
Kerl, der dafür verantwortlich war, als ihre Tür aufging.
»Wenn ich bitten darf, Prinzessin.«
Sandra stieg aus, bemüht Schulte-Henning zu ignorieren. Sie standen vor
einem großen, grauen Gebäude aus dem letzten Jahrhundert. Breite Stufen
führten zu einem massigen Tor, über dem das Wappen von Arnsberg angebracht
war.
»Ich hoffe, deine Schuhe verlieren sich nicht?«
»Das war Aschenputtel, nicht ...« Sie klappte den Mund wieder zu. Er grinste
sie zufrieden an.
»Welches war das mit dem Drachen?«
»Shrek!« Sie ließ ihn stehen. Er lachte auf und folgte ihr leider auf dem Fuß.
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Er zückte sein Mobiltelefon und wählte eine Nummer. »Wir sind da.«
Er streckte das Handy wieder weg, als sie versuchte das Tor zu öffnen.
»Geschlossen«, informierte er sie gut gelaunt und lehnte sich dagegen.
»Vielleicht sollten wir zuerst etwas essen gehen. Es gibt ein wundervolles
jugoslawisches Restaurant ...«
Sie warf ihm einen gereizten Blick zu. »Nein!«
Schulte-Henning seufzte. »Du musst doch hungrig sein.«
»Ich will nicht mit Ihnen reden! Und ich werde nicht mit Ihnen ausgehen!«,
stellte sie klar. »Also lassen sie mich ...«
»Du musst mit mir reden, Sandra. Es darf sich doch nicht auf unseren Job
auswirken.«
Dieser manipulative Mistkerl. Sandra ballte die Hände und zuckte zusammen,
als sich ihre Nägel in ihr Fleisch bohrten.
»Was ist es?«, murmelte er und griff nach ihrer Hand. Er konnte unmöglich
gemerkt haben ... Er öffnete ihre Faust.
»Verflixt! Und ich dachte, du schläfst entspannt!«
»Es ist nichts.« Sie entzog ihm ihre Hand und wendete das Gesicht ab.
»Wenn Sie wollen, dass es sich nicht auf unsere Arbeit auswirkt ...«
Sie spürte sein zufriedenes Grinsen.
»Sollten Sie das lassen.«
Seine Finger fuhren über ihre Wange. »Gut. Lässt du dann das Sie weg?«
Sie drehte ihren Kopf. »Nein!«
»Na komm schon, Sandra, ein Kompromiss. Ich sage Sie, wenn wir in
Gesellschaft sind und du du, wenn wir allein sind.«
»Wir werden nicht mehr allein sein«, stellte sie verärgert klar.
»Hauptkommissar Schulte-Henning, Sie müssen verstehen, dass ...« Ihr ging der
Atem aus, und als sie sich unterbrach, um einzuatmen, nutzte er die
Unterbrechung, um sie an sich zu ziehen und seine Lippen auf ihre zu pressen.
Sie erschauerte, versteifte sich verärgert über ihre unwillkürliche Reaktion und
kniff ihm in die Brust.
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»Autsch!«
»Herrgott noch mal! Könn ...«
»Patrick!«
Sandra schrie ertappt auf und stieß ihn erfolgreich von sich.
»Sandra.« Die blauen Augen des Gerichtsmediziners fuhren über sie hinab.
»Geht es Ihnen besser?«
»Dr. Schulte-Henning ...«
»Nicht wirklich, aber wir haben einen Schwangerschaftstest gemacht«,
unterbrach Schulte-Henning sie und schob sie dabei über die Schwelle. Hinter ihr
krachte das schwere Portal zu und verschluckte damit einen Großteil des
Sonnenlichts, wohl aber nicht ihre Worte, die steckten in ihrem Hals fest.
»Gut«, brummte der Arzt und deutete in den Saal vor ihnen. »Vielleicht lag es
doch am Trinken. Viele Anwälte hängen an der Pulle.« Der Arzt seufzte. »Und
noch mehr Polizisten.«
»Ich bin dein Sohn, Papa, vielleicht magst du das bedenken, wenn du auf
deine Statistik guckst? Und Sandra hat allen Grund zu trinken. Sie arbeitet mit
Bauer.«
»Das muss ich korrigieren«, knirschte Sandra aufgebracht und bohrte wieder
ihre Nägel in die Handballen. Sie bereute es umgehend, zischte dennoch: »Viel
mehr wären Sie ein Grund!«
»Da kann ich dich beruhigen, Sandra. Ich werde dir keinen Grund zu trinken
liefern.«
Sie war schier sprachlos.
»Es sei denn, du hast ein Problem mit meinem Job und Angst um mein
Leben, aber auch da kann ich dich beruhigen, so gefährlich ist er gar nicht.«
Seine Stimme vibrierte vor Belustigung.
»Schade!«, knurrte sie und versuchte einen Schritt schneller zu gehen, um
nicht mehr von ihm geschoben zu werden.
»Um in den Genuss meiner Lebensversicherung zu kommen, müsstest du
mich zuvor heiraten ...«
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Sandra fuhr herum. »Das reicht jetzt, Hauptkommissar Schulte-Henning!«,
spie sie entsetzt über seine Worte. Musste er wirklich jeden darauf hinweisen,
dass er mit ihr geschlafen hatte?
»Gut. Wie wäre es mit Patrick?«
Sie brauchte einen Moment um sich zu versichern, dass er wieder einmal
auswich. »Sie werden aufhören! Es war ein Ausrutscher! Ein Fehler. Hören Sie
auf, es mir wieder und wieder ...«
»Patrick.«
Sandra klappte den Mund zu.
»Ich höre auf zu scherzen und du sparst dir den Hauptkommissar
Schulte-Henning.« Er hob herausfordernd eine Braue. »Abgemacht?«
Sie kämpfte mit ihrer Rage. Warum hörte er denn nicht? »Sie verstehen
anscheinend nicht ...«
»Vorsicht, die Stufen.«
Sandra griff automatisch nach dem Handlauf.
»Sie müssen ...«, begann sie erneut, um wieder unterbrochen zu werden:
»Den Gang zur Linken, nun, und dann der Nase nach.«
»Hauptkommissar Schulte ...«
»Ich denke, ich werde dich küssen, wann immer ...«
»Wagen Sie ja nicht ...!«
Sie haderte mit sich, als er seine Drohung wahr machte. Die Hände gegen
seine Brust gepresst, drehte sie den Kopf. Seine Lippen wanderten über ihre
Wange und liebkosten ihr Ohr.
»Sie wissen, dass ...«
»Ja.«
»Ich werde ...«, warnte sie und versuchte es mit ihrer vorherigen Taktik. Sie
kniff ihm in die Brust.
»Au!«, lachte er und fing ihre Hand ein. »Ich werde sicherlich nicht
verschweigen, wo ich die Hämatome herhabe und wie ständen wir dann da?«
»Nun, nachdem ich Sie wegen sexueller Belästigung angezeigt ...«
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Dr. Schulte-Henning räusperte sich. »Patrick, ich möchte nicht den ganzen
Tag hier verbringen und deine Mutter wird es dir auch nicht danken, also spart
euch eure ... Zankereien für später auf.« Er deutete auf die eiserne Doppeltür am
Ende des Ganges und stapfte los. Sandras Herz schlug ihr bis zum Hals und sie
schloss mit brennenden Wangen die Augen.
»Können wir uns nun auf meinen Vornamen einigen? Hauptkommissar
Schulte-Henning ist doch schrecklich umständlich.«
»Sie werden nicht wieder versuchen mich zu küssen!«, forderte Sandra nach
einem Moment der Besinnung. Er seufzte schwer und ließ sie los.
»Nicht solange wir hier sind«, schränkte er ein. »Bitte, nach dir.«
Er deutete zur Tür und sie warf ihm noch einen skeptischen Blick zu, bevor
sie Dr. Schulte-Henning folgte.
Patrick lehnte sich gegen die metallenen Türen, hinter denen vermutlich weitere
Leichen auf eine Autopsie warteten, oder darauf, von einem
Bestattungsunternehmen abgeholt zu werden und betrachtete Sandra. Sein
Vater hatte die Erste nahe der Reckenhöhle gefundenen Leichen aus dem
Eisfach gezogen und Sandra hatte kurz die Augen geschlossen. Man sah ihr an,
welchen Maß an Beherrschung es sie kostete zu bleiben, wo sie war. Sein Vater
behielt sie ebenfalls im Auge, ganz so, als erwartete auch er, dass die
Staatsanwältin den Anblick nicht verkraftete. Sollte Sandra die Besinnung
verlieren, würde sein Vater sie sicherlich rechtzeitig abfangen. Ihm gönnte sie
dazu die Gelegenheit nicht. Denn bevor sein Vater den Leichensack geöffnet
hatte, hatte sie auf seiner Seite gestanden. Als er sich zu ihr stellte, hatte sie
demonstrativ die Seite gewechselt.
Er seufzte und warf einen schnellen Blick auf die Leiche. Sandra räusperte
sich.
»Gibt es genauere Hinweise auf den Todeszeitpunkt?« Ihre Stimme
schwankte und sie griff nach dem Metalltisch, um sich festzuhalten.
»Freitagnacht.«
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Sandra blinzelte. »Das umfasst ...«
»Eine grobe Schätzung, Papa? Wir werden dich nicht auf die Minute
festnageln.«
Sandra warf ihm einen Blick zu. Ihre Stirn wellte sich und ihre Lippen
pressten sich kurz zusammen. Sein Vater zuckte brummig die Schultern.
»Ganz grob: vor acht Uhr dreißig. Es war eine milde Nacht und die
Rektaltemperatur lag bei 20 Grad Celsius. Rigor mortis im Anfangsstadium,
Livores voll ausgeprägt. Sie wurde nach Eintritt des Todes bewegt. Die Hornhaut
besaß noch keine ausgeprägte Trübung. Ihr Magen war leer, ebenso ihr Dünnund Dickdarm. Wenn du mich fragst: vor acht Uhr dreißig. Die Blutgruppe ist AB
positiv.«
»Nicht die, die am Tatort gefunden wurde.«
»Bisher nur Auffindeort, Sandra«, korrigierte er sie weich und freute sich
diebisch über ihren neuerlichen Blick zu ihm. Sie versuchte ihn zu ignorieren.
»Nein.«
»War es das Blut der anderen ... Leiche?«, fragte Sandra, ohne seinen Vater
durchschaut zu haben. Der antwortete, wie von Patrick erwartet, ausweichend.
»Das wird der DNS-Test zeigen.«
Sandra sah aus, als hätte man sie geschlagen. Sie befeuchtet sich die
Lippen, bevor sie erneut fragte: »Stimmen die Blutgruppen der zweiten Leiche
mit der, des am Auffindeort gefundenen Blutes überein?«
Patrick gratulierte ihr im Stillen. Um seinem Vater nicht handfeste Aussagen
zu entlocken, bedurfte es einer ausgeklügelten Fragetechnik.
»Das am Auffindeort gefundene Blut hat die Blutgruppe 0 negativ, ebenso die
zweite Leiche.«
»Ich nehme an, sie sind noch nicht identifiziert«, murmelte Sandra und
beugte sich vor. »Die Haare sind abrasiert. Darf ich ein paar Handschuhe?«
»Handschuhe?«, grummelte sein Vater irritiert.
»Ich möchte sie mir genauer ansehen.«
Patrick reichte ihr ein Paar blauer Vinylhandschuhe, die sie ihm knirschend
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abnahm. Immerhin mit einem gemurmelten Dank.
Sie berührte den Schädel mit der Handfläche. »Ich weiß, dass Haare nach
dem Tod nicht weiter wachsen.« Sie beugte sich weiter vor. Und fuhr noch
einmal über den kahlen Schädel.
»Der Körper verliert Wasser, Sandra, wodurch sich die Haut zusammenzieht
und die Haarfolikel weiter heraustreten. Es erscheint nur als ...«, erklärte Patrick
belustigt.
»Gibt es einen Wert? Soundso viel Zentimeter in soundso viel Stunden?«,
unterbrach sie ihn knapp. »Den Frauen aus Bergkamen und Waltrop wurde das
Haar vor dem Tod abrasiert, mit offener Klinge. Vermutlich der Mordwaffe.«
»Die Rasur ist ungleichmäßig«, grummelte sein Vater. »Schätzungsweise vor
dem Tod, aber ich bezweifle, dass sie mit der Mordwaffe ausgeführt wurde.«
Sandra runzelte die Stirn. Ihre Augen wanderten über das wächserne Gesicht
der Toten, das durch tiefe Schnitte entstellt war.
»Sie haben keine Angaben zum zeitlichen Verlauf gemacht, Dr.
Schulte-Henning. Wurde ihr das Gesicht vor, oder nach ...«, fuhr sie fort und
schluckte. Sie schloss kurz fest die Augen.
»Ich war nicht dabei, Sandra.«
Sandra blinzelte und sah zu seinem Vater auf. »Selbstverständlich nicht, Dr.
Schulte-Henning. Ich dachte jedoch, dass man durch Blutgerinnung eine zeitliche
Abfolge durchaus festlegen kann. Wenn sie vorher starb ...«
»Das ist richtig«, räumte sein Vater ein. Sie seufzte und betrachtete erneut
das entstellte Gesicht. »Fehlt da etwas von ihrer Nase?«
Ein Grinsen huschte über das Gesicht des Gerichtsmediziners und beinahe
hätte Patrick es ihr nachgetan und geseufzt.
»Eine fachliche Einschätzung, Frau Staatsanwältin?«, fragte sein Vater
ungerührt, obwohl er innerlich sicherlich weiter grinste.
»Ich bitte darum, Dr. Schulte-Henning.« Sie sah gespannt, wie ein
Flitzebogen, zu ihm auf.
»Ja.«
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Sie blinzelte, wartete, blinzelte erneut und senkte dann den Blick auf die
Leiche. Sie brauchte einen Moment, um sich zu fangen und Patrick räusperte
sich, um es zu überspielen. »Soweit ich mich entsinne, stand es nicht in deinem
Bericht.«
»Ein vorläufiger Bericht, Patrick. Es fiel mir erst auf, als die Leiche
gewaschen war. Wenn du genau hinschaust, wie Frau Staatsanwältin, wirst du
sehen, dass es lediglich die Kuppe ist, die fehlt. Vielleicht ein Zentimeter. Sie
muss eine sehr auffällige Nase gehabt haben.«
Sandra warf seinem Vater einen merkwürdigen Blick zu. »Ist das fehlende
Stück gefunden worden?«
»Es steht nicht im Polizeibericht.« Zumindest konnte er sich nicht erinnern,
davon gelesen zu haben. Er gab gerne zu, dass dies nichts bedeuten musste, er
hatte in der letzten Nacht andere Dinge im Kopf gehabt, als Details zu einem
Mordfall.
»Darüber bin ich nicht informiert.«
Sandra wendete sich der Leiche zu und folgte dem Verlauf ihrer Gliedmaßen.
Sie hob die Hand auf.
»Fesselspuren.« Sie sah auf, eine Frage auf den Lippen. Sie schluckte,
unternahm einen neuen Anlauf und erkundigte sich vorsichtig: »Das ungefähre
Alter dieser Verletzungen können Sie mir vermutlich auch nicht nennen? So
ungefähr?«
»Prä mortem.«
Sie klappte den Mund zu. »So«, murmelte sie, »Prä mortem.« Und drehte die
Hand. »Bei einer lebenden Person hätte ich die Abdrücke und die Blutergüsse
auf zwei bis drei Tage alt geschätzt.«
»Eine akkurate Schätzung, Sandra.«
»Bitte?«, fuhr sie auf und starrte zu seinem Vater auf, als hätte er gerade
einen unanständigen Scherz gemacht.
»Die Blutergüsse sind sicherlich bis zu drei Tage vor dem Tod zugefügt
worden.«
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Man sah ihr an, dass ihr die Situation nicht geheuer war.
»Möchten Sie vielleicht doch eine Aussage zur zeitlichen Abfolge machen?«,
hakte sie vorsichtig nach und atmete gepresst aus, als sein Vater knapp
ausschlug: »Nein.«
Sandra legte die Hand ab und rutschte an der Barre entlang zum Fußende.
Auch die Knöchel wiesen Fesselspuren auf. »Wurden Fasern an den
Druckstellen gefunden?«
»Ja.«
»Wann werden die Ergebnisse vorliegen?«, fragte sie und kam auf seine
Seite, um am Tisch wieder zum Kopfende zu gelangen. »Am Ende der Woche,
vermutlich.«
»Die Wunden in ihrem Gesicht ...« Sandra runzelte die Stirn. »Kann man
feststellen, ob sie von einem Rechtshänder, oder einem Linkshänder zugefügt
worden sind? Ich meine, es sieht aus, als wären die Wunden oben tiefer. Als
wären die Schnitte von oben nach unten ausgeführt worden und, wenn man die
Schnittlänge betrachtet ... Wenn ich auf der Person sitze und als Rechtshänder
einen Schnitt von links oben, nach rechts unten ausführe, habe ich freie Bahn,
während ich anders rum mir selbst im Weg wäre. Der Schnitt wäre nicht so lang
...«
Sie sah auf in Dr. Schulte-Hennings interessiertes Gesicht. »Eine
interessante These, Frau Staatsanwältin.«
Sandra klappte den Mund wieder zu, kaute auf ihrer Zunge herum und
räusperte sich dann, sich den Stichwunden im Oberkörper der Leiche
zuwendend. Sie schloss erneut die Augen. Aus der Nähe konnte Patrick feine
Schweißperlen auf ihrer Oberlippe und der Stirn ausmachen. Es kostete sie
einiges an Selbstbeherrschung, die Leiche so genau in Augenschein zu nehmen.
»Die Wundränder sind ...«
»Das stand bereits in meinem Bericht. Wir wollen doch keine Zeit
verschwenden, oder?« Er sah auf. »Patrick?«
Er zuckte die Schultern. Da sie sich standhaft weigerte mit ihm essen zu
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gehen, war es besser so viel Zeit wie möglich hier zu verschwenden, bevor er sie
Heim brachte und sie vielleicht doch noch auf die blöde Idee kam, zu Bauer ins
Hotel zu fahren. Sein Vater seufzte schwer und Sandra maß ihn indigniert.
»Glauben Sie mir, Dr. Schulte-Henning, ich möchte ebenso gern schnell nach
Hause, wie Sie.« Sie warf ihm einen Blick zu, der deutlich hinzufügte: und ihn los
sein. Das machte es doppelt wichtig, Zeit zu vertrödeln.
»Ich entsinne mich nicht, Papa. Schriebst du etwas über Wundränder?«
»Sie sind unterschiedlich«, bemerkte Sandra und deutete auf das Gesicht.
»Dort sieht es fast aus, als könne man das Gesicht zusammenfügen, indem man
die Schnitte wieder näht. Aber die im Brustraum ...«
Patrick folgte ihrem Wink. Sie hatte recht. »Zwei Tatwaffen?«
»Nicht bei unseren Leichen«, stellte sie aufgeregt fest und sah zu ihm auf. Er
bereute seine Zusage, sie nicht mehr zu küssen. Ihre Wangen waren leicht
gerötet und ihre Haselnussaugen glänzten verführerisch.
»Eine glatte Klinge. Fünfzehn bis achtzehn Zentimeter lang, wie der
Zierdolch, der in seinem Kofferraum gefunden wurde.«
»Unterschiede«, murmelte Patrick, bemüht beim Thema zu bleiben. »Sehr
gut.«
Ihre Lippen teilten sich leicht. Gott, er musste sie küssen! Sie wendete sich
ab. Innerlich fluchend biss er die Zähne zusammen.
»Also, möglicherweise eine zweischneidige Klinge? Wie diese
Militärmesser?«
»Möglicherweise.«
»Sie können mir nicht eine mögliche Länge oder Breite nennen?« Sie beugte
sich schon über den Tisch und verglich die Breite der Wunde mit der Länge ihrer
Fingerglieder. »Vier, fünf Zentimeter? Kann man die Länge nicht mit einem Lineal
messen? Röntgen? Ultraschall?«
»Fünfeinhalb zu dreizehn Zentimeter, in ihrer maximalen Ausführung«,
bestätigte sein Vater mit einem Lächeln. »Vermutlich ein bei der Bundeswehr
übliches Kampfmesser. In jedem Militärbedarfsgeschäft erhältlich.«
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Sandras Strahlen erlosch. »Unmöglich nachzuvollziehen.«
Und damit lediglich ein Klassenbeweis, wenn man die Waffe fand und kein
Weg um die Identität des, oder der Mörder, aufzudecken. So einfach war es nie.
Gewöhnlich kamen Mörder auch nicht in zufällige Straßenkontrollen, versuchten
zu drehen und überfuhren dabei beinahe alte Omas, um dann noch im
Gerichtsaal sitzend eines schlimmeren Verbrechens überführt zu werden, wie es
bei Carsten Kramer der Fall gewesen war.
»Darf ich auch die andere Leiche sehen, Dr. Schulte-Henning? Ich
verspreche auch mich zu beeilen.«
Sein Vater seufzte schwer und kam um die Barre herum, um neben ihnen
eine weitere aus der Versenkung zu ziehen.
»Bitte schön, Frau Staatsanwältin, und bitte lassen Sie sich Zeit. Vermutlich
ersparen Sie Karl damit eine Menge Ermittlungsarbeit.«
»Ich brauche wirklich nicht lange, ich möchte nur ...« Sandra brach ab, als
sein Vater den Leichensack zur Seite schob. »Die Rasur ist ...« Sandra drehte
sich um. »Die ist blond.«
Während die zweite keineswegs Kahle brünett gewesen war, wenn auch mit
blondiertem Haupthaar.
»Noch eine Abweichung«, murmelte Patrick nicht mehr ganz so zufrieden,
wie bei dem ersten begangenen Fehler, der unterschiedlichen Waffen.
»Der Ansatz ... Sie muss sich die Haare kurz vor ihrem Tod blondiert haben.
Das sollte in der Personenbeschreibung stehen.« Sie drehte sich zu ihm um.
»Das ist wichtig.«
»Das kann ich nicht, Sandra. Offiziell sind wir nicht hier.«
Sandra blinzelte verblüfft. »Wir sind nicht hier?«
»Ich habe noch kein Okay von Rainer.«
»Ich schreibe es in meinen Bericht, vielleicht hat er einen guten Tag und hält
es auch für wichtig«, mischte sich sein Vater ein und trat an den überquellenden
Schreibtisch an der anderen Wand der Leichenhalle. »Womöglich kann der
ungefähre Zeitpunkt der Bleichung extrapoliert werden. Auf jeden Fall sollten
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zwei Phantombilder angefertigt werden. Blond und brünett. Danke, Frau
Staatsanwältin, das wäre mir entgangen.« Er notierte etwas. »Zumal diese
Leiche ansonsten komplett rasiert ist.«
»Ist das ein Tattoo auf ihrer Brust?«, fragte Sandra und deutete auf die
zerstochene rechte Brust.
»Rot, Grün und schwarz. Vermutlich eine kleine Blume. Rose womöglich«,
gab sein Vater Auskunft und überraschte Sandra damit sichtbar. Sie sah perplex
zu ihm auf. »Nicky wird morgen versuchen die Wunden zusammenzunähen,
damit wir Bilder machen können.«
Sandra verglich die Leichen miteinander. »Die Schnitte sind komplett anders.
Selbst die Stichverletzungen ... Es könnte dieselbe Waffe sein, aber ...«
»Die tiefste Verletzung ist hier acht Zentimeter tief.« Sein Vater deutete auf
eine Wunde in der linken Brust.
»Acht Zentimeter«, wiederholte Sandra leise. »Eine Vermutung zur tödlichen
Verletzung?«
»Keine.«
Sandra presste die Lippen aufeinander. »Sie können nicht sagen, woran sie
gestorben ist?«
»Doch.«
»Papa«, mahnte Patrick leise. Sandra war deutlich frustriert und er wollte nun
wirklich nicht, dass sie in Tränen ausbrach. Sicherlich war es kein angenehmer
Tag für sie gewesen. Nun, für ihn auch nicht. Er seufzte und stellte eine
naheliegende Vermutung auf: »Massiver Blutverlust. Keine der Stiche war
demnach tödlich.«
Der Arzt nickte zufrieden.
»Der Blutverlust? Soll das heißen, sie war ...«
Sandra schlug sich die Hand vor den Mund und würgte.
»Gegenüber, Sandra.«
Sie lief schon los, zu spät sie darauf hinzuweisen, dass es das Herrenklo
war.
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»Hart im Nehmen, die Kleine.«
»Mit hoher Frustrationsgrenze«, fügte Patrick an und musste grinsen.
»Nun, die wird sie brauchen.«
Patrick zuckte die Schultern und lehnte sich mit dem Rücken gegen die
Metalltüren.
»Mach mich nicht immer schlimmer, als ich bin.«
»Bisher hat es keine mit dir ausgehalten«, hielt er ihm vor, womit er leider nur
zu Recht hatte. Nach Jen hatte nicht eine Beziehung einen Jahrestag erlebt. »Ich
hoffe, du weißt, was du tust.« Damit wendete er sich den Leichen zu. »Meinst du,
sie hat genug gesehen?«
»Gibt es noch mehr zu sehen?«, gab er die Frage zurück.
»Die Vergewaltigungsspuren.«
Patrick sah zur Tür, hadernd, weil er nicht wusste, ob es klug war, sie damit
zu konfrontieren.
»Kann ich an deinen Computer? Ich muss auf die Polizeidatenbank zugreifen
und habe meinen Laptop im Wagen gelassen.«
Sein Vater schüttelte den Kopf. »Besser nicht, nach dem letzten Mal gab es
ein Memo zu unerlaubten Zugriff auf externe Datenbanken ohne
Gerichtsbeschluss.« Er warf ihm den Schlüssel zu. »Hol dir deinen Laptop und
vergiss nicht die Tür zu schließen.«
Hin- und hergerissen machte Patrick sich auf den Weg. Einerseits wollte er
sie nicht mit seinem Vater allein lassen, der es fertigbrachte, sie auf den Kopf zu
nach Bauer zu fragen. Andererseits wollte er endlich wissen, woran genau er bei
Sandra war. Wie viel sie verschwiegen hatte. Sie fühlte zu deutlich mit, mit den
Opfern. Bei Mareike Vulpius war sie wie gelähmt gewesen und bei Lena-Sophie
Mayer hatte sie kaum die Tränen unterdrücken können. Hatte Tramitz sie
vergewaltigt? Im Tropicana hatte sie keinen auffälligen Eindruck gemacht.
Gelöst, ungewöhnlich offen, gut, aber sie hatte nicht ängstlich gewirkt. Oder hatte
er die Situation nur falsch interpretiert?
Sie hatte ihn begrüßt und war ihm dabei fast um den Hals gefallen.
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Angetrunken hatte er vermutet. Sie hatte ihn gebeten, sie nach Hause zu
bringen. Er hatte sie noch immer im Arm gehabt. Er hatte nicht weiter auf den
Mann geachtet, der bei ihr gestanden hatte. Tramitz. Sondern den Arm um sie
geschlungen, um sie zu seinem Auto zu bringen. In die Kaiserstraße und dann
ins Bett. Ohne Umwege, große Worte.
Er hatte nicht einmal Licht gemacht, lediglich die Tür ins Schloss getreten,
seine Jacke im Flur abgestreift, ihre Bluse auf dem Weg ins Schlafzimmer. Noch
in der Tür, den BH und den Rock, bevor er sie aufgenommen hatte, um sie ins
Bett zu tragen. Er hatte ihren Busen liebkost und dabei ungeduldig ihr Höschen
abgestreift, war dann aus dem Bett gesprungen, um selbst die Hose, samt
Boxershort loszuwerden. Und als er zurückkam und sie küssen wollte, war sie
bereits eingeschlafen. Er war sich sicher gewesen, warten zu können. Nun, er
hatte auch nicht mit plus 42 Stunden gerechnet und mehr, schließlich war sie
weit davon entfernt, ihn in ihr Bett einzuladen.
Patrick nahm die Stufen und ließ das Schloss aufspringen. Hinter dem
Fahrersitz lag sein Rucksack. Er setzte sich und klappte sein Laptop auf. Es war
besser, wenn Sandra von der Anfrage nichts mitbekam. Frauen mochten ihre
Geheimnisse. Wie erwartet blinkte seine letzte Suchmeldung auf. Keine Treffer.
Er gab Tramitz ein, und da ihm der Vorname fehlte noch das Jahr seiner
Verurteilung. Er wartete angespannt. Die Suche konnte einige Zeit in Anspruch
nehmen, je nachdem, wie viele Verbrechen mit diesem Namen verknüpft waren.
Nach langen Augenblicken atmete er gepresst aus. Es würde dauern. Er klappte
den Deckel zu und steckte den Laptop zurück in den Rucksack. Mit ihm machte
er sich auf den Rückweg. Er konnte sich den neuen Autopsiebericht runterladen,
wenn sie schon mal da waren.
»Es geht schon, Dr. Schulte-Henning danke«, behauptete Sandra, als er den
Autopsiesaal betrat, und drückte sich ein nasses Tuch in den Nacken.
»Was ist passiert, Papa?«, fragte Patrick. Er trat auf sie zu und hob Sandras
bleiches Gesicht an. »Bist du wieder ...«
»Lassen Sie das!«, fuhr sie heftig auf und wich zurück. Mehr als nur Ärger in
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der Miene. Verblüffung. Angst? »Hören Sie auf damit!«
Patrick runzelte die Stirn und stellte die einzig sinnige Frage, wobei er sie
irritiert musterte. »Womit?«
»Damit!«, spie sie und wich weiter zurück.
Sich Sorgen zu machen?
»Sandra, vielleicht sollten Sie sich einen Moment hinlegen. In meinem Büro
gibt es eine recht bequeme Liege«, unterbrach sein Vater, als Patrick die Frage
gerade formulieren wollte.
»Es geht schon!«, beharrte Sandra stur und zerquetschte das Tuch in der
Faust.
»Also gut, Sandra. Übrigens: Trinken entspannt nicht, Sie sollten es lieber mit
Sport versuchen.« Sein Vater drehte ihr den Rücken zu und verpasste damit, wie
sie ihn mit großen Augen anstarrte.
»Bitte?«
»Patrick joggst du noch? Du solltest sie mitnehmen.«
Sie warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Ich werde ...«
»Sehr gut!«, unterbrach sein Vater erneut. »Es ist gutes Kardiotraining,
entspannt und macht müde, zumindest nach einem anstrengenden Tag im Büro.
Ich dringe seit Jahren in deine Mutter, mich endlich zu begleiten!«
»Damit du nicht alleine laufen musst!«, hielt Patrick ihm vor. Sandra rollte mit
den Augen.
»Du musstest ja wegziehen.«
»Unverantwortlich«, murmelte Sandra, wohl in der Annahme ungehört zu
bleiben.
»Meine Rede!«, brummte sein Vater jedoch. »Erst Steffi und dann du,
Patrick!«
»Wenn Sie das ausdiskutieren möchten, nehme ich doch die Couch.«
»Ich zeige dir ...«, bot er schnell an, obwohl kein Kuss zu erwarten war.
Immerhin konnte er dann seinen Vater bitten bestimmte Themen weiträumig zu
umschiffen.
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»Gut, dann packe ich die Damen wieder ein.«
»Einen Moment!« Sandra ließ ihn stehen und schloss zum Doktor auf, der
sich sofort daran gemacht hatte, die Leichen in ihre Säcke zu verstauen. »Ich
war noch nicht ...«
»Das kannst du später im Bericht nachlesen«, versuchte Patrick abzulenken.
»Ich bekomme doch die neue Version?« Sein Vater nickte und Sandra beschloss
ihn zu ignorieren.
»Sie wurden beide vergewaltigt?«
»Das steht im ...«, versuchte Patrick es noch einmal und fischte nach ihrem
Ellenbogen, um sie zurückzuhalten.
»Mehrfach? Über einen längeren Zeitraum hinweg? Einen Moment. Diese hat
keine Blutergüsse an den Fußgelenken.«
Patrick ließ die Hand sinken. Tatsächlich gab es keine Verfärbungen in Höhe
des Sprunggelenkes.
»Papa?«
»Oh, hören Sie auf damit!«, zischte sie. »Wir sind hier nicht beim
Familienpicknick!« Sie presste die Lippen aufeinander und bereute wohl ihren
Ausbruch, denn sie senkte das Kinn. Sie bat jedoch nicht um Verzeihung,
sondern schlug vor: »Können wir nicht ein wenig Professionalität bewahren?«
»Du erwartest nicht, dass ich meinen Vater mit Dr. Schulte-Henning
anspreche?«, erkundigte er sich kopfschüttelnd. »Das ist albern.«
»Albern ist ein Mann Mitte dreißig, der seine Eltern mit Mama und Papa
anspricht!«, gab sie bissig zurück und drehte ihm den Rücken zu. »Dr.
Schulte-Henning ...«
»Nun, Hauptkommissar Schulte-Henning, da haben Sie uns aber ganz schön
was eingebrockt«, stellte der Angesprochene trocken fest. »Ich hoffe, Sie bringen
Frau Staatsanwältin Bresinsky nicht zum Essen mit. So gern Frau Doktor
Schulte-Henning auch Gäste hat, wäre es ein recht umständlicher Abend.«
Sandra schloss die Augen. »Können wir bitte noch einmal auf den Grund
zurückkommen, warum wir hier sind, Dr. Schulte-Henning?«
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»Nein.«
»Nein?«, echote sie niedergeschlagen.
»Wir haben geschlossen, Frau Staatsanwältin Bresinsky. Wenn Sie
Informationen wollen, setzen Sie sich mit der Polizeidienststelle in Balve in
Verbindung. Sie sollten meinen Autopsiebericht morgen, oder übermorgen
vorliegen haben, je nachdem, was wir morgen noch schaffen. Wir sind leider
unterbesetzt und schaffen kaum die Hälfte der Arbeit, die anliegt.« Er schloss
den Sack und schubste die Barre in den Schrank. Die Tür fiel mit einem lauten
Knall zu.
»Das ist auch meine Freizeit«, murmelte Sandra betroffen. »Und es war nicht
meine Idee ...« Die zweite Tür fiel zu.
»Wie sprichst du deine Eltern an? Mit dem Vornamen?« Jen hatte ihre
Erzeuger nie Mama und Papa genannt, sondern Frank und Birgit. Sandra reckte
die Schultern.
»Nein.«
»Mama und Papa?« Patrick musste sich ein Lachen verkneifen. Sie sah
dräuend zu ihm auf. »Ich spreche sie gar nicht mehr an. Sie sind tot.«
Das Lachen verging ihm schlagartig. »Das tut mir leid, Sandra.« Er streckte
die Hand aus, um sie zu berühren.
»Dreizehn Jahre.« Sie wich ihm aus. »Das ist lange her.«
»Sandra ...«
»Es tut mir leid, Dr. Schulte-Henning, ich wollte Ihre Gefühle nicht verletzen,
indem ich ... Es tut mir sehr leid und ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie uns
gestattet haben, einen Blick auf die Leichen zu werfen.« Ihre Zunge fuhr
blitzschnell über ihre Lippen. »Selbstverständlich werde ich den Dienstweg
einhalten und auf die Berichte warten.« Sie trat auf seinen Vater zu und streckte
ihm die Hand entgegen. »Danke.«
»Es gibt Einschnitte in den Handgelenken, aber keine Ergüsse. Vielleicht
sollten wir uns dafür die Aufnahmen am Computer ansehen.« Er deutete zum
überladenen Tisch. »Nach Ihnen, Sandra.«
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»Wenn die Ergüsse an dem einen Körper mehrere Tage alt sind, und am
anderen keine ...«, murmelte Patrick nachdenklich. Dann war nur eine der
Frauen gefangen gehalten worden.
Sandra wendete sich ihm zu. Auf ihrer Stirn lag ein Runzeln. »Zwei
unterschiedliche Vorgehensweisen?«
»Eine getragen und eine geschleift.«
»Zwei Täter.«
»Mutmaßung«, mahnte Patrick, »Es gibt keinen Beweis.« Aber sinnig war es
schon.
»Nun interessiert sich jemand für die Schnittwunden, oder wollt ihr euch
lieber gegenseitig anstarren?«
Er verfluchte seinen Vater. Sandra wendete sich brüsk ab. Sie wollte ihn
offensichtlich nicht ansehen.
»Natürlich interessieren mich die Wunden, Dr. Schulte-Henning.«
Genannter drehte den Stuhl, so dass sie platz nehmen konnte, und lehnte
dann über sie, um auf den Monitor zu deuten. »Hier ist eine zwanzigfache
Vergrößerung des rechten Handgelenks.
»Die Wundränder ...«
»Sehr aufmerksam, Sandra.«
Sie sah auf. »Solche Verletzungen rühren doch nicht von Kordeln, oder ...«
Der Gerichtsmediziner schüttelte den Kopf.
»Paketband? Aber dann wären die Ränder nicht so sauber. Sind hier
ebenfalls Fasern ...?«
Patricks Vater schüttelte erneut den Kopf.
»Eine Art Abrieb? Plastik, vielleicht? Womit könnte man jemanden noch
fesseln? Kabelbinder. Bei Demonstrationen werden doch häufig ...«
Eine buschige Braue hob sich in dem faltigen Gesicht und Sandras leuchtete
begeistert auf.
»Kabelbinder!« Dann verlor sich das Strahlen. »Verflixt! Die gibt es in jedem
Baumarkt!«
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»Nun, Sandra, Sie denken zu sehr wie ein Polizist.«
»Ich bin Anwältin«, korrigierte sie den Blick wieder auf den Schirm gerichtet.
»An der anderen Leiche wurden aber Fasern in der Wunde gefunden? Sie waren
auch nicht eingeschnitten ...«
Sein Vater legte zum Vergleich das rechte Handgelenk der anderen Leiche
auf den Monitor.
»Also, eine Blondine, über mehrere Tage gefesselt ... Vergewaltigt?«
»Ja.«
Sandra schluckte und senkte kurz den Blick. »Wie?«
»Es ist ein Nachahmer, oder vielleicht zwei, Sandra, das ist alles, was wir
wissen müssen«, ging Patrick schnell dazwischen. »Wir sind fertig. Ich bringe
dich nach Hause.« Ungern, aber besser als die Alternative.
»Der eine Fall ...«, begann sie, wobei sie sich zu ihm umdrehte. »Bleibt zu
ähnlich, und solange wir nicht feststellen können, dass es nur ein Täter ist, oder
ausschließen können, dass ...«
»Abdrücke einer Schuhgröße, kein Indiz für ...«, hielt er dagegen und wurde
ebenfalls unterbrochen: »Die stets nebeneinander herlaufen?«
»Zufall.«
»Zwei separate Täter, von denen einer ...«
»Seit wann hältst du Kramer für unschuldig?« Das nahm ihr zumindest den
Wind aus den Segeln. Sie klappte den Mund zu und blinzelte irritiert.
»Das tue ich nicht«, räumte sie schließlich ein. »Dennoch sollten wir ...«
»Es gibt Hinweise auf Geschlechtsverkehr. Einrisse im Gewebe deuten auf
Vergewaltigung. Vaginal. Kein Sperma.«
Patrick knirschte mit den Zähnen und begegnete den Augen seines
Erzeugers. Vielen Dank auch!
»Kann man ...«, nahm Sandra den Faden direkt wieder auf.
»Prä mortem. Wir prüfen morgen das Gewebe auf ältere Spuren.«
Sandra nickte unzufrieden. »Die Brünette?«
»Nachweisbarer Geschlechtsverkehr. Vaginal, wie Anal. Einrisse, allerdings
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wurde auch eine Art Gel gefunden.«
Sandra sah überrascht aus. »Ein Gel?
»Es ist im Labor. Ende der Woche wissen wir mehr.«
»Sperma?« Sie biss sich auf die Unterlippe.
»Ja.«
»Es wurde Sperma gefunden?«, hauchte sie blinzelnd. »Das passt gar nicht
zueinander.«
Sein Vater räusperte sich. »Jede Menge Sperma, wenn man es genau
nimmt. Patrick hast du den Teil des Berichts unterschlagen?«
»Ich bin eingeschlafen.«
Hitze schoss ihr ins Gesicht. »Wir haben auf den Bericht gewartet und ... »,
erklärte sie atemlos und mit vor Schrecken aufgerissenen Augen. »Ich ...« Sie
rang verlegen nach einer Erklärung.
»Ich halte es für irrelevant.« Patrick nahm neben Sandra auf dem
Schreibtisch platz. »Wenn sie nicht gefangen gehalten wurde, kann ...«
»Was bedeutet denn jede Menge?« Noch etwas, was sie wohl nicht laut hatte
sagen wollen, denn ihre Wangen glühten förmlich. »Ich meine, was ist da zu
erwarten?«
»Ein Ejakulat umfasst etwa ein bis zwei Milliliter Sperma.«
Patrick räusperte sich. Das war ein Thema, das er von seinem Vater auch
nicht vorgetragen haben brauchte.
»Das hängt stark von Faktoren ab, wie Alter, sexuelle Aktivität ...«
»So genau müssen wir das nicht ...«, wollte er unterbrechen, aber Sandra
hakte bereits nach: »Das heißt, dass, wäre sie nur einige Stunden in der Gewalt
des Täters gewesen, nur eine bestimmte Menge gefunden werden könnte? Kann
man da Rückschlüsse ...«
»Ein Großteil fließt umgehend wieder aus dem Körper heraus. Es lässt sich
lediglich vermuten, dass häufiger, ungeschützter Verkehr stattgefunden hat.«
Sandra seufzte bedauernd. »Seltsam ist es schon«, murmelte sie wieder den
Schirm betrachtend. »Ich nehme an, die Blutwerte lassen noch auf sich warten?«
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Patrick seufzte innerlich, aber nun war es gleich, welche Fakten noch
aufgedeckt wurden. Sein Vater öffnete eine weitere Datei.
»Das volle Screening lässt natürlich noch auf sich warten, aber ein
vorläufiger Drogenabgleich ... Ach, da haben wir ihn.«
Patrick beugte sich vor. Die Tabelle möglicher zu findender Drogen war
überfüllt mit Pluszeichen.
»Nanu«, murmelte sein Vater und öffnete eine weitere Datei, die lediglich aus
Minuszeichen bestand. »Arn 2014/ 412 ist negativ getestet und Arn 2014/ 413
positiv auf ein Dutzend Drogen. Kokain, Heroin, Crack, Speed ...«
»Ist das eine gewöhnliche Mischung?« Sandra runzelte die Stirn. »GHB?«
Patrick knirschte mit den Zähnen. »Gamma-Hydroxy-Buttersäure.«
Sie sah auf. »Liquid Ecstacy, nicht wahr?«
Auch sein Vater horchte auf. »Richtig. In geringer Dosis wirkt GHB
bewusstseinserweiternd, aber das wissen Sie vermutlich.«
»Ich dachte, es sei eine reine Partydroge. Nichts, wovon man abhängig
wird.«
Eine dürftige Erklärung für den Drogenkonsum, ganz gleich, um welche es
sich handelt. Patrick presste die Lippen aufeinander. Hatte sie am Ende lediglich
eine Überdosis genommen?
»Jede Droge macht abhängig, Sandra«, rügte sein Vater ernst. »GHB ist da
keine Ausnahme. Zudem sind Langzeitfolgen nicht zureichend erforscht. Selbst
als Einschlafhilfe ist von dem Gebrauch abzuraten.«
»Einschlafhilfe? Ich ging davon aus, dass es ein Aufputschmittel ist.« Sandra
krauste die Nase. »Warum sollte man ein Schlafmittel mit
bewusstseinserweiternder Wirkung einnehmen? Oral? Wird Kokain und Heroin
nicht intravenös konsumiert? Verzeihen Sie, Dr. Schulte-Henning, aber ich kenne
mich eher mit den rechtlichen Folgen aus, als mit den gesundheitlichen.«
Patrick atmete erleichtert aus. Sandra und Drogen. Was für ein dummer
Einfall.
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»Kokain und Heroin kann auch wie Crack geraucht werden, wobei Kokain
aufputschend und Heroin beruhigend wirkt. Oft nimmt ein Konsument beides, die
Kombination mit Crack ist ungewöhnlicher. Wenn man sich die Konzentrationen
ansieht, halte ich das GHB als interessanteste Komponente aus dem
Drogenmix.«
»Es wird schnell abgebaut und ist gemeinhin innerhalb von zwölf Stunden
nicht mehr nachweisbar«, erklärte Patrick, da sie irritiert aufsah.
»Zwölf Stunden? Aber wir haben eine Konzentration von 1,5mg pro Milliliter.
Heißt dies, dass sie das GHB kurz vor ihrem Tod zu sich genommen hat?«
Sie wirkte erleichtert.
»Dass sie geschlafen hat, als man sie so zurichtete?«
Der Gerichtsmediziner wiegte den Kopf, räumte schließlich aber ein:
»Möglich.«
Patrick betete, dass sein Vater es darauf bewenden ließ und ihre Hoffnung
nicht zerstörte.
»Mareike und Lena-Sophie waren clean, weder das Tox-, noch das
Drogenscreening ergaben etwas. Dr. Schulte-Henning, wurde der Zahnstatus
festgehalten? Damit kann eine Leiche doch identifiziert werden.«
Neben Fingerabdrücken, Gesichtserkennung und der DNA-Analyse, die
gebräuchlichste Art der Opferidentifikation.
»Natürlich«, murmelte sein Vater und öffnete die Dateien mit den
Röntgenaufnahmen.
»Schlechte Zähne.«
»Passt zum Drogenkonsum.«
»Vielleicht auch ein Hinweis zu ihrem sozialen Status«, bemerkte Sandra
nachdenklich. »Darf ich noch kurz die anderen Bilder anschauen? Zehn
Minuten?« Heischend sah sie zu seinem Vater auf, der seufzend seine
Zustimmung gab.
»Lassen Sie sich Zeit, Sandra. Ich werde mich so lange mit meinem
Verkehrsunfall beschäftigen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
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»Natürlich nicht!«, winkte sie abwesend ab und klickte sich bereits durch die
Beweisaufnahmen.
»Patrick kannst du mir kurz helfen?«
Er seufzte und folgte dem Wink. Sandra ignorierte ihn, also sparte er sich die
Versicherung, gleich wieder bei ihr zu sein. Er folgte seinem Vater, zog den
gereichten Kittel über und die Handschuhe.
»Kluges Köpfchen, deine Staatsanwältin«, bemerkte er betont beiläufig und
deutete auf die Kühlschränke.
»Oh ja.«
»Etwas steif.« Er öffnete eine Tür und zog die Barre heraus.
»Leider.«
»Du solltest sie zum Essen mitbringen. Deine Mutter würde sich freuen.« Er
sah ihn eindringlich an. »Sie ist doch deine Anwältin, oder?«
»Noch nicht«, gab Patrick seufzend zu. »Aber ich habe nicht vor, sie so
einfach aufzugeben.«
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Kapitel 5 - Beziehungsfragen
Sandra rieb sich die schmerzenden Augen. Ihre Sicht flirrte. Die Fotografien
waren zahllos, viele in verschiedenen Winkeln aufgenommen und es dauerte viel
länger sie zu sichten, als angenommen. Ihre Kopfschmerzen waren dazu auch
nicht hilfreich. Sie seufzte leise, streckte sich und warf einen Blick zurück auf die
zusammenarbeitenden Männer. Dr. Schulte-Henning deutete auf die Kamera und
Schulte-Henning holte sie kommentarlos. Ein weiteres Zeichen, und der Jüngere
begann, Bilder von der Leiche aus dem Autounfall zu machen. Sandra runzelte
die Stirn. Sie hatte keine Ahnung von der Beweissicherung, aber mit Sicherheit
durfte nicht jeder einfach so drauflos knipsen. Obwohl es schon gekonnt aussah.
Methodisch. Dr. Schulte-Henning legte kleine Plaketten ab, vermutlich um
Verletzungen zuordnen zu können und schrieb immer mal wieder etwas auf sein
Klemmbrett.
»Papa?«
Dr. Schulte-Henning legte das Brett weg und half Schulte-Henning die Leiche
zu drehen. Wortlos. Nach weiteren Bildern und weiteren Notizen, begannen sie
die Leiche zu entkleiden. Sandra wendete sich wieder dem Bildschirm zu. Das
Gesicht der brünetten Toten. Die Schnitte waren ebenso glatt, wie jene an der
Blondine, aber nicht so tief. Es gab kein Muster. Sie legte ein vergleichbares Bild
der anderen Leiche daneben.
»Kommissar Schulte-Henning, könnte ich mein Handy wieder haben?«, rief
sie, ohne sich umzudrehen. Wieder verglich sie die Wunden der Leichen.
Kramers Opfer hatten ebenfalls entstellte Gesichter gehabt, aber ähnlich
zerschnitten, da war sie sich sicher.
»Wen willst du anrufen?«
»Das geht Sie schwerlich etwas an«, gab sie abgelenkt zurück und wechselte
die Ansicht.
»Dann nicht.«
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»Dann nicht, was?« Der Blondine fehlte ein Stück der Nase und von ihrem
Antlitz war nichts übrig geblieben. Das Fleisch hing ihr praktisch von den
Knochen. Die Brünette hatte lange Schnittwunden auf der Stirn und den
Wangen, sie schienen aber oberflächlich zu sein.
»Dann bekommst du dein Handy nicht zurück.«
Sandra durchzuckte es wie ein Blitz. »Bitte?«
»Du bekommst dein ...«
Sie fuhr auf ihrem Stuhl herum. »Sie werden mir mein Handy auf der Stelle
aushändigen, Kommissar Schulte-Henning!«
Er sah gelassen zu ihr rüber. »Das sind nun schon zwei Küsse, Sandra.«
Ärger brannte in ihrem Magen und ließ ihn sich heben. Der Kerl war ein
Arschloch sondergleichen! Sie funkelte ihn an.
»Sie werden mich nicht küssen, Kommissar ...«
»Drei.« Er lachte auf. »Vielleicht sollten wir den Einsatz erhöhen?«
Sie erstarrte erschrocken. Erhöhen? Auf was? Sie rief sich zur Ordnung.
Ganz gleich, was er ihr androhte, sie würde ihn sicherlich nicht Patrick nennen!
»Ich frage mich ...«
»Ein Date, Sandra. Natürlich bin ich jederzeit bereit den Einsatz noch weiter
...«
»Sie sind ein Arschloch, Kommissar Schulte-Henning!« Hitze schoss ihr in
die Wangen, denn neben dem Gemeinten, drehte sich auch der
Gerichtsmediziner zu ihr um.
»Sehr schön. Ich weiß auch schon, wo wir hingehen werden.«
Schulte-Henning zwinkerte ihr zu. »Du darfst gern ein kurzes Schwarzes dazu
tragen.«
Ihr kamen weitere Beleidigungen in den Sinn, die sie sich lediglich wegen des
Arztes verkniff. Sie bemühte sich um Gleichmut. Ruhe. Gelassenheit. Sonst
würde sie noch mit einem Skalpell auf ihn losgehen, um ihm das Feixen aus dem
Gesicht zu schneiden. Sie blinzelte. Wenn es darum ging? Um blinde Wut? Sie
drehte sich wieder dem Monitor zu. Total zerfleischt, zu zur Unkenntlichkeit
»Du sollst nicht begehren ...«
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zerschnitten.
»Vielleicht etwas Persönliches.« Ein beschissener Kollege, der einen bis aufs
Blut reizt. Eine Kollegin, die einen überall schlecht macht. Eine untreue Freundin.
Oder eine, die mit dem falschen Mann schläft. Sie erschauerte angespannt.
Melanie hatte kein Wort mehr mit ihr gesprochen. Nicht nach dem verächtlichen
Flittchen. Sie hatte noch andere Worte für sie gefunden. Zu Freunden,
Mitschülern, Lehrern, Eltern ...
»Wie persönlich?«
Sandra zuckte zusammen.
»Bauer?« Er hatte es in ihr Ohr geraunt und richtete sich nun wieder auf. Sie
schüttelte den Kopf und begegnete seinen Augen.
»Wenn das etwas Persönliches war.« Sie deutete mit einem knappen Wink
zum Bildschirm. »Wenn jemand ihr Gesicht mit Wut ...«
»Möglich. Damit wird sich Rainer herumschlagen müssen, sobald die
Identität geklärt ist.« Er zuckte die Schultern. »Beschäftigte dich nicht mit dem
warum, Sandra. Konzentriere dich auf deine Arbeit.« Seine Brauen zogen sich
zusammen. »Das ist besser so, glaube mir.«
Sandra starrte gebannt zu ihm auf. Wie er sie ansah. Es bereitete ihr
Schauder und Beklemmung zugleich. Er presste die Lippen zusammen und sein
Blick glitt zu ihren. Er schluckte und beugte sich vor.
Ihr blieb das Herz stehen.
»Patrick, ich brauche hier deine Hilfe.«
Sandra keuchte und wendete sich ab. »Ich habe einige Bilder in meiner
Cloud, ich wollte sie vergleichen.« Sie klang peinlich atemlos.
»Es ist in meiner Hosentasche. Mit den Handschuhen ...«
Würde er seine Kleidung einsauen, fischte er nach dem Telefon. Sandra
ballte die Hände. Ihre Handflächen brannten und sie lockerte ihren Griff gleich
wieder.
»Du müsstest es dir selbst raus holen.«
Natürlich. Ihr Hals war ganz kratzig. Aus der Hosentasche. Nun, wo war das
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Problem?
»Gut.« Aber das war es nicht. Ihre Finger waren ganz steif, unmögliche mit
ihnen etwas zu ergreifen. Sie drehte den Stuhl, ohne den Blick zu heben. Wie tief
mochte ihr Samsung mini in seiner Tasche vergraben sein?
»Links.« Er drehte sich um und Sandra glotzte auf seinen Hintern. Nun,
allemal besser, als was sie davor im Blickfeld hatte. Dumm nur, dass sich sein
Anblick vom Samstagmorgen ungebeten in Erinnerung rief und auch nicht von
seinem knackigen Jeansarsch verdrängt werden wollte. Es war albern. Dass ihr
die Hände zitterten. Was war schon dabei? Gott, er hatte sie bereits überall
angefasst! Sie drückte das Handy nach oben.
»Das andere Links, Sandra.«
Hitze schoss ihr in die Wangen. »Das ist rechts!«, rechtfertigte sie sich
schnell und machte sich an der anderen Tasche zu schaffen, bis ihr Samsung
mini ein Stück herausschaute. Sie wendete sich, ihr Telefon endlich zurück
erlangt, schnell ab und konzentrierte sich auf dessen Bedienung. »Das Display
ist ziemlich klein, willst du die Bilder auf meinen Laptop schicken? Er ist in
meinem Rucksack. Das Passwort ist: Seifenkistenrennen 1989.«
Sandra schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Empfang.«
»Richte deine Cloud auf meinem Laptop ein«, war sein Vorschlag, wobei er
sie bereits stehen ließ, um seinem Vater zur Hand zu gehen.
Soweit kam es noch! »Möchten Sie vielleicht auch die Pin zu meinem
Girokonto?«, murrte sie verdrossen und bereute es umgehend.
»Nein, aber ein Schlüssel zu deiner Wohnung wäre nicht schlecht.«
Gott, nein! Nicht auszudenken, er könnte sie überfallen, wann immer er lustig
war! Sie wollte nun wirklich nicht jeden Morgen so geweckt werden, wie an
diesem. Ein Schauer kroch über ihren Leib und hinterließ eine Gänsehaut und
schmerzhaft ziehenden Brustwarzen.
»Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?«, zischte sie, um sich
abzulenken. Nur nicht die Hände auf die schmerzenden Regionen legen! Allein
bei dem Gedanken, sich zu berühren, musste sie sich ein Stöhnen verbeißen.
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Und wenn es gar nicht ihre Hände waren, sondern seine? Oder seine Lippen? Ihr
Schoß zog sich zusammen und Sandra schloss um Fassung bemüht die Augen.
Nicht daran denken! Aber das war einfacher gesagt, als getan.
»Dein Freund?«, schlug er vor und verdrängte damit erfolgreich die
unpassende Empfindlichkeit ihrer Haut. Und mit ihr wich alle Wärme aus ihrem
vor Schock erstarrtem Körper. Der Magen drehte sich ihr um, sie würgte und
stolperte los. Es war ein Herrenklo mit Pissoirs an den Wänden, aber das war ihr
vollkommen gleich.
»Ich mag gehörig aus der Übung sein, Patrick, aber zu meiner Zeit war es
kein gutes Zeichen, wenn sich die Angebetete erbricht, wenn man sich als
Freund anbietet.«
Patrick warf seinem Vater einen gereizten Blick zu. Fabian hatte deutlichere
Worte gefunden, dennoch waren diese schmerzlicher.
»Stress«, behauptete er knapp. »Vermutlich eine gereizte
Magenschleimhaut.«
»Möglich«, räumte sein Vater ein. »Gib ihr Buscopan. Es entspannt auch.«
Seufzend striff er sich die Handschuhe ab. »Kaffee?«
Patrick stimmte zu und entledigte sich ebenfalls der Arbeitskleidung und
folgte seinem Vater in dessen Büro. Die Tür ließ er weit offen stehen, damit
Sandra nicht nach ihnen suchen musste.
»Kein schlechter Hinweis, dass mit dem persönlichen Tatmotiv, wenn du
mich fragst.«
»Darüber sollte sie sich keine Gedanken machen. Sie braucht lediglich die
Fakten.« Patrick lehnte sich gegen die Wand neben der kleinen Küchenzeile. Ein
Spülbecken mit Unterschrank und einer schmalen Abstellfläche, auf der eine
Senseo Kaffeemaschine stand, die bereits leise brodelte.
»Ich hätte sie gar nicht herbringen sollen.« Es war egoistisch gewesen und
undurchdacht. Er hätte ihr die Bilder ersparen sollen: Verstümmelte
Frauenleichen, vergewaltigt und brutal ermordet. Die Fakten an sich waren
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verstörend genug.
»Sie hat sich den Job ausgesucht, Patrick. Und wenn es ihr zu viel ist ... Es
gibt andere Bereiche. Wirtschaftsverbrechen. Cyberkriminalität. Ohne Blut, ohne
Leichen.«
Patrick presste die Lippen aufeinander. Er hatte recht. Natürlich war es ihre
Wahl gewesen, aber sie hatte schließlich nicht gewusst, was sie erwartete. Sie
hatte nicht gewusst, dass es sie nicht mehr loslassen würde.
»Es ist spät, Sandra, und das Letzte, was wir gegessen haben waren ein
paar Brownies und einen Beagel. Wir werden ohnehin anhalten müssen. Ich
sehe es nicht als Verabredung in Ordnung? Es ist kein Date.«
Sandra presste die Lippen aufeinander. Ihr Magen knurrte vernehmlich und
leider nicht zum ersten Mal, seit sie die Gerichtsmedizin verlassen hatten.
»Ich verspreche ein familiäres Ambiente und gutbürgerliche Küche. Du musst
dich auch nicht mit mir unterhalten.«
Welche Verlockung! Sandra starrte auf den grauen Asphalt, der von Bäumen
gesäumt wurde. Sie waren mitten in der Pampa. Vermutlich würde sie Stunden
brauchen, um ohne ihn nach Hause zu kommen und sie war viel zu müde, um
sich noch um Fahrpläne zu kümmern. Sie unterdrückte ein Gähnen und gab
gereizt nach: »Also gut.« Sie hasste es, nachgegeben zu haben. Aber es ging
nicht anders. Ihr war schon schummrig vor Hunger. Aus dem Augenwinkel
gewahrte sie sein zufriedenes Grinsen. Ihr Magen zog sich schmerzhaft
zusammen. »Halten Sie an!«
Schulte-Henning sah in den Rückspiegel, schaltete die Warnblinkanlage ein
und ließ den Wagen am unbefestigten Straßenrand ausrollen. Sandra schnallte
sich ab und stolperte über den Waldweg. Auf den Knien würgte sie trocken. Sie
hatte schon in der Gerichtsmedizin nichts mehr erbrochen und lediglich den Reiz
nicht mehr unterdrücken können.
»Verflixt, Sandra, ich google eine Notfallapotheke in der Nähe.« Trotzdem
kniete er sich zu ihr, um über ihren Rücken zu streicheln. »Wasser?«
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Eine Flasche schob sich in ihr Blickfeld und sie griff automatisch nach ihr. Sie
schloss die Augen, bemüht sich zu beruhigen. Ihr Magen revoltierte. Er
streichelte sie noch immer. Seine Hand fuhr gleichmäßig von ihrem Nacken zu
ihrer Hüfte, um sich dann wieder an ihren Nacken zu legen und erneut
herabzufahren. Sie spürte es so deutlich, als wäre sie nackt.
»Versuch ruhig zu atmen. Normal. Wenn du hyperventilierst, verschlimmerst
du den Brechreiz nur und verlierst womöglich noch die Besinnung.«
Sie presste die Lippen aufeinander. Arschloch! Ein unglaublich hilfreiches
Arschloch!
»Verflixt, in Arnsberg wäre eine gewesen. Die Nächste ist in Neheim.
Zumindest kein riesen Umweg. Andererseits ...« Seine Hand stoppte auf Höhe
ihres BH-Verschlusses. »Nimmst du noch andere Medikamente?
Psychopharmaka?«
Sie erstarrte und seine Berührung brannte sich plötzlich in sie. Sie schüttelte
ihn ab. »Nehmen Sie Ihre Hände weg!«
»Bestimmte Psychopharmaka haben Nebenwirkungen wie Erbrechen,
Überreiztheit, Schwindel ... In dem Fall wäre eine Behandlung mit einem Mittel
...«, erklärte er ruhig und hob die Hände. Es machte ihn keinesfalls
vertrauenswürdiger.
»Es ist eine Nachwirkung von ...«, zischte sie, wobei sie noch ein Stück von
ihm fort rutschte.
»Nein.«
Sandra klappte den Mund zu. »... meinem ...«, fuhr sie dann trotzdem fort
und stoppte wieder. Er schüttelte den Kopf und erschien dabei so verflucht
sicher, dass ihr schauderte.
»Tramitz? Dein Stalker in einer Bar mit dir, obwohl du deinen Namen
geändert hast? In einer anderen Stadt lebst, kaum ausgehst und für gewöhnlich
nicht mehr trinkst, als ein oder zwei Cocktails?«
Ihrer eigenen Aussage nach, von der sie schließlich wusste, dass es die
Wahrheit war. Sie schlang die Arme um sich.
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»Und obwohl du mich doch hasst, bist du mit mir gegangen. Ins Bett, Sandra.
Willig.«
War es Mitleid in seinen Augen? Ihr Hals wurde eng und sie wendete den
Kopf ab. Ihr war elendig. Sie fror, ihr war schlecht und sie bezwang nur mühsam
den Drang zu heulen. Liquid Ecstacy hatte noch einen Namen.
Vergewaltigungsdroge. Aber das war absurd.
»Und kannst dich an nichts erinnern«, murmelte er an ihrem Ohr.
Sie schniefte und schlug sich die Hände vor das Gesicht. Er legte den Arm
um sie und zog sie an sich. Dann hatte er sie vergewaltigt. Technisch gesehen,
schließlich war sie unter Drogen gesetzt worden und ihre vermeintliche
Zustimmung zum Geschlechtsverkehr nichts wert. Natürlich gab es mildernde
Umstände.
»Es tut mir leid, Sandra, wenn ich es gewusst hätte ...«, raunte er und
schloss die Arme um sie. »Letztlich ist es auch nur eine Vermutung. Möglich,
dass du tatsächlich nur zu viel getrunken hast und Tramitz Gegenwart zufällig.
Die Restalkoholanalyse wird da vielleicht Auskunft geben.«
Sandra schüttelte den Kopf an seiner Schulter. »Nicht nach mehr als 36
Stunden. Der Alkoholpegel wäre längst ...«
»Psychopharmaka, Sandra?«, fragte er sanft und streichelte ihre Schulter.
Die kühle Seide ihrer Bluse ließ seine Wärme langsam durchsickern. Sein Atem
netzte ihre Schläfe. Sie schloss die Augen. Die eisige Kälte von zuvor schwand
langsam und der starre Knoten in ihrem Bauch löste sich wieder.
»Nein«, hauchte sie nicht einmal sicher, worauf sie antwortete.
»Allergien?«
»Nein.« Sie spürte seinen Herzschlag unter ihrer Hand. Viel schneller als ihr
Eigener. Seufzend sackte sie gegen ihn und in seine Umarmung. Er war
behaglich warm und alles, was sie wollte war: einen Moment die Augen
schließen und Ruhe erfahren. An nichts mehr Denken, keine Angst haben und
endlich Sicherheit erfahren. Seine Hand rutschte ab, verhielt wie zuvor in ihrem
Rücken, um dann wieder nach oben zu kommen und ihr Kinn anzuheben. Seine
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Lippen drückten sich sacht auf ihre.
Ruhe. Nichts denken. Sie glitten über ihre, die sich von selbst öffneten.
Schulte-Henning. Seine Zunge wiederholte die Liebkosung, bevor sie in ihren
Mund vordrang. Sie küsste Hauptkommissar Schulte-Henning. Ihr Magen
flatterte. Seine Hand glitt über ihren Hals zu ihrem Busen. Drückte ihn flüchtig
und fiel weiter herab, bis auf ihr Bein. Ihr nacktes Bein und dann wieder hinauf.
Über ihren Schenkel. Unter ihrem Rock. Das Herz stockte ihr. Er würde sie hier
nehmen? Im Dreck? Auf kargen Waldboden nur wenige Schritte entfernt von der
Straße, auf der zumindest in der Theorie jederzeit jemand vorbei kommen
konnte. Tränen drängten sich in ihre Augen und ihre Stimme brach, als sie bat:
»Nicht! Bitte.«
Er erstarrte, beendete seinen Kuss umgehend, auch, wenn sowohl seine
Hand, blieb, wo sie war, wie auch seine Lippen. Sie spürte, dass er schluckte,
dann zog er sich langsam zurück.
»Wir sollten weiter fahren«, schlug er vor und stand auf. Er sah nicht zu ihr
herab, als er ihr die Hand bot, um ihr aufzuhelfen. »Ich habe eine andere Idee.
Vielleicht möchtest du dich schon mal ins Auto setzen?«
Sandra flüchtet mit klopfendem Herzen. Das Auto war ihr keineswegs lieber,
ganz im Gegenteil. Sie bereute es, den Mund aufgemacht zu haben.
»Patrick hier ..«
Sie sah über die Schulter zurück. Er telefonierte. Sie zog die Beifahrertür auf.
Nicht im Auto hielt sie sich vor. Das würde sie nicht zulassen. Zittrig schloss sie
die Augen. Wenn er eine schnelle Nummer im Auto schieben wollte, sollte er sich
besser eine Prostituierte suchen. Sie knallte die Tür zu. Sie würde sich nicht
ficken lassen. Sie zitterte erbärmlich, heiße Tränen rollten über ihre Wangen und
sie suchte auf der Straße nach etwas, was sie beschäftigen würde. Dann im
Wald.
Die Tür ging auf und beinahe hätte sie geschrien.
»Wir werden vielleicht eine halbe Stunde unterwegs sein, Sandra.« Er
rutschte in seinen Sitz. Sah zu ihr und runzelte die Stirn. »Sandra?«
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»Ich will nicht, dass Sie mich ficken!« Und das aussprechen hatte sie auch
nicht gewollt, aber nun war es zu spät.
»Ich will dich nicht ficken.«
Arschloch! »Schön! Ich will dich nicht ficken!« Sie richtete verärgert den Blick
auf ihn. Er sah überrascht aus.
»Gut.«
Sie stieß zischend den Atem aus und verunglimpfte ihn innerlich.
»Ich will dich gar nicht ficken.«
Wortklaubereien, natürlich. »Bumsen?«, schlug sie vor, wobei ihre Lippen
Schwierigkeiten hatten, das Wort zu formulieren. Tramitz hatte es stets bumsen
genannt, während andere sie stets gefickt hatten. Er betrachtete sie einen
Moment ernst, bevor er den Kopf schüttelte. »Nein.«
»Vögeln?« Kevins Bezeichnung. Noch nach all den Jahren schmeckte sie
Galle, wenn sie daran dachte. Sie hielt seinem Blick stand. Nachdenklich nun,
fast sezierend.
»Wie möchten Sie es sonst bezeichnen?«
»Sex?«, schlug er ruhig vor, was sie fast in die Raserei trieb. Sex!
»Ich will keinen Sex mit Ihnen. Nicht auf dem Waldboden und sicherlich auch
nicht in Ihrem scheiß Auto!«, spie sie und wünschte sich sehnlichst, ihm ins
Gesicht schlagen zu können. Sie hasste es, wie er sie ansah. So wissend. So
bewertend.
»Es ist mir egal, was Sie von mir halten! Nur, weil ich mit ... mit ...« Sein
Name steckte ihr im Hals fest. Sie zitterte immer stärker und schlang die Arme
um sich.
»Bauer ficke?«, soufflierte er noch immer absolut ruhig, obwohl etwas in
seinen Augen aufblitzte. »Oder magst du es bumsen nennen? Oder vögelt er
dich?«
Sie erstarrte, konnte nicht einmal mehr atmen. Nein! Peter stand ihr vor
Augen. Er grinste sie an und köpfte sich die Hose zu. »Dich zu ficken ist etwas
ganz Besonderes, weißt du das?« Er hatte sich abgewendet und über die
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Schulter zurück geworfen, dass es aus ihrer Verabredung am Abend nichts
werden würde.
»In seinem hübschen Mercedes? Oder gehst du immer mit ihm ins Hotel?«
Ihr schwindelte vor Atemnot. »Es ist mir gleich, was ...«, keuchte sie.
Blitzende Punkte schwirrten durch ihr Sichtfeld.
»Oder fickt er dich nur in seinem Büro?«
Sandra schloss die Augen, bemüht sich auf ihren Sauerstoffmangel zu
konzentrieren.
»Sandra? Du musst atmen.«
Idiot!
»Verdammt!«
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Kapitel 6 - Ein familiäres Abendessen
Patrick warf Sandra einen Blick zu. Noch immer atmete sie in die Tüte,
bereits 23 Minuten lang. Sie war blass und starrte apathisch aus dem Fenster.
Etwas stimmte ganz und gar nicht an der ganzen Geschichte. Er kannte Bauer.
Er wusste, dass er rücksichtslos war, besonders gegen Frauen. Dafür benötigte
er keine Beichte seiner Schwester, wie seine Eltern, oder Fabian. Patrick wusste
es aus unzähligen Anschauungsbeispielen. Er hatte es beobachtet. Er hatte es
aus seinem eigenen Mund gehört und aus denen seiner Affären. Jen hatte ihm
vorgehalten, dass ihr genau dies gefiel. Dass Bauer sich nahm, was er wollte,
dass er sie nahm, wie er es wollte. Wann er es wollte, wo ... Seine Dominanz
habe sie angezogen. Patrick bog in den Privatweg ein. War es auch das, was
Sandra anzog? Oder steckte etwas ganz anderes dahinter?
»Übertreib es damit nicht, Sandra. Der Sauerstoffgehalt in der Tüte verringert
sich bei jedem Atemzug. Du wirst ...«
»Ich weiß ...« Sie murmelte es nur, aber immerhin war sie wieder
ansprechbar.
»Es tut mir leid, was ich gesagt habe. Es geht mich nichts an.« Obwohl das
ganz und gar nicht stimmte.
Sie drehte sich weg und starrte aus dem Seitenfenster.
»Er benutzt dich nur, Sandra. Das solltest du wissen.«
Der Wald lichtete sich und ein großes mehrstöckiges Haus kam zum
Vorschein. In der Einfahrt standen bereits ein dunkler VW und ein dunkelroter
Audi. Er parkte daneben.
»Wir sind da.« Patrick schnallte sich ab. »Können wir versuchen etwas
harmonischer miteinander umzugehen?«
Sie ließ die Tüte sinken. »Ich habe keinen Appetit mehr. Kann ich im Auto
sitzen bleiben? Ich laufe nicht weg. Ich bleibe hier sitzen und warte auf Sie.«
Es wäre gefährlich hier fortzulaufen. Zumal die Dämmerung nicht mehr lange
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auf sich warten lassen würde. Wenn sie die Straße verließ und im Wald
herumirrte ...
»Ich bringe dich nach Hause, Sandra, das verspreche ich. Es gibt keinen
Grund vor mir wegzulaufen. Du kennst die Gegend nicht. Es wäre gefährlich. Wir
essen zu Abend. Du musst eine Kleinigkeit essen.«
Ihre Lider pressten sich aufeinander. Patrick stieg aus und hastete um seinen
Wagen herum, um ihr die Tür aufzuhalten. Sie sah auf. Ihre Haselnussaugen
glasig vor Tränen. Er hielt ihr die Hand hin. »Komm.«
Er zog sie hoch. Sie stand direkt vor ihm, ihre Lippen nur wenige Zentimeter
von seinen entfernt. Er durfte sie nicht küssen. Beim letzten Mal hatte sie daraus
geschlossen, dass er sie schlicht ficken wollte. Und weil er den Mund nicht halten
konnte, hatte er sie in eine Panikattacke getrieben.
»Lass mich sehen, ob du vorzeigbar bist.« Er trat einen Schritt zurück. Ihre
Bluse war manierlich geschlossen, nur minimal zerknittert, wo er ihren Busen
berührt hatte und ihr Rock sauber.
»Dreh dich um.«
Sie folgte seiner Bitte und warf, ihm den Rücken zu wendend, einen
ängstlichen Blick zurück. Wie befürchtet war ihre Kehrseite nicht ganz so
unbedenklich und Patrick strich den Dreck von ihrem Po.
»Bitte nicht.«
Patrick hielt inne. »Keine Sorge, Sandra, ich werde dich nicht ficken.«
Sie erschauerte sichtlich und senkte das Kinn. »Komm.« Er fischte nach ihrer
Hand und schlug die Tür zu.
»Patrick!«
Sandra zuckte zusammen, sie sah auf. Nach einem schnellen Rundumblick
richteten sich ihre Augen auf die kleine, rundliche Frau in der Tür, die ihnen
erfreut zuwinkte.
»Da seid ihr ja endlich!«
»Wo sind wir?«
Patrick zog sie an der Hand mit sich.
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»Hallo, Mama. Sandra bekommt das Fahren derzeit nicht. Hast du zufällig
Buscopan da?«
Sandra zog an ihrer Hand, während seine Mutter ihn tadelnd ansah. »Du
sollst keine Diagnosen stellen!« Sie wendete sich Sandra zu. »Er kann es nicht
lassen! Kommen Sie rein.« Sie machte Platz. »Forensischer Pathologe. Nicht
Arzt! Das ist ein Unterschied, ganz gleich, was er diagnostiziert, Sie sollten
besser einen Fachmann aufsuchen.« Sie schloss die Tür hinter ihnen und trieb
sie weiter. »Sein Vater, auch Pathologe, diagnostiziert generell jede gebärfähige
Frau schwanger.«
»Du übertreibst, Mama«, lachte Patrick und schob die steife Sandra in das
Wohnzimmer. »Allerdings war es tatsächlich Papas erste Diagnose. Ich vermute
eine Magenschleimhautreizung aufgrund von massivem Stress. Sandra hält es
übrigens für eine allergische Reaktion.«
Sandra sah verständnislos zu ihm zurück.
»Oh? Worauf denken Sie, allergisch zu reagieren?« Seine Mutter schüttelte
bereits den Kopf.
»Auf mich.«
Sie lachte. »Du dummer Blöder! Geh zu deinem Vater und überlass die
Diagnose an Lebenden mir!«
Sie schob ihn zur Tür. »Kommen Sie, Sandra, wir trinken noch einen Tee.
Der Braten braucht noch einen Moment und die Mädchen sind ...«
Ein Kreischen unterbrach die Dame des Hauses und Patrick drehte sich um,
um seine Nichte abzufangen, die auf ihn zu geflogen kam. Er wirbelte die
Zehnjährige einmal im Kreis und stellte sie dann mit einem gespielten Stöhnen
ab. »Mein Rücken!«
»Oh Gott, das wollte ich nicht! », quiekte Claire. »Oma! Onkel Patrick hat die
Hexe erschossen!«
»Nur angeschossen, Claire. Kannst du sie für mich festnehmen?«
»Darf ich deine Handschellen?«, fragte die Kleine begeistert und Patrick
zückte sowohl die, als auch seine Dienstmarke.
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»Das ist kein Spielzeug«, kommentierte Sandra. »Der Verlust der ...«
»Sie kommen nicht abhanden, Sandra«, unterbrach er sie. »Claire bringt mir
die Sachen immer zurück.«
Sie klappte den Mund zu und senkte den Blick.
»Polizistin?«, erkundigte sich seine Mutter bemüht beiläufig.
»Anwältin.«
»Ach herrje!« Seine Mutter sah von ihm zu Sandra, die sich räusperte.
»Staatsanwältin. Eigentlich für Verkehrsrecht im Großraum Dortmund.«
»Verkehrsrecht?«, wiederholte Frau Doktor Schulte-Henning stöhnend.
»Dazu musste es ja kommen! Er ist Polizist, Sandra, bei einem Fahrverbot ...«
»Währen Dortmunds Einwohner gleich viel sicherer«, behauptete Sandra mit
einem bösen Blick zu ihm.
»Fährst du mich dann jeden Morgen zur Arbeit?«
Sie atmete tief ein. »Nein, mit Sicherheit nicht!«
»Dann kann ich wohl nur auf einen verständigen Richter hoffen.« Er
zwinkerte ihr zu, was sie noch mehr aufbrachte. Immerhin verschwanden ihre
Blässe und ihre Apathie.
»Es gibt keine verständigen Richter im Verkehrsrecht!«, hielt sie ihm
triumphierend vor.
»Jeder Richter hätte Verständnis für mich, Sandra.«
»Sie sind ein Raser! Sie gefährden ...«
»Zehn Kilometer pro Stunde zu viel, das ist nicht Rasen.«
»Oh nein, Patrick! Nicht auch noch zu Hause!«, murrte sein Vater und blieb
neben ihm stehen. »Frau Staatsanwältin Bresinsky, ich will hier keinen
Schulte-Henning hören. Weder Hauptkommissar, noch Doktor. Gudrun hat ihm
einen hübschen Vornamen ausgesucht. Ich habe mich an ihn gewöhnt, also
können Sie es auch. Ich bin Max.« Bezwingend sah er sie an.
Sandra starrte zurück, gelinde Not sprach aus ihrer Haltung.
»Du kennst Patricks Freundin also schon?« Gudrun schnalzte. »Natürlich!
Buscopan! Immerhin erklärst du sie nicht für schwanger!«
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»Sie haben einen Test gemacht und Patrick versicherte mir, dass sie sehr
unter Stress steht. Da ist Buscopan ...«, verteidigte sich Max, um von seiner
Gattin unterbrochen zu werden: »Pathologe!« Sie zeigte mit dem Finger auf Max,
dann auf ihn. »Forensischer Pathologe in Ausbildung. Mischt euch nicht in Dinge
ein, von denen ihr nichts versteht!«
»Forensischer Pathologe in Ausbildung?«
»Mir fehlen noch Praktika.«
Sandra starrte ihn an. Ihre Lippen teilten sich, als wolle sie etwas sagen, und
schlossen sich stumm wieder.
»Wie lange seit ihr ein Paar?«
Sandra riss die Augen auf. »Wir ...«
Patrick schloss schnell zu ihr auf und stoppte ihren Widerspruch mit einem
überrumpelten Kuss. »Zwei Tage, aber Sandra hadert noch. Die
Dienstvorschriften verbieten eigentlich Beziehungen zwischen
zusammenarbeitenden Personen.«
»Anwälte, Paragraphenreiter!«, schnaubte seine Mutter und ließ sie stehen.
»Ich schau mal nach dem Braten.«
»Zwei Tage!«, zischte Sandra mit lodernden Augen. »Sollte ich nicht ein Wort
mitzureden haben bei dieser Festlegung?«
»Also gut!«, fuhr sein Vater dazwischen. »Ich sehe nach Claire und Kelly und
ihr streitet hier einfach in Ruhe weiter.« Er schloss die Tür hinter sich und Patrick
deutete zur Couch.
»Magst du dich hinsetzen?«
»Nein, ich will, dass Sie das korrigieren! Sie können mich nicht einfach als
Ihre Freundin vorstellen!«
Die Türglocke bimmelte. Patrick zuckte die Schultern. »Als wessen Freundin
hätte ich dich sonst vorstellen sollen?« Er wartete einen Moment, um ihr die
Möglichkeit zu geben, zu antworten. »Wir sollten Bauer hier außen vor lassen.
Nimmt man die Fakten, haben wir die Freitagnacht zusammen verbracht. Hast du
häufig One-Night-Stands?« Wieder wartete er. »Ich nicht.«
»Du sollst nicht begehren ...«
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Sie schnaubte und wendete ihm den Rücken zu.
»Wir haben auch die letzte Nacht zusammen verbracht. Und, ich kann mich
zwar täuschen, aber heute Morgen hatten wir Sex.«
Sie fuhr herum, wie von der Tarantel gestochen. »Hatten wir nicht!« Hitze
schoss in ihre Wangen, aber sie wiederholte: »Wir hatten keinen Sex!«
»Das hat schon bei Clinton nicht gezogen.«
Sie sah absolut verloren aus, senkte den Blick und schloss die Augen. »Gut,
wir hatten Sex, aber ...«
»Zwei Nächte hintereinander. Man könnte es natürlich auch eine Affäre
nennen. Hast du es nur auf Sex abgesehen?«
»Nein!«
Es war leicht sie aufs Glatteis zu führen. Sie merkte es nicht einmal. »Also
keine Affäre.«
Er wartete auf ihren Widerspruch.
»Ich muss mich setzen«, murmelte sie und sackte auf die Couch. Er setzte
sich zu ihr und nahm ihre Hand auf. »Gib mir eine Chance.«
Ihre kalten Finger schlossen sich um seine, dann schüttelte sie ihn ab.
»Das ist vollkommener Unsinn, Hauptkommissar ... Gott noch mal! Es war
doch nur ...«
»Patrick!« Die Tür wurde aufgerissen. »Du hast deine Freundin dabei? Ich
dachte schon, du seist ein hoffnungsloser Fall!« Claudia stürmte ins Zimmer.
Patrick stand auf, um sie zu begrüßen.
»Sandra, meine Schwägerin Claudia.« Er sah auf und begegnete dem
tadelnden Blick seines älteren Bruders. »Und ich bin ein hoffnungsloser Fall.«
Fabian verdrehte die Augen.
»Claudia, Sandra ist wahnsinnig verspannt und mag sich mir nicht
anvertrauen. Darf ich dich um deinen Beistand bitten?«
Claudia stimmte zu, während Sandra versuchte das Vorhaben wieder
auszureden. »Dann kannst du uns beim Tischdecken helfen!«
Patrick folgte seufzend.
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»Bist du wahnsinnig?«
»Fängst du wieder damit an?« Sie betraten den Speiseraum, indem Max
bereits Teller auf Platzsets verteilte.
»Fabian hast du schon Patricks Anwältin kennengelernt?«
»Äh, ja.«
»Hübsches Ding und auf den Kopf gefallen ist sie auch nicht.«
»Ja. Allerdings ...« Fabian sortierte das Besteck. »Ist sie wenig begeistert von
ihm als Partner.« Max lachte auf.
»Patrick sucht sich natürlich die härteste Nuss!«
»Um sich an ihr die Zähne auszubeißen, wie Steffi!«, murrte Fabian, das
Besteck verteilend. »Warum acht Sets?«
»Die Mädchen sind hier. Kommt Steffi auch?« Patrick verknotete sich der
Magen. Er wollte Steffi ersparen von der letzten Affäre ihres Gatten zu erfahren
und in der Runde wäre die Eröffnung doppelt demütigend.
»Sie hat sich noch nicht gemeldet, also gehe ich nicht davon aus.«
Patrick stellte das letzte Glas ab. »Ich sage Claudia und Sandra Bescheid.«
Die Tür zum Wohnzimmer stand offen. Sandra saß auf einem Stuhl vor dem
Fenster. Das Licht um flirrte sie und warf Reflexe auf ihr dunkles Haar. Ihre
Augen waren geschlossen, der Nacken gebeugt und sie sah fast so entspannt
aus wie am Morgen, bevor er sie verführt hatte. Claudia knetete ihre Schultern,
dafür hatte Sandra die Bluse geöffnet. Sie stöhnte schmerzlich auf.
»Entschuldige, aber du bist steinhart!« Claudia seufzte. »Du solltest Patrick
vertrauen, er hat magische Hände.«
Sandras Haltung versteifte sich.
»Kein Grund zur Eifersucht. Wir sind ein paar Mal miteinander ausgegangen,
aber so wundervoll er auch ist, es hat nicht gefunkt.«
Sandra blinzelte. »Ausgegangen?«
»Ich war seine Patin in seinem ersten Semester.« Claudia knetete weiter und
Sandra zuckte zusammen. »Außer ein paar Küssen ist zwischen uns nichts
gelaufen.«
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Sandra richtete sich auf. »Sie haben ihn geküsst?«
»Das ist eine Ewigkeit her, ich sollte es gar nicht erwähnen! Immerhin habe
ich Fabian geheiratet.«
Sandra schüttelte den Kopf. »Die bessere Wahl.«
Claudia lachte auf. »Ohja! Für mich ganz sicher. Ich könnte nicht mit der
Angst leben. Polizist! Das kann hier niemand verstehen. ... Sie sind doch nicht
...«
»Anwältin.« Sandra seufzte. »Kriminalistik studiert man nicht an x-beliebigen
Unis. Was hat er studiert?«
»Medizin. Nun ja, einen Teilbereich zumindest. Er ist examinierter
Pathologe.« Claudia schüttelte ihre Hände aus, bevor sie mit der Massage
fortfuhr.
»Examinierter ... Was macht er bei der Polizei?« Sandra drehte den Kopf und
wurde sogleich dafür gerügt.
»Wie gesagt, das versteht hier niemand. Gleich nach seinem Examen
bewarb er sich bei der Polizeischule. Noch während der Grundausbildung
belegte er zusätzliche Kurse in Kriminalistik. Nun, er hatte sonst nichts, was ihn
beschäftigte. Nicht nachdem Jen ihn sitzen ließ.«
Claudia gab Sandra die Gelegenheit nachzufragen und fuhr dann fort: »Seine
Verlobte.«
Das weckte dann doch Sandras Interesse. »Er ist verlobt!«
»Ich war es.«
Sandra fuhr mit einem erstickten Schrei herum, während Claudia ihm
gelassen zu zwinkerte. »Du hast Jen unterschlagen?«
»Und jede Menge anderer Dinge, schließlich soll sie mir nicht schreiend
davon laufen.« Er zwinkerte zurück. »Das Essen sollte jeden Moment ...«
»Essen!«, brüllte Kelly aus dem Speisezimmer und Patrick zuckte die
Schultern. »Wird jetzt serviert.«
Sandra nahm neben Schulte-Henning platz. Auf ihrer anderen Seite saß ein
kleine, blondes Mädchen, mit strahlend blauen Augen, das skeptisch zu ihr auf
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sah. »Sind Sie auch Polizist? Mein Papa sagt, Polizisten sind Idioten mit
Dienstwaffe.«
Sandra erstarrte erschrocken. »Das ... Das ist aber nicht nett.«
»Dann sind Sie Polizist?«, fragte das Mädchen unbeeindruckt nach.
»Nein, aber die Polizei ist ein wichtiges Organ in unserem Rechtssystem und
die Kollegen und Kolleginnen von der Polizei verrichten wichtige und ...«, erklärte
Sandra kopfschüttelnd.
»Was sind Sie dann? Ärztin? Papa ist der Meinung ...«
»Kelly, möchtest du Soße über den Kartoffeln, oder heute lieber nicht.«
Das Kind schlug aus. »... sind Lackaffen, die sich für Götter halten.«
Das Mädchen war eine gesellschaftliche Katastrophe. »Nein, und ich glaube,
dass die Einschätzung generell auf Männer zutrifft, ganz gleich, welchen Beruf
sie ausüben«, knirschte sie und ignorierte dabei Patrick Schulte-Hennings
unterdrücktes Lachen.
»Was sind Sie dann?«
Sandra haderte mit ihrer Antwort. Wollte sie wissen, was der charmante
Vater des Mädchens von Anwälten hielt?
»Anwältin.«
»Kruppzeug!«, kommentierte das Mädchen verächtlich. »Tatsachen
verdrehen und ...«
»Staatsanwältin, Kelly«, unterbrach Schulte-Henning, während Frau Doktor
Schulte-Henning tadelte: »Liebes, man sollte die Ansichten anderer bei anderen
lassen und sich unvoreingenommen ein eigenes Bild machen.«
Sandra sah auf. Hitze ließ ihre Wangen glühen. Die Zurechtweisung konnte
nicht treffender sein. Sie richtete ihren Blick auf ihren Teller und lauschte dem
anderen Mädchen, das von ihrer letzten Reitstunde plauderte.
Sandra versank in dräuenden Reminiszenzen. Er ist ein Arschloch, Sandra.
Glaube mir, den willst du gar nicht näher kennen. Was glaubt dieser Arsch
eigentlich, wer er ist?
»Geschwister! Nicht wahr, Sandra? Sie haben doch Geschwister, oder?«
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Sandra fuhr auf, jeder am Tisch sah sie an und neuerliche Hitze ließ ihre
Wangen aufflammen.
»Ich ...«
»Zumindest eine Schwester. Die mit den Eiern.« Schulte-Henning erzählte
von den ungenießbaren Eiern.
»Zwei«, murmelte sie zur Ablenkung, ohne zu glauben damit Erfolg zu
haben.
»Im Februar abgelaufen?«, lachte Claudia während Frau Doktor
Schulte-Henning vor den gesundheitlichen Folgen warnte.
»Älter, oder jünger?«, wollte Schulte-Henning wissen und sie spürte seinen
Blick auf sich.
»Ist das ein Verhör, Haupt ...«
»Reiz Dr. Schulte-Henning besser nicht«, warnte er leise.
Sandra klappte den Mund zu. Keine Schulte-Hennings, kein
Hauptkommissar, kein Doktor. Sie fluchte innerlich und suchte fieberhaft nach
einer anderen Ansprache.
»Älter, oder jünger?«
»Sowohl als auch!«
»Wohnen sie in der Nähe?« Frau Doktor Schulte-Henning sah sie gespannt
an. Der Abend war eine Tortur.
Patrick sah auf, als Sandra das Zimmer betrat. Sie rubbelte sich das Haar
trocken und bemerkte ihn erst, als sie halb durch den Raum war. Dann blieb sie
jedoch wie vor eine Wand gelaufen stehen.
»Was tun Sie hier?«, flüsterte sie und drückte ihr Handtuch an sich. Patrick
stand auf. Sie wich nicht vor ihm zurück, obwohl sie so aussah, als hätte sie es
gern getan.
»Ich wollte dir eine gute Nacht wünschen.«
»Das haben wir unten schon ...«
Patrick blieb vor ihr stehen. »Nicht richtig.« Er beugte sich vor und Sandra
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wich nun doch zurück.
»Einen Moment!«
»Richtig!«, murmelte er und zog sie an sich. »Nur einen Moment.« Ihre Haut
war noch warm von ihrer Dusche und sie duftete in einer Mischung aus Rose und
Aloe vera. Schmecken tat sie ohnehin viel besser. Sie gab nach und ließ sich
küssen, also schloss er sie fester in die Arme. Dass sie lediglich ein Badetuch
trug, ging ihm nicht aus dem Kopf. Er brauchte nur an ihm zupfen und sie stünde
nackt vor ihm. Er stöhnte an ihren Lippen. Seine Hände fuhren an ihr herab,
legten sich auf ihre Pobacken und drückten ihren Schoß an seinen. Er wollte sie.
Sie brach den Kuss.
»Ich kann das nicht!«
Er stöhnte erneut, dieses Mal aus Enttäuschung.
»Bitte, ich bin nicht Ihre Freundin. Ich will das nicht!«
Da gab es nichts, was er machen konnte.
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Kapitel 7 - Keine ruhige Nacht
Sandra erwachte mit klopfendem Herzen. Es war dunkel und doch bemerkte
sie sofort, dass sie nicht zu Hause war. Sie zog die Decke fester um sich. Wo
war sie? Kühles Leinen, das nach Weichspüler duftete, eine harte Matratze und
ein riesiges Kissen. Das Licht kam vom Fußende. Sie hob den Kopf und erkannte
mehr Einzelheiten. Ein Loungesessel in der Ecke, auf dem ihr Kostüm lag.
Obenauf das Handtuch mit ihrem feuchten Schlüpfer. Ein Regal vollgestellt mit
Büchern, zumeist Krimis, aber auch Fachliteratur zum Medizinstudium. Ein
wackelndes Skelettmodel grinste sie aus hohlen Augen an. Ein Schreibtisch
unter dem Fenster. Die Gardinen waren zugezogen. Sie hatten das Fenster
geschlossen, bevor sie ins Bett gegangen war. Vor ihrem Fenster stand ein
Baum, dessen Äste gegen die Scheibe schlugen. Sandra sackte zurück in das
Kissen. Die Äste mussten sie geweckt haben. Sie schloss die Augen und
lauschte ihrem polternden Herzschlag. Sie hätte darauf bestehen sollen, dass
Schulte-Henning sie heimbrachte. Wenn sie nur nicht so müde gewesen wäre.
Mit ihm zu diskutieren raubte ihr jegliche Energie. Nun und Worte sowieso.
Argumente. Sogar die Fassung kam ihr abhanden. Sie drehte sich und vergrub
das Gesicht in der Decke. Etwas schlug gegen die Scheibe und Sandra setzte
sich mit davon galoppierendem Herz wieder auf. Da war etwas am Fenster. Ein
Schatten, oval. Etwas kratzte über Plastik. Fingernägel? Wieder schlug etwas
gegen Glas, dass es schepperte.
Sie sprang mit einem erschreckten Schrei aus dem Bett. Das war doch kein
Ast gewesen! Sie drückte sich gegen die Wand. Ihre Tasche mit ihrem Taser
stand auf dem Schreibtisch, also direkt unter dem Fenster. Die Tür wurde
aufgerissen und sie stolperte über ihre Schuhe.
»Sandra?« Schulte-Henning knipste das Licht an.
»Ist alles in Ordnung?«
Er runzelte die Stirn und kam ins Zimmer. Die Tür drückte er hinter sich zu.
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»Wo willst du denn hin?«
Sandra schüttelte den Kopf. »Da ist was!«, flüsterte sie zittrig und wurde
sogleich bestätigt. Jemand schlug kreischend gegen das Fenster.
»Charlie.«
Sandra wiederholte den Namen gemurmelt. Schulte-Henning durchquerte
das Zimmer und zog die Gardine auf.
»Du hast das Fenster geschlossen.« Er öffnete es und ein kleines
Kapuziner-Äffchen sprang wütend kreischend ins Zimmer. Er drehte eine Runde
über Schreibtisch, Boden und Stuhl und sprang Schulte-Henning dann auf die
Schulter. »Entschuldige Charlie, Sandra wollte dich bestimmt nicht aussperren.«
Er streichelte das kleine Köpfchen.
»Ein Affe!«, spie Sandra und schloss die Augen. Er hatte ihr einen
Heidenschrecken eingejagt!
»Ein Kapuziner-Äffchen. Er ist zahm. Du brauchst keine Angst vor ihm
haben.«
Sie warf ihm einen dräuenden Blick zu.
»Ich nehme ihn mit, Sandra. Keine Sorge, er wird dir nicht zu nahe
kommen.« Schulte-Henning presste die Lippen aufeinander und schüttelte den
Kopf.
»Das Halten von ... Primaten ist Privathaushalten nicht ...«, hielt sie ihm vor.
»Er ist immer wieder ausgebüchst, bis wir ihn behalten durften.« Er kraulte dem
Tier den Hals. »Wir haben die nötigen Papiere, keine Sorge.« Der Affe kreischte
zufrieden. Sandra seufzte geschlagen.
»Sie hätten mich warnen können! Er hat mich zu Tode erschreckt!« Sie
wagte sich aus ihrer Ecke.
»Normalerweise kommt er im Sommer nicht ins Haus. Es tut mir leid.« Er
betrachtete sie sinnend. »Magst du ihn streicheln? Er ist absolut zahm, ich
verspreche es.«
Sandra war hin und her gerissen. Sie war kein Freund von Haustieren, aber
wann bekam man schon die Gelegenheit einen Affen zu streicheln?
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»Was muss ich tun?«
»Komm her.«
Sandra trat näher und Schulte-Henning fischte nach ihrer Hand.
Er folgte ihr ins Badezimmer. Sie öffnete den Hahn. Er stand hinter ihr. Das
schmale Handwaschbecken gab nicht mehr Platz. Er umarmt sie, um seine
Hände unter das Wasser zu halten. Sandra versteifte sich, weil er sich eng an sie
schmiegte. Patrick seifte sich die Hände ein. Sein Gesicht war genau neben
ihrem, seine Wange kratzte bei jeder Bewegung über ihre. Sie rückte leicht von
ihm ab und er hielt kurz inne, dann schnappte er sich ihre Hände, um sie
einzuseifen. Im Vergleich zu ihren waren seine Hände riesig. Und warm, selbst
bei dem lauwarmen Wasser aus dem Hahn. Sie beobachtete angespannt, wie er
ihre Finger verschränkte, sie aneinander rieb und sie umfasste.
Zärtlich, wie Eltern bei ihrem Kind. Er sah sie an, sie spürte es an seinem
Atem, der nun über ihre Wange wanderte. Sie durfte ihn nicht ansehen. Sie
musste ihn ignorieren. Seinen Körper in ihrem Rücken. Sein steifes Glied an
ihrem Po, seine zärtlichen Hände. Die Erinnerung. Sie durfte nicht daran denken.
Er verschränkte wieder die Hände mit ihren. Sie spürte die Bewegung bis in ihren
Rücken, wo seine Brust sie berührte. Das Spiel seiner Muskeln unter nackter
Haut.
Sie drehte den Kopf. Seine Augen huschten über ihr Gesicht, dann legten
sich seine Lippen sacht auf ihre zu einem bittersüßen Kuss. Sie konnte das nicht!
Ganz gleich, was sie bereits getan hatte, dies hier war anders. Sie war bei
klarem Bewusstsein, nicht unter Drogen, Alkohol, oder halb schlafend. Er stöhnte
und vertiefte den Kuss. Seine Finger umschlossen fest ihre, als müsse er sich an
ihr festhalten. Wieder stöhnte er und löste eine Hand, um sie um ihre Mitte zu
schlingen. Er drängte sich an sie. Die Knöpfe seiner Jeans waren nicht
geschlossen, so dass nur zwei Lagen Stoff sie trennten. Ihr wurde heiß bei dem
Gedanken. Seine Hand rutschte höher, schloss sich um ihre Brust, um sie sanft
zu kneten. Sie musste ihn aufhalten.
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Der Druck auf ihrer Brust verschwand und er unterbrach seinen Kuss.
Verblüfft blinzelnd ließ sie zu, dass er ihr das Shirt über den Kopf zog. Er schloss
sie wieder in die Arme. Seine nackte Haut brannte auf ihrer und ihr fehlte der
Atem zu einem Protest. Sein Daumen fuhr über die harte Spitze ihrer Brust und
dieses Mal war sie es, die stöhnte. Ein Schauer rollte gemächlich über ihre Haut
und sie erbebte in seinen Armen. Seine andere Hand rutschte in ihren Schoß.
Sie war verloren. Sie schloss die Augen, ohne die Tränen zu gewahren, die sie
damit zurückhielt. Seine Finger glitten in sie, nach einem kleinen, unnötigen
Stopp an ihrer Klitoris. Sie stöhnte erneut an seinem Mund.
Er rieb sich an ihrem Po, während seine Finger wieder und wieder in sie
glitten, bis sie es kaum mehr aushielt, ihn nicht zu spüren. Er zog sich zurück.
Sandra klammerte sich an das Waschbecken und sah sich nach ihm um. Er
fischte in seiner Hosentasche nach einem Päckchen und riss es auf. Ein
Kondom.
Sandra wendete sich wieder ab. Das Wasser rauschte leise und überdeckte
damit fast die Geräusche seiner Bewegungen. Die Hose runter, das Kondom aus
der Packung und übergestreift. Sie erwartet seine Berührung und zuckte doch
unter ihr zusammen. Er schob ungeduldig ihre Hose über ihre Hüfte, über ihren
Po. Sie fiel, ihres Haltes beraubt, wohl eher unbeabsichtigt zu Boden. Er drängte
sich wieder an sie. Das Gummi des Kondoms rieb unangenehm an ihrer Haut
und knartschte leise. Sein Arm schlang sich um ihre Mitte. Sie war etwas kleiner
als er und in dem Winkel würde er nicht in sie eindringen können.
Er würde sie über das Becken beugen und sie dazu bringen auf den
Zehenspitzen zu stehen. Sie presste die Lider aufeinander. Jeden Moment würde
er es tun. Sie ficken.
»Sandra«, raunte er an ihrem Ohr, bevor er sie umdrehte, um sie zu küssen.
Das Becken im Rücken brauchte er sie nun nur noch anheben, um sie ficken zu
können. Es schauderte ihr. Sie würde ihn ansehen müssen. Sie schloss die
Augen. Seine Hände legten sich an ihren Po und das Gummi riss an ihrem
Schamhaar. Er schob sich zwischen ihre Schenkel. Es war so weit.
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»Gott, ich will dich!«
Sie zitterte in seinen Armen. Er küsste sie erneut, während er sie aufnahm.
Es war albern, die Beine nicht um ihn zu schlingen, schließlich blieb das
Ergebnis gleich. Jetzt. Im Haus seiner Eltern. Im Badezimmer. Stehend an das
scheiß Handwaschbecken gelehnt. Er stöhnte. »Halt dich fest!«
Was? Er trat vom Becken zurück, eine Hand unter ihrem Po, mit der anderen
schloss er den Wasserhahn. Sie schrie auf, weil sie abrutschte.
»Lass mich runter!«
Er ignorierte sie und trug sie in sein Zimmer. Die Tür fiel hinter ihm zu. Er
legte sich mit ihr aufs Bett und sah auf sie herab. Er rutschte etwas und, bevor
Sandra sich dessen bewusst werden konnte, schob er sich in sie. Sandra
keuchte erschrocken und versteifte sich in seinen Armen.
»Tue ich dir weh?«
»Was?«, fragte sie perplex und er stemmte sich auf, um sie anzusehen. »Du
bist zusammengezuckt. Tue ich dir weh?«
»Nein.« Dabei war es völlig unerheblich, ob er es vielleicht doch tat, aber
seine Frage brachte sie so durcheinander, dass sie nicht einmal darüber
nachdenken konnte.
Er küsste sie stöhnend. Er bewegte sich langsam in ihr, streichelte ihr
Gesicht, ihre Brüste und Schenkel. Und küsste sie immer wieder zärtlich, dann
wieder leidenschaftlich, wobei er stöhnte und Dinge murmelte. Ihren Namen. Wie
gut sie sich anfühlte. Sie schloss die Augen gegen das grelle Licht der
Deckenlampe.
»Sandra.« Er stieß sich in sie und versteifte sich stöhnend. Wieder murmelte
er ihren Namen. Sie blinzelte. Er bewegte sich nicht und sie starrte in das Licht.
Ihre Augen brannten, aber sie befürchtete, dass, wenn sie sie schloss, sie mehr
Feuchtigkeit netzen würde als notwendig. Sie wollte nicht weinen, nicht solange
er auf ihr lag. Nicht solange sein Glied in ihr pochte.
Er stöhnte schließlich herzzerreißend und zog sich aus ihr zurück. Er küsste
sie und ließ sie endlich allein. Sie drehte sich, zog die Decke über sich und rollte
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sich zusammen. Sie schluchzte leise. Wie sollte sie am nächsten Morgen Peter
ins Gesicht sehen? Wie Schulte-Henning je wieder ansehen, ohne an dies hier
zu denken?
Obwohl er es sie ohnehin nicht vergessen ließe. Die dritte Nacht in Folge.
Das Licht ging aus. Erschrocken erstarrte Sandra. Die Matratze ließ nach. Sie
schrie auf.
»So kalt bin ich nicht«, murmelte Patrick und zog sie in die Arme. Seine Hand
wanderte zielstrebig von ihrer Brust in ihren Schoß. Er küsste ihre Schulter, ihren
Hals, während seine Finger tiefer glitten. Noch einmal? Oh Gott, nicht noch
einmal! Er schmiegte sich an sie.
»Ich will spüren, wie du kommst«, flüsterte er an ihrem Ohr. »Ich will in dir
sein, wenn es so weit ist.« Er schob seine Finger tief in sie.
Oh Gott.
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Kapitel 8 - Klare Verhältnisse?
Patrick warf Sandra einen schnellen Blick zu. Sie standen an der Ampel vor
Menden und warteten auf grün. Er wartete, sie starrte auf ihre Tasche. Seit mehr
als einer halben Stunde. Davor war es der Boden gewesen, ihre Hände, oder die
Tasse Kaffee, die er ihr ans Bett gebracht hatte, um sie zu wecken. Mehr als
diesen einen erschreckten Blick, als sie schlaftrunken die Augen aufschlug, hatte
sie ihm nicht gegönnt. Und nicht einmal ein Wort. Die Ampel sprang auf grün und
er fuhr an.
»Wir werden es nicht pünktlich schaffen. Wenn du Termine vor neun Uhr
hast, solltest du sie verlegen.«
Sie fuhr zusammen.
»Andererseits wolltest du nicht eine Anzeige aufgeben? Am besten nehme
ich dich mit zur Wache.«
Sie schluckte, während ihre Finger sich in das schwarze Leder gruben. Er
stoppte an der nächsten roten Ampel.
»Ich kann direkt meine Aussage machen, damit Tramitz so schnell wie
möglich daran gehindert wird, dir nachzustellen.«
Wieder sah er zu ihr rüber. Sie hatte offensichtlich ein Problem. Mit ihm. Mit
der letzten Nacht. Es verwunderte ihn nicht. Sie hatte geweint. Sie war leise
gewesen, aber er hatte es gehört. Nachdem er das zweite Mal mit ihr geschlafen
und sie sich ebenso zittrig wie er zusammengerollt hatte. Er hatte sie in die Arme
gezogen und festgehalten, bis sie schließlich eingeschlafen war.
»Es wird eine Weile brauchen. Vielleicht informierst du besser Bauer?«
Er hätte sie auch schlagen können. Patrick blinkte und zog aus dem Verkehr
raus. Der vollkommen falsche Ort für ein Gespräch. Er drehte den Zündschlüssel
in die aus Position. Sandra schloss die Augen.
»Wo ist das Problem?«
Tränen formten sich in ihren Wimpern.
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»Bauer?« Schwer genug ihn anzusprechen, ohne zu offensichtlich seine
Meinung über ihn mitklingen zu lassen. »Liebst du ihn?«
Ihr schien noch elendiger zu werden.
»Ich verstehe dich nicht, Sandra.« Nun, sie war nicht die Erste, die er einfach
nicht verstand. »Was hat Bauer, was ich nicht habe?« Eine Frage, die er sich
früher häufiger gestellt und von der er gedacht hatte, sie sei unwichtig geworden.
»Sandra letzte Nacht ...«
Verdammt, sie hatte ihn nicht angehalten! Sie hatte nicht gesagt, dass sie
nicht wollte und sie hatte mitgemacht. Wie konnte sie es da dermaßen bereuen?
»Bitte sagen Sie es niemandem«, bat sie mit leiser, zittriger Stimme. Sie?!
Das war nicht zum Aushalten! »Nein.«
»Auch nicht ... Peter.«
Daher wehte der Wind. Er klammerte sich an das Lenkrad und starrte
angespannt geradeaus.
»Bitte, ich ...« Tränen perlten über ihre bleichen Wangen. »Ich schlafe nicht
mit jedem.«
Patrick runzelte die Stirn.
»Ich wollte nicht ... Sie müssen mir glauben, dass ich nicht mit Ihnen
geschlafen hätte, wenn ...«
Er begegnete ihren um Glauben heischenden Augen. Wenn was? Er sie nicht
bedrängt hätte. Kam es darauf hinaus? Vermutlich, schließlich hatte sie häufig
genug ihren Unwillen bezeugt. Das letzte Mal, kaum zwei Stunden, bevor er mit
ihr geschlafen hatte. »Wenn was, Sandra?«
Ihre Lippen bebten und sie schluckte, bevor sie fortfuhr: »Wenn ich es hätte
verhindern können.«
Mit einem simplen Nein! Patrick fasste es in Worte. »Verführung! Es gibt
deutliche Unterschiede zur Nötigung.«
»Ich weiß, dass der Tatbestand der Nötigung nicht erfüllt ist. Und ich werde
sie auch nicht wegen der Vergewaltigung ...«, murmelte sie nüchtern.
»Was?« Er zwang sich zur Ruhe. Es war unhaltbar. Er hatte jedes Mal
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aufgehört, wenn sie darum bat. Er hatte keine Gewalt angewendet, sie nicht
bedroht und, verflixt noch mal, sie konnte ihm nicht einmal vorwerfen, sich nicht
um sie bemüht zu haben. »Sehr schön. Bauer wird sicherlich gerne die Anklage
vertreten.«
Sie sah ihn an. In ihren braun-grünen Augen schimmerte Schmerz. Und
Angst? Sie hatte ihn in der letzten Nacht genauso angesehen. Im Badezimmer,
als er sie zu sich umgedreht hatte. Oder war es Verzweiflung gewesen? Hatte sie
ihn nur nicht abgehalten, weil sie dachte, dass es ohnehin nichts brachte?
»Ich hätte aufgehört, Sandra. Ich habe damit gerechnet, dass du ...«
»Ich werde Sie nicht anzeigen. Ich weiß, wie dumm es wäre. Wie es
aussähe.« Sie wendete sich ab. »Es gibt keinen Beweis für GHB, keine
Anzeichen von Gewaltanwendung, ich habe Sie angerufen. Und mit der letzten
Nacht ...«
»Freitag?« Patrick lehnte den Kopf gegen die Stütze. Technisch gesehen
wäre es tatsächlich Vergewaltigung gewesen, wenn er mit ihr geschlafen hätte.
Natürlich hatte er ihr nichts verabreicht und damit würde eine Anklage wohl fallen
gelassen.
»Sie haben mich überall als Ihre Freundin vorgestellt. Es sähe aus, als ...«
»Nicht deswegen.« Sie hielt ihn für ein abgrundtiefes Arschloch! »Und du bist
eingeschlafen.«
»Eingeschlafen«, wiederholte sie verwirrt, dann stockte ihr der Atem. »Sie
haben ...!«
»Nein.«
»Sie haben gerade zugegeben ...«, echauffierte sie sich und auf ihren
blassen Wangen leuchteten zwei rote Punkte auf. Ärger schimmerte in ihren
Augen.
»Ich schlafe nicht mit bewusstlosen Frauen, Sandra, und auch nicht mit
unwilligen!«
»Aber Sie haben ... Sie sagten, Sie hätten kein Kondom benutzt!«
»Habe ich auch nicht. Weil wir nicht miteinander geschlafen haben«, stellte
»Du sollst nicht begehren ...«
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Patrick noch einmal klar. Er rieb über das Lenkrad, um seine Hände zu
beschäftigen.
»Sie haben mich angelogen«, flüsterte sie mit bebender Stimme. »Sie haben
mich in dem Glauben gelassen ...«
»Fünf Minuten, Sandra. Wärst du fünf Minuten später eingeschlafen, sehe die
Sache ganz anders aus. Und vergiss bitte nicht, dass auch am Morgen danach
nur Minuten gefehlt haben und wir hätten Sex gehabt.«
Was für eine einleuchtende Erklärung. Die simple Wahrheit: Sie hätte sich
seine Annäherung deutlicher verbeten, wenn sie gewusst hätte, dass eigentlich
nichts passiert war. Schließlich wollte sie auch den Letzten morgen
wegdiskutieren. Es war kein Sex, solange er nicht in sie eindrang. Ha!
»Hast du an Bauer gedacht, als ich dich befriedigt habe?« Wie Jen, die es
ihm giftig an den Kopf geworfen hatte.
An ihn hatte Sandra ganz sicher nicht gedacht, bei den erschrockenen
Augen.
»Auch letzte Nacht?«
Sie war wieder ganz bleich und atmete schwer. Neue Tränen schimmerten
auf braun-grünem Hintergrund.
»Willst du deswegen nicht, dass ich es ihm sage? Oder irgendwem? Weil du
befürchtest, dass er dich dann nicht mehr will?« Da konnte er sie beruhigen,
Bauer war es gleich, wie viele andere die Frauen hatten, die er fickte. Ob
verheiratet, verlobt, in festen Händen ... »Er hat Jen gefickt, Sandra, zwei Jahre
lang. Als ich es herausgefunden habe, meinte er, das wäre der Reiz gewesen.«
Ihre Stirn wellte sich irritiert. »Die Frau, die ich heiraten wollte.«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie sind ein Lügner.«
»Nein. Er ist ein Arschloch, Sandra.«
»Fahren Sie weiter, Hauptkommissar Schulte-Henning«, forderte sie ihn
bestimmt auf. »Es wartet ein Haufen Arbeit auf mich.« Sie verschränkte die Arme
vor der Brust.
»Nein.« Gott, sie konnte nicht so dumm sein. »Nicht, solange ...«
»Du sollst nicht begehren ...«
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»Was zum Teufel wollen Sie von mir?«, brach es aus ihr heraus und sie
wendete sich ihm zu. »Warum akzeptieren Sie nicht, dass ich nicht Ihre Freundin
bin?«
»Weil ich altmodisch bin.«
Sie glotzte ihn verdutzt an. »Bitte?«
»Ich bin an dir interessiert, Sandra. Nicht nur an deiner Spitzenwäsche ...«
Viel mehr an ihren langen Beinen, ihren Brüsten und dem prallen Po.
»Gott sind Sie ein Arschloch!«
Und das, obwohl er ihre Physiologie verschwiegen hatte. Er seufzte. »Nein.
Nervtötend, mit Sicherheit. Offen und gerade heraus. Vielleicht dickköpfig, das
mag ich nicht bestreiten, aber ...« Er brach ab, hoffend, dass sie ihren Taser
vergessen hatte. Sie sah aus, als würde sie ihm nur zu gern einen überbraten.
»Mir hat die letzte Nacht gefallen, Sandra. Mir hat Freitag gefallen. Ich wollte
mehr davon. Ich wollte dich.« Das machte sie nicht gewogener. »Ich will dich
immer noch.« Er streckte die Hand aus, um über ihre Wange zu streicheln.
»Macht mich das zu einem Arschloch? Dass ich dich nicht nur ficken will? Was
stört dich daran?«
Sie wich ihm aus. Ihre Lider senkten sich und sie befeuchtet sich die Lippen.
Zu verführerisch. Er beugte sich vor, zu einem schnellen Kuss. Sie hob die
Hände und vergrub ihre Finger in seinem Shirt.
»Ich küsse dich nur«, raunte er an ihren Lippen. »Ich will keine schnelle
Nummer im Auto.« Sie erschauerte und der Druck gegen seine Brust ließ nach.
»Eine Chance, okay?«, murmelte er nach einem weiteren Kuss, bereuend die
schnelle Nummer bereits ausgeschlagen zu haben. »Wir fangen es langsam an.
Lerne mich kennen. Ich bin anders, als du annimmst.«
Sie seufzte an seinen Lippen und er gönnte sich einen weiteren
atemberaubenden Kuss. Ihre Hand rutschte in seinen Nacken und er bezwang
nur mühsam den Drang ihr die Bluse aufzuknöpfen, den Rock hochzuschieben
und es doch auf Sex im Auto ankommen zu lassen. Auf einem Seitenstreifen an
einer viel befahrenen Straße.
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Er seufzte bedauernd, ohne den Kuss zu unterbrechen. Das tat ihr Handy. Es
zirpte und Sandra schrie auf, um ihn umgehend von sich zu schieben. Seine
Hand von ihrem Schenkel. Wieder zirpte das verfluchte Ding und Sandra glotzte
auf ihre Tasche. Mit zittrigen Fingern öffnete sie den Verschluss und zog ihr
Samsung mini heraus. Sie sah ihn an, die Frage auf den Lippen, wie es dort
hineingelangt war.
»Gestern Abend. Du solltest abnehmen. Faktisch sind wir im Dienst.«
Sie schnaubte verdrossen und nahm das Gespräch an.
»Bresinsky.«
»Guten Morgen, wo steckst du?«
»Ana?« Sie atmete die zurückgehaltene Luft aus.
»Wen hast du erwartet? Bist du auf dem Weg?«
»Warum? Habe ich einen Termin verschwitzt?« Sie klang verzweifelt
erschrocken.
»Keine Ahnung. Hattet ihr einen Termin? Einen Montagmorgenficktermin?«
Sandra erstarrte wortlos.
»In dem Fall wundert es mich nicht, dass er hier herumbrüllt wie ein
brunftiger Orang-Utan.«
Sie schloss die Augen. »Oberstaatsanwalt Bauer?«
»Oh, gibt es da nun Auswahl?«
Sandra seufzte gequält. »Ohne Anspielungen, Ana. Klartext.«
»Bauer stampft durch die Abteilung, pflaumt jeden an und verlangt, dass man
dich augenblicklich zu ihm schickt, sobald du ankommst. Er ist gerade bei
Schmidt.«
Sandra stöhnte entsetzt.
»Was ist los? Hast du Schluss gemacht, oder dich nur geweigert die ganze
Arbeit allein zu leisten? »
»Ana, ich helfe lediglich ...«
»Auf den Knien, Sandra? Mit seinem Schwanz im Mund?«
»Jetzt wirst du ekelig, Ana, und ich habe keine Lust ...«, knirschte sie, wobei
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sich ihre Finger in ihre Tasche krallten.
»Der ganze Typ ist ekelig, wenn du mich fragst. Ich habe in Düsseldorf
angerufen und mit seinem Sekretär gesprochen ... Du solltest dich von ihm
fernhalten. Ein freundschaftlicher Rat. Wenn du hin und wieder ein Abenteuer
brauchst ...«
»Ich brauche kein Abenteuer!«, schlug sie gepresst aus und löste die Finger
aus der Tasche, um sie an die Schläfe zu legen. »Und sollte sich das ändern,
dann sicherlich nicht ...«
»Frank hat eine bemerkenswert flinke Zunge. Zehn Minuten in der
Arrestzelle, Sandra, und der schlimmste Tag verliert seinen Schrecken.«
»Du bist ekelig, Ana«, wiederholte Sandra den Kopf schüttelnd.
»Was bleibt mir anderes übrig? Außerdem ist es nur gerecht. Du hast mich
versetzt! Ich habe Golum und Kai dabei gehabt und stand dann ganz allein im
Tropicana.«
»Golum und Kai? Im ... Wir waren verabredet? Mein Gott, natürlich!« Sie
schloss die Augen.
»Ich schwöre dir, Golum hätte dich sicherlich aufgemuntert. Er hat eine
bemerkenswerte Standfestigkeit.«
»Du bist ekelig!«, stellt Sandra erneut fest. »Ich komme heute nicht ins
Büro.«
»So?«
»Es gab einen Leichenfund am Samstag, mit dem werde ich mich heute
beschäftigen ...« Sie rutschte auf ihrem Polster herum. »Ähnlich der
Kramer-Fälle.«
»Soso. Mit sexy Mr. Polizeisport?«
Sandra seufzte gequält. »Mit wem?«
»Deinem Kommissar umständlicher Doppelname. Ah herrje! Deswegen!
Natürlich verträgt Herr Oberstaatsanwalt keine Konkurrenz.«
»Ana du bist widerlich.«
»Na komm schon! Fesselt er dich ans Bett und verhaut dich mit seinem
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Prügel? »
Sandra schloss die Augen. »Ana ...«
Die Bahnglocke bimmelte und Sandra erstarrte atemlos.
»Was war das?«
Patrick zog sein Handy aus der Tasche. »Schulte-Henning?«
»Rainer lässt dich einen Blick auf die Leichen werfen. Ich erwarte einen
vollständigen Bericht um fünf«, maulte Bauer freundlich wie immer.
»Schulte-Henning? Sandra, du Luder!«
»Vier Stunden Fahrt, zwei für die Leichenschau, ganz zu schweigen von
meiner Mittagspause. Ich denke morgen gegen Mittag.« Er legte auf. Der einzige
Weg mit dem Arsch umzugehen.
»Wir sind auf dem Weg zur Leichenschau«, murmelte Sandra gequält. »Das
ist alles.«
»Wenn du mich fragst, nutz die Rückbank. Ich erwarte einen vollständigen
Bericht, Sandra! »
»Den kann ich dir jetzt schon liefern. Wir fahren zwei Stunden über kurvige
Straßen, schauen uns zwei entstellte Frauenleichen an und hören grausige
Details zu ihrem Tod und fahren dann zwei Stunden wieder zurück«, knirschte
Sandra.
»Und mittendrin spürst du das Leben, indem du dich von Schulte-Henning
ordentlich bügeln lässt! »
»Bügeln?«, wiederholte sie fassungslos.
»Knattern, ran nehmen, durchnudeln, besteigen, reiten ...«
»Du bist widerlich.« Ohne ein weiteres Wort legte sie auf. Ihre Finger
schlossen sich fest um das Telefon und sie starrte einmal mehr geradeaus.
»Gibt es etwas, was du noch sehen wolltest?«, fragte Patrick gedehnt. Das
Gespräch hatte ihr deutlich Farbe gegeben. Ihre Knöchel traten weiß hervor und
sie schüttelte knapp den Kopf.
»Bügeln?«
Ihre Wangen flammten auf. »Hauptkommissar Schulte-Henning ...«
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»Frühstück!« Er drehte den Zündschlüssel. »Und ich weiß auch schon wo!«
Sandra schloss die Wohnungstür auf. Ihre Finger zitterten vor Nervosität.
Schulte-Henning stand viel zu nah hinter ihr. Es war ein Fehler gewesen.
Beinahe hätte sie gestöhnt. Natürlich war es ein Fehler, eine Dummheit. Ein
Desaster sondergleichen. Aber sie musste heim. Sich duschen. Sich umziehen.
Sie wollte nicht mit durchscheinendem BH vor einem Polizisten sitzen und
Tramitz des Stalkens bezichtigen. Ohne Strümpfe. Mit feuchtem Höschen.
Sie schloss die Augen und schob die Tür auf. Jeder Schritt durch Unna, wo
er sie zum Frühstücken hingeschleift hatte, war mit der peinlichen Erinnerung
behaftet gewesen, dass sie rudimentär auf ihn reagierte. Obwohl sie fest
entschlossen gewesen war, es nicht wieder dazu kommen zu lassen. Sich nicht
mehr küssen zu lassen. Schon gar nicht in seinem scheiß Auto. Sein Daumen
hatte lediglich über ihren Schenkel gestrichen. Die Innenseite, wenige Zentimeter
unterhalb der feinen Spitze ihres Slips. Und doch war sie augenblicklich feucht
geworden. Sie erschauerte und wünschte sich, die Tür einfach zuschlagen zu
können. Ihn auszusperren.
Er quetschte sich an ihr vorbei und schälte sich aus seiner Jacke.
Dunkelbraunes Leder. Sie wendete den Blick ab. Auf dem Weg durch die Stadt
hatte er ihre Hand ergriffen und ihre Finger verschränkt. Peinlicherweise war ihr
das Herz fast in den Hals gehüpft. Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern,
wann sie das letzte Mal Händchen gehalten hatte. Sie hatte ihren Gliedmaße erst
am Auto zurück erlangt.
»Ich werde duschen und ...«, flüsterte sie, das Sicherheitsschloss vorlegend.
»23 Anrufe in Abwesenheit.«
Sandra hob gegen ihren Willen den Kopf. Schulte-Henning streckte die Hand
aus und ihr AB erwachte zum Leben. »Sie haben 23 neue Nachrichten. Nachricht
13 Juli 9 Uhr 24: Sandy? Verdammt, ich hoffe, du bist nicht schon wieder zu
nichts zu gebrauchen! Nimm ab! Ich bin nicht in Dortmund geblieben, damit ich
die Decke in meinem Hotelzimmer anstarren kann! Zumindest nicht allein. Komm
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zu mir. Sofort, Sandra. Ich will dich. Beeil dich.«
Sandra stoppte die Wiedergabe. Auch in der Wiederholung wurde die
Situation nicht angenehmer. Zumindest war sie damit nicht allein,
Schulte-Henning sah genau so verärgert aus wie am Vortag. Er richtete seine
durchdringenden Augen auf sie. Sie wendete den Blick ab. Es war noch
schlimmer als am Vortag. Es war, als hätte sie ihn betrogen und nicht anders
herum. Er hob ihr Kinn an. Seine Berührung war wie ein kleiner Schlag. Ihr Atem
stockte und sie hätte einiges darum gegeben, ihn nicht ansehen zu müssen.
Seine Augen funkelten hart und an seiner Wange zuckte ein Muskel.
»Ich will dich.«
Oh, Gott! Sie schloss die Lider. Sein Mund legte sich unerbittlich auf ihren. Er
hätte es nicht aussprechen brauchen, sie spürte es. Und sie wusste auch warum.
Er machte sie zu Jen, seiner untreuen Verlobten. Er zahlte es Peter Bauer heim.
Er schob sie zur Wand, drängte sich gegen sie und riss an den Knöpfen ihrer
Bluse. Sein Knie spreizte ihre Schenkel und er zog ihren Rock hoch, um sie
aufzunehmen. Zumindest malträtierte er nicht mehr ihre Lippen, fuhr viel mehr
mit seinen an ihrem Hals herab. Flüchtig. Keine Liebkosung, eine
Brandtmarkung. Der Magen drehte sich ihr um. Er riss an ihrem Höschen. Sein
schwerer Atem netzte ihre Schulterbeuge.
»Ich mache es wieder gut«, murmelte er, aber es beruhigte sie kein bisschen,
dass er wusste, dass er etwas Falsches tat. Er knöpfe seine Hose auf.
»Scheiße! Verdammte Scheiße!«
Er ließ sie los, drehte ihr den Rücken zu und fuhr sich durch das blonde
Haar. »Scheiße!«
Er machte zwei Schritte, blieb stehen und wühlte in seiner Hose. Sie ließ die
Lider zu fallen. Er war zurück, legte die Hand an ihr Gesicht und seinen Mund auf
ihren. Zärtlicher nun, aber immer noch durchdrungen von seinem Ärger. Und von
Ungeduld. Seine Hände rutschten über ihren Körper, kneteten ihre Brust, ihren
Po und beanspruchten ihren Schoß. Er stöhnte an ihrem Mund, bevor er sie
wieder losließ. Dieses Mal, um sich das Kondom über zuziehehen. Sandra
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schluckte, als er sie zum Telefontischchen zog. »Komm.«
Sie aufhob, um sie vor dem Gerät abzusetzen, wobei er es nach hinten
schob und die Arme unter ihre Knie schlang. Sie fiel automatisch nach hinten,
gegen das Telefon, das aus der Ladestation polterte. Er verlagerte seinen Halt,
beugte sich über sie, vergrub die Hand in dem Haar in ihrem Nacken und drang
mit einem harschen Kuss in sie ein.
Sandra erstarrte. Er tat ihr nicht weh, nicht körperlich. Sie war bereit.
Physisch war sie vollkommen bereit Sex zu haben. Und doch schien es sie zu
zerreißen. Er stöhnte an ihrem Mund. Jeder Muskel an ihm schien angespannt,
wie jene in seinem starren Gesicht. Seine glühenden Augen wanderten über sie,
flogen dann hinter sie und Sandra wusste, was er tun würde. Er streckte die
Hand aus, jene die in ihrem Haar vergraben gewesen war, und schaltete die
Wiedergabe an. »Sie haben 22 neue Nachrichten. Nachricht 13. Juli 9 Uhr 59:
Sandra? Nimm ab! Ich warte auf dich.«
Sandra fröstelte und es lag nicht an Peters herrischem Ton.
Schulte-Hennings Backenzähne mahlten und sein Kuss war einmal mehr
strafend.
»Nachricht 13. Juli ...«
Er begann sich in ihr zu bewegen und Sandra hielt die Tränen zurück.
»10 Uhr 32: Nimm ab, verdammt! Ich habe es auf deinem Mobiltelefon
versucht, aber auch da gehst du nicht ran. Ich war sauer, okay? Was machst du
dem Arsch auch halbnackt die Tür auf? Komm zu mir. Es war selbstverständlich
richtig die Anfrage zu senden.«
Schulte-Henning hob ihr Knie weiter an, um sich noch tiefer in sie zu treiben.
Sein Mund rutschte an ihr Ohr.
»Nachricht 13. Juli 12 Uhr 17: Sandra, ich will dich ficken und ich bin es leid
auf dich zu warten. Was soll der Scheiß? Was hat der Wichser dir erzählt? Er ist
ein Lügner. Ruf mich zurück.«
Seine Bewegungen wurden härter.
»Nachricht 13. Juli 13 Uhr 26: Okay, langsam werde ich sauer! Ruf an, lass
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uns darüber sprechen. Beim Abendessen? Ruf mich an, damit ich reservieren
kann.«
Er suchte wieder nach ihrem Mund, aber sie wollte sich nicht mehr küssen
lassen.
»Nachricht 13. Juli 14 Uhr 39: Sandra ruf mich an. Du verhältst dich kindisch.
Ich verspreche dir, er hat gelogen. Du bist die Einzige, okay. Ruf zurück. Hey. Ich
muss die ganze Zeit an dich denken.«
Sandra versuchte an nichts zu denken, allerdings machte es ihr
Schulte-Henning nicht gerade einfach. Er versuchte sie zu küssen, ohne in seiner
Bewegung inne zu halten.
»Nachricht 13. Juli 15 Uhr 52: Sandra, jetzt sei nicht zickig! Komm schon,
folter mich nicht mit Entsagung. Es ist schon viel zu lange her.«
»Nachricht 13. Juli 17 Uhr 13: Du lässt mir keine Wahl, Sandy. Du
vernachlässigst mich sträflich, weißt du das? Mich hier sitzen zu lassen, darben.
Lediglich mit der Erinnerung an deine festen Brüste und deinen kleinen Arsch.
Du glaubst gar nicht, wie oft ich darüber nachdenke, dich zu ficken. In den
drögen Besprechungen, gestern im Auto. Was hätte ich darum gegeben, mit dir
allein zu sein? Deine hübsche Bluse aufzuknöpfen, um deine Titten tanzen zu
sehen, wenn ich dich ficke ...«
»Verfluchtes Arschloch!« Offenbar nicht verflucht genug. Schulte-Henning
versteifte sich tief in ihr. Seine Finger bohrten sich in ihren Schenkel und in ihren
Hals und er keuchte.
»Komm schon. Endlich haben wir mal ausgiebig Zeit. Wir können mal was
anderes ausprobieren. Lass mich nicht mehr warten.«
»Sie tun mir weh.« Es stimmte nicht ganz. Sie hielt es nur nicht mehr aus.
Seine Berührung. Die Demütigung.
»Was? Scheiße!« Er rappelte sich auf. »Scheiße!« Der Tisch wackelte, als
sie runter rutschte. Und die Wand stützte sie, weil ihre Knie sie nicht tragen
wollten.
»Es tut mir leid.«
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Arschloch! Er streckte die Hand nach ihr aus und sie wich ihm aus.
»Ich wollte dir nicht ...«
»Nachricht 13. Juli ...«
Sandra riss den AB vom Tisch und schleuderte ihn zu Boden. Vor seine
verfluchten Füße. Dann rannte sie ins Bad und schloss sich ein.
»Sandra, es tut mir leid.«
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Kapitel 9 - Zwischen den Fronten
Sandra wartete nicht ab, bis er um das Auto herum war, sondern schubste
die Tür auf. Dennoch stand er vor ihr, als sie aus dem Wagen kletterte.
»Nicht so ungeduldig, Frau Staatsanwältin«, murmelte er und sah kritisch an
ihr herab. Sie konnte sich sehr gut vorstellen, was ihm nicht gefiel. Die schwarze,
zugeknöpfte Bluse, gepaart mit einer Hose in Fischgrätenmuster. Das dazu
passende Jackett trug sie ebenfalls zugeknöpft.
Sie trat an ihm vorbei, sorgsam darauf bedacht, ihm keine Berührung zu
gestatten. Ihr rechtzeitig auszuweichen. Ihm auszuweichen. Ihn loszuwerden. Sie
hob das Kinn und ließ ihn stehen. Er folgte ihr umgehend.
»Sandra, sei nicht so«, bat er leise. »Ich habe mich entschuldigt.«
»Zickig?«, schlug sie bitter vor. Ihr Magen krampfte sich zusammen. »Soll ich
zurück zum Auto gegen, damit Sie mich auf der Rückbank ficken können?«
Er blieb stehen und Sandra hastete weiter. Er holte sie vor der Tür wieder
ein, die er zu hielt, als sie summte.
»Das ist noch nicht erledigt, Frau Staatsanwältin. Sie geben Ihre Anzeige auf
und danach werden wir den Fall besprechen. Gerne in Ihrem Büro.« Er sah
bezwingend auf sie herab.
»Nein. Der Fall ist erledigt. Lassen Sie mich durch!«
Er hatte keine Wahl, er musste ihr die Tür öffnen. Er folgte ihr in den
Vorraum.
»Christiansen, Frau Bresinsky möchte eine Anzeige aufgeben. Nimmst du
dich ihrer an? Der alte Verhörraum sollte geeignet sein.«
Ein Unifornierter kam eilig auf die Füße. »Der Verhörraum?« Er klang
verdattert. »Warum denn nicht ...«
»Es geht um eine heikle Angelegenheit, die nicht in der Öffentlichkeit ...«
Christiansen warf ihr einen schnellen Blick zu. »Oh, selbstverständlich. Der
alte Verhörraum ist natürlich die beste Wahl. Frau Bresinsky folgen Sie mir doch
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bitte.« Er hielt ihr die Tür auf.
»Christiansen? Frau Bresinsky trinkt ihren Kaffee weiß. Sag mir Bescheid,
wenn ihr fertig seid. Ich schreibe meine Aussage in meinem Büro.« Er deutete
mit dem Kopf den Gang hinunter. Seine Augen glitten noch einmal über sie. Fast
mit einer kleinen Warnung, die sie aber ignorierte. Es fühlte sich wie eine
Ewigkeit an, bis ihre Formalien aufgenommen waren und noch einmal so lange,
um den Sachverhalt zu schildern.
»Hat Herr Tramitz Sie bedroht?«
Eine Gänsehaut zog über ihren Körper. »Ich glaube nicht.«
Skeptisch sah der junge Polizist sie an. »Sie glauben nicht, Frau Bresinsky?«
Sandra öffnete den Mund, um es zu bestätigen und klappte ihn wieder zu.
Sie wusste es nicht. Sie konnte sich nicht erinnern. Nicht an Tramitz, oder
Schulte-Henning. Dass sie ihn angerufen hatte. Mit ihm nach Hause gegangen
war. Geschlafen hatte, oder auch nicht. Sie würden es sagen müssen. Zu
Protokoll geben. Es wäre aktenkundig, für jeden nachlesbar. Sandra Bresinsky
ließ sich von Patrick Schulte-Henning ficken. Auf einem Telefontischchen. Ihre
Augen brannten und die Brust wurde ihr ganz eng.
Zumindest brauchte sie sich nicht mehr wundern, was ihn an ihr interessieren
sollte. Das Einzige, was sie interessant machte, die schöne Helena. Zankt euch
um die schöne Helena.
»Frau Bresinsky?«
Sie sah auf. Christiansen runzelte die Stirn.
»Ist Ihnen nicht wohl, Frau ...«
»Es ist ein Fehler, verzeihen Sie die Umstände.« Sie erhob sich geschwind.
»Ich finde den Weg.«
»Frau Bresinsky! Warten Sie, so habe ich es doch nicht gemeint. Ich muss
lediglich konkrete Aussagen ...«, versuchte Christiansen sie aufzuhalten. Sandra
würgte ihn ab: »Natürlich. Es ist mein Fehler. Ich habe es falsch aufgefasst.
Einen schönen Tag noch.«
Sie strebte den Flur entlang. Sie würde die U-Bahn nehmen, um nach Hause
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zu kommen. Sie müsste umsteigen, oder bis zur Reinoldikirche laufen. Einmal
quer durch den Stadtgarten, am Stadthaus vorbei in die Einkaufsstraße, über die
Kampstraße zur U-Bahn-Station Reinoldikirche. Vielleicht zehn Minuten, wenn
sie zügig ging. Sie stieß die Tür auf und umrundete den Empfang.
»Lassen Sie mich raus.«
Das Türschloss sirrte. Eine laue Brise begrüßte sie, und der überall
herrschende Verkehrslärm. Geordnetes Verkehrschaos, nach drei Jahren hatte
sie sich noch immer nicht daran gewöhnt, dabei war der Verkehr in Berlin noch
viel schlimmer. Sandra drückte die Ampel und hielt sich an ihr fest. Die Anlage
klickte und sie stolperte weiter. Sie sollte die U-Bahn am Stadthaus nehmen,
oder noch besser: ein Taxi.
»Sandra? Bitte öffne die Tür.« Patrick wartete mit angehaltenem Atem auf
ihre Reaktion. Er wusste, dass sie auf der anderen Seite stand. Er hatte gehört,
wie sie die Gegensprechanlage bediente. Sie ließ ihn stehen. Er hörte, wie eine
Tür ins Schloss fiel. Er ließ den Kopf hängen und fluchte innerlich. Es war seine
Schuld. Er wusste, dass es seine Schuld war! Er klingelte wohl wissend, dass es
sinnlos war. Er zückte sein Handy und wählte ihre Nummer. Angespannt wartete
er auf das Anspringen des Anrufbeantworters. Es piepte.
»Sandra, öffne die Tür. Du hast die Aussage nicht zu Ende gemacht. Du hast
sie nicht unterschrieben. Sie gilt als nicht getätigt, solange sie nicht ordentlich
aufgenommen wurde! Verdammt nochmal komm mit mir zurück aufs Revier.«
Er hielt den Atem an. »Bitte, Sandra.«
Patrick lehnte sich gegen die Tür. »Bitte.«
Er lauschte angespannt. »Es tut mir leid. Bitte verzeih mir.«
Es war sinnlos. Er konnte es noch sooft wiederholen. Sie glaubte ihm nicht.
»Ich wollte dir nicht wehtun.«
Patrick schloss die Augen und verfluchte sich innerlich. »Bitte. Du musst mit
kommen. Du musst deine Aussage beenden. Nicht für mich, für deine
Sicherheit.«
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Er betete, sie möge Vernunft walten lassen.
»Sandra«, insistierte er eindringlich. »Du weißt am Besten ...«
Ein Piepen unterbrach ihn. Die Verbindung war unterbrochen. Schnell tippte
er auf die Wahlwiederholung. Es klingelte. Einmal. Zweimal. Dann wieder das
Piepen. Sie hatte aufgelegt. Patrick schluckte die Bitterkeit hinunter. Ein weiterer
Anruf bewies seine Vermutung: Sie hatte das Telefon ausgestellt. Er wechselte
zu ihrem Handy. Es klingelte hinter der Tür. »Sandra!«
Patrick legte die Hand fest gegen die Tür.
»Tu das nicht. Bitte tu das nicht ...«
Das Tuten bezeugte, dass sie ihn weggedrückt hatte. Er ließ die Hand mit
dem Telefon sinken.
»Sandra ...«
Eine Tür knallte zu.
Sandra schob den Karton mit den Akten vor sich her und wühlte in ihrer
Handtasche. Sie hatte Kopfschmerzen, Hunger und war zu allem Überfluss auch
noch spät dran. Das Schmerzmittel war eingepackt, damit sollte sie den Tag
überstehen können. Sie hatte verschlafen, was fälschlicherweise implizierte,
dass sie geschlafen hatte, und keine Zeit mit Kaffeekochen verschwendet. Um
allem die Krone aufzusetzen: Ihr Tag begann mit einer Lagebesprechung im Fall
Kramer.
Sie zog ihren Schlüssel ab, nahm die Kette ab und wollte sich nach dem
Karton bücken, als sie gegriffen und zurück gedrängt wurde. Sie schrie
erschrocken auf.
»Du bist unvernünftig!«
Schulte-Henning!
»Verdammt, Sandra, du bringst dich nur selbst in Gefahr!«
Die Tür fiel zu.
»Warum bist du einfach gegangen?«
Sie sah auf, musste aber mehrmals schlucken, bevor sie etwas sagen
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konnte. »Lassen Sie mich los!«
Er knirschte, nahm aber die Hände von ihr.
»Ich bringe dich zur Wache. Komm.« Er fischte nach ihrer Hand, die sie ihm
sofort entriss.
»Nein.« Sie schluckte, das Kinn hebend. »Ich muss ins Gericht. Lassen Sie
mich in Ruhe, Kommissar Schulte-Henning!«
Er hob die Hände. »Sandra, bitte!«
»Ich möchte, dass Sie ...«, begann sie bestimmt und deutete zur Tür.
»Warum bist du gegangen, ohne deine Aussage zu unterzeichnen?«
Sie presste die Lippen aufeinander. »Ich kann keine Aussage zu einem
Sachverhalt machen, an den ich mich nicht erinnere!« Sie atmete tief ein. »Ich
erinnere mich nicht. An nichts. Es ist nur eine Vermutung. Vielleicht irre ich mich?
Vielleicht war es gar nicht Tramitz.«
Schulte-Henning knirschte mit den Zähnen. »Es war Tramitz.«
Sandra rollte ein kleiner Schauer über den Rücken. Er klang so sicher.
»Sandra, es war Tramitz. Gehen wir davon aus, dass du tatsächlich unter
Drogen gesetzt worden bist ...«, fuhr er fort und suchte ihren Blick. Eine
schauderhafte Vorstellung. »Zu welchem Zweck, Sandra?«
Sie fröstelte unangenehm.
»Du musst ...«
»Ich kann keine Aussage machen«, beharrte sie erneut. »Alles, was ich
sagen kann ... » Sprach gegen sie. Sie hatte vermutlich getrunken und war dann
in männlicher Begleitung gegangen.
»Genügt, und das weißt du!«
Sie presste die Lippen aufeinander und er die Lider.
»Es geht nicht darum, dass du dich nicht erinnerst, nicht wahr?« Er sah auf
sie herab. Ärger in den blauen Augen. »Es geht um das, was du sagen kannst.
Dass du mich angerufen hast. Dass ich dich nach Hause brachte. Dass wir
zusammen ...«
»Wir waren nicht ...«, wollte Sandra korrigieren, um von der nur zu wahren
»Du sollst nicht begehren ...«
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Tatsache abzulenken.
»Wir waren zusammen! Herrgott, Sandra, es geht nicht immer nur um Sex!«,
unterbrach er sie. Er hob die Hand und sie zuckte zurück. Er stoppte in der
Bewegung. »Sandra, du ... du hast Angst vor mir?«
Sandra erstarrte und musste zweimal ansetzen, bevor sie heraus bekam:
»Nein!«
Fassungslosigkeit dominierte seine Züge und die Hand fiel herab.
»Nein. Ich habe keine Angst vor Ihnen und ich kann keine Aussage machen.
Akzeptieren Sie, dass es ... einmalig war. Und jetzt gehe ich zur Arbeit!«
Sandra hob das Kinn, in der Hoffnung, dass er ihr glaubte. Sie tat es nicht.
Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl zu lügen. Ihre Hände waren feucht.
Ihr Magen flatterte und ihr war flau. Die Zunge klebte ihr am Gaumen.
Schulte-Henning senkte den Blick. »Sandra ich ... ich wollte dich nicht verletzen.
Ich ... wollte nur ...«
Seinen Machtanspruch demonstrieren. Ihr wurde schlecht, obwohl sie es ja
wusste.
»Ich kann nicht einfach gehen. Ich kann dich nicht einfach ...«
»Ich muss zur Arbeit, Kommissar Schulte-Henning. Verlassen Sie bitte meine
Wohnung.«
Er folgte der Aufforderung widerwillig. Sandra bückte sich nach ihrem Karton.
»Lass mich den tragen.«
»Nein, das ...«
Er nahm ihn ihr ab. »Er ist viel zu schwer. Ich muss meinen Bericht noch
abgeben, habe also denselben Weg.«
Sandra zog die Tür ins Schloss, versperrte sie und forderte ihren Karton
zurück. »Ich trage ihn dir zum Auto.«
Sandra schob die Ordner zur Seite und fischte nach einem weiteren. »Die
Aussagen der Familie Vulpius ...«
»Schlüssig?«, murrte Peter, ohne den Pappdeckel aufzuschlagen. Seine
»Du sollst nicht begehren ...«
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dunklen Augen glitten einmal mehr verstimmt über sie. Die Besprechung war
verschoben worden und stattdessen hatte er eine Validierung der Prozessakten
verlangt. Darauf war sie selbstredend nicht vorbereitet gewesen und so hatte sie
bereits die Hälfte seiner Fragen nicht umfassend beantworten können. Sandra
schloss den Mund und zog die Akte zurück, um sie selbst aufzuklappen.
Anmerkungen zierten die erste Seite.
»Ehm, da scheinen noch Fragen ...«, räumte sie nervös ein und fingerte an
dem überstehenden Papier, während sie die Notizen überflog.
»Es bestehen noch Fragen? Herrgott noch mal, Sandra!«
Sie sah auf. »Kommissar Schulte-Henning sollte noch einmal mit Mareike
Vulpius Lebensgefährten sprechen ...«, verteidigte sie sich und stolperte fast
über den Namen. Peters Augen gleißten auf und er griff nach dem Hörer seines
Diensttelefons. Ohne den Blick von ihr zu nehmen, wählte er eine Nummer.
Sandra atmete kontrolliert aus. Auf keinen Fall wollte sie nervös wirken.
»Ich bins ...«, maulte er. »Ich warte immer noch auf den Bericht!«
»Im Postfach.«
»Über Vulpius Freund.« Seine Stimme ätzte geradewegs. »Sandra sagt, du
bist damit im Verzug.«
Sandra verkrampfte elendig. Musste er sie ins Spiel bringen?
»Frau Staatsanwältin irrt ...«
Peters schmale Lippen kräuselten sich. »Er sagt, dass es nicht stimmt,
Sandy. Also, wer von euch ...«
»Ich habe ihn dir letzte Woche persönlich gegeben, Bauer. Ich schicke Frau
Bresinsky eine Kopie für ihre Unterlagen.«
Peter siedete. »Wie freundlich deine Inkompetenz ...«
»Halt die Schnauze, Bauer!«
Peter knallte den Hörer auf die Gabel. »Verfluchter Wichser!«
Sandra fuhr glättend über das Papier. »Herr Walter hat unterschiedliche
Angaben ...«
»Wo warst du?«
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Ihre Finger verhielten zittrig. »Bitte?«
»Spiel nicht die Unwissende, ich habe dich mindestens ein Dutzend Mal
angerufen!«
Sandra befeuchtete sich die Lippen. »Ich habe die Nachrichten erst gestern
abgehört.«
»Wo warst du?«
Sie wand sich innerlich. »Das geht dich nichts an.«
»Wie bitte?«
Sie begegnete seinen wütenden Augen. »Wie ich mein Wochenende
verbringe, geht nur mich etwas an. Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig!«
»So?«, knurrte er und schob den Stuhl zurück, um aufzustehen.
»Ja!«, bestätigte Sandra fest und verfolgte, wie er um den Tisch herum kam.
Er griff nach ihrer Hand und zog sie auf die Füße. Sandra wich sofort zur Seite
aus.
»Sandra ...«
»Peter, ich möchte, dass du Abstand hältst.« Sie hob die Hand, um ihn zur
Not auch physisch von sich fernzuhalten. »Ich habe nachgedacht und ...«
»Was hat er gesagt?« Er griff nach ihren Ellenbogen und zog sie grob an
sich. »Antworte mir, verdammt nochmal!«
»Nichts!«, quietschte sie erschrocken und versuchte sich zu befreien. »Lass
mich los!«
»Er ist ein Lügner, Sandra.« Er beugte sich vor, um sie zu küssen und
Sandra wendete schnell den Kopf ab.
»Hör auf. Peter, ich will das nicht!« Sie versuchte, sich zu befreien. »Lass
mich auf der Stelle los!«
»Sandy, komm schon, ich will dich.«
Ihr Magen knotete sich zusammen und sie stieß ihn von sich. »Peter, das
hört auf. Es war von ... vornherein ein Fehler.« Sie atmete tief durch. »Ich
brauche eine Pause!«
Sandra ließ ihn stehen, schmiss die Tür zum Vorraum ins Schloss und lief
»Du sollst nicht begehren ...«
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den Gang entlang. Ihr Ziel war die Balustrade am Kopf des Gebäudes. Sie
öffnete die Glastür und trat in die Sonne. Ihr Magen revoltierte und sie umfasste
fest den Handlauf. Die Augen schloss sie und sie versuchte, sich unter Kontrolle
zu bekommen. Sie zitterte. Säure zerfraß ihre Speiseröhre. Ihre Seidenbluse
kratzte auf ihrem Körper. Sie keuchte verwirrt über ihre Atemnot. Sie verstand die
Beklemmung nicht. Plötzlich war alles so anders. Sie wollte gar nicht von ihm
berührt werden, oder geküsst. Sie wollte nicht einmal im selben Zimmer sein.
»Sandra?«
Sie fuhr herum und klammerte sich erst recht an die Reling. Schulte-Henning
stand in der Tür und musterte sie irritiert. »Stimmt etwas ...«
Heiße Tränen rollten über ihre Wange und ließen sie erschrocken
schluchzen. Sie wischte mit den Handballen über ihre Augen und machte es
damit noch schlimmer. Sie hörte, wie die Tür ins Schloss fiel, und sah alarmiert
auf. Er zog sie in die Arme. Sandra ballte die Fäuste, wobei sie die Nägel in das
weiche Leder seine Jacke grub.
»Hat er dir wehgetan?«, murmelte Schulte-Henning in ihr Haar. Er schloss
die Arme fest um sie.
Sie schüttelte den Kopf und wollte ihn fortdrücken, aber ein neuerlicher
Schluchzer vereitelte den Versuch.
»Ist es wegen des Berichts? Gott, ich hätte nicht auflegen dürfen. Er hat
seinen Zorn an dir ausgelassen, nicht wahr?«
Sie schniefte und gab den Versuch auf, sich zu fassen. Ohnehin klammerte
sie sich eher an ihn, als dass sie ihn von sich drückte. Sandra weinte in seiner
Umarmung.
»Ich kümmere mich darum«, versprach er. »Vertrau mir, er wird sich
zukünftig zwei Mal überlegen, ob er dich für seine Fehler verantwortlich macht!«
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht! Sie dürfen nicht ...«
»Sandra, bitte! Er behandelt Frauen wie ...«
»Nicht!«
Unter ihren Finger spannte sich seine Muskulatur an, aber er sagte nichts
»Du sollst nicht begehren ...«
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mehr. Hielt sie lediglich fest, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Als sie ihn
schließlich von sich schob, presste er die Lippen aufeinander.
»Ich ... ich habe noch zu tun«, murmelte Sandra verlegen und räusperte sich.
Um zurück ins Gerichtsgebäude zu gelangen, musste sie an ihm vorbei.
»Dein Mascara ist verschmiert.«
Sandra stöhnte entsetzt und wischte sich über die Augen.
»Hier.« Schulte-Henning reichte ihr ein Taschentuch, ließ es dann aber nicht
los. »Lass mich das machen.« Vorsichtig entfernte er die Wimperntusche.
Sandra senkte die Lider und beobachtete seine konzentrierte Miene.
»So, besser. Sandra ...«
Sie trat zurück. »Ich brauchte eine Pause. Wir ... gehen die Akten durch ... Es
tut mir leid, dass ... Ich habe nicht behauptet ... Es stand nur ...«
»Zum Kramer-Fall. Gut möglich, dass noch weitere Berichte nicht bei dir
angekommen sind. Wir sollten die Akten abgleichen, um auf der sicheren Seite
zu sein.«
Sie nickte. Es war besser sich damit auseinanderzusetzen, als noch weitere
Schläge zu kassieren.
»Wie schnell benötigst du den Fallbericht zu Vulpius Lebensgefährten?«,
fragte er und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Sandra wich weiter zurück.
Er sollte sie nicht berühren.
»Nicht.« Sie befeuchtete sich die Lippen. »Ich muss die Aussagen noch
einmal durchgehen ... ich glaube ...«
»Mach das. Ruf an, wenn du Fragen hast.«
Sandra nickte erneut. »Ja. Darf ich ...« Und deutete zur Tür.
»Natürlich«, murmelte er, platz machend und hielt sie dann noch mal zurück.
»Sandra ...«
Sie sah auf. Sorge schimmerte in seinen Augen. »Er hat doch nicht ...« Sein
Blick fiel auf ihre Lippen. Sie geküsst? War das alles, woran er dachte? Seinen
Besitzanspruch aufrechtzuerhalten? Das Atmen gelang nur zittrig. Verfluchtes
Arschloch!
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»Und wenn schon!« Sie schubste ihn zur Seite.
»Warte!«
Sie riss sich los und die Tür auf.
»Sandra!«
Sie blieb stehen. Peter kam aus seinem Büro, seine Augen flogen zu
Schulte-Henning.
»Was willst du hier?«
»Ich dachte, ich spreche mit Frau Bresinsky die Vernehmung von Herrn
Walter persönlich durch.« Schulte-Henning unterbrach sich. »Beim Mittagessen.«
Sandra verpasste entsetzt einen Atemzug.
»Dumm, Patrick. Wir sind bereits verabredet. Wir müssen den Kramerfall
vorstellen und haben noch zu viel zu tun ...« Peter legte den Blick bezwingend
auf sie, Schulte-Hennings Augen bohrten sich sicherlich in ihren Rücken. Es
fehlte nur noch, dass sie ihre Hände ergriffen und auch tatsächlich an ihr zerrten.
Die schöne Helena, der Zankapfel.
Sandra schluckte mühsam.
»Dafür braucht ihr Walters Aussage, nicht wahr? Die du wohl nicht zufällig
aus der Schublade ziehen kannst, oder?«, knirschte Schulte-Henning in ihrem
Rücken.
»Wie auch, du hast ihn nicht abgegeben!«
Sandra schloss kurz die Augen. Warum immer sie? Als sie sie wieder öffnete,
fiel ihr Blick auf Staatsanwalt Ziegler, der aus seinem Büro trat.
»Du hast ihn verschlampt, Bauer.«
»Herr Ziegler!«, rief sie, bestärkt in ihrem Vorhaben durch Peters grimmige
Miene. »Gehen Sie zur Mittagspause?«
»Ja, Frau Bresinsky. Mahlzeit, Bauer. Kommissar ...« Ziegler nickte ihm zu,
bevor er überrascht durch ihre Frage die Brauen hob.
»Darf ich Sie begleiten?«
»Gern. Ist Ihnen der Rote Drache recht?«
Chinesisch, nicht gerade ihre Leibspeise. »Wundervoll! Ich liebe Hühnchen
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süß-sauer!« Sie ließ Peter und Schulte-Henning stehen. »Ich hole noch meine
Handtasche, eine Sekunde.«
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Kapitel 10 - Blumige Erinnerungen
Patrick legte auf. Sandra ignorierte seine Anrufe. Seit sie Bauer und ihn
stehen gelassen hatte, war dies sein zehnter Versuch sie zu erreichen. Er drehte
sein Handy auf seinem Schreibtisch. Er hatte seine Akten zum Kramerfall
aktualisiert und war bereit, sie mit ihr durchzugehen. Zu Hause, schließlich war
es zehn vor sechs.
»Was angestellt?«, fragte Sarah, seine neue Kollegin und lachte
herausfordernd. »Versuch es mit Blumen. Oder such dir eine, die deinen Job
akzeptiert.« Sie ließ sich auf ihren Stuhl nieder und beugte sich zur Seite, um am
Bildschirm vorbei zu sehen. »Es ist halt kein Bürojob.«
»Blumen werden nicht helfen und es liegt nicht am Job.« Patrick änderte
seine Taktik. Er griff nach seinem Diensttelefon und wählte Sandras Nummer. Es
bimmelte und Patrick ertappte sich dabei, wie er den Atem anhielt. Sie nahm
nicht ab. Er wählte Bauers Nummer mit demselben Ergebnis. Entweder, er hatte
schon Feierabend gemacht, oder war anderweitig involviert. Mit Sandra
womöglich. Sein Magen zog sich unangenehm zusammen. Wie dämlich, dass er
sich das noch einmal antat. Sich von Bauer demütigen lassen wegen einer Frau.
Er legte auf. Wegen einer Frau, die selbst gesagt hatte, dass sie ihn hasste und
nicht mit ihm zusammen sein wollte. Er schloss die Augen und rieb sich das
Gesicht. Es war von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen.
»Schmuck? Ein romantisches Abendessen?«, schlug Sarah vor und riss ihn
aus der Erinnerung an ihr erstes Treffen. Mareikes Leiche war in Kramers Auto
entdeckt worden. Sandra war schreckensbleich geworden und hatte sich zittrig
abgewendet. Er hatte sie in eine Minna gesetzt und mit ihr gesprochen. Sie hatte
den Durchsuchungsbeschluss für Kramers Wagen erwirkt, deswegen war sie
dort gewesen, wohl in der Annahme Drogen zu finden, aber sicherlich keine
Leiche. Er hätte sie gleich bitten sollen, mit ihm auszugehen. Bevor Bauer einen
Blick auf sie warf und beschlossen hatte, sie in seine Sammlung zu integrieren.
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»Was hast du angestellt?«
Wenn er das wüsste. Sie hatte behauptet, er hätte sie verletzt. Er wollte es
nicht kategorisch ausschließen. Er war zu ungeduldig gewesen, aber sie bereit.
Natürlich war er egoistisch gewesen, zu sehr auf seine Lust konzentriert, und
hatte dadurch Sandras Vergnügen nicht berücksichtigt. Aber er befürchtete fast,
dass es ganz und gar nicht daran lag. Sie hatte ihm den AB förmlich vor die Füße
geknallt und ihr Kommentar vor dem Präsidium: Kindisch? Soll ich zum Auto
zurückgehen, damit Sie mich auf der Rückbank ficken können? Er hätte das
Band nicht abspielen lassen dürfen. Nicht, während er mit ihr schlief. Sie glaubte
ohnehin, dass es ihm nur darum ging. Um Sex. Egal wo, egal wie. Er wollte gar
nicht bestreiten, dass er Sex wollte. Mit ihr. Und es war ihm gleich wo. Und wie.
»Wenn dein Freund mit dir schläft, während im Hintergrund dein Ex auf den
AB spricht, was würdest du denken?«
Sarah hob grinsend eine Braue. »Dass mein Ex besser endlich die Fresse
hält.«
»Auch wenn er die Beziehung beendete, dich nun auffordert zu ihm zu
kommen und du ihn immer noch liebst?« Es war Eifersucht gewesen. Er hatte
beweisen wollen, dass sie ihm gehörte. Dass Bauer sie noch sooft anrufen
konnte, um ihr zu sagen, dass er sie wollte, Sandra aber mit ihm schlief.
»Scheiße!«
»Du hast keine Chance. Wenn sie ihn noch liebt, hast du keine Chance, egal,
was du tust«, bemerkte Sarah schulterzuckend und kam zu ihm. »Vergiss sie.
Andere Mütter ...«
Patrick schob seinen Stuhl zurück. Deswegen hatte Sandra Bauer und ihn
stehen lassen. Sie glaubt, es ging ihm lediglich darum, Bauer die Frau
auszuspannen. Um Rache für Jen.
»Ich muss los ...«, murmelte er und griff nach dem USB-Stick. »Die
Stalking-Sache ...«
»Christiansen bleibt dran und meldet sich ...«
Patrick nickte und stürmte raus. Er musste ihr verständlich machen, dass es
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so ganz und gar nicht war. Dass es nicht Bauers Interesse war, das ihn anzog.
Sondern sie. Ihre erschrockenen Augen, ihre zittrige Stimme. Ihr Gesicht! Mein
Gott, was hat er ihr angetan? Tränen hatten in ihren Augen gestanden, ebenso
wie der Schmerz. Sie war so verletzlich erschienen, dass er sie am liebsten in
sein Auto gesetzt hätte, um sie wegzubringen. Weit weg, irgendwohin, wo es
keinen Grund mehr für Tränen gegeben hätte. Und nun war er schuld an ihnen.
Er hupte ungeduldig. Es war nicht weit vom Präsidium zum Gericht, um die
Zeit war auf dem Ring nur leider die Hölle los. Er brauchte fünfzehn Minuten und
nahm den Seiteneingang ins Gericht. Er klopfte an das Fenster, um die Kollegen
auf sich aufmerksam zu machen. Wenn Sandra noch im Haus war, würde es das
Sicherheitspersonal wissen.
»Schulte-Henning, schon wieder?« Markus schüttelte den Kopf. »Was
vergessen?«
»Ist Frau Bresinsky noch im Haus? Ich habe noch einen Bericht ...«
»Hast du ein Glück!«, unterbrach Markus ihn. »Frank und Goldbach
versuchen es seit Jahren!«
»Frau Bresinsky einen Bericht zu überbringen?«, knirschte Patrick. Sandra
würde es ihm anlasten, dass über sie gesprochen wurde, ohne Frage. »Ach,
komm schon! Soviel kann man gar nicht zu Papier bringen, wie du ihr Akten
hinterher schleppst! Und dann die Blume. Hältst du mich für dämlich?« Markus
wendete sich beleidigt ab. »Aber gut! Frau Bresinsky ist noch im Haus.« Er griff
nach dem Hörer und wählte Sandras Kurzwahl. Sie nahm nicht ab.
»Sie hat Blumen geschickt bekommen? Von einem Kurier?« Patrick zog es
den Hals zu. Hier sollte sie sicher sein. Man kam nicht ohne Kontrolle ins Haus,
überall waren Kameras und dann das Wachpersonal. Er war fest davon
ausgegangen, dass sie hier sicher war. »Scheiße!«
»Ah, Frau Bresinsky, Bernd hier, von der Spätschicht.«
Patrick kam zurück und Markus drückte auf die Freisprechtaste.
»Markus? Stimmt etwas nicht?« Sie seufzte schwer. »Hat Ana Sie gebeten
anzurufen?«
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»Äh, nein, Frau Bresinsky, es ist nur ...« Markus sah auf und machte ein
ratloses Gesicht. Patrick tippte auf seine Armbanduhr. »Schon nach sechs.«
»Tatsächlich? Oh, verflixt, danke Herr Markus. Oh, da fällt mir ein ... mein
Auto ... Kennen Sie die Nummer eines Taxiunternehmens? 4444?«
Patrick simulierte ein Telefon, indem er den Daumen und den kleinen Finger
abspreizte und zeigte auf den Wachbeauftragten.
»Ich rufe an, Frau Bresinsky.«
»Oh, wundervoll, danke Herr Markus. Ich brauche vielleicht fünf Minuten.«
Sie legte auf und Markus tat es ihr nach. »Ich nehme an, ich brauche kein Taxi
rufen?«
»Die Blumen. Von einem Kurier, oder wurden sie persönlich abgegeben?«,
hakte Patrick noch mal nach. Bauer machte sich selten die Mühe seine Affären
zu umgarnen, wenn er sie erst einmal im Bett hatte. War es da nicht alarmierend,
wenn es bei Sandra anders wäre?
»Kurier. Es steht ein Florist auf dem Umschlagpapier, wenn es dich
interessiert.« Er drückte auf den Türsummer und Patrick trat in die Amtsstube. Er
folgte Markus in den Aufenthaltsraum. »Hier ist das gute Stück.«
Patrick nahm den Topf auf und drehte ihn. Fleur de Coeur stand auf dem
Einschlag. Eine Karte steckte an dem Papier. Es klingelte und Markus deutete
zur Amtsstube. Patrick nickte. Es juckte ihm in den Fingern, die Karte zu lesen.
»Oh, Frau Bresinsky, Sie sind schon da.«
»Ja. Ich dachte ... Ich habe noch genug Papier zu Hause.« Sie seufzte. »Hat
das Taxiunternehmen einen Zeitraum benannt? Eigentlich brauche ich nur einige
Minuten ...«
»Ich bin mir sicher, dass Sie nicht lange warten müssen. Und sie haben
Blumen bekommen.«
Patrick stellte den Topf ab und trat zur Tür. Sandra presste die Lippen
zusammen.
»Tatsächlich?«, murmelte sie verdrossen. »In den Mülleimer damit, Herr
Markus.«
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»In den Mülleimer? », wiederholte Markus und Sandra lehnte sich gegen den
Tresen.
»Ja. Blumen!« Sie verdrehte die Augen. »Haben Sie eine Freundin?«
»Em, also, ja.«
»Nehmen Sie sie mit.« Sie schnaubte abfällig. »Rote Rosen? Verfluchtes
Arschloch.«
»Keine Rosen. So ein Topfding.«
Sandras Gesicht erstarrte. »Orchidee?«
Patrick drehte sich um, und zog die Karte ab. Eigentlich sollte er sie nicht
anfassen, nicht ohne Handschuhe. Es tut mir leid, Liebling. Lass uns von vorne
beginnen. Er zückte sein Handy.
»Christiansen? Ich brauche die Spurensicherung im Gericht. Es geht um den
Stalking-Fall. Wachstube. Kommen Sie selbst, um Frau Bresinskys Aussage
aufzunehmen. Und vergessen Sie die andere nicht. Sie kann sie direkt
unterzeichnen.«
Sandra starrte blicklos aus dem Fenster. Es war kurz nach acht Uhr am
Abend und damit lagen zwölf schreckliche Stunden hinter ihr.
»Die Nummer, Sandra.«
Sie blinzelte und sah zu ihm rüber. Das Fahrerfenster war herabgelassen.
»Die Nummer, Sandra«, wiederholte er leise. »Es ist doch in deinem Sinne,
dass mein Wagen nicht für jeden sichtbar am Straßenrand steht, oder?«
Ihre Parkgarage. »1723.«
Schulte-Henning tippte die Zahlen in das Display und die Schranke hob sich.
»Dein Parkplatz?«
»Rechts, ganz hinten links. 3A5.«
Er fuhr langsam weiter und parkte auf ihrem Stellplatz. Sie stieg aus. Er
berührte ihren Ellenbogen.
»Komm.«
Sandra schloss die Augen mit dem Wunsch, sie nicht wieder öffnen zu
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müssen. Es war alles gleich. Er hatte sie dazu gebracht, die Aussage zu
unterzeichnen. Zuzugeben, dass er in der Freitagnacht bei ihr gewesen war. Er
führte sie zum Aufzug.
»Wir machen uns eine schöne Tasse Tee. Sollen wir uns etwas bringen
lassen? Pizza? Pasta? Chinesisch hattest du heute ja schon.« Er schob sie in die
Kabine.
»Das geht Sie nichts an!«, hielt sie ihm vor. »Und ich werde nicht ...« Sie
unterbrach sich. »Ich will nicht mit Ihnen zu Abend essen.« Schon gar nicht in
ihrer Wohnung. Das war so gut, wie in ihrem Bett! »Ich will Sie nicht in meiner
Nähe.«
»Und die Akten? Soll ich morgen lieber im Büro vorbei kommen?«
Er wusste genau, dass sie das nicht wollte. Sie sah es in seinen Augen.
Sandra schluckte und gab auf. Sie öffnete nervös die Tür. Wie am Vortag schälte
Schulte-Henning sich aus seiner Jacke, als er an ihr vorbei trat. Sandra schob
die Kette vor.
»Also, was möchtest du essen?« Er drehte sich zu ihr um. Er grinste
zufrieden.
»Ich bin nicht hungrig.« Und selbst wenn sie es wäre, würde sie keine Zeit
damit verschwenden wollen, solange er in ihrer Wohnung war. »Wir gehen die
Akten durch ...« Und dann: auf nimmer Wiedersehen!
»Ich mache Tee.« Er verschwand in der Küche, bevor sie noch ein Wort
hervorbringen konnte. »Oder lieber Kaffee? Wir werden sicherlich eine Weile
beschäftigt sein.«
Sandra sackte mit geschlossenen Augen gegen die Tür. Sie war verflucht,
ganz deutlich. Etwas berührte ihre Wange und sie riss die Lider wieder auf.
»Sandra? Ist dir nicht gut?« Wieder Besorgnis. Warum? Fürchtete er, er
müsse auf seinen Sex verzichten? Den er ohnehin nicht bekommen würde. Ihr
wurde heiß unter seinem Blick, dann ganz kalt. Genau wie gestern. Sie lehnte an
der Tür und Schulte-Henning stand so nah bei ihr, dass sie seinen Atem spüren
konnte.
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Seine Finger glitten erneut über ihre Wange, legten sich an ihr Kinn und
hoben es an. Sie schloss die Augen. Sie wollte nicht geküsst werden. Sie wollte
keinen Quickie im Flur. Auf dem scheiß Telefontischchen.
»Vielleicht solltest du dich hinlegen.«
Toll, sollte sie jetzt dankbar sein?
»Sandra ...«
Tränen drängten sich in ihre Augen.
»Das gestern ... das tut mir leid.«
Sie versuchte das Gesicht fortzudrehen. Nun kam er ihr wieder mit seinen
Unwahrheiten.
»Ich hätte ...«
»Lassen Sie mich los!«, unterbrach sie ihn und schob die Hände von sich.
»Wenn Sie mich weiterhin bedrängen ...«
»Warte! Bitte lass mich ausreden!« Er trat einen Schritt zurück und hob die
Hände. »Ich möchte dich nicht bedrängen. Okay? Ich fasse dich nicht an.«
Sandra fröstelte und schlang die Arme um sich.
»Es war ein Fehler. Ich verstehe, dass du sauer bist, aber ... Es ist nicht so,
wie du denkst.«
Sie stöhnte verzweifelt. Eine andere Tour diesmal und sie sollte ihm
glauben?
»Ich will dich nicht, weil Bauer ... Es geht mir nicht darum dich ihm
auszuspannen, okay?«
Ihre Nase kribbelte verboten. Sie würde nicht weinen! Und ihm sicherlich
nicht vergeben. Glaubte er wirklich, sie wäre so dumm?
»Ach?«, zischte sie und schluckte den Klos herunter. »Und worum geht es
dann? Alles, was Sie interessiert ...«
»Bist du.«
Sandra klappte den Mund zu. Lügner! Ihr Magen drehte sich.
»Ich weiß, dass du mir nicht glaubst.«
Sie schnaubte verdrossen. Wenn sie ihn nur endlich los wäre!
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»Gib mir eine Chance.«
»Nein. Wir sollten ...«, schlug sie aus und rutschte an der Tür entlang.
»Nein?«
»Nein. Können wir uns nun der Arbeit widmen?« Damit sie ihn endlich los
wurde! Sandra umrundete die Garderobe. »Ich mache Ihren Tee ...«
Er maß sie dräuend.
»Mach dir keine Umstände, Sandra.« Er steckte die Rechte in die
Hosentasche und sie glaubte schon, er würde eines seiner Kondome
hervorziehen, aber es war ein USB-Stick. »Macht es dir was aus deinen PC zu
verwenden?«
Er hielt ihr das Speichermedium hin.
»Ich bereite den Tee selbst.«
Und sie würde keinen Schluck davon trinken.
Patrick überflog die Aussage. Er saß vor der Couch auf dem Boden und
versank in Sandras Chaos. »Der Widerspruch bezog sich auf den Zeitpunkt der
Vermisstenanzeige. Walter behauptete, er hätte häufiger nichts von Mareike
gehört.«
Sandra blätterte durch ihre Kopie. »Drei Tage.«
»Eben«, bestätigte er abgelenkt von ihrem Anblick. Sie saß ihm gegenüber,
in ihrem engen Kostümrock und der weißen Bluse. Man konnte ihren BH nicht
durchschimmern sehen, wie bei dem Pendant vom Sonntag, aber das war auch
nicht nötig. Wenn sie sich vorbeugte, bekam er einen ähnlich anregenden
Ausblick.
»Warum sollte es ungewöhnlich sein?«
Patrick hob den Blick, um ihrem zu begegnen. »Drei Tage«, wiederholte er,
schließlich sagte es doch bereits alles. Sie runzelte die Stirn.
»Ich finde nicht, dass ...«
»Du würdest dir keine Sorgen machen, wenn sich dein Freund drei Tage lang
nicht meldet?«, hakte er nach und bekam seinen ersten Eindruck bestätigt.
»Du sollst nicht begehren ...«
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Sandra schüttelte den Kopf. »Nein. Sie lebten in getrennten Wohnungen ...«, hob
sie hervor, als wäre dies bereits ein stichhaltiges Argument.
»Telefonierst du nicht mit deinem Freund?«
Sie klappte den Mund zu, deutlich aus dem Konzept gebracht. »Doch ...
Doch, natürlich ...« Sie brach schluckend ab und senkte den Blick auf das Papier.
Sie log. Irritiert hakte er noch einmal nach: »Könnte er mehrere Tage
verschwunden sein, bevor du es merkst?«
Sie presste die Lippen aufeinander.
»Ich würde keine Ruhe haben, Sandra, wenn die Frau, die ich liebe ...«
Sie zog die Schultern ein und versteckte sich fast hinter der Aussage.
»Nicht ans Telefon geht.« Wie sie heute. Es hatte ihn fast in den Wahnsinn
getrieben. »Ganz besonders, wenn es ein tägliches Ritual ist.« Er ließ die
persönliche Note fallen. »Wie bei Walter und Vulpius, was ihre
Telefonrechnungen belegen. In der Woche jeden Abend um 22:15 Uhr, bzw. um
15:30 Uhr, wenn Walter Nachtschicht hatte.«
Sandra blätterte in ihrem Stapel. »Letzter Anruf am 25. März gegen 22:15
Uhr.«
»Und er hat sie noch nicht vermisst, als am 29. März die Kripo vor der Tür
stand.« Für ihn ein deutliches Indiz, dass etwas an der Geschichte zum Himmel
stank.
Sandra schüttelte erneut den Kopf. »Er sagt ...«
»Er hat zugegeben Mareike am 26. März getroffen zu haben. Damit konnten
wir Mareikes Verschwinden auf den Abend des 26. festlegen.«
Sie seufzte leise. »Zwei Tage.« Am Abend des 28. war sie tot gewesen und
Kramer vermutlich auf dem Weg, ihre Leiche irgendwo abzulegen. »Ab wann
würdest du dir Sorgen machen?«
Das Papier in ihren Händen knitterte. »Das kommt wohl drauf an ...«,
murmelte sie mit belegter Stimme. »Ich nehme an, es gibt eine Erklärung ...«
»Worauf?« Sie würde noch die Akten zerknittern.
»... für Herrn Walters verspätet Sorge?« Sie legte sorgsam die Bögen zur
»Du sollst nicht begehren ...«
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Seite und fuhr glättend darüber.
»Sie hatten sich gestritten und Walter hielt es für unklug sich damit
verdächtig zu machen.«
»Ah«, machte sie. Ihre Hände verschränkten sich in ihrem Schoß und seine
Augen folgten. Er konnte gar nicht anders, als an die abschließende Spitze ihrer
halterlosen Strümpfe zu denken. Der Mund wurde ihm trocken und seine Lage
unleidlich. Wenn sie nicht böse auf ihn wäre, müsste er sich nicht mit der
Vorstellung begnügen, die ihn ohnehin nur in unpassenden Momenten störte.
Besser, er blieb bei der Sache. Oder zumindest bei einem Thema, das keinerlei
erotischen Hintergrund besaß.
»So habe ich es herausgefunden. Ich konnte Jen nicht erreichen. Ich habe
überall herumtelefoniert und bin schließlich herumgefahren. Keine Ahnung,
warum ich Bauers Jagdhaus ansteuerte ...«
Sie sah auf. Zunächst überrascht, dann schlich sich Ärger in ihre Miene.
»Was hat er gesagt, Sandra? Was war seine Begründung für unsere
gegenseitige Abneigung?«, fragte er, plötzlichen tatsächlich brennend
interessiert, obwohl es ihn bisher vollkommen gleich gewesen war. Hatte Bauer
Jen erwähnt? Und Steffi? Sie hob ihr Kinn und er begegnete ihren aufgebrachten
Augen.
»Nichts!«, behauptete sie und stand auf. »Ich denke, wir sind fertig.«
Patrick kam auf die Füße und korrigierte: »Wir haben nicht einmal
angefangen.«
Sie presste die Lippen aufeinander.
»Das weißt du.« Sie war hin und her gerissen. »Walters Aussage. Kramers
psychiatrisches Gutachten. Sein Verhör ...«, zählte er leise auf. Sandra schloss
die Arme um sich, den Blick zu Boden gerichtet. »Aussagen von Freunden und
Bekannten. Wir haben noch einiges durchzusehen. Ich komme gerne für den
Rest der Woche ins Büro, auch wenn andere Arbeit dafür liegen bleiben muss.«
Sie schloss die Lider. Sie würde nachgeben. »Er hat es nicht erwähnt«,
murmelte sie. »Und ich habe nicht gefragt.« Sie wendete das Gesicht ab.
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Nicht gefragt, wie seltsam. Ihn hätte es interessiert. Brennend. Sie legte sich
die Hand auf den Bauch.
»Was hast du gegessen?«
Sie stöhnte herzzerreißend. »Das geht Sie nichts an!«
Wohl nicht. »Du hast doch gegessen?« Kein Frühstück, zumindest nicht zu
Hause und ihre Mittagspause lag nun bereits mehr als acht Stunden zurück. »Wir
bestellen was. Pizza?«
»Ich bin nicht hungrig«, schlug sie aus und deutete zur Küche. »Ich brauche
...«
»Tee?«
Sie schüttelte den Kopf. »Kamillentee, gut für einen aufgebrachten Magen.«
Sie atmete zischend aus. »Ich habe keinen Kamillentee.«
Er grinste, sie hatte Kamillentee. »Setz dich. Gib mir einen Moment, dann bin
ich wieder ganz für dich da.«
Sandra gähnte hinter vorgehaltener Hand. Ihr Haar hatte sich aus ihrem Dutt
gelockert und einzelne Strähnen rahmten ihr schmales Gesicht ein. Sie blinzelte
und versuchte sich wieder auf die Aussage zu konzentrieren, die sie nun
sicherlich zum fünften Mal las.
»Unauffällig«, fasste Patrick zusammen. »Freundlich, ordentlich,
unscheinbar. Laut seinem Arbeitgeber: pünktlich, fleißig und immer bereit
Überstunden zu leisten.«
»Einzelgänger«, murmelte Sandra und legte seufzend den Bericht zur Seite.
»Richtig. Introvertiert ...«
Sandra verdrehte die Augen. »Wohl eher ein Psychopath.«
»Keine Wertung, Frau Staatsanwältin.« Er verkniff sich ein Grinsen. Sie warf
ihm einen spitzen Blick zu.
»Fakten. Oder nicht? Und vergessen wir nicht: Wir gehen von der
Unschuldsvermutung aus.«
Sie presste die Lippen aufeinander. »Fein! Also introvertiert.« Sie gähnte
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erneut.
»Wir sollten Schluss machen für heute«, schlug Patrick vor. Es brachte
nichts. Sie war müde und die Nacht ohnehin halb vorbei.
Sie seufzte erneut und schob die Papiere zusammen.
»Du bist müde.« Patrick stand auf und reichte ihr die Hand, um ihr
aufzuhelfen. »Geh ins Bett.«
»Es ist noch viel zu viel zu tun, als dass ich ...«, schlug sie aus und kritzelte
etwas auf ihren Block.
»Du kannst kaum noch die Augen aufhalten«, unterbrach Patrick ruhig und
wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht. »Du kannst nichts mehr aufnehmen. Du
liest zum fünften Mal den Bericht über Kramers ...«
»Es ist kompliziert«, rechtfertigte sie sich zu ihm auf sehend.
»Psychologen-Latein.«
»Womit du gewöhnlich keine Probleme hast, oder?«
Ihre verkniffenen Lippen waren Antwort genug. »Morgen, Sandra. Du hast
doch nicht damit gerechnet es heute durchzubekommen?« Er beugte sich vor
und ergriff ihre Hand, um die auf die Füße zu ziehen. »Geh schlafen. Ich räume
das Chaos auf.«
Sie blinzelte, schüttelte den Kopf und entzog ihm die Hand. »Nein!«
»Einen Stapel für die bearbeiteten und einen ...«
»Nein! Sie werden gehen!« Sie wich vor ihm zurück, als erwartete sie einen
Übergriff. Sandra verschränkte die Arme vor der Brust.
»Nein.« Sie riss die Augen auf. Panisch?
Patrick hob die Hände. »Sandra, beruhige dich.«
Sie hob das Kinn. Ihre Augen flammten auf. »Ich will, dass Sie gegen,
Hauptkommissar Schulte-Henning.«
»Ich kann nicht. Ich lasse dich nicht allein, solange Tramitz dort draußen auf
dich lauert.«
Sie hob ungläubig die Braue.
»Selbstverständlich können Sie ...«, murmelte sie und wich weiter zurück.
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»Es dauert Monate bevor ...«
Faktisch war es so. Bis aus einem Stalking-Fall ein Delikt für das Gericht
wurde, konnte eine Ewigkeit vergehen. Jahre, wenn man Pech hatte.
»Die Blume war für dich abgegeben worden. Sandra Bresinsky. Er kennt
deinen Namen, weiß wo du arbeitest ... Warum nicht auch, wo du wohnst?«
Sie senkte den Blick.
»Du wohnst hier allein. Dein Essen ... Lieferservice, oder bringst du dir was
mit? Tiefgarage. Dunkel, unübersichtlich ... Bestens geeignet für einen Überfall.
Wer vermisst dich? Wie schnell?« Patrick schüttelte einmal mehr den Kopf. »Ich
lasse dich nicht allein.«
Sandra erbleichte und er befürchtete zu wissen, was das Problem war.
»Ich schlafe auf der Couch. Du brauchst keine Angst haben. Du willst mir
keine Chance geben, ich muss das akzeptieren.«
Sie stutzte.
»Du brauchst nicht befürchten ... Du kannst dein Zimmer abschließen.«
Er suchte ihren Blick. »Ich werde dich nicht küssen, nicht mit dir schlafen,
okay? Nicht, wenn es nicht dein ausdrücklicher Wunsch ist.«
Sandra drehte ihm den Rücken zu. »Da können Sie lange warten!«
So lange, wie darauf, dass sie seinen Vornamen benutzte?
»Gut. Also ... Hast du eine Decke übrig?« Er wendete sich selber ab und
inspizierte die Couch. Sicherlich nicht die bequemste Art die Nacht zu
verbringen. Er seufzte. Ihr Bett wäre bequemer.
»Sie werden nicht ...«
»Ich verspreche es, Sandra.«
Sie atmete tief ein. »Es gibt Decken, Laken und zusätzliche Kissen im Fach
...« Sandra trat an ihm vorbei. Sie schob die Sitzfläche zu sich, kniete sich auf die
Couch und beugte sich vorn über. Patrick biss die Zähne zusammen. Was für ein
Idiot er war. Ihr Hinterteil vor Augen wurde ihm dies deutlich klar. In ihrem engen
Kostümrock war er verdammt verführerisch. Sandra klappte die Rücklehne um
und rutschte dann von der Couch, um das Laken auszuschlagen.
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»Ich werde abschließen«, erklärte sie, als sie fertig war.
»Gute Nacht, Sandra.«
Sie hob den Blick, um seinen zu begegnen und schluckte. Sie stand vor ihm,
so nah, dass er ihren Puls an ihrem Hals ausmachen konnte.
»Ich warne Sie ...«
»Gute Nacht, Sandra, schlaf gut.«
Sandra ließ den Kopf sinken und legte die Stirn auf den Stapel Akten vor ihr.
Sie würde niemals fertig werden. Zu allem Überfluss war sie auch noch
hundemüde. Sie hatte kaum ein Auge zu getan in der letzten Nacht, obwohl sie
ihre Zimmertür verriegelt hatte. Sie schloss die Lider. Nur einen Moment. Nur
einen kleinen Moment.
»Das sieht nicht bequem aus.«
Sandra schreckte auf und riss dabei den Stapel um. Ana DaSilva lehnte im
Rahmen, und betrachtete das Chaos mit Amüsement.
»Ich wollte nur ...«, rechtfertigte sich Sandra und schob das Papier
zusammen.
»Die Augen rasten? Dein Polizeiprügel hält dich wohl die Nacht über wach,
hm? Es ist doch Schulte-Henning und nicht Bauer?« Ana hob eine Braue. »Du
solltest dich entscheiden, weißt du.«
Sandra schnaubte verdrossen. »Hast du nichts zu tun?«
»Mittag, Sandra, wir sind verabredet, oder ...«
»Ana! Hör auf damit! Da ist nichts zwischen Hauptkommissar
Schulte-Henning und mir!« Sandra zog die Schultern hoch. Es klang wie eine
Lüge. »Ich kann nicht raus. Macht es dir etwas aus, heute die Cafeteria ...«
Sandra bückte sich nach ihrer Tasche.
»Meinetwegen. Termine, oder möchtest du den Rest der Pause für
Hüftübungen nutzen?« Sie zwinkerte und Sandra schob sie aus der Tür.
»Du vielleicht, ich mit Sicherheit nicht!«, murrte sie. »Und jetzt lass das bitte.«
Ana zuckte die Schultern. »Schön. Also, raus mit der Sprache. Was war
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los?« Sie hakte sich bei Sandra unter und beugte sich rüber. »Du sollst gestern
ein heißes Date gehabt haben.«
Sandra rollte die Augen. Natürlich wusste Ana bereits von den Blumen und,
dass Schulte-Henning sie nach Hause gebracht hatte. Sie verfluchte Markus für
seine Schwatzhaftigkeit. »Rede keinen Unsinn!«
»Ziegler? Ach herrje, du musst verzweifelt sein.« Ana zwinkerte erneut. »Und
Bauer und Schulte-Henning hast du stehen gelassen.«
Sandra biss sich erschrocken auf die Lippe. »So ein Unsinn.«
»Warst du nicht mit ihm essen?«
Sandra stöhnte verzweifelt und gab es zu. »Mittagessen, Ana.«
»Und Schulte-Henning?«, flüsterte Ana in ihr Ohr. »Gib es zu!«
Sie blieben vor dem Fahrstuhl stehen.
»Nur, was deine dreckige Fantasie ...« Ihr Handy klingelte und Sandra brach
zusammenzuckend ab. Ihre Finger zitterten, als sie sie auf die Tasche legte.
Nicht schon wieder. Peter malträtierte sie mit Anrufen. Sie hatte am Morgen
ausgeschlagen die Akten in seinem Büro durchzugehen und ihm stattdessen
jede bearbeitete zu geschickt. Und jedes Mal gab es einen Anruf. Mal fehlte eine
Konklusion, mal war ihm die Ausführung zu dilettantisch, dann zu Expertisenhaft.
Sie wollte gar nicht wissen, was nun das Problem war.
»Willst du nicht dran gehen?«, fragte Ana und drückte den Rufknopf.
»Vielleicht ist es wichtig?«
Natürlich musste sie abnehmen. Sandra fischte nach ihrem Samsung mini
und hielt den Atem an. Ihr Daumen fuhr über das Display und sie drückte das
Handy an ihr Ohr.
»Sandra?«
»Schulte-Henning?«, fragte sie überrascht. Der hatte ihr noch gefehlt. Die
Fahrstuhltür glitt auf und Ana schob sie in den Wagon.
»Ich habe etwas Zeit. Sollen wir weiter machen? Beim Mittagessen?«
Sandra atmete zischend aus. »Ich bin bereits verabredet.« Die denkbar
ungünstigste Antwort. Sie schloss die Augen. Sie hatte Ana auch noch Munition
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gegeben!
»Bauer?«, knirschte Schulte-Henning angespannt. Immer dieselbe Frage!
»Ja.«
Sie legte auf. Ihre Finger zitterten immer noch, als sie das Gerät in seinem
Fach verstaut hatte und Anas wissendem Blick begegnete.
Ihr Handy klingelte.
»Da wirst du ran müssen, hm«, kommentierte Ana trocken. Der Lift hielt und
Sandra folgte der Kollegin blind, während sie ihr Telefon wieder hervor kramte.
»Was wollen Sie?«, zischte Sandra und stolperte fast bei der Antwort:
»Essen. Ich stehe vor deinem Büro, wo zum Teufel bist du?«
Sandra rann ein Schauer über den Rücken. »Ich mache Mittagspause«,
brachte sie hervor. Sie wendete Ana den Rücken zu, damit sie nicht in ihrer
Miene lesen konnte. Nicht sicher, was sie verstecken wollte.
»Gut, ich komme nach. Wo bist du?«
Ihre Hände wurden feucht und sie musste schlucken, bevor sie eine Antwort
hervor brachte.
»Nein. Ich bin bereits verabredet. Ich schaffe heute noch die
Zusammenfassung ...«
»Mit wem bist du zusammen? Hältst du mich für einen Idioten? Du kommst
auf der Stelle in mein Büro!«, verlangte Peter harsch und ließ ihr keine Chance
zu einem Widerspruch. Er legte auf. Sandra presste das Handy schaudernd
weiter an ihr Ohr. Was sollte sie tun?
»Sandra?«
Sie drehte sich um und ließ dabei die Hand mit dem Telefon fallen. Ana
berührte sie am Arm.
»Du bist ganz blass.«
»Ich kann nicht mitkommen«, murmelte Sandra. Ihre Knie wurden weich.
Gott, sie wollte nicht zu ihm gehen müssen.
»Ach?«, stellt Ana fest, hob eine ihrer dicken, schwarzen Brauen und
schüttelte dann ihre schwarze Mähne. »Ich glaube, du wirst mitkommen. Du
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brauchst eine Stärkung.« Sie schob ihre Hand wieder unter Sandras Arm und
zog sie bestimmend weiter. »Hast du gefrühstückt? Bestimmt nicht. Himmel, du
brauchst was in den Magen!«
Sandra korrigierte sie nicht. Sie hatte gefrühstückt. Sie war aufgestanden, als
die Sonne aufging, sicher ohnehin kein Auge mehr zu tun zu können und
schlaftrunken ins Badezimmer getorkelt. Und wieder hinaus, bei dem Anblick, der
sich ihr bot. Schulte-Henning war ihr grinsend gefolgt. Das Haar trocken rubbelnd
und ansonsten absolut nackt.
»Also, was soll es sein?«
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Kapitel 11 - Die Akte Kramer
Patrick wartete. Sie hatte ihn gebeten, nicht zu ihr ins Büro zu kommen. Er
wusste warum. Aus demselben Grund, wie sie sich weigerte mit ihm Mittagessen
zu gehen, oder die Akten in ihrem Büro durchzugehen. Er knirschte mit den
Zähnen. Es sei schlimm genug, dass sie in seinen Wagen steigen würde.
Idiotisch. Sie waren erwachsen und es ging niemanden etwas an, ob sie
miteinander schliefen, oder nicht. Natürlich wusste er, wer es nicht wissen sollte,
wenn es nach Sandra ging. Bauer. Er ballte die Hände. Es machte ihn schlicht
wahnsinnig. Warum Bauer? Was fand sie nur an ihm?
Sie war zwei Stunden lang nicht zu erreichen gewesen. Er hatte schließlich
den Wachdienst angerufen, um abzuklären, dass Sandra tatsächlich im Haus
war. Er hatte sie gebeten, das Gericht nicht ohne seine Begleitung zu verlassen.
Sein Blick wanderte über den Vorplatz zum Amtsgericht. Eine Säule stand in der
Mitte und brach das Sonnenlicht, das ebenfalls von dutzenden Fenstern
reflektiert wurde. Es tauchte den frühen Abend in einen goldenen Schein. Und
mit ihm Sandra, als sie aus dem Haupteingang trat und die Treppe herunter kam.
Das Licht umflirrte sie. In der Mitte der Treppe blieb sie stehen und sah auf. Ihre
Blicke trafen sich und Patrick zwang sich, einzuatmen. Er war ein Idiot ohne
Frage. Und das Schlimme: Es war ihm gleich. Es war ihm gleich, dass es nur im
Desaster enden konnte. Er hielt ihr die Tür auf, was sie mit einem scheelen Blick
quittierte.
»Danke.«
Patrick warf die Tür ins Schloss und stieg selbst ein. »Hungrig?«, fragte er,
den Wagen startend. Sie seufzte gequält. »Nein.«
»Worauf hast du Lust?« Er legte den Gang ein und sah erneut zu ihr hinüber.
Sie riss die Augen auf, überrascht und sichtlich empört.
»Auf Sie jedenfalls nicht!« Die Jade in ihren Augen blitzte. Schade.
»Appetit, Sandra. Wir können noch einkaufen und uns etwas Schönes
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kochen. Was hältst du von Pizza?« Er setzte den Blinker und bog auf die
Kaiserstraße ab. Aus dem Augenwinkel verfolgte er, wie sie den Kopf schüttelte.
»Es muss einen anderen Weg geben«, knirschte sie. Sie brauchte es nicht
ausführen, er wusste, worauf sie hinaus wollte.
»Wir haben noch jede Menge Arbeit, Sandra. Selbst wenn Tramitz kein
Problem wäre ...«
Sie sah angespannt aus dem Fenster.
»Warum sind Sie sich so sicher, dass es Tramitz war? Die
Wahrscheinlichkeit, dass ...«, hob sie fest an und bewies ihm, dass sie einiges an
Überlegung in dieses Gespräch investiert hatte. Sie war mit dem absoluten
Willen in seinen Wagen gestiegen, ihn loszuwerden. Patrick schluckte die
Bitterkeit herunter. »Weil ich seine Akte geöffnet habe.«
Ihr Kopf fuhr zu ihm herum.
»Das ist unmöglich.« Sie flüsterte es nur. »Die Akte ist ...« Sie biss sich auf
die Unterlippe. Es gab also noch eine Akte, vermutlich eine versiegelte. Der Täter
noch nach Jugendrecht verurteilt, demnach war das Vergehen älter als elf Jahre.
Es tut mir leid, Liebling. Lass uns von vorne beginnen.
»Dann haben Sie ihn erkannt.«
Sie brauchte keine Bestätigung. Abgewendet schloss sie die Augen,
vermutlich um Tränen zurückzuhalten.
»Das war nötig, Sandra, um den Tatbestand zu verifizieren. Ohne die
Identifizierung wäre ...«, erklärte Patrick aus dem Gefühl heraus, dass sie es ihm
unnötig übel nahm, sich informiert zu haben. Es war nötig gewesen, nicht bloß
Neugierde.
»Kein hinreichender Tatverdacht«, murmelte sie erstickt. »Auch so ... braucht
es einen mitfühlenden Richter, um die Verfügung zu erwirken.«
»Ganz so trostlos ist es nicht, Sandra. Bei der Vorgeschichte und der Blume
... Allein die wäre doch bereits begründeter Tatverdacht gewesen.« Er bog auf
den Parkplatz ab.
Sandra schüttelte den Kopf. »So einfach ist es leider nie.« Sie schnallte sich
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ab, stieg aber nicht aus. »Selbst solange die Verfügung wirksam ist, ist es nicht
so einfach. Man muss die Bedrohung nachweisen. Selbst die sms sind
manchmal nicht ausreichend. Oder die Briefe. Faktisch muss man bei jeder
Verfügung von vorne anfangen.«
»Was war anders? Warum wurde er verurteilt?«
»Die Kameras, außerdem wurde ich verletzt. Er hat das Stalking
eingestanden, das minderschwere Verbrechen.« Sie atmete tief ein. »Zumindest
bekam er den Höchstsatz.«
»Was ist passiert?« Patrick schnallte sich auch ab.
»Ich habe ihn ertappt, in meinem Zimmer im Studentenwohnheim.« Sie
presste die Lippen aufeinander. Das war nicht alles, zumindest nicht laut ihrer
Aussage aus der anhängigen Fallakte. Sandra schüttelte den Kopf. »Es ist
gleich. Ich bin nicht in Dortmund gemeldet. Er weiß nicht, wo ich wohne. Es ist
absolut unnötig ...«, fuhr sie fest fort und hob den Blick. »Dass Sie rund um die
Uhr ...«
»Kaum zehn Stunden«, unterbrach Patrick. »Und ich wiederhole es gerne: Er
weiß, wo du arbeitest, dir nach Hause zu folgen, ist sicherlich keine
Herausforderung. Außerdem: Es war bestimmt kein Zufall, dass Tramitz in einem
Lokal auftauchte, in dem du warst.«
Sie musste schlucken, bevor sie hervorhob: »Das ist lediglich eine
Vermutung. Genauso gut ist es möglich, dass ...«
»Du einfach zu viel getrunken hattest und tief in deinem Inneren eigentlich
mit mir schlafen wolltest?«, fragte er trocken. Sie musste unheimlich verzweifelt
sein, um nach diesem Strohhalm zu greifen. »Butter bei die Fische, Sandra. Was
ist das Problem?«
Sie machte nicht den Anschein antworten zu wollen. Patrick seufzte.
»Bauer?« Natürlich war er ein Problem. »Er wird dir wohl kaum anbieten ...«
»Es geht Sie nichts an!«, zischte Sandra und stieß die Tür auf. Er folgte ihr.
»So?«, murmelte er mehr für sich selbst. »Vielleicht nicht, darum geht es
auch nicht. Es geht um deine Sicherheit.« Er folgte ihr in den Laden, wo sie nach
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einem Korb griff, den er ihr abnahm.
»Das sagen Sie.«
»Es ist so«, wiederholte Patrick. »Bananen? Was hältst du von
Pfannkuchen.«
Sie schnaubte und ließ ihn stehen.
»Ich beschütze dich, Sandra. Es ist nötig. Und wenn du mich fragst, solltest
du dich auch von Bauer fernhalten. Er ist nicht gut für dich.«
Er blieb an der Kühltheke stehen.
»Lassen Sie mich raten: Sie wären gut für mich? Darf ich fragen inwiefern?
Was unterscheidet Sie so maßgeblich von Peter? Dass Sie kochen können?«
Sie hob eine Braue und griff selbst nach einem Joghurt, der große Bauer, und
drückte ihn ihm in die Hand. Patrick stellte ihn zurück.
»Zum Beispiel. Also? Pfannkuchen, Pizza oder lieber einen Salat?«
»Salat?«
»American oder French Dressing?«
Sie schnaubte erneut und ließ ihn stehen. Er entschied sich für das French
Dressing und folgte ihr dann. Auf dem Weg packte er noch einige andere Dinge
in den Korb. »Feld-, Kopf- oder Rucola? Magst du es scharf? Ich liebe
Radieschen.«
»Sie sind ein Schwein«, stellte Sandra ruhig fest.
»Radieschen. Peperoni. Oliven.« Patrick schüttelte den Kopf. »Curry,
Kukuma ... Das habe ich gemeint. Sandra, du hast wirklich ein Problem. Magst
du dich für eine Kohlsorte entscheiden? Was hältst du von Käse? Magst du
Ziegenkäse?«
Sandra fischte nach Rucola und Radieschen. »Mir ist Mozzarella lieber.«
»Also Mozzarella. Was möchtest du morgen essen?«
Sie richtete die Augen zur Decke und er konnte nur vermuten, dass sie
innerlich fluchte. »Schweinshaxe mit Semmelknödel und Speckbohnen.«
Patrick lachte auf. »Sehr schön. Etwas aufwendig für einen Donnerstag, aber
dein Wunsch ist mir Befehl.« Er unterdrückte ein Grinsen. »Allerdings passt
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Sauerkraut doch viel besser zur Schweinshaxe.«
»Ich mag kein Sauerkraut.« Sie rollte die Augen. »Meinetwegen Pizza. Es ist
mir völlig egal. Ich brauche nicht ständig etwas zu essen.«
»Da liegst du falsch. Ständig auf eine oder mehrere Mahlzeiten zu verzichten
ist ungesund. Du solltest ...« Patrick brach ab. Vermutlich war es nicht der beste
Zeitpunkt für Kritik an ihrem Lebensstil. »Zu sauer?«
Sandra blinzelte verwirrt.
»Das Sauerkraut. Vielleicht habe ich da eine Idee.« Er zwinkerte ihr zu.
Sie hob die Hände. »Ich habe genug. Geben Sie mir den Schlüssel, ich setze
mich ins Auto.«
»Mir fehlen nur noch Kleinigkeiten, einen Augenblick.«
Sandra unterdrückte ein Gähnen und schlug die Akte zu. Sie griff nach der
Nächsten, die ihr aus den Fingern glitt. Fotos ergossen sich vor ihr. Lena-Sophie
Maier. Tatortfotos. Das Gesicht zur Unkenntlichkeit zerschnitten. Sie runzelte die
Stirn. Mareike Vulpius Akte hatte sie nicht da. Sie stand auf. Ihr Handy war in der
Tasche und die stand im Flur. Dort warf sie einen Blick in die Küche.
Schulte-Henning sah auf und grinste sie an.
»Hungrig?«
Einen Moment war sie vollkommen sprachlos. Ihr Magen krampfte sich
zusammen und ihr wurde schummrig. Sie schluckte und schüttelte den Kopf.
»Die Bilder ... Ich wollte sie vergleichen.« Der Computer eignete sich dazu
viel besser. Sie sah auf ihr Handy herab.
»Tee?«
Sandra schloss die Augen. »Ja. Ja, bitte.«
Er stand vor ihr, sie konnte es spüren, noch bevor er sie berührte. Nur ganz
kurz. Er streichelte über ihre Wange.
»Setz dich. Wir können essen. Du solltest dir keine Bilder auf nüchternen
Magen anschauen.« Sie schluckte erneut. Vermutlich hatte er recht. »Also gut.«
Er schob ihr den Hocker zu.
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»Welche Bilder wolltest du vergleichen?« Er setzte sich ihr gegenüber.
»Tatortbilder? Ich habe ein Update bekommen.«
»Von den beiden Leichen aus Balve?«
»Das Tattoo, zum Beispiel«, gab Schulte-Henning an und häufte ihr Salat auf
den Teller. »Ich habe noch keinen Blick darauf geworfen ...«
»Ich wollte die Verletzungen der Gesichter vergleichen.« Sie runzelte die
Stirn. »Ich bin der Meinung, dass sie bei Lena-Sophie Maier und Mareike Vulpius
... ähnlich waren. Deutlich ähnlich. Ich meine, so wie eine Handschrift.«
»Hm«, brummte er und kaute auf seinem Grünzeug rum.
Sandra senkte den Blick. Er hielt sie wohl für dämlich. Ähnlich! Sie schluckte.
»Das hört sich ... blöd an, ich weiß.«
»Keineswegs. Hast du einen bundesweiten Abgleich gestartet, oder nur
einen lokalen.« Er hob fragend eine Braue. Verblüfft blinzelte Sandra. »Ich ...
Lokal.«
»Vielleicht solltest du sie bundesweit ausdehnen.« Er zuckte die Achseln.
»Wenn nichts bei rum kommt ... auch gut.«
Sandra ließ die Gabel sinken.
»Immerhin hat Kramer in den letzten zehn Jahren keine zwei Jahre am
gleichen Ort verbracht.« Er zählte Kramers Wohnsitze auf. Kaum zwei in einem
Bundesland. »Hessen, Bremen, Bayern, NRW, Sachsen, Schleswig - Holstein
und wieder NRW.«
»Immer in einer Großstadt, mit Ausnahme seines letzten Wohnsitzes,
Hamm-Hessen.«
»Es gab keine vergleichbaren Vergehen in Hamm und Umgebung«, stellte er
klar. »Nicht einmal ansatzweise. Keine Entführungen, keine verdächtigen
Todesfälle in den letzten fünfzehn Jahren, das habe ich gleich geprüft.«
Sandra nickte und schob die Tomate auf ihrem Teller herum. Wunderte es
sie, dass er dies tatsächlich abgeklärt hatte?
»Aufgewachsen in Marl und Kamp Lindfort, nicht wahr?«
»Zwölf bis siebzehn. Er hat Vorstrafen. Diebstahl, Nötigung und
»Du sollst nicht begehren ...«
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Körperverletzung.«
Sandra hielt inne. »Sie haben seine Jugendstrafakte angefordert?« Davon
hatte sie nichts mitbekommen. Er zuckte die Schultern. »Ein Anruf reicht
manchmal.«
Sie klappte den Mund zu. Das war entsetzlich! »Weiß Peter, dass ...«
Er ließ die Gabel sinken, die gerade auf dem Weg zu seinem Mund war.
»... die Information ...« Nicht gesichert war. Wenn sie Kramers Vorstrafen im
Prozess verwendeten, ohne eine offizielle Quelle zu haben, konnte es
verheerende Nachwirkungen haben! Besser sie forderte die Jugendakte selbst
an.
»Glaube mir, Bauer ist es gleich, wo seine Informationen herkommen.«
Sandra biss sich auf die Zunge. Sie konnte es nicht einmal bestreiten. Fakt
war, dass Peter häufig Dinge nicht nach Lehrbuch machte.
»Keine Eintragungen mehr nach seinem Umzug nach Schwerin.«
Ignorier es einfach, hielt sie sich vor. Es war gleich, sie würde sich darum
kümmern.
»Haben Sie eine Verbindung zwischen den Frauen und Kramer gefunden?«
Schulte-Henning schüttelte den Kopf. »Keine. Was nicht heißt, dass auch
keine bestand. Lena-Sophie stand in dem Ruf, nichts anbrennen zu lassen.«
Sandra runzelte die Stirn. »Laut ihrer Familie war sie häuslich und
zurückhaltend.«
Schulte-Henning hob bezeichnend eine Braue. »Ihrem Verbindungsnachweis
nach hatte sie Kontakte zu zwei Dutzend Männern. Kein geringer Teil davon gab
in der Befragung an, sie deutlich besser zu kennen, als ich dich.« Er zuckte die
Schultern. »Selbst ihre Schwester räumte ein, dass Lena-Sophie nicht ganz so
brav war, wie ihre Eltern es glaubten.«
Nicht ganz so brav ... Sandra schauderte es. »Dann hat sie es wohl
verdient«, zischte sie, auf ihren vollen Teller starrend. So wie sie es nicht besser
verdient hatte.
»Sie wurde entführt, gefangen gehalten, vergewaltigt, verstümmelt und
»Du sollst nicht begehren ...«
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schließlich umgebracht«, zählte Schulte-Henning auf. »Eine etwas übertriebene
Ahndung für einen promisken Lebensstil. Letztlich geht es niemanden etwas an,
mit wem sie schlief, oder wie oft sie ihren Partner wechselte.«
Sandra stiegen Tränen in die Augen. »Plötzlich so weltoffen?« Sie schob den
Teller fort, illusorisch, davon noch etwas essen zu können! Sie presste die
Lippen aufeinander. Wenn sie ihn nur endlich los wäre!
Er legte die Gabel beiseite. »Du vergleichst Äpfel mit Birnen«, stellte er ruhig
fest, obwohl ein Blick in sein Gesicht seine Angespanntheit bewies.
»Ich vergleiche ...« Ihre Stimme brach. Er griff nach ihrer Hand.
»Meinetwegen kann jeder tun und lassen, was er will, solange er weder mit
dem Gesetz in Konflikt gerät, oder jemand anderen verletzt!«
Sandra versuchte, ihre Hand zu befreien. »Ich ...«
»Wie Bauer!«, unterbach er ihre angesetzte Verteidigung. Sein Griff um ihr
Handgelenk wurde fester. Seine blauen Augen gleißten auf. »Du bist naiv, wenn
du glaubst ...«
»Lassen Sie mich los!«
Er klappte den Mund zu. »Was weißt du von ihm? Gott, Sandra, ich wette, du
weißt mehr von mir, als von ihm!« Er ließ sie los. »Iss etwas. Lauf nicht wieder
weg, nur weil ...«
Sie ließ ihn sitzen.
»Sandra! Verdammt nochmal, du kannst nicht jeder Konfrontation
ausweichen! Du kannst nicht ständig ...«
»Noch ein Wort und ich schwöre Ihnen, ich rufe die Polizei!« Welch dämliche
Drohung. Aber mittlerweile war ihr alles recht, wenn er nur den Mund hielt. Sie
wollte nichts mehr hören. Ihr Magen schmerzte. Sie hatte noch so viel Arbeit, sie
musste noch so viel mit ihm durchgehen, und wollte sich eigentlich nur in ihrem
Bett vergraben. Aber Arschloch, das er war, ließ er sie natürlich nicht in Frieden.
Das hätte dem Sadisten im Himmel auch nicht gefallen!
»Iss noch etwas. Ich lasse dich in Frieden, in Ordnung? Ich verliere kein Wort
mehr darüber. Du bekommst noch ein Magengeschwür, wenn du ...«, beharrte er
»Du sollst nicht begehren ...«
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und brach erst ab, als die Tür vor seiner Nase ins Schloss fiel.
Patrick schloss die Augen. Sie brannten vor Müdigkeit. Es war mitten in der
Nacht und die einzige Lichtquelle in dem abgedunkelten Zimmer war der flirrende
Monitor von Sandras PC. Sie kauerte davor, eine kleine Ewigkeit bereits. Ihre
Beine waren angezogen und vor sich auf den Bürostuhl gequetscht. Es sah
schrecklich unbequem aus, trotz ihres flauschigen Bademantels. Sie starrte auf
den Bildschirm, verglich die Fotos von Lena-Sophie Maier und Mareike Vulpius,
mit gekrauster Stirn und verkniffenen Lippen. Patrick versuchte sich lautlos zu
drehen. Er wollte nicht auf ihren Anblick verzichten, so müde er auch war. Es war
entspannend sie zu betrachten. Beruhigend. Sie zoomte ein Bild heran und
Patrick erkannte es trotz der Entfernung. Sie beugte sich vor, ließ dann plötzlich
die Füße herab und stand auf. Patrick kniff schnell die Augen zu und fuhr
überrascht zusammen, als sie ihn berührte.
»Kommissar Schulte-Henning ...«
Sie kniete vor ihm. Ihr Haar war lose im Nacken gebunden und einzelne
Strähnen ringelten sich um ihr schmales Gesicht. Das grelle Monitorlicht machte
sie gespenstisch bleich und doch war sie schlicht verführerisch.
»Entschuldigen Sie ...«
Alles!
»Dass ich Sie geweckt habe. Sie sagten, dass Sie die aktuellen Daten zu
dem Balve-Fall haben. Ich weiß, es ist spät, aber dürfte ich einen Blick darauf
werfen?« Sie biss sich auf die Lippe. Patrick wünschte sich, als Gegenleistung
um einen Kuss bitten zu können. Er richtete sich auf und sie wich zurück.
»Hast du gegessen?« Nicht halb so gut, aber immerhin etwas. Sandra war
einen Moment sprachlos, aber das sagte bereits alles.
»Iss und du kannst dir anschauen, was immer du willst.«
»Das ... Das ist Erpressung!« Sie klang verblüfft und er zuckte die Achseln.
»Für Vernunft bist du ja nicht zugänglich«, stellte Patrick fest. Sie schnaubte.
»Das stimmt nicht!«
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»Möchtest du dich streiten, oder ...« Sie verkniff die Lippen, aber sie würde
nachgeben.
»Sie sind ein Schwein«, stellte sie fest, während sie sich aufrappelte und ihm
Gleiches noch einmal mit ihren Augen sagte. Er folgte ihr erst in den Flur, wo er
seinen Laptop aus der Tasche zog, dann in die Küche. Sandra stand am
Kühlschrank.
»Was hältst du von Eiern? Wie spät ist es eigentlich?«, fragte Patrick den
Laptop aufklappend. Da er das Gerät selten ordnungsgemäß runter fuhr,
begrüßte ihn sein Bildschirmschoner. Er tippte sein Passwort ein.
»Mitten in der Nacht. Können Sie an nichts anderes als essen denken?«
Patrick sah auf in ihr entnervtes Gesicht und las in ihm seine Antwort: Er
dachte durchaus auch an eine andere Sache. Röte schoss ihr in die Wange und
sie versteckte sich wieder im Kühlschrank.
»Wir sollten schlafen«, stellte er gelassen fest. »Da wir aber ohnehin wach
sind, können wir auch ...«
»Sie können ruhig weiter schlafen!« Sandra stellte die Schüsseln neben sich
auf der knappen Abstellfläche ab und bückte sich, um einen Teller aus dem
Schrank zu nehmen.
»Wenn ich schon mal wach bin ...« Auf keinen Fall wollte er weiter so tun, als
schliefe er, wenn er genauso gut neben ihr sitzen konnte. Sandra drückte die
Lade mit der Hüfte zu.
»Was ist dir aufgefallen?«, fragte er nach, als sie sich zu ihm an den Tisch
setzte.
»Die zweite Leiche, die mit den gefärbten Haaren, ich glaube, die Schnitte
sind denen von Lena-Sophie und Mareike auffallend ähnlich.«
Patrick runzelte die Stirn und suchte in seinen Ordnern nach dem richtigen
Unterordner. Er öffnete eines der Nahaufnahmen.
»Inwiefern?« Sein Runzeln vertiefte sich. Wenn er sich nun nicht irrte, lag sie
vollkommen richtig. Merkwürdig, dass es ihm entgangen war.
Sie schluckte schnell. »Querschnitte, drei Mal von links oben nach rechts
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unten. Fast parallel, wenn man die Schnittkanten auf der Stirn als Anhaltspunkt
nimmt. Dann ebenfalls drei Mal von rechts oben quer über das Gesicht, wobei
die linke untere Seite fast unversehrt bleibt. Jeweils wurde die Nase in einer
Raute eingeschlossen ...«
Patrick zögerte noch kurz, schließlich waren die Aufnahmen nicht dazu
geeignet, den Appetit zu wahren, dann drehte er seinen Laptop. Sandra starrte
auf den Bildschirm. Sie schien völlig paralysiert und gleichzeitig zum Zerreißen
angespannt.
»Das kann doch nicht sein!«, hauchte sie schließlich und sah ihn mit
wachsendem Grauen an. »Kramer ... Es muss eine andere Erklärung geben!«
»Die gibt es.« Patrick war sich so sicher, wie er klang. Er hatte den Fall
ausgiebig untersucht, er hatte keinen Zweifel an Kramers Schuld.
Sandra schüttelte den Kopf. »Sehen Sie sich das Schnittmuster an ...«
»Ein Nachahmer«, unterbach er sanft. Sie nahm sich einen möglichen Fehler
zu sehr zu Herzen. Fehlurteile kamen vor. Nichts und niemand war unfehlbar.
Alles, was man tun konnte, war gewissenhaft bei den Fakten zu bleiben, so
schloss man einen Fehler nicht aus, minimierte aber die Möglichkeit falsch zu
liegen.
»Aber ...« Sie brach ab und schüttelte den Kopf.
»Die einzige Parallele. Vorstellbar ist ein Kumpan, der nun Zweifel an
Kramers Schuld säen möchte.« Er griff nach ihren zittrigen Fingern, um sie kurz
zu drücken. »Vergessen wir nicht, wie viel nicht zusammenpasst.«
Sie war nicht überzeugt.
»Der Fundort. Zwei Leichen, die Unstimmigkeiten mit ihnen ...«, zählte
Patrick auf. Ihre kühlen Finger wärmten langsam auf. »Es ist zu früh
Mutmaßungen ...«
»Sie sind noch immer nicht identifiziert.«
Und würden es wohl so schnell auch nicht werden. Die Identifikation eines
Opfers konnte unter guten Umständen Wochen brauchen, unter den
vorherrschenden, gut und gerne Monate. In dem Fall musste er Rainer mal in
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Schutz nehmen. »Sie stammen wohl nicht aus Balve oder der näheren
Umgebung.«
»Lena-Sophie lag drei Monate unidentifiziert in der Gerichtsmedizin«,
murmelte Sandra und schloss die Augen. »So viel Zeit haben wir nicht.«
»Die brauchen wir auch nicht. Wir gehen von unabhängigen Fällen aus. Dein
Hinweis war nicht schlecht, so wie die blonde Tote zugerichtet war, ist eine
Beziehungstat nicht auszuschließen. Wenn Rainer rausfindet, wer sie ist ...«
»So der Ablageort nicht Zufall war.«
Sie seufzte und zog ihre Hand zurück, um sie sich auf das Gesicht zu legen.
»Das Verfahren wird abgelehnt werden, wenn ...«
»Nicht, solange eine Verknüpfung der Fälle nicht nachgewiesen werden
kann. Und selbst dann ...« Konnte das Gericht entscheiden die Hinweise zu
ignorieren. »Wir haben starke Indizien. Eine Leiche in seinem Kofferraum. Die
mutmaßliche Mordwaffe. Ich glaube nicht, dass wir uns Sorgen machen
müssen.«
Sie stöhnte hinter ihren Händen. »Sie machen sich immer alles so einfach!«
»Du machst es dir nur unnötig schwer«, widersprach er belustigt. »Außerdem
liegt es an dir, ob du deine Beobachtung ...«
»Spinnst du?«, pflaumte Peter sie an und riss sie am Arm herum. »Willst du
meinen Fall boykottieren?«
Sandra zuckte zusammen. »Nein!« Es war mehr ein hohes Quieken, als ein
verständliches Wort, also versuchte sie es erneut. »Nein.« Er zog sie an sich.
Seine dunklen Augen fuhren grimmig über ihr Gesicht und sie hatte keine Mühe
ihm seinen Ärger aus der Miene zu lesen.
»Verarsch mich nicht! Erst bist du nicht mehr zu erreichen, dann weigerst du
dich zu mir zu kommen und jetzt torpedierst du meinen Fall!«
Sandra sackte das Herz in die Hose. Immerhin wild pochend. Ihre Hände
waren feucht und sie spürte jeden seiner Finger schmerzhaft in ihrem Fleisch.
»Ich musste es ansprechen«, verteidigte sie sich und versuchte seinen Griff
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an ihrem Oberarm zu brechen. »Die Verletzungen der einen ...«
»Scheiß auf die Verletzungen!«, spie Peter und trat endlich einen Schritt von
ihr fort. Er zerrte sie den Gang runter, weg vom Büro ihres Vorgesetzten. »Was
hat Patrick dir erzählt, dass du seine perfiden Pläne unterstützt? Herrgott! Und
ich dachte, du wärst besonders!«
Schon wieder Patrick. Was hat er gesagt, Sandra? Was war seine
Begründung für unsere gegenseitige Abneigung? Er hatte keinen genannt,
zumindest nicht explizit. Patrick sei ein Arsch, ein Lügner. Peter hatte ihn auch
inkompetent und Schluderhaft genannt, aber nie eine Begründung angeführt.
Sandra zog die Schultern hoch, um den Schauder zu vertreiben. Warum Patrick
Peter nicht ausstehen konnte, hatte der nicht verschwiegen. »Jen.« Sie biss sich
auf die Lippe, sie hatte es gar nicht laut aussprechen wollen.
Peter blieb schlagartig stehen. Sein Blick bohrte sich in sie. »Jen!«, spie er
mit einer Verachtung, die sogar jene übertraf, mit der er gewöhnlich
Schulte-Henning begegnete.
»Natürlich! Ich sage dir was, Sandy, Jen war ein Flittchen.«
Wieder bohrten sich seine Finger in ihren Arm.
»Er sollte mir dankbar sein, stattdessen stellt er es hin, als hätte ich ihm
seine große Liebe ausgespannt!« Er lachte Dröge auf, aber es klang alles andere
als amüsiert. »So ein Idiot!«
Ihre Zunge klebte an ihrem Gaumen. Sie hatte das Gefühl Widersprechen zu
müssen, konnte aber gleichzeitig kein Wort formulieren. »Hat er behauptet, sie
seien glücklich gewesen? Bis über beide Ohren verliebt? Dass sie heiraten
wollten und, dass ich alles kaputtgemacht hätte?« Seine Lippen bogen sich in
einem zynischen Lächeln. »Nun, heiraten wollte sie ihn ganz sicher! Sie gefiel
sich in der Rolle der Arztgattin. Sie drängte Patrick geradezu danach, in die
Chirurgie zu gehen. Träumte von den Annehmlichkeiten a la Gsell zu leben! Aber
der Idiot wollte in die Pathologie. Da ist kein großes Geld zu verdienen, Sandy,
und sicherlich nicht genug, um Jens Bedürfnissen gerecht zu werden. Sie hatte
einen teuren Geschmack. Louis Viton, Joop, Lagerfeld ... Patrick hat nie
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begriffen, was sie tatsächlich war: eine raffgierige Schlampe!«
Sandra zuckte zusammen, wagte aber nicht den Blick abzuwenden. Peter
war noch nicht fertig mit seiner Schmährede.
»Es war nicht nötig, sie ihm auszuspannen. Sie machte den ersten Schritt.
Warum hätte ich ablehnen sollen?« Er lachte grimmig. »Als wäre ich der Einzige
gewesen! Sandy, Süße, glaube mir, es war anders, als er es dir weiß machen
wollte! Er ist nur eifersüchtig auf meinen Erfolg und ...«
Das Klingeln seines Handys unterbrach ihn. Er fluchte und fischte nach dem
Gerät. »Was?«, bellte er, nachdem er den Anrufer bereits verunglimpft hatte.
Sandra rieb sich den Arm. Es würde sie nicht wundern, wenn sie blaue Flecke
bekäme.
»Das ist wohl kaum mein Problem!«
Sandra wich unauffällig zurück. Es war die beste Chance zu entkommen und
vielleicht auch die Einzige.
»Du glaubst doch wohl nicht, dass ich meine Zeit, mit deinem Unsinn ...«,
giftete er weiter und Sandra warf einen Blick zurück über die Schulter. Der Gang
war nach wie vor leer, nun, es war bereits Mittagszeit und die Kollegen wohl
schon in der Pause. Ihr Handy hatte pünktlich um zwölf vibriert und anschließend
einige Male leise gepiept. Sicherlich bombardierte Ana sie mit SMS. »Fick dich,
Patrick!«
Sandra stöhnte enttäuscht. Eine Minute länger und sie wäre weg gewesen.
So verfolgte sie, wie Peter Bauer sein Mobilfunkgerät in seiner Tasche
verschwinden ließ und sie dabei dräuend musterte.
»Du wirst ihm keine Verfügung ausstellen!«, forderte er und trat wieder auf
sie zu. »Er kann ...« Sandras Handy vibrierte. »... Zusehen, wie er klarkommt!
Selbst schuld, dass er seine Nase in alles reinstecken muss, was ihn nichts
angeht!«
Sandra schluckte, die Hand auf die vibrierende Tasche gepresst. Sie saß in
der Zwickmühle. Wie sollte sie ablehnen Schulte-Henning eine Verfügung
auszustellen, die sie womöglich für den Fall benötigten? Das dringendere
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Problem zog sie direkt aus ihrer panischen Überlegung. Peter griff wieder nach
ihr und zog sie an sich. Sie stöhnte, weil seine Hände einmal mehr ihre
geschundenen Oberarme umklammerten.
»Komm schon, Süße ...« Seine Stimme war plötzlich weich und
einschmeichelnd, womit sie Sandra einen Moment aus dem Konzept brachte. In
einem Moment war er aufbrausend und verletzend und im nächsten ...
Er beugte sich vor und Sandra drehte das Gesicht weg.
»Nicht!«
Seine Lippen legten sich auf ihr Ohr.
»Komm schon, ich will dich ficken.«
Ein unangenehmer Schauer rollte über ihren Rücken. Sie musste ihn los
werden und das ganz schnell.
»Spürst du, wie hart ich bin?« Er drängte sich gegen sie.
»Lass mich los, Peter!«, verlangte Sandra zittrig. »Ich möchte nicht!«
»Ich werde dich hart rannehmen.«
Genau das, was sie wollte. Herrgott, was war er für ein Idiot?
»Am Schreibtisch. Du bist göttlich am Schreibtisch!«
Er versuchte, sie zu küssen. »Na, komm schon!«, murmelte er und zwang ihr
Kinn herum.
»Nein«, wiederholte sie fest, so sicher wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie
wollte nicht mit Peter schlafen. Nicht jetzt und sicherlich nicht so, wie er es sich
vorstellte. Sandra befreite ihr Gesicht.
»Lass mich jetzt bitte los!«
»Komm schon! Es ist Wochen her!«, murrte Peter und unternahm einen
erneuten Versuch sie zu küssen.
»Staatsanwalt Bauer, Sandra ...«
Erwischt! Sandra gefror das Herz in der Brust. Peters Griff wurde fester,
bevor er sie endlich losließ und sich der Kollegin zuwendete.
Ana DaSilva sah kalt zu ihm auf. »Ich könnte schwören, das war ein Nein.«
Dann lächelte sie knapp. »Nun, ich muss mich verhört haben, nicht wahr, Herr
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Bauer?«
»Das haben Sie tatsächlich, Frau DaSilva. Es ist kein nein gefallen!«,
knirschte Peter, wobei er bezwingend auf sie herab sah. Ana schien sich nicht
daran zu stören, dass sie fast zwei Köpfe kleiner war, als der Kollege. Sie
schnaubte verächtlich und warf ihr einen bedeutenden Blick zu. Ihre Meinung
konnte ihr selbst Peter von der Nase ablesen.
»Sandra, ich brauche deine Hilfe. Hast du einen Moment für mich?«
Sandra schluckte, befeuchtete sich die Lippen und hob zu einer Zustimmung
an: »Nat ...« Das ürlich wurde von Peters Absage übertönt. »Wir haben wichtige
Dinge zu besprechen!«
»So?«, fragte Ana kühl nach, während ihre schwarzen Augen vor Ärger
glimmten. »Dann werde ich Oberstaatsanwalt Schneider wohl nach seiner
Meinung zu ungebührlichen Verhalten am Arbeitsplatz fragen müssen. Genauer:
zum Tatbestand der Belästigung.«
Die Luft knisterte zwischen den Anwälten und Sandra verwünschte beiden.
Ana würde nicht nur Peter reinreiten, sondern auch sie und letztlich fiel es auf sie
zurück. Sandra arbeitete für das Gericht in Dortmund. Peter war quasi von
Düsseldorf ausgeliehen, weil die Dortmunder Kapazitäten zur Gänze erschöpft
waren.
Peter knirschte mit den Zähnen. »Vielleicht sollte man Herrn Schneider ...«,
hob Ana erneut an und wurde von dem Kollegen abgewürgt: »Nicht mit solchem
Unsinn belästigen! Sandra ist erwachsen und alles weitere, Privatsache!«
Ana schmunzelte giftig und Sandra hielt es für angebracht, einzuschreiten.
»Vier Mal sieben und: Schwer beschäftigt. Herr Bauer, ich habe ohnehin ...« Sie
warf einen schnellen Blick auf ihre Armbanduhr. »... Einen unaufschiebbaren
Termin in kaum zehn Minuten. Ich schlage vor, dass ich mich um besagtes
Problem kümmere und Ihnen zeitnah die Ergebnisse übermittel?«
»Hervorragende Idee«, behauptete Ana, während Peter der Widerspruch auf
den Lippen lag, aber Ana blieb schneller. Sie schnappte sich ihren Arm und zog
sie grußlos mit sich. »Du erinnerst dich an den Einspruch in der
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Fahrverbotssache?«
Sandra war einen Moment ratlos.
»Das fünfte Vergehen am gleichen Ort und die Behauptung, es zähle das
Gewohnheitsrecht«, führte Ana aus, sie immer noch mit sich ziehend. »Den
Annika übernahm, damit du ...«
»Er ist zurück bei mir, nachdem Annika beschlossen hat, zu schwanger zu
sein, um zur Arbeit zu erscheinen.« Ana fletschte die Zähne. Es war ihr deutlich
mehr über die Leber gelaufen, als Perers anmaßendes Gehabe.
»Nun, sie ...«
»Ist permanent krankgeschrieben und war laut ihrem eigenen
Facebookeintrag letzte Nacht auf einem Rockkonzert!«, zischte Ana mit
blitzenden Augen. »Das ist an Dreistigkeit kaum zu überbieten!«
Da konnte Sandra nicht einmal widersprechen.
»Was ist mit ...«
»In der ersten Reihe stand sie!«, ereiferte sich Ana und schob sie in ihr
kleines Büro. »Direkt an der Absperrung! Ich könnte kotzen! Ich habe die letzten
Wochen, in denen Annika ihren Bauch tätschelte, an dreizehn Fällen gleichzeitig
gearbeitet! Sechzigstundenwoche, zwei Verhandlungen am Tag ...«
»Es tut mir so leid, Ana! In zwei Wochen mache ich es wieder gut!«,
versprach Sandra zerknirscht, schließlich war ihre Involvierung in dem Kramerfall
Teil des Problems. Ana hatte nicht wenige ihrer Fälle übernehmen müssen. Die
Portugiesin schnaubte verdrossen.
»Dich hält Bauer auf Trab. Gratuliere übrigens zu deiner Entscheidung. Was
hat dich schließlich überzeugt?«
»Bitte?« Sandra sank auf ihren Stuhl und legte ihr Samsung auf den Tisch.
Sicherlich versuchte Schulte-Henning noch mal sie zu erreichen und sie musste
wissen, was sie ablehnen sollte. Ana lehnte entspannt gegen den Schreibtisch
und zog vielsagend eine Braue hoch.
»Die Rückbank?«
Sandra stöhnte und verdrehte die Augen. Dass sie es nicht lassen konnte!
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»Ana!«, knirschte sie den Kopf schüttelnd. »Bitte! Du verstehst das falsch. Es ist
nicht so, wie du es hinstellst!«
»Du schläfst also nicht mit deinem Kommissar Schulte-Henning?«
Zu gerne wäre Sandra der Herausforderung ausgewichen, aber sie wollte
nicht ständig daran erinnert werden. Nur, wie sollte sie das Thema ein und für
alle mal vom Tisch fegen? Zugeben, was passiert war? Vermutlich würde Ana sie
drängen, die Geschichte wieder aufleben zu lassen. Was für ein Mistkerl er war,
würde Ana einfach ignorieren. Für sie zählten nur die Qualitäten, die er im Bett
vorzuweisen hatte. Sie presste die Lippen aufeinander. Eine Lüge wäre
günstiger. Was war schlimm genug, dass Ana ihre Anspielungen unterlassen
würde? Dass er ein furchtbar egoistischer Liebhaber war! Noch nicht sicher, wie
sie es formulieren sollte, sah sie zu Ana auf, die ihr verschwörerisch zu
zwinkerte.
»Mahlzeit.«
Sandra kam mit einem kleinen Schrei auf die Füße. Ana drehte sich gelassen
zur Tür und grinste den im Rahmen stehenden Polizisten an.
»Ah, wenn man vom Teufel spricht ...«
»Eigentlich ein missverstandenes Engelchen, Frau Anwältin.«
Sandra entwich zischend der Atem. Einen Engel würde sie ihn sicherlich
nicht nennen, ob missverstanden oder nicht!
»Frau Bresinsky entschuldigen Sie meinen Überfall. Ich habe versucht, Sie
zu erreichen. Ich benötige ...« Er brach ab, weil Ana auflachte.
»Tatsächlich ein Engelchen! Herr Schulte-Henning, glauben Sie mir, wir
Frauen mögen einen Teddy zum Kuscheln, lieben tun wir ihn aber nicht.«
Schulte-Henning klappte den Mund zu, sah zu ihr hinüber und ließ seinen
Blick an ihr herab wandern. Dabei verkniffen sich kurz seine Lippen. Bitter?
»Und was lieben Frauen? Arschlöcher, die sich nehmen, was sie wollen?«
Seine Augen hakten sich an ihre.
»Lügner?«
»Nein«, antwortete Ana leicht. »Weder Arschlöcher noch Lügner.« Sie fischte
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ihr Handy aus der Tasche und warf einen schnellen Blick darauf. »Ah, schon so
spät. Nun, ich muss ins Gericht. Richter Dittherr verzeiht keine Verspätung!« Sie
winkte ihr zu und blieb an der Tür noch einmal stehen. »Zu wissen was man will
ist hilfreich, reicht aber nicht zwangsläufig. Manch eines Mal, sollte man mit der
Tür ins Haus fallen und die Blume im Beet lassen.«
Sandra stöhnte entsetzt. Musste Ana ihn auch noch ermutigen? Die Tür fiel
ins Schloss. Sandra sank zurück auf ihren Stuhl. Er sah sie immer noch
nachdenklich an, als er zu ihr an den Schreibtisch trat und sich lässig auf die
Kante setzte.
»Eine Freundin?«
Sandra schluckte und griff nach einer Akte, um ihre Finger zu beschäftigen.
»Was soll ich unterschreiben?«
Eine dunkelblonde Braue hob sich in seinem Gesicht. Die Papiere lagen in
einem Pappordner auf seinem Schoß, wie ein schneller Blick bewies.
»Weiß sie von Bauer?«
Er wusste genau, wie er sie zu einer Reaktion veranlassen konnte!
Sandra hob das Kinn. »Was wollen Sie?«
»Eine Antwort wäre schön«, knirschte er den Kopf schüttelnd. »Und einige
Unterschriften.« Er schob ihr den Ordner zu. »Ich muss dich allerdings
vorwarnen: Bauer wird von deiner Kooperation nicht begeistert sein. Er hat mir
die Unterschriften bereits verweigert.«
Sandra zog überrascht die Kladde an sich und klappte sie auf.
»Es könnte sein, dass er ...«
»Die Jugendakte.« Sandra sah wieder auf. Wie befürchtet konnte sie ihm die
Unterschrift nicht verweigern.
»Bauer nannte es Verschwendung seiner Zeit.« Wieder presste er die Lippen
aufeinander und sah an ihr herab.
»Da dachten Sie, Sie kommen mal vorbei und sehen nach, ob er seine Zeit
nicht besser mit mir vertrödelt?« Erschrocken hielt Sandra den Atem an. Das
hatte sie gar nicht laut aussprechen wollen!
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Schulte-Henning sah fast genauso erschrocken aus.
»Nein!«
Sandra schluckte. Unangenehme Hitze ließ ihre Wangen glühen.
»Ich ... Ich kam ...« Er brach ab.
Sandra schob die erste Anfrage zur Seite, um ihre zittrigen Finger zu
beschäftigen und sich von dem peinlichen Gespräch abzulenken. Die zweite
Anfrage galt der Amtshilfe mit der Balver Polizeidienststelle. Die Dritte vermutlich
der Arnsberger Gerichtsmedizin, um die Informationen nachträglich zu
legitimieren, falls ihr Fall doch baden ging.
»Ich bin dienstlich hier, Sandra.«
Sie presste die Lippen aufeinander. Dem ging sie besser nicht nach.
»Ich dachte, dass du die Unterlagen lieber vollständig haben möchtest,
solltest du dich dazu entscheiden, die ähnlichen Schnittmuster der Fälle doch
aufzuzeigen.«
Sandra flog ein Schauer über den Rücken. Das hatte sie bereits. Sie musste
die Anfragen unterschreiben. »Bauer wird jeden Hinweis in der Luft zerreißen,
der auch nur den Anschein macht, den Kramer-Fall zu gefährden. Er hält ihn für
eine todsichere Sache.«
Das wurde immer schlimmer! »Dann halten Sie Kramer nun nicht mehr ...«,
murmelte Sandra erstickt und versuchte die tiefere Bedeutung zu erfassen. Der
Fall war nichtig, sie hatte ihre Zeit vergeudet und anderen unnötig zusätzliche
Arbeit aufgehalst. Sie verschluckte sich fast an dem Klos, in ihrem Hals. Ihr
musste etwas entgangen sein. Etwas, was Kramer entlastete. Sie schloss die
Augen. Die Kollegen hatten recht, ein Strafprozess war zu viel für sie. »Es ist
eine todsichere Sache, Sandra, wenn du mich fragst. Das haben wir doch letzte
Nacht besprochen. Es gibt lediglich eine Verbindung zwischen den Fällen, die wir
noch nicht sehen.«
Sandra zog die kalten Finger an sich, um sie aufzuwärmen.
»Natürlich kann die Verteidigung die Ähnlichkeit aufzeigen und behaupten,
dass Kramer unschuldig sei, aber das täte sie auch, ohne dem ähnlichen
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Schnittmuster. Unsere beste Chance wäre es, den Nachahmer vor
Prozessbeginn ...«
»Nächste Woche!«, flüsterte Sandra mehr zu sich selbst. Ihre Fingernägel
färbten sich leicht blau.
»Du bist ganz bleich, Sandra.«
Sie sah auf. Er klang so schmerzlich besorgt.
»Es ist nichts«, versicherte sie schnell, obwohl sie spürte, wie jeder Muskel in
ihrem Leib vibrierte.
»Hast du gegessen? »
Sandra verdrehte die Augen. »Als würde alles immer besser sein mit einem
gefüllten Magen!« Sie schob sich eine imaginäre Strähne aus dem Gesicht, um
das kurze Schließen ihrer zittrigen Lider zu verbergen. Bei ihm drehte sich immer
alles nur um seine Gelüste! Er wollte essen, er wollte Sex ...
»Nicht besser, nur leichter zu ertragen. Dein Körper braucht die ...«
»Oh, bitte!«, unterbrach sie ihn. »Ich gehe sofort etwas essen, nur
verschonen Sie mich ...«
»Es ist nach eins, ich dachte ...« Dieses Mal brach er von selbst ab. Sein
Blick sagte deutlich, was er dachte und es hatte nichts mit einer Mahlzeit zu tun.
Sandra schloss die Augen und es war ihr gleich, dass er es sah. Es knisterte
nach einem gemurmelten Fluch.
»Hier.«
Er hielt ihr einen Snickers ins Gesicht. »Du reagierst doch nicht allergisch auf
Nüsse?«
Sandra starrte den Riegel an.
»Dein Blutzuckerspiegel ...«
»Kommissar ...«
»Natürlich wäre es besser, wenn du etwas Vernünftiges zu dir nehmen
würdest, aber ich gehe mal davon aus, dass du mich nicht begleiten möchtest?«
Er klang sich dessen bereits absolut sicher, also sparte sie sich einen
Kommentar. »Dir ist flau, oder? Du frierst? Deine Finger zittern. Man braucht
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keinen Doktortitel um eine Unterzuckerung zu erkennen!«, insistierte er und
wedelte mit der Zuckerbombe in ihrem Gesicht herum.
Sandra griff nach dem Riegel, weil sich ihr verräterischer Magen zu Wort
meldete.
»Ich habe kein Diabetes, ich kann also schwerlich unterzuckert sein.«
Schulte-Henning schnaubte mit einem: »Du musst immer das letzte Wort
haben, oder?«
Sie sparte sich auch eine Antwort darauf.
»Es gibt noch einen Grund ...«
Er wurde von seinem Klingelton abgewürgt und fischte nach dem
Mobiltelefon. Sandra biss in den Schokoriegel und blätterte durch die Anfragen.
Wie erwartet schlossen sich Bitten um Informationsaustausch mit der
Gerichtsmedizin in Arnsberg und die Identifikation der Toten an.
»Schulte-Henning? Rainer!«
Sandra spitzte die Ohren.
»Tatsächlich? Nun, ich nehme an, das geht in Ordnung. Welches Studio?«
Er legte auf.
»Das Tattoo scheint von einer Körperkünstlerin hier aus Dortmund zu sein.
Vielleicht möchtest du deine Pause mit einem Ausflug kombinieren?«
Sandra versagte sich ein Stöhnen. Sie war zu leicht zu ködern. »Welches
Studio?«, fragte sie resigniert und stopfte die Unterlagen in ihre Aktentasche. Ihr
Stuhl stieß gegen die metallenen Aktenschränke und schwang wieder zurück, um
ihr in die Kniekehlen zu schlagen. Sie wäre auf ihn herab gesackt, wenn
Schulte-Henning nicht nach ihrem Ellenbogen gegriffen hätte.
»Vorsicht«, murmelte er und sandte ihr damit einen warmen Schauer über
den Leib. Er ließ sie wieder los und Sandra stützte sich auf dem Tisch ab, um
nicht doch noch auf den Stuhl niederzusinken. Ihre Knie zitterten. Ihr Herz pochte
wild in ihrer Brust und sie starrte verwirrt auf den Schokoriegel. Vielleicht war ihr
Blutzuckerspiegel doch im Keller. Vielleicht hatte er recht. Ein wenig Ahnung
musste sie ihm zugestehen, als Pathologe musste er zumindest etwas Theorie
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über lebendige Körper gepaukt haben. Sie warf ihm einen schnellen Blick zu, der
bewies, dass er sie noch immer besorgt im Auge behielt.
»Das Büro ist einfach zu klein«, erklärte sie rau und räusperte sich, bevor sie
in den Snickers biss. Schulte-Henning sah sich um. Der Raum war kaum größer
als ihre Küche, dafür fensterlos und der einzige freie Raum, den man sich nicht
teilen musste. Sandras erste Wahl. »Aber man hat seine Ruhe ...«
»Du kannst dich hier kaum sortieren«, stellte er fest und nahm ihr die Tasche
ab. »Kein Wunder, dass du alles mit nach Hause nimmst.«
Sandra verschluckte sich fast an der Schokolade.
»Warum hat man dich in diese Abstellkammer gesteckt?«
Wie treffend.
Sandra fehlte die passende Antwort.
»Du solltest dich beschweren. Das ständige künstliche Licht schädigt deine
Augen. Und da ist es gleich, ob es Glühbirnen oder LEDs sind.«
Sandra seufzte. »Haben Sie dies in ihrem Studium gelernt?«
»Nein, da standen Verhörpraktiken auf dem Lehrplan.«
Sandra stockte beim Lichtausknipsen und sah auf. Er grinste auf sie nieder.
Ein Scherz? Oder eine Anspielung. Worauf?
»Polizist, schon vergessen?«
Sandra haderte mit sich. Sollte sie fragen? Es ging sie nichts an. Für ihre
berufliche Zusammenarbeit war es völlig unbedeutend. »Warum?«
Das Grinsen schwächte ab.
»Warum ich Polizist bin?«
Seine Lider senkten sich kurz über seine Pupillen. Was wollte er verbergen?
»Eine lange Geschichte.«
Sandra schluckte. Abgeschmettert! Sie atmete zittrig ein. »Entschuldigung,
ich hätte nicht fragen sollen. Es geht mich nichts an, ich ...«
»Wolltest du das Licht nicht ausmachen?«
Sie klappte den Mund zu und tat es. Als sie sich umdrehte, deutete er den
Gang hinab.
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»Wollen wir?«
Sie nickte und wäre beinahe direkt wieder stehen geblieben.
»Ich arbeite gerne in der Pathologie. Es ist ruhig. Man kann sich voll und
ganz auf die Arbeit konzentrieren.« Seine Lippen pressten sich kurz zusammen.
»Aber, es ist kalt.«
Das war ihr auch aufgefallen. Es war ungemütlich kalt in der Pathologie. Sie
würde dort nicht den ganzen Tag verbringen wollen.
»Unpersönlich.«
Sandra sah erstaunt auf.
»Man sammelt nur Fakten, die Wertung übernehmen andere. Man hat immer
nur isolierte Puzzleteile und nie ein echtes Bild.«
Schulte-Henning zuckte die Schultern. »Oh, und Jen hasste die Idee.« Er
lachte auf. »Meine Mutter nannte es eine Trotzreaktion. Und vermutlich lag sie
damit nicht einmal falsch. Ich hatte gerade mein Examen bestanden, wollte
heiraten und eine Familie gründen.«
Sandra lauschte seinen Worten, eigentümlich berührt.
»Dann erwische ich meinen vermeintlichen Freund mit meiner Verlobten.«
Er hielt ihr die Tür auf und ließ ihr den Vortritt. Auf der Treppe blieb er neben
ihr. Sandras Ohren klingelten. Sandy, Jen war ein Flittchen! Patrick hat nie
verstanden, was sie tatsächlich war: eine raffgierige Schlampe! Als wäre ich der
Einzige gewesen!
»Peter Bauer?«
Mein Gott, kein Wunder, dass er ihn verabscheute!
»War er der Freund?«
Wollte sie eine Bestätigung? Sie wusste es ja bereits. Peter hatte es von sich
aus eingestanden. Und die Verantwortung weiter gereicht. Es war nicht sein
Fehler gewesen. Sandra dorrte der Mund aus. Das war ihr auf Schreckliche
weise bekannt. Auch sie hatte mit dem Freund ihrer Freundin geschlafen. Ihrer
besten Freundin, die sie noch immer hin und wieder vermisste.
Melanie hatte Kevin verziehen, ihr aber nicht. Sie hatte ihn schließlich
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verführt. »Haben Sie je darüber nachgedacht, ihnen zu verzeihen?«
Hatte Melanie je darüber nachgedacht? Hatte sie je vor dem Fernseher
gesessen, in dem Dirty Dancing lief, und schlicht geheult vor Gram über den
Verlust?
In der Erinnerung versunken an all die Stunden, die sie damit verbracht
hatten, den Tanz einzuüben, weil Melanies Eltern sich keine Tanzstunden für ihre
Tochter leisten konnten?
»Nein.«
Nein. Melanie und Kevin hatten im letzten Jahr geheiratet. Sandra war nicht
einmal mehr in ihrer Heimatstadt gewesen. Nach der Entführung war sie nach
Minden zu ihrer Tante gezogen. Selbst ihre ältere Schwester, die noch in Greve
lebte, besuchte sie nicht. Schulte-Henning hielt ihr erneut die Tür auf.
»Wozu?«
Wozu?
»Sie haben sie doch heiraten wollen.«
Das musste doch etwas bedeuten. Das gab man doch nicht einfach auf.
»Ja. Ich wollte Jen heiraten. Ich wollte Kinder mit ihr haben und mit ihr alt
werden.«
Sandra folgte ihm die Treppe runter.
»Was hätte es gebracht zu verzeihen? Was hätte es gebracht, weiter die
Augen vor der Wahrheit zu verschließen?«
Sandra verschränkte die Arme. Es war frisch für diese Jahreszeit und sie
fröstelte.
»Ist dir kalt?«
Er konnte sie lesen wie ein Buch.
»Es geht schon.«
»Warte, ich gebe dir meine Jacke.«
Er schälte sich aus seiner Lederjacke.
»Nein!«, quieckte Sandra und ging einen Schritt schneller. »Es geht schon!«
Er war stehen geblieben, was sie erst bemerkte, als er sagte: »Letztlich bleibt
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einem nichts anderes übrig, als es einzusehen.«
Sie drehte sich zu ihm um. Den Arm mit der Jacke hatte er sinken lassen und
er schüttelte den Kopf.
»Du frierst lieber. Bevor dich irgendjemand eventuell in meiner Jacke sieht,
was absolut nichts heißen muss, frierst du lieber.«
Wieder schüttelte er den Kopf und zog sich die Jacke wieder über. »Ich parke
auf der Gerichtstraße.«
Er stapfte neben ihr her. Erst am Auto grummelte er die bereits lang
erwartete Frage: »Was möchtest du essen?«
Sie seufzte leise, was das Zuschlagen der Wagentür überdeckte.
»Ich nehme an, Sie kennen einen guten Jugoslawen oder ein Restaurant mit
gutbürgerlicher Küche ...«
Er warf ihr einen undeutbaren Blick zu.
»Ich kenne auch ein gutes chinesisches Restaurant ...«
Sandra klappte den Mund zu.
»Ich nehme an, Bauers Stammlokal möchtest du meiden?«
Sandra schluckte angespannt. Den wahren Charakter eines Menschen sah
man am deutlichsten in Ausnahmesituationen. In Stresssituationen, wie dieser.
Er war ein Arschloch, aber das wusste sie ja bereits.
»Vielleicht solltest du mir sagen, wo ihr gemeinsam ward, damit ich nicht
ausversehen das falsche Lokal ansteuere!«
Er startete den Wagen und Sandra wendete den Blick ab. Sie zog
Arschlocher magisch an.
»Magst du mir nicht antworten?«, knirschte er zwei Ampeln weiter absolut
richtig. Sie wollte ihm nicht antworten. Sie wollte nicht mit ihm reden. Am liebsten
würde sie ihn nicht einmal mehr sehen. Spüren. Sie erschauerte und rieb sich
über die Oberarme. Es war kalt, das war es. Sie spürte nicht ihn!
Schulte-Henning stellte die Sitzheizung an.
»Die Klimaanlage macht es nur noch schlimmer, aber wir können einen
Abstecher zu dir machen.«
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Kein Vorschlag, sondern lediglich die Information, schließlich waren sie
bereits auf dem direkten Weg zu ihrer Wohnung. Sie wünschte, er würde nicht
immer den direkten Weg nehmen.
»Das ist nicht notwendig«, murmelte sie stattdessen und ließ die Hände
sinken. Ihre Seidenbluse würde ohnehin ein Aufwärmen durch Reibung im Wege
stehen.
»Deine Nippel sind hart.«
Sandra blinzelte verstört. Sie hatte sich verhört! »Was!«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
»Du frierst!«
Das hatte er nicht gesagt! »Schauen Sie gefälligst ...«
Er griff nach ihrer Hand und hielt sie ihr vor die Augen.
»Deine Nägel werden blau, Sandra!«
Sie gingen tatsächlich ins Violette. Irritiert entzog sie ihm den Gliedmase und
bereute es sogleich, denn seine legte sich an ihr Gesicht.
»Verdammt, Sandra, du wirst krank werden ...«
Mit Sicherheit, allerdings schien es eher ein Problem mit ihrem
Magen-Darm-Trakt zu werden, als die Erkältung, auf die er anspielte.
»Es ist Sommer, da ...«
»Viren sind ganzjährig unterwegs, Sandra, und du bist angeschlagen. Dein
Immunsystem ...«
Sandra verdrehte die Augen und wich seiner Berührung aus. »Schön! Mir ist
kalt. Ich hätte heute Morgen eine Strickjacke einpacken sollen.«
Es hupte hinter ihnen und Schulte-Henning konzentrierte sich wieder auf den
Verkehr. Vor ihrem Wohnhaus hielt er an und schnallte sich ab.
»Seien Sie nicht albern«, knirschte Sandra. »Ich kann allein ...«
»Ich begleite dich besser.«
»Sie sehen den Eingang!«
»Aber nicht die Parkanlage. Es ist unmöglich, beides gleichzeitig im Auge zu
haben.« Er stieß die Tür auf und Sandra lehnte den Kopf gegen die Stütze. Der
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Wagenhimmel bestach durch einen hellen Grauton mit kleinen hellblauen
Quadraten. Ihre Tür öffnete sich. Sie wollte nicht aussteigen. Seufzend tat sie es
trotzdem.
Erst zurück im Auto fragte er sie erneut, was sie essen wolle. Es hatte keinen
Zweck ihn zu ignorieren, er verschwand nicht einfach. Mit einem weiteren
Seufzen gestand sie ein: »Ich habe keinen Hunger mehr.« Das würde sie wohl
nicht vor einer Mahlzeit retten, schon gar nicht vor seiner Gesellschaft.
»Eine Kleinigkeit.« Er fädelte sich in den Verkehr ein. »Aber zuerst zu dem
Studio, es ist direkt hier um die Ecke.«
Er parkte vor der Tür in zweiter Reihe. Sie sparte sich die Belehrung, bis er
ihr zu zwinkerte. »Das Abstellen eines Pkw an nicht ...«
»Ich weiß.«
Sie klappte den Mund zu. »Wird mit Punkten in Flensburg und einer
Geldstrafe ...«
Er ließ sie stehen. Nicht wirklich im Glauben, er hätte sich ihre Worte zu
Herzen genommen, sah sie ihm nach. Er legte seine Polizeimarke auf die
Ablage. Er glaubte doch wohl nicht, dass er damit durchkam!
»Polizeiliche Ermittlung. Einen möglichen Strafzettel zahlt die Behörde.«
Wieder zwinkerte er und sie sah ihm erneut nach, als er dieses Mal zum Studio
ging.
»Das ist ...«, murmelte sie fassungslos über seine Dreistigkeit. Er hielt die Tür
auf.
»Kommst du?«
»Unglaublich!« Dennoch setzte Sandra sich wieder in Bewegung. Es war
schummrig im engen Vorraum. An den Wänden hingen Abbildungen der im
Studio gefertigten Kunst. Tribles, Blumen, Namenszüge, Fabelwesen ... Sogar
ein Arschgeweih war ausgestellt, als wäre dessen Halbwertszeit nicht schon seit
einem Jahrzehnt überschritten. Es schauderte ihr direkt bei dem Anblick. Mit
zwölf hatte sie unbedingt auch ein Tattoo über dem Steißbein haben wollen. Mit
fünfzehn hatte Melanie sich ihres stechen lassen und Sandra war dem Schicksal
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nur entronnen, weil ihre Schwester sie verpetzt hatte. Sie dankte Anne im Stillen
erneut für ihren Verrat.
»Hallo! Schaut ihr noch, oder ...«
»Hallo, Schulte-Henning, Kriminalpolizei. Ich habe einige Fragen, haben Sie
einen Augenblick Zeit für uns?«
Der stark tätowierte, bullige Mann mit gewollter Glatze und klaffenden
Löchern in den Ohren, warf Sandra einen Blick zu.
»Ich habe eine Lizenz! Das ist reine Schikane. Selbst das Gesundheitsamt
...«
»Das wollen Sie doch nicht hier klären, oder?« Patrick sah sich demonstrativ
um. Es gab keine weitere Tür, sondern nur einen Vorhang, der die
Arbeitsbereiche vom Vorraum abtrennte. Das Sirren der Nadeln überdeckte
kaum den angehaltenen Atem der Kunden. Sandra lief es eiskalt den Rücken
runter. »Hören Sie, was halten Sie von einer kostenlosen Probe unserer
Handwerkskunst?« Der Studiobetreiber lächelte angestrengt.
»Bestechung«, murmelte Sandra, während Schulte-Henning die Schultern
zuckte.
»Was hältst du von einem hübschen Blümchen auf deinem Hintern,
Sandra?« Er drehte sich zu ihr um. Der Tattookünstler relaxte.
»Kiki macht wundervolle Blumen! Schauen Sie ...« Geschwind zog er eine
Mappe hervor. »Ranken, Blüten ... Von allen möglichen Blumen. Realitätsgetreu.
Sie ist eine wahre Künstlerin ...«
»Eine Rose wäre doch nett. Ist es ein Problem, wenn das Gewebe, na sagen
wir, nicht ganz so fest ist?«
Sandra klappte den Mund wieder zu, keineswegs gefasst, sondern sich
lediglich zusammenreißend. Das war ungeheuerlich! Der Tätowierer musterte sie
kritisch. »Scheint nicht viel Speck dran zu sein.«
»Ich stelle es mir nur mittig auf ihrer Arschbacke vor, vielleicht etwas rockiger
mit einem Stacheldraht drum herum?« Er zwinkerte ihr zu, wodurch sie so
abgelenkt war, dass sie noch immer keinen Ton hervor bekam, obwohl sie ihm
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gerne verbal in seinen Arsch getreten hätte. »Vielleicht mit meinem Namen
verziert?«
Nur über ihre Leiche!
»Ich stelle mir das so vor: ...«, begann er und Sandra beschloss seinen
Fantasien ein Ende zu setzen: »Eine Rose. Können die Blätter so aussehen wie
kleine Herzchen?«
Der Studioinhaber sah von einem zum anderen und bestätigte vorsichtig:
»Möglich ist es schon.«
»Oh, und ein Name sollte unbedingt drauf: Peter!« Damit sollte sie deutlich
genug gemacht haben, dass sie sich nicht von ihm in Besitz nehmen ließe.
Schulte-Hennings Grinsen verlor kurzweilig an Festigkeit.
»Dann sind wir uns ja einig. Vielleicht sollten wir unsere genauen
Vorstellungen mit Kiki absprechen.«
Der bullige Typ sah noch einmal zwischen ihnen hin und her, bevor er sie bat
zu warten. Schulte-Henning griff nach der Mappe, bevor er sie zu der Sitzecke
drängte, und schlug sie auf. Sandra rutschte von ihm fort. Er zog sie zurück und
legte den Arm um ihre Schultern. »Schau mal, hier sind Dornen anstelle des
Stacheldrahtes.«
Und auf einem Busen anstelle des Pos. Sie versuchte, sich von ihm zu lösen.
Er beugte sich vor und flüsterte ihr ins Ohr: »Zerstör nicht die Illusion. Vielleicht
ist Kiki zugänglicher, vielleicht auch nicht ...«
»Einstweilige ...«, zischte sie und blitzte ihn an. Er war ihr wahnsinnig nah.
Sie könnte mühelos seine Wimpern zählen.
»Dauert Stunden!«, murmelte er. Sein Atem strich über ihre Wange.
»Formlos«, hauchte Sandra, die Lider senkend. Der direkte Blick in seine
Augen verwirrte sie. Ließ ihren Ärger verfliegen und brachte sie dazu ihre Worte
zu bereuen.
Seine Nase berührte ihre und Sandra hielt den Atem an.
»Hi, ich bin Kiki!«
Sandra fuhr zurück und riss die Lider auf. Schulte-Henning sah sie immer
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noch an.
»Hi, Kiki.« Dann grinste er zu der jungen Frau auf, die praktisch aus dem
Nichts neben ihnen aufgetaucht war. »Du machst diese tollen Gebilde?« Er
schwenkte die Mappe. Die Künstlerin war nicht weniger mit Körperkunst bedeckt,
als ihr Chef, dafür deutlich lichter bekleidet. Ihr BH blitze sicherlich beabsichtigt
unter ihrem knappen Top vor und ihr Rock verdiente kaum diese Bezeichnung.
Ihre Zunge spielte mit dem Piercing in ihrer Lippe. Sie zuckte die Achseln und
warf ihr einen abschätzenden Blick zu.
»Eine Rose? Schulterblatt, nicht größer als ein zwei Euro Stück, richtig?« Sie
seufzte unglücklich.
»Vielleicht lieber auf der Brust und handtellergroß?«, schlug Schulte-Henning
vor und stand auf, um sein Handy hervor zu kramen. »Hast du auch dieses hier
gestochen?«
Kiki sah irritiert auf das Display. »Was ist ... Ist das eine Leiche!« Sie hob
erschrocken den Blick.
»Ist es deine Arbeit?«
Widerwillig warf sie einen zweiten Blick auf das Mobiltelefon. »Möglich«,
murmelte sie nach einem Moment. »Wir machen Bilder von ... Ach du Scheiße!«
Schulte-Henning berührte Kikis Ellenbogen. »Setz dich. Dir kommt die Arbeit
bekannt vor?«
Kiki nickte und folgte seinem Vorschlag. Sie versteckte das blasse Gesicht
mit der kleinen Himmelfahrtsnase in ihren Händen. »Die Herzogin«, flüsterte Kiki
noch versteckt. Schulte-Henning ging vor ihr in die Knie.
»Kennst du ihren Namen?«
»Im Etablissement nennt sie sich Kate. Herzogin Kate nach ...« Sie schüttelte
den Kopf .
»Etablissement?«
Kiki brach ab. Die Blässe verschwand, als sie Sandra musterte.
»Ihren richtigen Namen, kennst du den auch?«, zog Schulte-Henning Kikis
Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Oder jemanden, der mir da weiterhelfen
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könnte?«
»Sie arbeitet für den Club an der Evingerstraße.« Kiki straffte sich.
»Jacqueline Bach. Zumindest hat sie den Haftungsausschluss so
unterschrieben.«
Schulte-Henning starrte Kiki an. »Jacqueline Bach.«
Sandra verscheuchte einen Schauder. Wie er den Namen aussprach, war
merkwürdig. Kiki nickte. »Sie ist tot, nicht wahr?«
»Danke, Kiki, du hast uns sehr geholfen.« Schulte-Henning erhob sich.
»Können wir?« Er sah sie dabei nicht an. Sandra folgte ihm. Das Klingeln der
Türglocke brachte fast ihr Trommelfell zum Platzen. Etwas stimmte nicht. Zwar
öffnete er ihr die Wagentür, sah sie aber nicht an. Er verlor keinen Ton. Fünf
Minuten später stand sie auf der Treppe zum Amtsgericht und sah ihm nach. Ihr
Magen knurrte und erinnerte sie damit unnötigerweise daran, dass ihr
Mittagessen heute ausfiel.
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Kapitel 12 - Eine Leiche im Wald
Sandra gähnte hinter vorgehaltener Hand und blinzelte aus dem Fenster. Der
Regen wurde immer stärker und war auch schon von Schulte-Henning
kommentiert worden. Sie schloss erneut die Augen. Er hatte sie vor fast zwei
Stunden aus dem Bett gerissen. Ein neuer Leichenfund hinter Neheim. Sie hatte
geträumt und war mit unglaublicher Verwirrung erwacht, durch seinen Ruf,
obwohl er wohl auch geklopft hatte. »Sandra! Bitte öffne die Tür!«
Eine Gänsehaut zog sich über ihren Leib und sie zog ihre Strickjacke enger
um sich. »Du kannst die Sitzheizung weiter aufdrehen.«
Immerhin spielte er nicht noch einmal auf ihren Rock an. Eine
Fehlentscheidung, das gab sie zu. Natürlich nur sich selbst gegenüber.
Schulte-Henning übernahm es selbst und das Leder unter ihrem Po, begann sich
weiter aufzuheizen. Sie hätte gern die Beine angezogen, um sie zu wärmen,
denn die Seidenstrumpfhose war die zweite Fehlentscheidung des Morgens
gewesen. Immerhin hatte sie die zweite Tasse Kaffee heruntergeschüttet, wie er
es geraten hatte. Natürlich war das schon Stunden her! Er reduzierte die
Geschwindigkeit und Sandra blinzelte erneut in den Regen.
»Mit etwas Glück bekommen wir noch einen Kaffee bei dem Truckstopp
gleich an der Ausfahrt. Sie schließen, wenn die anderen Buden öffnen.« Er
deutete in das vor ihnen liegende Gewerbegebiet. Das Ticken des Blinkers war
lauter, als das Plärren aus dem Radio. Seit einiger Zeit zumindest störungsfrei.
Er fuhr an und Sandra warf ihm einen schnellen Blick zu. Er war angespannt.
Ruhiger, als sie ihn bisher erlebt hatte und wie er sie ansah, machte sie gehörig
nervös. Auf Unangenehme weise. Die Muskeln in seiner Wange spielten, als
hätte er schwer an etwas zu kauen. Seine Augen klebten an der Straße. Nun,
sonst gab es kaum etwas zu sehen. Er stoppte und fluchte leise.
»Kaffee?«, brummte er und stieg nach ihrem Nicken aus. Er zog die Jacke
über den Kopf und lief in den Bretterverschlag. Der sah aus, als würde die
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nächste Böe ihn umwerfen.
Schulte-Henning verschwand in ihm. Sandra schloss die Augen. »Wir sollten
es uns anschauen«, hatte er gemeint, vor ihrem Bett stehend, ohne sie
anzusehen. Den Kaffee hatte er auf ihrem Nachtschrank abgestellt. »Eventuell
gibt es schon Neuigkeiten zu Frau Bach.« Er war unpersönlich geblieben,
distanziert. Sie sollte erleichtert sein. Stattdessen machte es sie unruhig.
»Hier.«
Sandra schreckte auf und nahm den Becher entgegen. Wasser tropfte aus
seinem Schopf.
»Wenn es so regnet ...«
»Beweise sind wohl futsch, aber vielleicht ...« Er brach ab und blies in seinen
Becher.
»Hat ... Staatsanwalt Bauer Sie informiert? Wird er ...«
»Nein«, unterbrach er sie knapp. »Du musst dich unter einem Vorwand
abmelden.«
Sandra klappte der Mund auf. »Bitte?«
»Ich muss mit Rainer sprechen. Ich kann dich nicht allein lassen und du bist
besser aufgehoben ...«
Er hatte sie angelogen! »Es gibt keinen neuen Leichenfund!«
»Doch«, brummte er mit einem neuerlichen undeutbaren Blick. »Und
womöglich ist die zweite Leiche von letzter Woche auch identifiziert.«
Nach einer Woche! Hervorragende Nachrichten und doch war sie eher
besorgt, als erfreut. Etwas stimmte nicht. Er hatte ihr nicht einmal was zu essen
angeboten, oder selbst gegessen. War er sauer? Weil sie seine Jacke nicht
wollte? Seinen Namen auf ihrem Hintern? Keinen Sex mit ihm? Sollte er doch!
Sie verbrannte sich an ihrem Kaffee.
»Vorsicht!« Er nahm ihr den Becher wieder ab. Sie verbrannte sich die Zunge
und er sorgte sich um seine Lederausstattung! Arschloch.
»Heiß!« Ihr Kaffee landete im Halter und er sprang aus dem Wagen. Als er
zurück war, drückte er ihr eine Flasche Wasser in die Hand. »Es kühlt ein
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wenig.«
Sandra nahm einen Schluck. Es tat trotzdem weh. »Ich verstehe das nicht.
Warum muss ich mich unter einem Vorwand abmelden, ich kann doch ...«
»Aus ermittlungstechnischen Gründen«, unterbrach er sie knapp und
schnallte sich an. »Maximal eine halbe Stunde.«
Er fuhr an. Sandra starrte ihn an. Das machte keinen Sinn. Wenn er nicht
darüber sprechen wollte, durfte, weil die Ermittlungen ... Ihr wurde schlecht. Hatte
es etwas mit ihr zu tun? Die Frauen hatten GHB im Blut, so wie sie am letzten
Wochenende. Tramitz? Unsinnig. Wie sollte er an die Ermittlungsakten kommen?
Er war ein Nerd. Hatte er ihren Account gehackt? Ihre Cloud vielleicht? Welch
beunruhigender Gedanke. Sie schloss die Lider. War sie dann etwa nur knapp
dem Tod entkommen? War Frau Bach vielleicht nur ein schneller Ersatz
gewesen? Ihr schauderte und ihr Magen hob sich.
»Können wir bitte kurz anhalten?«
Patrick behielt sie im Auge. Sie war wieder etwas weniger blass, als zuvor.
Als sie gebeten hatte anzuhalten, aber sie zitterte. Zähneknirschend bot er ihr
seine Jacke an. Sie warf ihm einen ihrer flüchtigen Blicke zu und schüttelte den
Kopf. »Ich habe eine Strickjacke drunter. Es liegt nur am Wind.«
Sie schnallte sich an und nahm ihren Kaffeebecher in beide Hände. Wieder
waren ihre Fingernägel fast blau.
»Ich habe auch noch eine Decke im Kofferraum.« Die sich hervorragend für
Picknicks und Tete-a-tetes in Wald und Wiesen eignete, zu denen er viel zu
selten Gelegenheit hatte. Wieder schüttelte sie den Kopf.
»Es geht schon.«
Patrick knirschte mit den Zähnen. Er konnte es nicht ändern.
»Werden Sie mir sagen, was los ist? Ich verkrafte es.«
Da war er sich nicht so sicher. »Später«, verschob er die Entscheidung.
»Wenn ich mir sicher bin.« Und er hoffte, dass er sich irrte. Er hoffte auf einen
dummen Zufall. Es gab Zufälle, auch in riesen Ausmaß. Er brauchte Beweise.
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Echte Beweise, keine Hinweise. Wie würde er dastehen, wenn alles nur ein
Irrtum war?
Der Regen ließ nach und der Himmel brach auf. Sandras Haar schimmerte in
Dutzenden Farbreflexen.
Wie würde sie es aufnehmen? »Hast du schon mal über ein Tattoo
nachgedacht?« Unverfänglich dachte er, aber sie sah giftig zu ihm rüber.
»Ihr Name wird sicher nicht auf meinem Po landen!«
Damit konnte er durchaus leben. »Und Bauers?«
Sie wendete sich ab. »Das geht Sie nichts an!«
»Ich weiß nicht, was er dir vormacht, aber ...«, begann er, wohl wissend,
dass es sinnlos war. Er wollte sie nicht loslassen müssen. Obwohl sie nicht
einmal sein gewesen war. Obwohl das mit ihnen ohnehin keine Chance hatte.
Wie sollte er Sandra Steffi vorstellen?
»Hören Sie endlich auf!« Sie presste die Lippen aufeinander. »Können Sie
das nicht lassen? Müssen Sie immer Anspielungen machen? Was wollen Sie von
mir?« Das Grün in ihren Augen war fast verschwunden. Mit dir schlafen. Dich
küssen, berühren. Dich sagen hören, dass du mich willst. Dich sicher im Arm
halten. Ein Lächeln. Vielleicht noch so einen Blick wie in dem Studio am Vortag.
Er wusste nicht, ob er etwas bedeutet, aber er wollte noch so einen Moment.
Allein. Ohne Unterbrechung.
»Was muss ich tun, damit Sie aufhören?« Eine Perle rollte über ihre Wange.
Er schluckte seine Vorschläge herunter.
»Ich kann nicht ... Mit Ihnen ...«
»Nichts.« Er war froh endlich anzukommen. Er riss die Tür auf und schlug sie
hinter sich wieder zu. Zwei Streifenwagen standen neben ihnen, der Bulli der
Gerichtsmedizin und der Audi seines Vaters.
»Oh, nein.«
Patrick warf einen Blick zurück. Sandra sah aus, als wäre sie in einen
Hundehaufen getreten. »Es sind Taschentücher im Handschuhfach.«
»Es geht schon«, meinte sie resigniert und warf die Tür zu. »Bitte sagen Sie
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mir, dass wir nicht wieder in den Wald müssen.« Ihr Schuhwerk knartschte bei
jedem Schritt. Sie versank im Schlamm. Er seufzte leise. Es geht schon! Sie war
so verflucht unvernünftig.
»Ich habe Gummistiefel im Kofferraum.« Die sie wie alles, was er ihr anbot,
ablehnen würde. »Du wirst mit den Pumps nicht weit kommen.«
Sie seufzte: »Es geht schon.« Schwankte und stützte sich ab. Sie hob den
Fuß, der Schuh blieb stecken. Sie ließ den Kopf hängen und seufzte erneut.
»Ich kann dich auch huckepack nehmen.« Dem würde sie niemals
zustimmen, die Idee mochte er trotzdem. Sandra bückte sich nach ihrem Schuh.
»Gummistiefel.«
»Okay, ich hole sie, oder ...« Das würde sie ihm nie verzeihen. Er schnappte
sie, ihren Aufschrei ignorierend und trug sie zum Heck. Er setzte sie ab. »Hier.«
Ihr Lippen pressten sich verstimmt zusammen, aber sie sparte sich jedes
Wort dazu aus.
»Die Taschentücher wären nun gut. Ich möchte Ihre Stiefel nicht
verschmutzen.« Sie befeuchtete sich die Lippen. »Welche Größe ... Ach herrje!«
Patrick zog seine Sporttasche zu sich. Die Socken hielt er ihr unter die Nase.
Ungläubig sah sie zu ihm auf. »Achtunddreißig. Fünfundvierzig. Ein paar
Socken machen da wohl keinen Unterschied.«
Er zuckte die Schultern. »Nein. Der Unterschied besteht lediglich in warmen
Füßen.«
Sie riss ihm die Socken mit einem Blick aus der Hand, der ihm deutlich sagte,
was sie von ihm hielt.
»Danke.«
»Gern. Möchtest du einen Schirm mitnehmen? Ich überlasse dir auch gerne
meine ...« Er zog seine Regenjacke aus dem Korb, in dem er seine Arbeitskluft
aufbewahrte. Sie presste erneut die Lippen aufeinander.
»Danke, aber NEIN, danke! Ich bin warm eingepackt. Ich ... komme zurecht.«
»So?« Patrick winkte ab, es brachte nichts. »Wollen wir dann?«
»Patrick!«
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Er drehte sich um. »Morgen, Papa.«
»Sandra?«
»Doktor ...« Sie brach ab.
»Sie sehen blass aus, hat sich etwas ergeben?«, fragte sein Vater und
musterte Sandra dabei aufmerksam.
»Noch immer nicht schwanger, Papa.« Sie keuchte neben ihm und erinnerte
ihn an ihre Bitte: keine Anspielungen.
»So? Nun, gut. Bleibt ihr zum Essen?«
»Mal sehen«, ließ Patrick sich die Option offen. »Was gibt es hier?«
»Rainer. Den Pfad hoch, aber seid vorsichtig, es ist verteufelt glatt.« Er nickte
Sandra zu. »Vielleicht Anemie? Oder haben Sie getrunken?«
»Papa ...«
»Nicht genug«, murmelte Sandra verdrossen. »Bitte entschuldigen Sie mich.
Ich werde schon mal ...« Sie deutete in den Wald und stapfte los.
»Nicht genug? Patrick, vielleicht ...«, seufzte sein Vater und hielt ihn am Arm
zurück. »Solltet ihr erst das Problem lösen, bevor ihr über Kinder nachdenkt?
Wie lange seid ihr ein Paar?«
Da saß er in einer schönen Bredouille. »Gar nicht, Papa«, gab er zu, um sie
nicht noch mehr gegen sich aufzubringen. »Ich ziehe sie nur mit meinem
Interesse auf.« Leider nur zu wahr.
»Oh! Fabian und Claudia glauben ... und deine Mutter auch! Lässt sich da
noch was machen? Vielleicht sollte ich mal mit ihr reden.«
»Besser nicht, Papa.« Das würde ihre Abneigung lediglich ausweiten und das
konnte er nun wirklich nicht gebrauchen. »Ich muss hinter ihr her. Ich ruf dich
später an.« Patrick hob die Hand zum Gruß.
»Das kannst du dir sparen. Sie ist erst morgen dran, ganz gleich, was Rainer
für einen Tanz aufführt.« Max gab ihm einen Klaps auf die Schulter. »Kopf hoch,
Junge. Vielleicht liegt es nur an eurer beruflichen Situation. Sagtest du nicht ...«
Wenn es mal so wäre! Dennoch zuckte er die Schultern mit einem:
»Möglich.« Glauben tat er es nicht. »Später.« Er folgte Sandra, die unbeirrt über
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den schlammigen Pfad stapfte. Eirig. Sie würde noch stürzen.
»Lass mich dir helfen«, bat er, was sie ignorierte. Stattdessen streckte sie die
Hand nach einem Baum aus.
»Es geht schon.«
Natürlich. Patrick folgte ihr, weil der Weg zu schmal war. »Sandra, das ist
albern. Lass mich dir helfen.«
Sie drehte sich halb zu ihm, Ärger im Blick. Sie machte sich hervorragend im
Wald, mit ihrem Kastanienhaar und den Haselnussaugen. Sie war so ganz
anders als Jen, die ebenso blond war wie er. Freunde hatten sie immer mit
einem Schneehasen verglichen. Allerdings in Anlehnung an den Playboy-Bunny.
Sandra kam einem scheuen Häschen schon viel näher.
»Ich komme zurecht!«, blaffte sie, das schmale Kinn hebend. »Es kann ja
nicht mehr weit sein!«
Es konnte noch wahnsinnig weit sein, aber er korrigierte sie nicht. Sie ließ die
Hände fallen, die in die Hüften gestemmt gewesen waren. Sie schwankte, als sie
sich umdrehte, und streckte die Finger nach einem Baum aus.
»Ich brauche keine Hilfe.«
»Du meinst, du würdest dir lieber das Genick brechen, als meine Hilfe
anzunehmen.« Damit lag er sicherlich verdammt richtig. Sie fuhr herum.
»Das ist doch ...« Sie riss die Augen auf und Patrick stockte das Herz. Die
Zeit mit ihm, aber dies half nicht. Sein Griff ging ins Leere und Sandras
verblüffter Aufschrei würde ihn sicherlich zukünftig verfolgen. Unterholz knackte,
als sie den Abhang herunter rollte, nun verstummt. Patrick rutschte hinterher. Bei
ihr angelangt ging er in die Knie.
»Sandra?« Sie stöhnte leise. »Beweg dich nicht.«
Ihre Wimpern flatterten, bevor sie sich hoben.
»Lass mich sehen, ob du dir was gebrochen hast.«
Feuchtigkeit sammelte sich in ihren Augen und perlte ab. Er strich über ihre
Wange. »Ich bin versiert, Sandra. Das habe ich gelernt, okay? Vertrau mir!«
Sie schloss die Lider. Patrick konzentrierte sich auf seine Ausbildung. Er
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begann, ihren Schädel abzutasten. Sie zuckte zusammen. Es wäre ein Wunder
gewesen, wenn sie sich nicht den Kopf gestoßen hätte.
»Schlimm?«
»Sticht«, hauchte sie und befeuchtete sich die Lippen. Patrick kämpfte mit
sich. Er musste Ruhe bewahren. »Hier?« Er fuhr noch einmal über ihren
Hinterkopf.
»Rücken.« Sie schluckte. »Nicht das Genick.« Ein Grinsen flackerte auf.
Keine beruhigende Information. Er betastete ihr Genick trotzdem mit äußerster
Vorsicht. Dann ihre Schultern und ihre Arme.
»Ich werde jetzt deine Rippenbogen und das Brustbein abtasten, bitte
erschrick nicht. Ich habe keinen sexuellen Hintergedanken, okay?« Viel lieber
würde er sie mit sexuellen Hintergedanken berühren, seinetwegen auch im Wald,
allerdings im Trockenen und nicht nach einem Sturz. »Sehr gut. Jetzt noch die
Hüfte ...«
»Mein Rücken«, schniefte Sandra.
»Ich kann dich nicht drehen, bevor ich nicht sicher bin ... Tat das weh?«
»Bitte, es sticht ...«
Patrick zögerte. Die Alternativen waren deprimierend. Letztlich musste er sie
bewegen, ganz gleich, was die Ursache für das Stechen war. Ein Zweig war
vorstellbar. Natürlich konnte sie auch ganz unschuldig auf einem Ast liegen.
»In Ordnung. Ich werde dich drehen, versuche dich dabei nicht zu bewegen.«
Wenn sie eine Stichverletzung erlitten hatte, konnte eine Lageveränderung
verheerend sein. Er sah an ihr herab, schob die Hände unter ihre Schulter und
die Hüfte.
»Also gut. Bei drei.« Er zählte angespannt herab. Sie stöhnte, als er sie
drehte. Ein Schnitt teilte ihr Blouson. Mit zittrigen Fingern schob er den Stoff fort.
Auch die Strickjacke hatte ein Loch und war deutlich blutbesudelt.
»Schlimm?«, hauchte Sandra gepresst und zwang ihn zu antworten. »Nein«
»Lügner.«
»Ich lüge nicht.« Ihre weiße Bluse hatte einen Riss. »Es ist nicht so schlimm.
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Es blutet noch, aber ...« Nicht stark. »Du wirst es wohl überstehen.«
Sie stöhnte lediglich.
Patrick legte sie wieder ab.
»Au!«
»Bleib bitte liegen.« Er hinderte sie daran, sich aufzusetzen. »Lass mich
meine Arbeit beenden.«
»Aber es tut weh. Bitte kann ich nicht ...«
»Okay warte.« Er nahm sie vorsichtig auf und legte sie auf nassem Laub
wieder ab. »Bess ... Scheiße!« Durch seinen Ärmel suppte Blut. Ihre
Strumpfhose war zerrissen und Schlamm verschmiert. Mit klopfendem Herzen
schob er ihren Rock hoch. Sie stoppte ihn mit kalten Fingern.
»Ich muss die Blutung stoppen, Sandra.«
Ihre Lippen formten ein tonloses Wort: Blutung?
»Am Oberschenkel.« Eine vage Vermutung. Ihre Hand glitt ab. Ihr Blut nässte
den dunklen Stoff ihres Rocks.
»Schlimm?«
»Die Wunde muss gereinigt werden, damit ...« Er brach ab. Das nächste
Krankenhaus lag fast eine Stunde entfernt. »Ich werde einen einfachen Verband
anlegen.« Er riss sich die Jacke vom Leib, dann das Shirt. »Da ist ein Schuh.«
Patrick ignorierte sie und wickelte das Shirt um ihren Schenkel. In zwanzig
Minuten wären sie zu Hause. Seine Mutter hatte einen mehr als gut
ausgestatteten Verbandskasten dort. Inklusive Nadel, Faden und
Betäubungsmittel. Eine gerade Naht sollte er hinbekommen und die Dosierung
konnte er erfragen. »Das wird schon.«
»Ich lag auf einem Pumps.«
»In Ordnung. Ich werde dich nun ...«, begann er, seinen Plan fest vor Augen.
»Es kann nicht meiner sein, vielleicht gehört er dem Opfer?«
Er hielt inne. Was redete sie denn da?
Er folgte ihrem ausgestreckten Finger. Da lag ein Schuh mit knallroter Sohle.
Patrick blinzelte, der Schuh verschwand nicht. Er zückte sein Handy.
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»Rainer? Ich bins. Wir hatten einen kleinen Unfall ...«
»Du fährst auch wie ...«, lachte der Kollege gewohnt unbekümmert. Patrick
unterbrach ihn mit der Korrektur: »Im Wald. Wir sind vielleicht einen Kilometer
vom Ausgangspunkt entfernt.« Fragen, oder feststellen? Er hatte keine Zeit zu
vertrödeln.
»Hier liegt ein Damenschuh.« Das sorgte zumindest für einen Moment
verblüffter Stille. »Möglicherweise vom Opfer, ich nehme an, sie ist nackt, wie die
anderen?«
»Ich schicke dir Walther, er ist allerdings schon auf dem Weg nach Arnsberg.
Bleib, wo du bist«, wies Rainer ihn an. Patrick widersprach grimmig: »Nein. Frau
Staatsanwältin ist verletzt, sie braucht medizinische Versorgung.«
»Ruf einen RTW, Mann! Wenn der Schuh von dem Opfer ist ...«
»Scheiß auf das Opfer! Sie ist tot. Ein Rettungswagen braucht Ewigkeiten,
bis dahin ... Ich kümmere mich erst um Frau Bresinsky und komme dann zurück,
um Walther den sekundären Tatort zu zeigen.« Schnell legte er auf. »Pflicht
erfüllt. Ich bringe dich jetzt zum Auto.«
Sandra hatte sich aufgesetzt und war noch bleicher, als ihre Bluse. »Du
solltest besser liegen bleiben, bevor dein Kreislauf ...«, warnte er seine Jacke
überziehend. Es war verdammt kalt geworden. Er zögerte. Sie würde die Wärme
dringender benötigen. Sie zerrte an ihrem Rock. »Ich bekomme ihn nicht über
...«
»Leg dich zurück.« Patrick fing ihre Finger ein. »Du schaffst das nicht allein!
Du wirst lediglich den Verband deplacieren. Lass mich dir helfen!«
Als Antwort presste sie Lippen und Lider zusammen und ließ sich
zurückfallen. Patrick zog das Kleidungsstück vorsichtig in Position. Und
wiederholte seine Frage: »Möchtest du meine Jacke haben?«
»Es geht schon«, murmelte sie. Natürlich höhnte Patrick im Stillen. Sie war
so verflucht unvernünftig!
»Möchtest du vielleicht zum Auto laufen?«
Sie blinzelte zu ihm hoch. »Ich glaube, ich brauche einen Arzt.« Sie rappelte
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sich etwas auf und musterte den Abhang. »Er wird mich hier wohl nicht finden.«
Sie stöhnte leidvoll. »Ich komme dort nicht hoch.«
Mit Sicherheit nicht. Ihm entwich angespannt der Atem. »Also doch
vernunftbegabt.«
Ihre Pupillen weiteten sich empört und wurden glasig. Ihre Lider senkten sich,
aber keine Träne verließ ihren Platz. Vielleicht war die Bemerkung gemein, aber
er war schlicht abgenervt. Von ihr, Bauer, Rainer, dem Regen und von seiner
eigenen Unzulänglichkeit erst recht.
»Ich nehme an, ich darf dir nun doch helfen?« Er wartete ihre Antwort nicht
ab. Sie drückte sich sogleich von ihm fort.
»Sandra, du kannst nicht ...«, grollte er nahe dran sie zur Vernunft zu
schütteln.
»Meine Tasche!«
Er stutzte und sah auf sie herab. In ihren Augen blitzten noch immer
unvergossene Tränen. Er riss sich los. Ihre Tasche lag nur wenige Meter
entfernt. Er sah den Abhang hoch, verfolgte mit den Augen ihren Fall. Vielleicht
war sie nicht die Einzige, die gefallen war. Der Täter womöglich auch. Mit den
Habseligkeiten seines jüngsten Opfers, wobei der Schuh verloren ging.
»Scheiße.«
»Ich kann sie nicht zurücklassen. Mein Handy ist dort drin. Mein
Wohnungsschlüssel!«
Sie konnte bei ihm schlafen, das war nicht das Problem. Sie konnte ihre
Anrufe weiterleiten lassen.
»Bitte, ich brauche meine Tasche.« Angst flackerte in ihren Augen. Es ging
um Sicherheit. Wie sollte sie sich sicher fühlen, wenn sie keine Kontrolle hatte.
Über die Situation, dank ihres Tasers, über den Zutritt zu ihrer Wohnung, indem
sie den Schlüssel im Auge behielt und ihr Telefon, um Hilfe anfordern zu können.
Dennoch veränderten sie den Tatort, wenn sie die Tasche mitnahmen. Patrick
hatte keine Wahl.
Mit seinem Smartphone schoss er einige Fotos, damit die Tatortermittler
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zumindest einen Anhaltspunkt zu der jetzigen Situation hatten, und holte ihr dann
ihre Tasche. Sie klammerte sich an sie wie eine Ertrinkende.
»Danke.«
Sie ließ sich problemlos aufheben, sie durch den Wald zu schaffen war
keineswegs einfach, obwohl Patrick den Weg um die Anhöhe herum nahm und
am Wagen erwartete ihn ein Streifenpolizist.
»Hauptkommissar Schulte-Henning?«
»Mein Wagenschlüssel ist in meiner Jackentasche. Öffnen Sie bitte für mich,
damit ich Frau Bresinsky ablegen kann.«
Der Uniformierte kam der Aufforderung nach, während Sandra murmelte:
»Krankenwagen. Ihr Auto ...«
Patrick setzte sie ab und beugte sich vor, um den Sitz zurückzuklappen.
»Bleiben Sie liegen. Sie verlieren immer noch Blut. Ich habe keinen
Druckverband angelegt, dafür war die Wunde zu verschmutzt.«
Sie blinzelte zu ihm auf. »Ihr Auto!«
»Vertrauen Sie mir, Sie werden schnellst möglich versorgt.« Er zog den Gurt
über sie. Obligatorisch, schließlich war er für sitzende Mitfahrer gedacht, nicht für
liegende. Sandra zitterte und war noch immer kalkbleich. Das Schlimmste was
passieren konnte war, dass sie in Schock verfiel. Er sah auf und begegnete dem
ungeduldigen Blick des Polizisten. »Herr Kommissar, Kommissar Rainer ...«
»Im Kofferraum liegt eine Decke und eine Regenjacke, die brauche ich nun!«
Er scheuchte ihn los.
»Kommissar Rainer wünscht, dass Sie auf ihn warten«, nutzte der
Uniformierte die Gelegenheit, als er Patrick Decke und Jacke übergab. »Frau
Staatsanwältin hat eine tiefe Schnittwunde am Oberschenkel, die stark blutet. Sie
wissen, wie weit es zum nächsten Krankenhaus ist?«
Er wusste es, denn er sah bedrückt auf Sandra nieder. »Kommissar Rainer
...«
Patrick steckte die Decke fest. Ihre Beine legte er erhöht auf die Ablage.
»Kann sich gerne beschweren. Sachdienliche Beweise sind durch das Wetter
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bereits vernichtet, da wird er auf einen Schuh auch noch länger warten können!«
Und sein Verdacht konnte auch warten. Er schloss die Tür und hastete um den
Wagen herum. Zwanzig Minuten. Sie hielt das aus. Patrick warf ihr einen Blick
zu, als er mit durchdrehenden Rädern anfuhr und dabei den Polizisten mit Dreck
bespritzte. Ihre Wimpern lagen auf gespenstisch bleichen Wangen.
»Sandra?«, sprach er sie an. »Du musst wach bleiben.«
Er berührte ihre Schulter. Wenn sie nicht mehr ansprechbar war, musste er
den Notruf verständigen. Sie konnten sich auf halbem Wege treffen. »Sandra?
Hörst du mich.«
»Bin müde«, murmelte sie.
»Du musst wach bleiben. Rede mit mir!« Das tat sie ja nicht einmal, wenn sie
hellwach war! Er fluchte innerlich. »Deine Schwestern, wo leben sie?«
Unvergänglich, keine Information, die man auf Teufel komm raus verschweigen
musste, auch nicht als Stalkingopfer.
»Zu Hause.«
Ohja, sie wollte sich definitiv nicht mit ihm unterhalten. »Das ist wo?« Keine
Antwort. »Auch Anwälte?«
»Nein.«
»Sondern?« Patrick fuhr schneller. Vielleicht lag ihre Einsilbigkeit nicht an
ihm. »Verheiratet?«
»Anne.«
Er sah wieder zu ihr rüber.
»Kinder?«
»Zwei«, murmelte sie schwach. »Kalt.«
»Wir sind gleich da, Sandra. Du musst wach bleiben. Die Wunde muss
gereinigt werden. Ich schaffe das nicht allein!« Ihre Wimpern flatterten und hoben
sich einen Spalt breit. »Ich bin so ...«
»Ich weiß! Du kannst den Rest des Tages schlafen, das verspreche ich dir,
halte nur noch ein wenig länger durch.« Er bog von der Landstraße ab. »Fünf
Minuten, dann sind wir da. Rede mit mir!«
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»Tut mir leid«, flüsterte sie. »Mache es wieder gut.«
Er konnte sich einiges dafür vorstellen. »Die Namen? Nichte? Neffe?«
»Ariadne und ...«
Patrick bog in den Waldweg zu seinem Elternhaus ab. Laub wirbelte auf, als
er plötzlich zum Stehen kam.
»Und?« Er schnallte sich ab. »Sandra? Scheiße! Verdammte Scheiße!«
Sandra erwachte mit klopfendem Herzen und stechendem Kopf. Verwirrt
klammerte sie sich an das Bettzeug. Es war dunkel im Zimmer, aber nicht
rabenschwarz. Durch das Fenster fiel ein breiter grader Streifen Licht direkt in ihr
Gesicht. Sie blinzelte und drehte den Kopf. Ihre Augen gewöhnten sich nur
langsam an die fehlende Helligkeit, aber sie wusste bereits, wo sie war. Der
kleine Affe hatte es ihr verraten. Er beäugte sie kritisch. »Hallo Charlie.«
Er gackerte zur Begrüßung und setzte sich seelenruhig auf das Kopfkissen,
um sie weiter anzustarren. Lieber der kleine Affe, als der große, sagte sie sich
und schloss wieder die Augen. Ihr Magen knurrte, aber sie wollte nicht essen.
Mal abgesehen davon, dass sie nur etwas Essbares bekam, wenn sie
Schulte-Henning auf sich aufmerksam machte und sie wollte ihn nicht sehen.
Nicht nach ihrer Dummheit. Sie versteckte ihr Gesicht in der Decke. Sie drehte
sich, den Schmerz ignorierend. Ihr Rücken brannte noch viel schlimmer als ihr
Bein. Es klopfte und Sandra versteckte sich in der Decke. Es blieb ihr nichts
anderes übrig, sie musste sich für ihre Dummheit entschuldigen. Für ihre
Unvorsichtigkeit. Für die Zeitverschwendung und ihre Unzulänglichkeit. Und sich
für seine Hilfe bedanken. Sie erinnerte sich an ihr voreiliges Versprechen und
bekam keinen Ton hervor. Sie musste klarstellen, dass sie damit keinen Sex
einräumte. »Ich schlafe nicht mit Ihnen!«
Er blieb stehen und Sandra hielt den Atem an. Vielleicht hätte sie es
diplomatischer verpacken können? »Ich kann nicht. Und das hat nichts mit ... mit
... Ach, verdammt! Ich will auch keinen Sex mit ihm! Sagen Sie es ihm doch! Es
ist mir egal! Es ist mir egal, was sie von mir denken! Lassen Sie mich doch
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einfach in Frieden!« Na, das war ja mal diplomatisch! Aber zurück nehmen würde
sie es nicht.
»Gut.«
Sandra spannte sich an, wobei sie jede Schramme auf ihrem Rücken deutlich
wahrnahm.
»Fürs Protokoll: Ich wollte nur nach Ihnen sehen, den Verband wechseln und
fragen, ob Sie hungrig sind.«
NEIN! Das war gar nicht Schulte-Henning!
»Ich befinde mich in einer Zwickmühle. Ich habe Patrick versprochen nach
Ihnen zu sehen, mein Eid verlangt von mir, nach Ihrer Verletzung zu sehen und
wenn Sie mich fragen, sollten Sie sowohl den Tee trinken, den ich Ihnen
mitgebracht habe, als auch etwas Nahrung zu sich nehmen.«
Sandra stöhnte in die Decke. Wie peinlich! Sie drehte sich um, wissend, dass
ihre Wangen ihre Verlegenheit hervorragend zur Geltung brachten.
»Doktor Schiller, ich ...« Ihr fehlten die Worte. Sie presste die Decke an ihre
Brust. »Ich meinte gar nicht Sie.«
»Ich hoffe, Sie ändern jetzt nicht Ihre Meinung. Die Mädchen sind im Haus
und Claudia ...«
Verdattert sah sie ihn an. Sie konnte nicht folgen.
»Mit mir zu schlafen«, erinnerte er sie mit einem Grinsen, das sie schon an
seinem Bruder verabscheute. Es fiel direkt wieder. »Verzeihen Sie, ich vergaß ...
Es war ein Scherz. Patrick würde mich umbringen.« Er verdrehte die Augen.
»Wenn ich daran denken würde.« Er schüttelte den Kopf. »Ich schlafe
ausgesprochen gerne mit meiner Frau, was augenblicklich vorbei wäre, wenn ...
Ich schlage vor, wir vergesse dieses Gespräch einfach. Darf ich mir die Naht
ansehen?«
Sandra zog verstört die Beine an. »Naht?« Den Rest überging sie besser.
»Die Wunde an Ihrem Schenkel musste genäht werden.«
Sie blinzelte, da war eine große Leere zwischen ihren Ohren. Sie musste so
dumm ausgesehen haben, wie sie sich fühlte, denn Doktor Schiller erklärte sanft:
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»Sie hatten einen Unfall. Ihre Verletzungen sind nicht lebensbedrohlich, aber der
Schnitt in ihrem Bein musste genäht werden.«
Sie blinzelte erneut. Es war mehr im Argen, als sie bisher befürchtet hatte.
Charlie kreischte neben ihr und sie nahm die Augen von dem Arzt.
»Das ist Charlie, unser Affe. Er ist zahm und absolut nicht gefährlich. Sind
Sie gegen Tetanus geimpft? Wir konnten keinen Impfausweis finden.«
»Sie haben meine Wunde genäht?«, fragte Sandra vorsichtig, nicht sicher, ob
sie ihre Befürchtung tatsächlich ansprechen sollte. »Hier?« Den Geruch nach
Desinfektionsmittel musste sie sich einbilden.
»Nicht ich.« Sandra hatte eher mit einem nicht hier gerechnet. »Patrick.«
Ein unangenehmes Piepen schwoll in ihren Ohren an. Sie blinzelte den
Namen mit den Lippen formend.
»Keine Sorge, er hat eine prima Arbeit abgeliefert und die Narbe wird
sicherlich minimalst ausfallen ... So sie sich nicht entzündet. Sie sind gegen
Tetanus geimpft, nicht wahr?«
Sie hörte ihn kaum mehr, so laut schrillte es in ihren Ohren.
»Sie wissen doch, dass er Pathologe ist, oder? Glauben Sie mir, fachlich ist
er höchst kompetent, auch wenn er sich nicht Doktor rufen lässt, sondern
Hauptkommissar.«
Dann konnte wohl nicht nur der Polizist in ihr lesen wie in einem Buch.
»Der Kommissar verarztet mich, während der Arzt meine Tasche durchwühlt.
Sie haben sich strafbar gemacht und er ... auf jeden Fall seine Kompetenzen
überschritten.«
Doktor Schiller presste die Lippen aufeinander. »Es steht Ihnen
selbstverständlich frei, mich anzuzeigen ...«
Sandra schnaubte ungläubig. »Machen Sie sich nicht lächerlich, Dr. Schiller,
und bitte keine Späße mehr. Schulte-Henning hat Sie sicherlich dazu angestiftet,
diesen Quatsch zu behaupten. Sagten Sie nicht etwas von Tee?« Sandra
rappelte sich auf und bemerkte: »Das sind nicht meine Sachen.«
»Ah, nein.« Er stellte die Tasse auf die Ablage und verscheuchte den Affen.
»Du sollst nicht begehren ...«
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Aufgebracht kreischend schoss der durch das Zimmer. Erst zum verschlossenen
Fenster und dann zur Tür hinaus. »Ihr Kostüm ...«
Sie winkte ab. Sie konnte es sich denken. Wenn sie einen Schnitt im Bein
hatte, war der auch in ihrem Rock. »Mein Rücken ist in Ordnung?« Allerdings
sollte ihre Unterwäsche intakt sein.
»Ich nehme es an. Ich musste das Zimmer verlassen, als Patrick sie
auszog.« Er zuckte die Schultern. »Ich nahm an, es sei in Ihrem Sinne, da sie ...
etwas, nun, zurückhaltend sind.«
Sie ignorierte die eigentliche Bedeutung und zog den Ärmel lang. Ihr
schwante Böses. »Das gehört doch nicht ...« Sie schloss die Augen. Mit etwas
Glück würde sie niemand damit sehen.
»Patrick.«
»Schön.« Das war es gar nicht. »Vielen Dank für Ihre Fürsorge.«
»Gern geschehen. Lassen Sie mich einen Blick auf die Naht werfen, dann
kann ich mich weiter um die Mädchen und das Abendessen kümmern.« Er holte
Verbandszeug aus dem Regal über dem Bett.
»Abendessen?« Es konnte unmöglich schon Abend sein.
»Viertel vor sechs. Meine Eltern müssten jeden Moment zurückkommen ...«,
löste er ein Rätsel.
»Die Mädchen?«
»Claire und Kelly. Sie haben sie doch letzte Woche kennengelernt. Sie
erinnern sich doch?« Er setzte sich auf die Bettkante und musterte sie kritisch.
»Patrick meinte, Sie wären ansprechbar gewesen. Haben Sie noch etwas
vergessen?«
Nein, aber sie hoffte, dass es morgen ganz anders aussah. Es gab einiges,
was sie gern vergessen wollte! »Ich erinnere mich. Aber ...«
»Steffi hat Probleme, es sind Ferien, also bleiben die Mädchen bei uns. Wir
stehen zusammen.« Er zuckte die Schultern und deutete auf die Decke. »Darf
ich?«
Sie hatte Mühe den Mund geschlossen zu halten. »Moment«, murmelte sie.
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»Wo ist denn die Wunde? Kommissar Schulte-Henning hat meinen Rock ...«
»Kommissar Schulte-Henning?«, prustete Schiller und hob sogleich die
Hände. »Entschuldigung, es ist Ihr ernst, nicht wahr? Patrick ... hat keine
Chance.«
Sandra stockte und krächzte: »Nein.«
Schiller wurde ernst. »Darf ich fragen: warum? Doch nicht wegen ... Bauer,
oder?«
Es fiel ihr schwer, seinem Blick standzuhalten. »Nein.«
»Der Job?«, bohrte er weiter. »Man sollte gar nicht glauben, mit wie vielen
Vorurteilen er behaftet ist.«
»Es ist nicht ...« Sandra schüttelte den Kopf. »Er ist furchtbar! Er behandelt
mich wie ...« Ihr fehlte der Vergleich.
»Um Längen besser als Bauer mit Sicherheit!«
Wieder klappte sie den Mund zu. »Glauben Sie?« Sie sah keinen
Unterschied. »Er nimmt sich, was er will, wann er es will. Ganz gleich, was ...«
Was sagte sie denn da? Erschrocken hielt sie inne.
»Mit Gewalt?«
Es rieselte ihr eiskalt den Rücken herunter. »Nein!« Er glaubte es nicht.
Genau wie bei seinem Bruder bildete sich eine steile Falte zwischen den Brauen,
während sich ein Lid verengte, wenn er zweifelte.
»Sandra, Sie können sich mir anvertrauen. Ich werde Patrick nicht
informieren. Was Sie mir sagen bleibt unter uns.«
Die Kehle wurde ihr eng. »Da ist nichts, was ich ...« Sie brachte es nicht über
die Lippen.
»Ich habe gesehen, zu was Bauer in der Lage ist. Sie scheinen mir um
einiges zu konservativ, um seine ... Fantasien zu bedienen.« Er suchte ihren
Blick.
»Dr. Schiller, Sie irren sich.« Ihre Finger zitterten und sie vergrub sie in der
Decke.
»Sie haben Blutergüsse, die nicht von ihrem Unfall herrühren.« Natürlich.
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»Sie werden mich nicht davon überzeugen können, dass Patrick sie Ihnen
zufügte.«
»Dr. Schiller, bitte!« Sie schüttelte den Kopf.
»War es Patrick?«, fragte er eindringlich. »Oder Peter?«
Sandra hielt den Atem an. »Er hat mich festgehalten. Er wollte mir sicher
nicht wehtun. Er ... Bitte, Sie sehen das falsch.« Sie schloss die Augen. Wie
hörte sie sich bloß an? »Ich verteidige ihn nicht«, stellte sie klar. »Ich muss ...«
Diese Schulte-Hennings machten sie fertig! Sie rieb sich die Stirn. »Wir ... Sie
wissen ja, dass ... Ich ... Gott, ich finde die richtigen Worte nicht!« Sie zog die
Beine fest an sich und legte den Kopf auf den Knien ab.
»Warum schlafen Sie mit ihm?«
Was für eine furchtbare Frage. Warum? Sie wusste es selber nicht. Ihre Haut
kribbelte eigentümlich. »Eigentlich ...«
»Wollen Sie es nicht? Was tut er? Hält er Sie fest?«
»Nein, das war Peter, er ... Ich wollte nicht, dass er mich küsst. Ich habe
bisher versäumt ... Ich hätte mit ihm sprechen müssen.« Sie schloss fest die
Augen. »Über Patrick? Weil Sie mit ihm schlafen?«
»Ja.« Das war nicht eindeutig. »Habe.« Nur dieses eine Mal. Zwei Mal. Nein,
drei Mal. Okay, das hörte sich keinesfalls so an, wie es klingen sollte. »Ich
meine, dass ich mit ... mit ...« Und es wurde nicht besser. »Hauptkommissar
Schulte-Henning geschlafen habe, obwohl ...« Sie brach verwirrt ab. Obwohl
was? Obwohl Peter und sie ein Paar waren? Sandra umklammerte ihre Beine.
Telefonierst du nicht mit deinem Freund? Könnte er drei Tage verschwunden
sein ... Sie telefonierten nicht. Sie waren nicht einmal aus gewesen, obwohl Peter
es einige Male vorgeschlagen hatte. Es kam immer etwas dazwischen. Er hatte
sie nie nach Hause gebracht ...
Sandra schloss die Augen.
»Obwohl Sie was mit Peter haben«, stellte Dr. Schiller neutral fest. Aber es
hörte sich ebenso falsch an.
»Es ist nicht so, wie Sie denken«, flüsterte Sandra, wissend, dass sie sich
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ihre Worte sparen konnte. Ihre Taten sprachen für sich. Und klar gegen sie.
»Und es ist ja nicht so ... Da ist ja nichts zwischen Ihrem Bruder und mir! Es war
nur ... Ein Fehler.«
»Ein One-Night-Stand.«
Sie klappte den Mund zu.
»Und das mit Peter? Eine Affäre. Sie sind achtundzwanzig, nicht wahr?
Vielleicht ist es Zeit für etwas anderes? Etwas Festes?«
Das war absurd.
»Ich habe keine Aff ...« Geht es dir nur um Sex? Also keine Affäre. Worum
sonst sollte es Peter gehen?
Sie schluckte schwer an der Erkenntnis. Natürlich war sie nicht Peters
Freundin. Lediglich die Büroaffäre und sicherlich nicht, weil er zu viel zu tun
hatte.
»Sie schlafen mit einem Mann, der Sie verletzt. Warum? Was erhoffen Sie
sich von ihm? Sie sind intelligent, Sandra, glauben Sie daran, dass er sich
ändert? Er wird sich nicht ändern. Ich kenne ihn seit fünfzehn Jahren und es
wurde nur beständig schlimmer mit ihm.«
»Nichts. Ich erhoffe mir nichts. Vielleicht war es mir bisher nicht klar
gewesen, aber eigentlich bin ich froh ...« Peter los zu sein. Sie atmete erleichtert
aus. Sie brauchte es ihm nur sagen, dann war es vorbei. »Ich werde mit ihm
reden.«
Sie sah auf. Dr. Schiller betrachtete sie mit gerunzelter Stirn.
»Vielleicht besser nicht allein. Bitten Sie Patrick ...«
»Auf keinem Fall!«, unterbrach sie ihn. Das Letzte, was sie wollte, war, dass
Schulte-Henning sich was darauf einbildete. Besser er wusste nichts davon.
Nachher glaubte er noch, sie tat es wegen ihm. Für ihn. Weil sie etwas Festes
mit ihm wollte, oder so. Welch unsinniger Gedanke!
»Mir behagt der Gedanke nicht, dass Sie allein mit ihm sprechen. Wenn Sie
Patrick nicht dabei haben wollen, was wohl auch besser ist, dann kann ich Sie
vielleicht begleiten?« Er streckte die Hand aus. »Nur zur Sicherheit.«
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Es war definitiv sein ernst. Ein Schauder wusch über ihren Rücken.
»Ich bin mir sicher, dass er mich nicht ...« Verletzten wollte? Es waren nicht
die ersten blauen Flecken gewesen, die er ihr zufügte. »Ich musste unserem
Vorgesetzten offenbaren, dass es Ähnlichkeiten zwischen unserem Fall und den
aktuellen Fällen hier aus Balve gab und ...« Darüber sollte sie nicht reden. »Nun,
er war aufgebracht. Er dachte, ich würde ...« Den Fall torpedieren und das auch
noch für Schulte-Henning. Was sagte ihr, dass er nicht ähnlich aufgebracht war,
wenn sie ihm ihren Fehltritt gestand.
»Ich werde Schulte-Henning einfach nicht erwähnen«, murmelte sie mehr zu
sich selbst. Die wenig beruhigenden Anrufe kamen ihr in den Sinn. Wenn es nun
nicht genügte? Vielleicht war männliche Begleitung gar nicht so verkehrt? Sie
stöhnte verzweifelt.
»Was wollen Sie sagen?«
Eine gute Frage. Wie beendete man eine Affäre? Ihr Professor hatte sie nach
einer Vorlesung unter dem Vorwand heranzitiert, ihre Hausarbeit sei miserabel.
Sie war davon dermaßen schockiert gewesen, dass sie die Trennung nicht
einmal kommentierte. Stattdessen hatte sie den Kurs bei einem anderen
Dozenten wiederholt und nicht mehr mit Professor Anders gesprochen.
»Sehen Sie, Sandra, Peter ist eine Zurückweisung nicht gewohnt. Ich weiß
nicht, wie er reagieren wird. Aber ich weiß, dass er ...«
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Kapitel 13 - Eine unerwartete Richtung
Patrick blieb im Wohnzimmer stehen. Kein Schritt vor ihm stand die
Schiebetür zur Terrasse offen. Seine Mutter befragte Claudia über Sandras
Zustand.
»Eine saubere Naht, wie aus dem Lehrbuch«, versicherte die Schwägerin mit
einem Lachen.
»Ich würde zu gerne einen Blick darauf werfen«, wiederholte seine Mutter.
»Er kann nähen, Gudrun«, grummelte sein Vater und wurde von Fabian
bekräftigt: »Mit Sicherheit. Er hat das Richtige getan, Mama. Bis zum
Krankenhaus in ...«
»Natürlich«, seufzte Gudrun. »Und ich weiß, dass er nähen kann, es ist nur
...«
»Akzeptiere es, Gudrun. Du hast Fabian, der dir nacheifert, lass Patrick
seinen eigenen Weg gehen.«
Wieder seufzte seine Mutter und Patrick zwang sich, weiterzugehen. Er
wusste, was sie von seiner Entscheidung hielt. Von beiden, genau genommen.
Jener lieber in die Pathologie zu gehen und der, dann doch eine Laufbahn als
Polizist einzuschlagen. Sein Vater sah auf, als er die Terrasse betrat. »Ah,
Patrick.«
»Nabend, Papa.« Er drückte Gudrun einen Kuss auf die Wange, die
nachdenklich zu ihm aufsah, als er sich wieder aufrichtete.
»Patrick kommst du auch mal Heim?«
»Arbeit, Mama.«
»Na, ich hab schon gehört, dass du heute an allen Fronten allein da stehst.«
Patrick beugte sich zu Claudia herab, um sie zu umarmen. »Claudia.«
»Hör nicht auf sie. Eigentlich ist sie stolz auf dich.« Sie zwinkerte vergnügt.
Patrick wagte die Einschätzung zu bezweifeln, ließ sie aber unkommentiert.
»Wie geht es Sandra?«, fragte er stattdessen Fabian. »Hat sich die Wunde
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...«
Fabians Kopfschütteln ließ ihn erleichtert abbrechen. Es war ihm den ganzen
Tag nicht aus dem Kopf gegangen, dass sie fort sein könnte, wenn er schließlich
Heim kam.
»Sie klagte über Schmerzen im Rücken, aber die Wunde sieht auch gut aus.
Ich habe ihr ein Schmerzmittel gegeben.«
»Paracetamol?«, knirschte Patrick. Er hasste es, dass keiner von ihnen
Klartext redete. Als könnte er die Präparate nicht zuordnen.
»Vermutlich sind die Hämatome Ursache der Schmerzen«, mutmaßte
Claudia und legte dabei den Kopf schräg. »In ein paar Tagen sieht sie aus wie
ein Paradiesvogel.«
Fabian räusperte sich. »Naja, sie kann sich glücklich schätzen, dass sie
keine ernsthaften Verletzungen davon getragen hat.«
»Sie sollte sich trotzdem in der Ambulanz vorstellen«, riet Gudrun abwinkend.
»Claudia hat ihr Kochsalz Lösung verabreicht, um den Blutverlust ...«
Patrick knirschte mit den Zähnen. »Sie sollte auf jedem Fall unter
Beobachtung bleiben«, fiel Fabian ein. »Aber du lässt sie ohnehin nicht aus den
Augen, oder?«
Patrick hielt seinem tadelnden Blick stand.
»Ich bin nicht so firm, was unsere Gesetze anbelangt, aber für meine Ohren
hört sich das nicht gut an.«
»Das geht dich nichts an, Fabian. Halte dich da raus«, ein Rat, den der ältere
Bruder ohnehin in den Wind schlagen würde. »Ich schaue Mal nach Sandra. War
sie wach? Hat sie gegessen?« Patrick wendete sich ab, um zurück ins Haus zu
gehen.
»Lass sie schlafen. Du solltest auch etwas in den Magen bekommen.«
»Habe ich schon«, räumte er ein.
»Allein?« Sein Vater schüttelte den Kopf. Er kannte ihn zu gut. »Doch nicht
freiwillig mit Rainer?«
Nur gezwungenermaßen und in Begleitung der Düsseldorfer Kollegin, die sie
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zum Witwer des zweiten Opfers der letzten Woche begleitet hatte.
»Mit einer Kollegin«, gab er zu und erntete überraschte Blicke. Vielleicht war
es gar nicht schlecht, sie etwas zu zerstreuen. Sollten sie ruhig glauben, es
stecke mehr hinter seiner verspäteten Heimkehr, dann brauchte er Sandras
Desinteresse vielleicht nicht kommentieren. »Ihr erlaubt also, dass ich mal nach
Sandra sehe?«
»Es geht ihr gut«, behauptete seine Mutter aufstehend. »Möchte jemand
Kaffee? Bist du sicher, dass du satt bist? Fabian hat eine erstklassige Mahlzeit
gezaubert.«
»Danke, Mama!«
Patrick schnaubte und versicherte: »Das glaube ich gern, aber ich bin nicht
hungrig.« Er deutete zur Tür. »Ich gehe dann mal.«
»Sie ist nicht oben.«
Patrick verharrte angespannt. Sie war also doch fort. Hatte Fabian sie nach
Hause gebracht? War sie dort nun ganz allein? Scheiße, er hätte sie nicht allein
lassen dürfen.
»Sagtest du nicht ...«
»Sie schläft dort drüben.« Fabian deutete in die Ecke hinter ihm. Der kleine
Kachelofen emittierte wohlige Wärme und einen flackernden Schein auf die in
Decken gehüllte Anwältin. Das Gesicht war abgewendet, aber ihr braunes Haar
war identifizierend genug. Die einzige Brünette im Haus. Er ging neben ihr in die
Knie und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Sie war nicht mehr ganz so
blass wie am Morgen, hatte aber dunkle Ringe unter den Augen. Nun, sie war
schon vor ihrem Unfall erschöpft gewesen. Es mochte an ihm liegen, aber sie
hatte in der letzten Woche nicht einmal mehr als fünf Stunden im Bett verbracht,
zumindest nicht schlafend. Er würde sie nicht wecken, beschloss er. Er konnte
sie auch noch morgen mit dem neuen Fall bekannt machen, wenn sie
ausgeschlafen war und er sortiert.
Er war sich noch immer nicht sicher, was er ihr zu seinem Verdacht sagen
sollte. Es gab neue Indizien. Belastende Indizien. Nicht nur Jacqueline Bach,
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einer einschlägig bekannten Prostituierten, was tatsächlich ein Zufall sein konnte.
Die zweite Leiche wurde als Martina Pasternak identifiziert, wohhaft in
Düsseldorf-Kaiserwerth, Cecilienallee 12. Die Adresse seine Schwester
unterschied sich gerade mal in der Hausnummer und die Befragung des Witwers
hatte ergeben, dass Peter Bauer in ihrem Haus ein und aus ging.
Es gab Hinweise zu einer mehr als engen Bekanntschaft zwischen seinem
verfluchten Schwager und der Toten. Rainer war von der Aussicht nahezu
elektrisiert gewesen. Damit war Bauer mit zwei der drei toten Frauen bekannt
und Rainer und die Düsseldorfer Kollegin ermittelten gegen ihn. Patrick hatte sich
neutral zu verhalten, oder würde von den Ermittlungen ausgeschlossen werden.
Damit war es fast ausgeschlossen, Sandra davon zu berichten. Würde sie Bauer
nicht warnen? Aber es nicht zu erwähnen ... Was solle es ändern?
Sein Daumen glitt über ihre weiche Haut. Sie mochte ihn ohnehin nicht. Also
eine Lüge. Er musste sich etwas einfallen lassen. Er hob sie auf. Sie seufzte, ihre
Lider flatterten, dann blinzelte sie ihn an. Ihre Lippen teilten sich, als wolle sie
etwas sagen und schlossen sich wieder. Sie legte den Kopf an seine Schulter
und schlang den Arm um seinen Hals. Patrick schloss die Augen. Sie roch so
gut! Nun, wenn man den Hauch Desinfektionsmittel ignorierte.
»Ich dachte, du wolltest sie nach oben bringen.«
Patrick schreckte auf. Fabian stand neben ihm.
»Ich bin auf dem Weg!«
»Schön, ich halte euch die Türen auf.«
»Das ist nicht ...«, er brach ab. Fabian würde sie begleiten egal, was er
sagte. Und ihm seine Vorhaltung machen. Patrick folgte also und wartete. Erst in
seinem Zimmer brach Fabian sein Schweigen: »Du warst aus?«
Patrick verbiss sich ein Knirschen und zog die Decke über Sandra.
»Letzte Woche warst du noch felsenfest davon überzeugt, dass es Sandra
sein musste. Etwas wankelmütig, oder?«, fragte Fabian gegen die Wand gelehnt
mit vor der Brust verschränkten Armen. Er seufzte. »Zumindest brauche ich dich
nicht mehr von ihr fernhalten.«
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Patrick steckte die Decke fest, murmelnd: »Wohl nicht.« Das schaffte sie
hervorragend selbst.
»Ich muss dir wohl nicht sagen, wie enttäuscht Mama sein wird?«
»Nein.« Patrick drehte sich langsam um. »Aber es ist wohl nicht zu ändern.«
»Gut.« Fabian presste die Lippen aufeinander. »Ich nehme an, du bringst sie
morgen in die Ambulanz?«
»Ist es nötig?« Ein Krankenhaus war eine Katastrophe, wenn es um die
persönliche Sicherheit ging. Er könnte sie dort nicht einen Moment aus den
Augen lassen.
»Da ist mehr, nicht wahr?«
»Lass es gut sein.« Er deutete zur Tür. »Wir wollen sie doch nicht
aufwecken, oder?«
Fabian schüttelte langsam den Kopf. »Raus damit.«
Patrick knirschte mit den Zähnen. Fabian war so dickköpfig wie ihr Vater. Er
gab nicht so schnell auf, wenn er etwas wirklich wollte. Derzeit lag sein Interesse
deutlich bei Sandra. »Es geht dich nichts an.«
»Dich geht es auch nichts an, hältst du dich raus?«
Ein Köder. Patrick grinste schwach. Fabian sollte es besser wissen, so leicht
ließ er sich nicht aufs Glatteis führen.
»Also nicht Bauer, Gott sei Dank!« Fabian seufzte und ließ die Arme fallen.
»Ich dachte schon, sie hätte mich angelogen.« Er stieß sich von der Wand ab
und trat zu ihm an sein Bett.
»Sie sollte sich trotzdem von ihm fernhalten, es ist nur eine Frage der Zeit ...«
Fabian presste die Lippen aufeinander. »Diese andere Sache ... Jemand den sie
kennt? Wenn er ihr GHB verabreicht hat, dann ... Fehlende Beweise, nehme ich
an?«
»Fahndung läuft«, knirschte Patrick. Es brachte nichts, es abzustreiten.
»Sie sollte mit Heidi sprechen«, schlug Fabian vor. »Soweit ich weiß, arbeitet
sie an einem Programm für Missbrauchsopfer. Gut, es ist in Arnsberg, aber in
ihrem Fall ist eine Delokation vielleicht besser.«
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Ihre Cousine Heidi war Therapeutin und arbeitete für die hiesige Caritas.
Patrick knirschte mit den Zähnen. Er hätte damit rechnen sollen, es war zu
offensichtlich, wenn man sich etwas auskannte.
»Ihre Mechanismen haben sie in ihre jetzige Situation gebracht, nicht wahr?
Es war ihre Abwehr, die sie für Peter interessant machte.« Fabian sah auf
Sandra herab. »Abgesehen wohl von ihrem Aussehen.« Er seufzt und Patrick
wendete seinen Blick ab. Sie sah herzzerreißend verletzlich aus.
»Was hast du vor? Ich meine: Wie lange hast du vor sie zu beschatten? Du
brauchst deinen Schlaf, du kannst nicht rund um die Uhr ...«
»Solange sie mich in ihrer Wohnung duldet, sich von mir begleiten lässt und
das Gerichtsgebäude nicht allein verlässt, ist sie sicher.« Solange er wachsam
blieb und das Schicksal ihnen hold.
Seine Zweifel standen ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Fabian
schüttelte den Kopf. »Kein Wunder, dass sie dich nicht ausstehen kann, du lässt
ihr kaum Platz zu atmen.«
Patrick folgte seinem Vater in das Restaurant, ohne auf den Weg zu achten.
Sie hatten die letzten vier Stunden mit der neuen Leiche verbracht, jene, die
nahe Neheim im Regen lag, vermutlich mehrere Stunden, wenn nicht gar Tage.
Die üblichen Indizien versagten bei der genauen Feststellung. Es war
ungewöhnlich kalt gewesen in den letzten Tagen, damit kühlte der tote Körper
schneller aus, also setzte die Leichenstarre früher ein. Das Fleisch verweste
langsamer, wodurch die Levoris länger anhielt. Man konnte den ungefähren
Zeitpunkt extrapolieren, aber das war aufwendig und blieb ungenau.
Der Körper war nahezu ausgeblutet gewesen. Am Auffindeort wurde Blut der
gleichen Gruppe sichergestellt. Denaturiert, was bedeuten konnte, dass auch
eine schlichte Übertragung stattgefunden hatte. Noch tappten sie völlig im
Dunkeln. Sicher war: Die zugefügten Verletzungen entsprachen jenen der
anderen Toten. Schnittverletzungen im Gesicht und mehrere Stiche in den
Brustraum. Dreizehn, genau genommen. Rasiert, allem Anschein nach Blondine.
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Ihr Gesicht war geschwollen, aber dem Zahnstatus nach war sie nicht älter als
Mitte zwanzig. Keine Auffälligkeiten wie Tattoos, Piercings oder markante
Leberflecken. Alles Weitere würde der Nachmittag klären.
Er seufzte schuldbewusst. Er sollte Sandra anrufen. Er konnte ihr nicht ewig
ausweichen. Sein Vater rief seiner Mutter eine Begrüßung zu und Patrick hob
den Blick vom ehedem roten Teppich. Viel höher glitt er aber zunächst nicht,
blieb er doch an einem knackigen Jeansarsch hängen. Bluejeans, hüfthoch mit
ausgefranstem Bund. Sicherlich nicht up to date, was das Neonpinke Shirt
unterstrich.
»Patrick?«
Der Hintern drehte sich und da es sich von selbst verbat einer Frau in den
Schritt zu starren, sah er auf. In gefasste grün-braune Augen. Er riss seine auf
und ließ sie noch einmal über sie gleiten. Das Shirt hatte einen Ausschnitt, der
nette Einblicke liefern konnte, trotz Achselshirt darunter. Ihre Haare waren in
einem Pferdeschwanz zusammengefasst und die Jeans betonte nicht nur ihren
Po, sondern auch ihre langen Beine und die Taille.
»Patrick?«
»Natürlich, Mama«, murmelte er und gab ihr den obligatorischen Kuss auf die
Wange. Gudrun hob eine Braue.
»Fein. Dabei hasst du doch den Platz am Aquarium.«
Patrick unterdrückte ein Stöhnen. Er hätte besser mal zugehört. »Dir zuliebe,
Mama.«
»Warum lassen wir Sandra nicht entscheiden? Suchen Sie sich doch einen
Platz aus«, schlug Max vor und deutete in den mit Tischen und Stühlen
vollgestellten Raum.
»Oh, bitte ...«
»Eine hervorragende Idee!« Es konnte kaum schlimmer kommen, als neben
dem Aquarium sitzen zu müssen. Sandra sah verunsichert von einem zum
Anderen.
»Ich ...« Sie befeuchtete sich die Lippen und sah sich um.
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Patrick stöhnte innerlich. Der Platz am Aquarium war ideal, man sah beide
Eingänge zum Saal, ohne direkt selbst gesehen zu werden und hielt dabei einen
Fluchtweg offen. Sandras Brauen zogen sich zusammen, als sie besagten Tisch
musterte. Ihre Augen flogen von einem Ausgang zum Anderen, dann seufzte sie.
»Vielleicht am Fenster?«
Patrick starrte sie einen Moment überrascht an. Sie deutete auf einen Tisch
in der Ecke mit Rundbank. »Oder dort?«
»Was hältst du von dem dort drüben?«, schlug er vor und nahm den zweit
besten Platz für ihre Situation. Einsehbar mit Fluchtmöglichkeit, wenn schon
unbrauchbar als Versteck. Sie nickte schnell. »Gern. Darf ich am Fenster
sitzen?«
»Bitte.«
Max bedeutete ihnen vorzugehen und zog Gudrun den Stuhl vor, um ihr beim
Platznehmen zu helfen. Sandra ließ sich schnell auf ihren nieder und ignorierte
ihn. Er ging um den Tisch herum und setzte sich ihr gegenüber.
»Steffis Sachen?«
Sie sah widerwillig auf. »Ich konnte schwerlich mit Ihrem Jogginganzug vor
die Tür gehen!«
Er verbiss sich ein Grinsen. »Warum nicht?«
»Weil Ihr Name hinten draufsteht, Kommissar Sch ...«
Sein Vater räusperte sich und Sandra brach mit einem erschrockenen Blick
auf diesen ab.
»Nein«, behauptete Patrick und bekam ihre Aufmerksamkeit zurück.
»Team Schulte-Henning! Es impliziert ich gehöre ...«
»Tut es nicht.«
»Es impliziert sehr wohl ...«
»Wollt ihr auch etwas bestellen, oder euch nur weiter streiten?«, unterbrach
Max erneut und ließ Sandra zusammenzucken. Sie nahm die Karte von der
Bedienung entgegen und murmelte: »Ein Wasser bitte.«
Patrick orderte ein Malzbier. »Du solltest etwas Zuckerhaltiges trinken, wenn
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du schon wieder herumlaufen musst.« Was seine Mutter sicherlich befürwortet
hatte. Zumindest musste er sich um Sandras Gesundheit keine Gedanken mehr
machen.
»Ich hatte Cola zum Frühstück!«
Wohl auf Anraten seiner Mutter. Er seufzte zufrieden.
»Und eingelegte Heringe auf Ei. Es war ekelig!« Sie sah von der Karte auf.
»Entschuldigen Sie, Frau ... Gudrun. Aber ...«
Seine Mutter winkte ab. »Ich bin da ganz bei Ihnen, Sandra, mit Heringen
kann man mich auch jagen, aber sie erfüllen ihren Zweck.«
Aminosäuren und Salz, perfekt. Patrick schlug seine Karte zu. Er sah
ohnehin nur obligatorisch hinein und betrachtete Sandra. Ihre Augen flogen über
das Angebot und ihre Brauen kommentierten es. Jugoslawisch war offenkundig
nicht ihr Ding. Die Getränke kamen und seine Eltern gaben ihre Bestellungen
auf. Er nahm die Grillplatte und reichte der Bedienung seine Karte. Er spürte
Sandras Blick auf sich, ganz kurz, dann flog er zurück auf die Karte. Sie blätterte
hastig in ihr und schlug sie dann zu. Ihre Lippen waren zusammengepresst und
sie behielt die Lider gesenkt, als sie sagte: »Ich hätte auch gerne die Grillplatte,
aber bitte ohne Leber.«
»Mit Leber«, korrigierte Patrick und kam damit seiner Mutter zuvor. Sandra
riss die Augen auf.
»Bitte!« Sie fasste sich schnell. »Ich mag keine Innereien und ich glaube, ich
entscheide ...«
»Leber enthält wichtige ...«
Sie unterbrach ihn: »Also ...«
»Er hat recht, Sandra, Sie sollten zumindest etwas von der Leber essen.«
Sandra klappte den Mund zu. Nach einem Moment stimmte sie zu und ließ
die Hände unter den Tisch fallen.
»Also, du hattest ein reichhaltiges Frühstück und dann? Hast du dich
gelangweilt? Oder wolltest du dir die Stadt anschauen? Arnsberg hat einen
historischen Stadtkern und die Ruine der Burg ist auf jeden Fall einen Besuch
»Du sollst nicht begehren ...«
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wert.«
»Wir waren einkaufen«, gab Gudrun die Antwort, die Sandra ihm verweigerte,
sie hatte lediglich den Kopf geschüttelt.
»So? Schuhe? Ich werde wohl nie verstehen, wozu man hundert Paar
Schuhe benötigt.«
Max stimmte ihm grummelnd zu, während seine Mutter ihn schalt: »Wenn
man adäquat angezogen sein möchte, müssen die Schuhe auch zum restlichen
Outfit passen!«
Patrick zuckte die Schultern. »Hast du etwas Nettes gefunden? Führst du sie
mir später vor?« Das erwartete er nicht wirklich, aber zumindest musste sie auf
die Fragen selbst antworten. Dies hatte er zumindest geglaubt.
»Wir waren bisher nur in zwei Boutiquen. Die Schuhe sparen wir uns für
später auf«, informierte Gudrun. »Erinnerst du dich an Fabians Freundin? Seine
erste lange Beziehung, Diana? Sie hat nun so eine bezaubernde kleine Boutique
hier um die Ecke.«
»Oh, bitte!«, murmelte Sandra an Farbe verlierend. Seine Mutter fuhr
ungerührt fort: »Sie hat ein unheimlich entzückendes Kleid im Angebot. In einem
Grünton, der Sandras Augen betont.«
»Bitte. Gudrun, ich habe wirklich keine Verwendung für ...«
»Ach was! Dafür findet man immer Verwendung. Nächstes Wochenende zum
Beispiel. Du bringst sie doch mit oder Patrick?«
Die Bedienung kam mit den Tellern zurück und ersparte ihm eine Antwort.
»Du solltest sie ausführen, Patrick«, hielt seine Mutter ihm vor. »Es gibt
Dinge im Leben, die sind wichtiger als die Arbeit!«
Sandra starrte auf ihren Teller.
»Leider sieht Sandra das anders.« Und er konnte es nicht ändern.
»Nun, wie sieht es aus mit heute Abend?«, erkundigte sich Max und drehte
sich leicht, um Sandra anzusehen. »Das Sorpe-Festival ist ein Highlight, es gibt
Musik, ein Feuerwerk ... Eine Rundfahrt auf der Möwe. Wenn Sie schon mal hier
sind, sollten Sie das nicht verpassen.«
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Sandra war deutlich fassungslos. Patrick seufzte innerlich, besser er schlug
das Ansinnen aus, ihr fiel es offenkundig schwer, sich zu behaupten.
»Eine wundervolle Idee, Max!« Gudrun strahlte regelrecht. »Das Kleid ist
perfekt! Mit einem Bolero wird es auch nicht zu kalt werden und ich bin mir
sicher, wir finden noch die passenden Schuhe dazu.«
»Sandra geht nicht mit mir aus.« Patrick räusperte sich. Es fiel ihm schwer,
es einzugestehen. »Wir ...«
»Sie hat der Vereinbarung doch zugestimmt. Also muss sie mit dir ausgehen.
Zumindest dieses eine Mal. Wir begleiten euch. Fabian und Claudia planten
auch, heute Abend hinzugehen. Sie werden es überstehen, Sandra.«
»Natürlich.« Sie schluckte schwer. »Bitte entschuldigen sie mich einen
Moment«, murmelte sie dann und erhob sich schwankend. Patrick legte sein
Besteck zur Seite.
»Mich auch.« Er folgte ihr hinaus und um die Ecke. Sie wischte sich Tränen
von der Wange und fuhr mit einem kleinen Schrei herum, als er sie ansprach. Sie
hob abwehrend die Hand, als er näher kam.
»Bitte nicht!«
Patrick blieb stehen. Er wollte sie in den Arm nehmen und trösten, nicht
mehr, aber selbst das war zu viel für sie. »Warum nicht?«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Bitte, ich kann das nicht!«
Ertragen? Wenn er sie berührte? War er ihr so zuwider, oder lag es an
Bauer? Hatte sie sich für ihn entschieden? Er ballte die Hände. Er hätte es
erwarten sollen.
»Sandra ...« Seine Stimme brach und er musste sich räuspern. Was brachte
es, sie erneut zu warnen? Sie glaubte ihm doch ohnehin nicht. Sie war
verblendet, verliebt. Er wusste, wie blind man sein konnte, wenn man verliebt
war. Wie sehr man immer wieder hoffte, dass alles doch anders war.
»Ich habe nicht vor ... Ich akzeptiere es. Es ist deine Entscheidung und ich
respektiere sie.«
Tränen rollten über ihre Wangen. »Oh.« Sie schloss die Augen und wischte
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mit der Hand darüber.
»Lass mich dich trösten. Ich werde nicht versuchen dich zu küssen, okay?«
Sie kam ihm entgegen und er nahm sie in die Arme. Er schloss selbst die
Augen und konzentrierte sich einen Moment nur auf ihre Berührung, bevor er sie
ausblendete. Nie wieder. Er würde nie wieder ihre Haut an seiner spüren. Sein
Kiefer verspannte sich und er presste sie fester an sich. Ihr Atem drang durch
sein Hemd und ihre Tränen nässten es. Sie schluchzte leise und ihre Finger
vergruben sich in seine Ärmel.
»Es tut mir leid«, murmelte Patrick nach einer Weile. »Ich werde klarstellen,
dass du kein Interesse an mir hast. Es nie hattest ... Du musst nicht mit mir
ausgehen.«
Sie schüttelte an seiner Brust den Kopf. »Wie soll ich das Fabian erklären?«,
fragte sie erstickt. »Er wird doch denken ...«
»Fabian?!« Es war raus, bevor er es zurückhalten konnte. Was hatte es
Fabian zu interessieren, mit wem sie ausging?
Sie schob ihn von sich und schlang die Arme um sich. »Ich habe ihm doch
gestern erst gesagt ...« Wieder schüttelte sie den Kopf. Patrick ging ein Licht auf.
Fabian hatte erwähnt ihn von Sandra fernhalten zu wollen, demnach hatten sie
miteinander gesprochen. Über ihn! Er konnte sich durchaus denken, was genau
besprochen worden war.
»Wenn du partout nicht auf das Festival gehen möchtest, spreche ich mit
meinen Eltern. Aber ...« Er hasste sich dafür, nach dem Strohhalm zu greifen.
»Wenn du gerne hingehen möchtest ... Begleite meine Mutter. Ich werde später
nachkommen. Um auf dich aufzupassen. Du musst nicht mit mir reden, oder
tanzen, oder ... Ignorier mich einfach.« In ihren Augen standen immer noch
Tränen und er hätte sie zu gerne fortgestrichen. »Ich sehe es nicht als
Rendezvous und Fabian weiß, dass ich ... Manchmal zu beharrend bin.« Er hielt
den Atem an. Geh mit mir hin. Geh mit mir hin!
Sandra biss sich auf die Unterlippe. »Ich habe bereits zu gesagt. Ihre Eltern
...«
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Ihre Schultern sackten herab und sie schüttelte den Kopf. »Sie sind noch
schlimmer als Sie!«
Eine berechtigte Feststellung, also zuckte er die Schultern. »Wollen wir
wieder hineingehen? Da ist noch eine Leber, die du essen solltest.«
Sandra knirschte eine Korrektur: »Ich habe mich geirrt!«
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Kapitel 14 - Das erste Date
Patrick sah sich um. Sie sollte hier sein, seine Mutter hatte ihren Standort
sehr genau beschrieben. Sie würde mit Sicherheit grün tragen, seine Mutter war
sturer als ein Esel und sie hatte bereits mehrfach klargestellt, dass es ihrer
Meinung nach nur dieses Kleid sein konnte. Sein Blick blieb jedoch an
wallendem braunen Haar hängen. Sie trug es offen. Sein Puls beschleunigte
sich, als er an ihr herabsah. Der Bolero war farblich passend zum Kleid und sie
hielt ihn in der Hand. Das Kleid hatte keine Ärmel, lediglich fluffige Träger. Es war
kaum knielang, lag oben eng an, um als Rock weit auszulaufen. Es schwang, als
sie sich zu ihm umdrehte, auf verboten hohen Absätzen.
»Onkel Patrick!«
Er fasste sich gerade noch rechtzeitig um Claire abzufangen, als sie auf ihn
zuflog. Er hob sie auf. »Claire, nicht so wild«, tadelte er, froh um die Ablenkung.
Seine Mutter hatte nicht übertrieben, Sandra war atemberaubend. Er küsste
Claire und stellte sie wieder ab, um auch Kelly aufzuheben. Seine Mutter
begrüßte ihn ebenfalls mit einem Kuss.
»Sandra.«
»Warum küsst du sie nicht? Magst du sie nicht mehr?«, fragte Kelly mit
misstrauisch verengten Augen. »Papa küsst Mama auch nicht mehr.«
»Sandra mag nicht geküsst werden, Naseweis.« Bauers Verhalten ließ er
besser unkommentiert.
»So?« Kelly schüttelte den Kopf. »Warum denn nicht?«
Sandra sah perplex auf das Mädchen herab.
»Nicht jede Familie begrüßt sich mit einem Kuss. Sie ist es nicht gewohnt
und deshalb ist es ihr unangenehm«, behauptete er, wobei zumindest das Ende
der Wahrheit entsprechen sollte.
»Mama sagt, man küsst sich, wenn man sich lieb hat«, beharrte Kelly trotzig.
»Vielleicht hat sie dich nicht lieb.«
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»Nun, vielleicht hast du recht, vielleicht hat sie mich nicht wirklich lieb ...«
»Aber warum denn nicht?«, mischte sich Claire ein. »Ich habe dich ganz doll
lieb.« Claire schmiegte sich an ihn.
»Ich habe dich auch ganz doll lieb, Claire.«
»Warum magst du Onkel Patrick nicht?«
Sandra stöhnte verzweifelt und Patrick beschloss, das Thema abzuhaken. Er
löste sich von Claire und drückte der Überrumpelten einen Kuss auf die Wange.
»So.«
Sandra presste die Lippen aufeinander. »Ich muss niemanden küssen, weil
ich ihn lieb habe und ...«
»Ah, Gott sei Dank, sie liebt mich doch!« Er zwinkerte ihr zu, was sie ihm
noch übler nahm als den Kuss.
»Oh, Patrick, ich habe den Mädchen eine Bootsfahrt versprochen«, schaltete
sich Gudrun ein. Max fuhr fort: »Nimm du die Damen doch mit, dann haben deine
Mutter und ich ein paar Minuten für uns.«
Ein abgekartetes Spiel. Er sah zu Sandra hinüber, der es wohl auch
aufgefallen war. Sie presste die Lippen aufeinander. Gudrun hielt ihm die Tickets
hin und Patrick reichte jeder seiner Nichten eine Hand. Sandra würde seine
Begleitung ohnehin nicht annehmen. »Du wirst doch nicht seekrank, oder
Sandra?«
Sie schnaubte verdrossen und steckte die Tickets ein. »Auf einem kleinen
Dampfer auf einem See?« Die Kinder zogen ihn mit sich und sie folgte langsam.
Die Möwe lag bereits am Anlegepunkt und Patrick schickte die Mädchen vor, um
sich einen Platz zu suchen. Er drehte sich abwartend zu Sandra um, die
entmutigt die Planke entlang sah. Ein rostiger Metallsteg mit Querstreben, die ein
Ausrutschen verhindern sollten. Er hielt ihr die Hand hin und sie verdrehte die
Augen.
»Du wirst wieder ausrutschen ...«
Sie griff nach der Reling und stakste langsam auf ihn zu. »Nicht das
passende Schuhwerk, hm?«
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Giftig sah sie auf. »Es geht!«
»Bitte gib mir dennoch deine Hand.«
»Es geht!«, wiederholte sie. »Warum habe ich mich nur zu diesen Schuhen
überreden lassen?«
»Weil du hinreißend darin aussiehst.«
Sie riss die Augen auf, zuckte zurück und geriet ins Schwanken. Er fing sie
ab.
»Vorsicht«, murmelte er. Ihre Augen schienen nun grün zu sein. Sein Blick
glitt ab. Zu gerne hätte er sie geküsst. Richtig, nicht bloß die Lippen auf ihre
Wange gepresst wie vorhin. Er schluckte mühsam und lockerte seine Finger.
»Bitte lass mich dir helfen. Es sind doch nur noch ein paar Schritte.«
Sie nickte und wendete das Gesicht ab. Er entließ sie, sobald sie das Schiff
betraten und Sandra kramte die Tickets hervor. Sie sah ihn nicht an. Nicht auf
dem Weg zum Tisch, den die Mädchen belegt hatten, nicht während die beiden
ein Stück Torte verputzten und sich dann noch ein Eis bestellten.
Sandra spielte nervös mit dem Verschluss ihrer Tasche. Ihr war ungemütlich
warm.
»Bist du sicher, dass du nichts möchtest?«
Er fragte es wohl zum hundertsten Mal.
»Nein, danke.«
»Ich möchte noch ein Eis!«, verlangte die Kleine und schob trotzig die
Unterlippe vor. »Bitte, Onkel Patrick, bekomme ich noch ein Eis?«
»Aber natürlich, Spatz, das wie vielte ist es denn heute?«
»Drei.«
»Dritte«, korrigierte die Große. »Aber Oma hat bestimmt nichts dagegen!«
Ihre Oma hatte immer etwas dagegen gehabt, ganz gleich, worum es ging.
Sandra senkte den Blick. Das Boot schwankte unter kaum vorhandenem
Seegang. Ihr Vater hatte sie trotzdem immer mitkommen lassen. In den Urlaub,
auf Ausflüge, selbst bei Annes Wettbewerben war sie oft dabei gewesen, obwohl
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die Hin- und Rückfahrt angefüllt waren von Großmutters Lamento. Musste es
denn Italien sein? Oder Spanien, oder Frankreich? Weder die Italiener, die
Spanier noch die Franzosen sprachen deutsch! Die Otsfriesen waren auch nicht
zu verstehen und die Bayern? Nun, die waren ja keine echten Deutschen. Vater
hatte gelacht, während ihre Mutter mit ihrer Mutter diskutiert hatte. Natürlich
waren die Bayern Deutsche! Natürlich sprach man im Ausland nicht deutsch! Die
Fahrt dauerte nun mal Stunden, sie hatte sich ja geweigert, ein Flugzeug zu
besteigen!
Tränen stiegen ihr in die Augen und der Hals zog sich ihr zu. Erschrocken
schob sie ihren Stuhl zurück. »Entschuldigung, ich brauche etwas frische Luft!«
Schulte-Henning sah alarmiert auf.
»Es ist nichts«, behauptete sie sogleich. »Nur die Luft.« Sie stolperte hastig
die Stufen hoch und durch den schmalen Raum zum Außengelände. Sie
klammerte sich an die Reling und versuchte die Erinnerung zu verscheuchen.
Ihre Großmutter war vor acht Jahren verstorben, ihre Eltern nun schon seit
dreizehn und sie hatte geglaubt, es verwunden zu haben. Warum war die
Erinnerung dann so bitter, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb? Sandra
bemühte sich gleichmäßig zu atmen.
»Sandra?«
Oh, nein! Berühr mich nicht. Berühr mich nicht!
Aber natürlich tat er es doch. Er suchte in ihrem Gesicht. »Du weinst ja.«
Schnell wischte sie sich die Tränen aus den Augen. »Es ist nichts.«
»Hast du Schmerzen? Soll ich dich gleich nach Hause bringen?« Er zog sie
an sich. »Wir legen in ein paar Minuten an.«
»Nein, es geht mir gut«, wiederholte Sandra, was er ihr aber nicht glauben
wollte. »Meine letzte Bootsfahrt ... Es war Tag der offenen Tür und mein Vater
nahm sich die Zeit, mit uns ganz allein auf dem Patrouillenschiff eine Runde über
den Rhein zu drehen. Eigentlich sollte er die Besucher damit kutschieren, aber er
ließ sie für uns warten.« Wieder musste sie ihre Tränen trocknen. »Eine Woche
später hatte er den Unfall. Er war sofort tot, zumindest sagte das sein
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Einsatzleiter, aber ...« Sie schüttelte den Kopf.
»Zoll? Dein Vater war Polizist?«
Sie sah auf. »Wasserschutzpolizei Münster.« Sie klappte den Mund zu. Was
sagte sie denn da? Sie sollte darüber nicht reden. Es ging ihn nichts an. Sie
versuchte zurück zu treten, aber er zog sie wieder in seine Arme. Sie schauderte
und schloss die Augen. Besser, sie forderte ihn direkt auf sie loszulassen!
»Das tut mir leid«, flüsterte er und sie schloss die Augen. Es war dreizehn
Jahre her, eine Ewigkeit. Schon längst vergessen. Sie schluchzte und
verwünschte ihre Schuhe. Mit den Absätzen war sie zu groß. Sie musste den
Arm um seinen Hals schlingen, um ihr Gesicht in der Ellenbeuge zu verstecken.
Sein Herz schlug beruhigend an ihrer Brust, während sie weinte.
»Wir legen gleich an, Sandra«, murmelte er nach einer Weile. Sein Atem
kitzelte ihr Ohr. Wenn sie ihn nun von sich schob, nur ein wenig, konnte sie ihn
küssen. Sie blinzelte irritiert. Was war das für ein blöder Gedanke?
Sein Daumen wischte den letzten Rest Feuchtigkeit fort. »Es tut mir leid.«
Ja. Ihr auch. Fürchterlich leid, aber es war nicht zu ändern. Es war, wie es
war. Es würde niemals funktionieren. Er war so stur, so herrisch und seine
ständigen Scherze und Anspielungen. Sie würden sich doch nur streiten. Sie riss
sich los. Zur Abwechslung trug er heute ein weißes Hemd, die Ärmel waren
aufgekrempelt, dazu dunkle Jeans und dunkle Lederschuhe. Sie konnte von
Glück sagen, dass sie hohe Schuhe trug, sonst hätte ihr Geheule ihn ganz schön
eingesaut.
»Mein Makeup«, murmelte sie und fummelte am Verschluss ihres
Täschchens.
Schulte-Henning hob ihr Gesicht an. »Perfekt.« Lediglich ein sachtes
Flüstern. Ihr Herz flatterte. Was für ein Unsinn. Sie trat zurück.
»Mein Maskara ...«
Er räusperte sich. »Nicht verlaufen. Alles gut.«
Sie wich ihm aus, als er ihr erneut seine Hilfe anbot, und folgte ihm und den
Mädchen zurück zu den Doktoren Schulte-Hennings. Sie versuchte zu lächeln
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befürchtete aber, dass es eher einer Grimasse glich. Sie widerstand dem Drang
ihr Handy minütlich aus der Tasche zu kramen, auch wenn es schwer war.
»Möchtest du etwas trinken?«
Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Hatte er nicht versprochen, sie bräuchte
nicht mit ihm sprechen? »Nein. Danke.«
»Bist du sicher? Wann hast du ...«
Sandra gab knirschend nach. »Ein Wasser bitte.«
»Wasser? Hast du ein Schmerzmittel eingenommen?«
Sandra stockte. Was sprach gegen Wasser? »Nein.« Ein dummer Gedanke
nahm ihr den Atem. »Ich bin keine Alkoholikerin!«
Er zuckte die Schultern. »Was spricht gegen ein Glas Wein?«
»Ich bin keine ...«, wiederholte Sandra entrüstet.
»Das habe ich auch nicht behauptet.« Schulte-Henning betrachtete sie mit
gerunzelter Stirn. »Also Wasser. Hast du Schmerzen?«
»Nein. Es geht mir gut!« Verdammt nochmal!
»Okay.« Trotzdem schien er nicht überzeugt.
Wasser! Patrick beobachtete Sandra verstohlen. Sie nippte nur sparsam an
ihrem Sprudel. Die Sonne ging unter und ihr Rendezvous ging dem Ende zu. Er
verkniff sich ein Schnauben. Sie sprach nicht mit ihm. Es war, als bereue sie ihre
Worte auf der Möwe. Heftig. Herrgott noch mal, sie sah ihn nicht einmal mehr an!
»Ah, es wird wohl Zeit für das Feuerwerk!«, bemerkte seine Mutter und die
Mädchen kreischten aufgeregt. Max schlug ihm auf die Schulter, wendete sich
aber an Sandra, die in ihr Glas starrte. »Patrick kennt den besten Ort, um das
Feuerwerk zu genießen. Sie sollten ihn begleiten, Sandra. Der Ausblick ist
atemberaubend, glauben Sie mir.«
Sandra drückte das Glas an die Brust. »Was ... Was spricht dagegen, das
Feuerwerk von hier ...«
»Ach, Sandra! Vertrauen Sie mir. Sie werden den Ausblick genießen!« Max
schob sie zu ihm.
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»Er hat recht, Sandra.« Nicht, dass es einen Unterschied machen würde.
»Wenn du natürlich lieber ...«
»Unsinn!«, unterbrach Gudrun ihn. »Nun geht schon, sonst verpasst ihr noch
das Beste!«
Sandra stellte ihr Glas auf dem Tisch ab und warf ihm nervös einen Blick zu.
Sie würde mitkommen. Er brauchte einen Moment, um es zu verarbeiten.
»Komm. Es ist ein Stück.«
Überraschenderweise folgte sie ihm. Der Weg war ansteigend und gekiest.
Er streckte die Hand nach ihr aus.
»Es geht schon.«
Natürlich. »Wie hoch sind die Absätze? Acht Zentimeter? Ich bitte dich.« Er
musste stoppen, weil sie stehen geblieben war. Jade glimmte in ihren Augen.
»Ich kann problemlos auf noch höheren Absätzen laufen! Es waren die
Gummistiefel und der rutschige Untergrund.«
Sicherlich waren Schuhwerk und Untergrund Teil des Problems gewesen.
»Schön. Du wirst dir die Wunde aufreißen. Aber bitte, es ist dein Bein. Wollen
wir? Es geht noch ein Stück hinauf.« Sie war unvernünftig. Stur. Verflucht!
»Ganz genau: es ist mein Bein!«, grummelte sie und stakste neben ihm her.
Er warf ihr einen bitteren Blick zu. Sie mussten ja nicht Händchen halten, das
verlangte er ja gar nicht. Es war doch eine ganz harmlose Hilfestellung. Es war
albern sie abzulehnen. Gefährlich. Sie war bereits verletzt, sie sollte sich lieber
Gedanken um ihre Gesundheit machen, als ... Worum ging es eigentlich? Wollte
sie einfach nicht, dass er sie berührte? Wegen Bauer, oder weil es ihr generell
unangenehm war? Eifersucht, oder ... Wieder sah er zu ihr rüber. Ich kann nicht,
nicht ich will nicht. Vielleicht war da mehr. Diese Momente im Tattoostudio und
gerade auf der Möwe, vielleicht bedeuteten sie doch etwas?
Natürlich konnte er sich auch was vormachen. Gut möglich, dass sie nur
nicht wollte, dass man sie zusammen sah. Er runzelte die Stirn. Sie wollte ganz
sicher nicht, dass man sie zusammen sah! Händchen haltend, als wären sie ein
Paar. Erneut sah er zu ihr rüber. Deswegen weigerte sie sich, mit ihm
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auszugehen.
»Nur weil wir gemeinsam an einem Ort sind, heißt es nicht, dass wir
zusammen sind.«
Sie blieb stehen. »Bitte?« Sie klang überrascht.
»Du willst meine Hilfe nicht, weil es aussehen könnte ...«
»Weil ich sie nicht brauche!«, unterbrach sie ihn. »Die Absätze sind kein
Problem. Der Schutt ist nicht optimal, aber ich kann darauf laufen! Bitte müssen
Sie sich ständig streiten?«
»Ich?« Patrick schüttelte fassungslos den Kopf. »Also gut, geh voran. Wir
müssen ganz nach oben.«
Sandra strich sich seufzend eine Strähne aus der Stirn und stakste los, nur
dass sie gar nicht stakste. Patrick sah ihr nach. Sie konnte in den Schuhen
laufen. Definitiv. Es sah nicht aus, als liefe sie auf rohen Eiern, ganz im
Gegenteil. Graziös. Ein abscheuliches Wort, aber passend. Ihr Po, ihre Hüfte, ihr
ganzer Körper schwang bei jedem Schritt und glich das fehlende Abrollen aus.
Es sollte verboten werden. Patrick wendete mühsam den Blick ab. Die
Voraussetzungen waren beschissen. Er würde mit einer Frau, die ihn nicht
wollte, in ein heimeliges Versteck gehen, in dem sie hundertprozentig allein
wären, und war bereits scharf wie Schmidts Katze, lediglich vom Anblick ihres
Hinterteils. Er folgte ihr langsam. Jen. Konzentriert dachte er an seine
Ex-Verlobte. Das raubte ihm gewöhnlich jedes positive Gefühl. Am Ende des
Weges sah Sandra sich um. Zur Rechten ging es zum Parkplatz und der Straße.
»Haben wir hier geparkt?«, fragte sie verwirrt. »Sie? Fahren wir ...«
»Gradeaus.« Patrick deutete in das Gebüsch in ihrem Rücken und sie drehte
sich um. »Das ist nicht Ihr ernst?«
»Du wirst es nicht bereuen. Komm, ich helfe dir hoch.«
Sandra wich vor ihm zurück. »Was haben Sie vor?«
»Ich sagte doch ...«
»Im ... Dickicht!«, unterbrach sie ihn. Sie musste stehen bleiben, weil sie
gegen die Wegeinfassung stieß. In dem Fall eine fast hüfthohe Mauer. »Wenn
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Sie glauben, dass ich ...«
Wollte er wissen, was sie glaubte? Er wusste es ohnehin. »Es geht mir nicht
um Sex, okay!« Was für eine fette Lüge. Sie befeuchtete sich die Lippen. »Man
sieht den Großteil des Sees von hier aus, das Feuerwerk wird vom Wasser
reflektiert. Es ist ein grandioser Ausblick, das ist alles! Ich habe nicht vor mit dir
zu schlafen!«
Ihre Lider senkten sich, als sie schluckte. »Nun gut. Wo geht es lang?«
»Nach oben.« Seine Fingerspitzen kribbelten. Sie konnte nicht allein
hochkommen.
»Aber ...«
»Ich helfe dir.« Patrick trat hinter sie, um sie aufzunehmen. Auf der Mauer
kam sie schwankend zum Stehen und er folgte ihr schnell. Er zog sie in das
Gebüsch.
»Schlamm?«, murmelte sie, folgte aber widerstandslos. Ein Pfeifen kündigte
die ersten Raketen an und Patrick schob sie in Position. Durch eine Lücke im
Gesträuch hatte man den perfekten Überblick. Ihre Lippen teilten sich mit einem
überraschten Oh, während sie mit weit geöffneten Augen das Spektakel
aufnahm. Er selbst verschwendete keinen Blick darauf, was er sah, war
atemberaubend genug. Sandra drehte sich schließlich zu ihm.
»Das war«, hauchte sie und verstummte dann, ihn ansehend. Er beugte sich
vor. Durch die Schuhe waren es nur noch wenige Zentimeter, die sie in Größe
variierten und das machte es noch viel einfacher sie zu küssen. Nach der ersten
Berührung wich sie leise keuchend zurück, aber er folgte einfach, hob die Hand
und schob sie in ihr Haar. Er hielt sie nicht wirklich fest, widerstand dem Drang
sie zu umarmen, was fatal wäre in ihrer Situation. Er wollte sie spüren. Aber er
wäre niemals in der Lage aufzuhören.
Nicht daran denken, mahnte er sich. Nur küssen. Nur einen Moment küssen.
Sein Handy riss ihn schließlich von ihr los. Er sah noch einen Augenblick länger
in ihr gelöstes Gesicht. Wunderschön. Alles. Ihre geröteten Wangen, die Lippen,
ihr kleines Näschen, alles. Ihre Wimpern flatterten, als sich ihre Lider hoben und
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sie ihn ansah. Er war kurz davor sich selbst Lügen zu strafen. Er wollte sie,
scheiß auf den unpassenden Ort, er war besser als der Wagen, der nicht nur
unendlich weit weg stand, sondern an dem auch jederzeit jemand vorbei
kommen konnte. Hier nicht. Sie waren allein. Vielleicht würde man sie hören
können, aber nicht sehen. Er beugte sich wieder vor, zog sie an sich, um sie zu
spüren, wenn er sie küsste, und verfluchte sein wieder bimmelndes Mobiltelefon.
Er war nicht im Dienst, wollte aber etwaige Neuigkeiten nicht verpassen,
immerhin ging es auch um ihre Sicherheit. Aber es war nicht Rainer, der störte,
oder die Dortmunder oder Düsseldorfer Kollegen, sondern sein Bruder.
»Was?«, schnarrte er verärgert. Schließlich konnte er genauso gut ihre Eltern
anrufen, um den Treffpunkt zu erfahren.
»Wo bleibt ihr?«
»Was geht dich das an?« Sandra drehte ihm den Rücken zu. »Mama und
Papa sind gerade gefahren, es wird zu spät für die Mädchen.«
Patrick wendete sich auch ab. Sterne glitzerten am Himmel. »Es ist zehn
Uhr«, murrte er ärgerlich. Hätte er das Gespräch nur nicht angenommen.
»Elf.«
Patrick checkte die Zeit. Elf Uhr. Eine Stunde. Er sah zu ihr rüber. Sie strich
sich ihr Kleid glatt, als sei es in Mitleidenschaft gezogen worden, dabei zitterten
ihre Finger. Eine Stunde ohne Unterbrechung, das musste etwas bedeuten! Oder
nicht? Darüber nachzudenken, bereitete ihm sengende Kopfschmerzen. »Wir
sind gleich da.« Er legte auf. »Claudia und Fabian warten auf uns.«
Sandra nickte, den Blick auf dem Boden gehaftet. Er streckte die Hand nach
ihr aus und ergriff ihre.
»Komm.« Er zog sie mit sich, hob sie von der Mauer und hätte sie nur zu
gerne noch einmal geküsst. Eine weitere Stunde lang, die ganze Nacht ... Aber
sie wich ihm aus. Alles, was sie ihm gönnte, war ihre Hand. Zumindest, bis sie
Fabian und Claudia entdeckten. Claudia kam ihnen entgegen.
»Hey!« Sie umarmte erst Sandra dann ihn. »Wo wart ihr denn bloß?«
Fabian warf ihm einen missbilligenden Blick zu und drückte Sandra einen
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Kuss auf die Wange. Sie zuckte erschrocken zurück.
»Alles in Ordnung?«, fragte er sie, wobei er sie kritisch musterte. Fabian war
es bitterernst damit, ihn von ihr fernhalten zu wollen. Sie senkte die Lider.
»Ja!«
»So?« Fabian warf ihm einen weiteren Blick zu. »Sie sehen hungrig aus,
kommen Sie.« Ihm wäre sie niemals einfach so gefolgt!
»War ... Warten Sie!« Nervös sah sie zu ihm, dann zu Fabian auf. »Ich bin
nicht ...« Ihr Magen unterbrach sie mit einem Knurren. »Das Übliche, Claudia?«
»Bitte, Schatz. Sag mal, Patrick ...«
Sandra wurde fortgeschoben. Vielleicht war es auch gut so. Sie spürte Dr.
Schillers Blick auf sich. Vielleicht aber auch nicht. Wie sollte sie ihr Verhalten
rechtfertigen? Sie schloss kurz die Augen.
»Alles in Ordnung?«
Ihr schauderte. Nichts war in Ordnung! Seit einer Ewigkeit schon nicht mehr.
»Ja.«
»Was möchten Sie essen?«, fragte er sie immer noch betrachtend. »Um die
Zeit müssen wir schon Glück haben, noch etwas zu bekommen.«
»Ich bin wirklich nicht hungrig, Dr. Schiller.« Nicht, dass der Einwand je Erfolg
hatte! Sie seufzte leise. Wo waren nur die Doktoren Schulte-Henning mit den
Mädchen? Die Kinder mussten doch bestimmt bald ins Bett und sie könnte sich
anschließen.
»Sie sollten essen, Sandra, und Fabian wäre mir lieber als Dr Schiller.
Claudias Lieblingssnack um Mitternacht sind Champignons in Holloundaise.« Er
deutete zu einem runden Büdchen. »Wir können es auch am Wurststand
probieren, Bratwurst, Steak, vermutlich Schwein und Huhn.«
Sie schüttelte den Kopf. Allein der Gedanke nun ein Stück Fleisch zu essen
bereitete ihr einen Brechreiz.
»Hm. Also, essen waren sie nicht. Haben Sie sich unterhalten? Patrick muss
man seine Grenzen ganz klar aufzeigen. Deutlich.«
Sandra unterdrückte ein Stöhnen.
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»Er mag derzeit entmutigt sein, aber weit davon entfernt aufzugeben. Tun Sie
sich und ihm den Gefallen und beenden Sie es direkt. Besonders in Ihrer
Situation«, riet Fabian ihr eindringlich und bestellte dann an der Theke eine
Portion Champignons. »Möchten Sie auch?«
Sandra schüttelte hin und her gerissen den Kopf. Sollte sie Dr. Schiller um
Hilfe bitten? Wobei? Momentan war sie einfach durcheinander.
»Ich habe es ihm gesagt«, murmelte sie es fast bereuend.
»Dass Sie nicht mit ihm zusammen sein wollen und den Grund dazu?«, hakte
er nach. Seine blauen Augen lagen auf ihr. Ohne Wertung, lediglich mit Interesse
und Mitgefühl.
»Grund?«, flüsterte sie. Ihr wurde schummrig. Sie sollte einen Grund
anführen? Sie sollte es aussprechen?
»Natürlich. Es ist schwer mit etwas abzuschließen, wenn es keinen Sinn
macht. Sagen Sie ihm, was Sie fühlen. Sie können Ihre Gefühle nicht ändern.«
Ihre Gefühle? Sie lehnte sich gegen den Tresen. Das war schauderhaft.
Fabian nahm die Portion Champignons entgegen und hielt sie ihr unter die
Nase. »Sind Sie sicher, dass Sie nicht auch etwas essen möchten?«
Ihr Magen knurrte vernehmlich. Sie hatte Hunger. Verblüfft sah sie auf den
gefüllten Pappbecher herab.
»Wann war Ihre letzte Mahlzeit?«
Sandra stöhnte. Es war offenkundig ein familiäres Problem.
»Ich nehme auch etwas«, gab sie nach. »Gibt es eine Auswahl bei der
Sauce?« Die gab es, also bestellte sie Champignons mit Knoblauchsauce. Sie
roch wundervoll. Sandra tunkte ihr Brot ein und steckte es sich in den Mund.
Fabian schmunzelte und deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
»Wollen wir dann? Bevor Patrick uns auflauert.«
Sie wusste, dass es ein Scherz war, dennoch sah sie sich unbehagt um.
»Sagen Sie ihm, dass Sie nicht das für ihn empfinden können, was er
empfindet. Er wird Ihnen keinen Vorwurf machen, seien Sie da unbesorgt.«
Sandra verschluckte sich fast an ihrem Brot.
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»Hier, Wasser!«
Sie schrie erschrocken auf und machte es damit noch schlimmer. Sie hustete
und das Essen wurde ihr abgenommen. Eine Hand klopfte auf ihren Rücken.
Musste er sich so anschleichen? Grimmig blitze sie ihn über den Rand des
Glases hinweg an. »Wollen Sie mich umbringen?«
»Besser?« Schulte-Henning griff nach ihrem Ellenbogen und zog sie mit.
Fabian folgte wortlos. »Trink noch einen Schluck.«
»Hey, alles in Ordnung?«, fragte Claudia besorgt und übernahm ihren
Ellenbogen, den Schulte-Henning nur mit einem Protestgemurmel freigab.
»Patrick hat uns schon etwas zu trinken besorgt. Wasser? Hast du Medikamente
genommen?«
Sandra seufzte verzweifelt. »Nein, mir geht es gut.«
»Hm«, machte Claudia. »Wohl die bessere Wahl. Du hast keine Schmerzen?
Gar keine?«
Sandra schüttelte den Kopf und nahm ihre Pilze wieder entgegen.
»Seltsam.«
»Dabei war sie den ganzen Morgen Schoppen«, fügte Schulte-Henning
hinzu. »Das sieht lecker aus, darf ich probieren?«
Sandra presste den Pappbecher an sich. Probieren? Unsicher sah sie auf. Er
presste die Lippen aufeinander und schüttelte nun selbst den Kopf.
»Ich bin kein Vampir, Sandra«, knirschte er und wendete sich ab. »Bier,
Fabian?«
Sandra musterte ihre Champignons.
»Wahnsinnig schlecht gelaunt heute, hm? Schwierigkeiten bei eurem Fall?«,
kommentierte Claudia Schulte-Hennings Abgang. »Fabian möchtest du auch?«
Sie bot ihm einen Pilz an, den er ausschlug: »Danke, aber iss du mal.«
»Ich teile gern mit dir, Schatz.«
»Ich weiß, aber du liebst die Fettbombe, während ich gut drauf verzichten
kann.« Sandra mümmelte an ihrer Portion. Es schmeckte nicht mehr. Hätte sie
ihn probieren lassen sollen?
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»Also?«, hakte Claudia nach. »Ärger im Job?« Die Frage war an sie
gerichtet. Sie klappte den Mund zu und runzelte die Stirn. »Ich weiß es nicht.«
Wie beunruhigend. »Da ist etwas«, räumte sie ein. »Er sagt mir nur nicht was.«
Nach dem Gespräch mit Kiki im Tattoostudio war etwas anders. Jacqueline
Bach. Und das war nicht das Einzige, was sie nicht wusste. Er hatte kein Wort
von dem neuen Leichenfund verloren. Irritiert schob sie den letzten Champignon
im Becher herum.
»Lenk ihn ab«, schlug Claudia vor. »Es ist nie gut sich zu sehr in der Arbeit
zu verlieren. Frei ist frei.« Sie grinste breit. »Außerdem ist er viel lustiger, wenn
er entspannt ist.« Sie zwinkerte und deutete auf ihren Becher. »Isst du den
noch? Wenn du keine Schmerzen hast, was hältst du vom Tanzen?«
Ihr letzter Pilz verschwand in Claudias Mund. »Hm, lecker!«
»Na toll!«, grummelte Fabian und küsste seine Frau. Sandra wendete sich
verlegen ab.
»Ich bin da durchaus empfindlich!«
»Tanz mit Sandra«, forderte Claudia lachend. »Ich schau mal, ob Patrick dein
Bier erst noch brauen muss!«
»Wie ihre Hoheit befiehlt! Also, Sandra, seien Sie unbesorgt, ich führe Sie
ohne Fauxpas durch den Tanz.« Er griff nach ihren Fingern, bevor sie auch nur
einen Ton hervor bekam, und zog sie mit sich. Unhaltbar. Trotzdem sparte sie
sich einen Protest. Lieber mit diesem Schulte-Henning tanzen, als mit dem
anderen irgendetwas tun. Er küsste sie zumindest nicht. Er blaffte sie nicht an,
weil sie eben keine Hilfe brauchte. Seufzend ließ sie sich in Position schieben.
»Foxtrott?«, fragte sie.
»Auch gerne etwas anderes, aber dafür wird es wohl keine passende Musik
geben.« Er zwinkerte sie an.
»Standard? Meine Schwester hat jahrelang Turniertanz gemacht. Sie war
richtig gut.« Sandra folgte mühelos seiner Führung.
»Regional?«
»Bundesweit.«
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»Tatsächlich? Wie heißt sie?« Seine blauen Augen gleißten interessiert auf.
»Ich habe selbst auch an Turnieren teilgenommen, selbst noch während des
Studiums. Es ist mit Claudia etwas eingeschlafen, sie tanzt nicht.«
»Anne.«
Er schüttelte den Kopf. »Anne Bresinsky ...«
»Von Be ...«, korrigierte sie automatisch und brach ab. »Sie hat es
aufgegeben.«
Als ihr Vater starb. Ihre Mutter war nicht mehr in der Lage gewesen, ihr
normales Leben weiter zu führen. Alles war in der Woche zum Erliegen
gekommen. Ihre Tanzausbildung, die Turniere, selbst der anstehende Urlaub war
abgesagt worden. Sie hätten ohnehin nicht fahren können. Ihre Mutter hatte sich
am Tag der geplanten Abreise das Leben genommen. Genau einen Monat nach
dem Tod ihres Mannes.
»Anne von Berg? Nicht zu glauben! Sie hat ganz plötzlich aufgehört, dabei
war sie Anwärterin auf den Titel. 2001? Meine Partnerin war eifersüchtig, weil
Anne einen Platz im WM-Kader erhalten sollte, und lag mir damit wochenlang in
den Ohren.« Fabian grinste sie an. »Sie tanzen auch. Es gab drei von
Berg-Mädchen in den regionalen Ausscheidungen. Susis Schwestern beklagten
sich immer, wie ungerecht die Richter seien, weil immer nur die von
Berg-Mädchen die hohen Punkte bekamen.«
»Die Richter hatten Angst vor unserer Großmutter. Wenn sie die falsche Zahl
hoben, hat sie ihnen stundenlang in den Ohren gelegen wegen des
vermeintlichen Fehlurteils.« Sandra lachte auf bei seinem verblüfften Gesicht.
»Sie war schrecklich. Und sie hasste diese Veranstaltungen!«
»Mama auch! Sie war heilfroh, dass Susis Eltern sich erboten, mich
mitzunehmen.«
»Ich hätte einiges darum gegeben, nicht mit zu müssen«, seufzte Sandra die
Schulter zuckend.
»Dann tanzen Sie nicht gern?«
»Es war Anne und Katharinas Ding. Aber wo sollte ich hin, wenn beide in der
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Tanzstunde waren? Ich hatte keine Wahl«, gab sie zu. »Ich tanze gern, aber ich
hasse es, dabei angestarrt zu werden. Und ich hasste unseren Tanzlehrer.«
»So? Susi war hin und weg, wenn wir zur Vertretung einen Lehrer hatten.«
Sandra unterdrückte einen Schauder. »Er hielt sich für Patrick Swayze! Ich
habe es gehasst, wenn er meine Haltung korrigierte.«
Patrick beobachtete Sandra mit äußerst düsteren Gedanken. Neben ihm
versicherte ihm Claudia, was für ein hübsches Paar sie abgaben. Er atmete
zischend aus. Ihre Haltung war erstklassig und es war offenkundig, dass sie ihre
Balance dem Kunsttanzen verdankte. Sie lachte auf und bog dabei den Kopf
zurück.
»Deine Eifersucht ist unbegründet.«
Oh, das glaubte er nicht. Er war doch die bessere Wahl! Sein Bruder. Nicht
zu fassen! Er war verheiratet!
»Gönn ihr doch etwas Spaß. Sie ist so angespannt. Wenn ihr nicht runter
kommt, nimmt eure Gereiztheit noch ein böses Ende«, mahnte Claudia. Sandras
zärtliches Lächeln brachte das Maß zum Überlaufen.
»Sie kann Spaß mit mir haben!« Tanzen konnte er auch. Zumindest den
Foxtrott. Er stürmte auf die Tanzfläche.
»Nein, Mambo natürlich. Mir fehlt die Leidenschaft zum Tango.«
Die Musik verklang und setzte mit einem Schmusesong wieder ein. Es war
höchste Zeit. Sandra löste sich von Fabian und Patrick fing ihre Hand ein.
»Darf ich?«, knurrte er und zog sie bereits in die Arme.
»Ich glaube, Sandra sollte sich ...«, wand Fabian ein und wollte sie ihm
wieder entführen, aber Patrick drehte sich um.
»Verschwinde.«
»Patrick ...«
»Einen Tanz wirst du mit mir doch noch überstehen, oder?«
Sandra drückte sich von ihm fort. »Sie müssen mir mehr Platz lassen!«
Das nahm er als Zugeständnis.
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»Ihre Hand! Himmel, Sie können doch tanzen?« Verärgert sah sie zu ihm auf.
Warum konnte sie nicht lächeln? Sandra hob seine Hand in Position. Bei dem
Abstand zwischen ihnen hätten sie auch Walzer tanzen können. Seine andere
Hand schob sie höher. »Benehmen Sie sich, bitte.«
Er zog sie wieder näher. »Gut genug, der Abstand ist übertrieben.« Er legte
sich ihre Hand auf die Brust und hielt sie dort fest. Sie war ihm nun so nah, dass
er ihren Atem spüren konnte.
»Bitte, das ist zu eng!«, murmelte sie.
»Nein, das ist perfekt«, widersprach er leise und das war es. Er spürte die
sachte Bewegung ihrer Hüfte unter seiner Hand und das Heben ihres Brustkorbs
bei jedem Atemzug. »Nur einen Moment.« Er schloss die Augen und legte seine
Wange an ihre Stirn. Sie wendete das Gesicht ab, aber er versuchte es zu
ignorieren.
»Kommissar Schulte-Henning, bitte ...«
»Wovor hast du Angst?«
Sie versteifte sich. »Bitte?«
»Wir sind nicht einmal allein.« Er gab ihr etwas mehr Spielraum. »Ich werde
nicht versuchen, dich zu küssen.« Er suchte ihren Blick. »Ich möchte nur mit dir
tanzen.«
Sie atmete tief ein. »Bitte pressen Sie mich nicht so fest an sich.«
»So besser?«
Sie nickte und starrte auf ihre verschränkten Hände. Nach einem Moment
fragte er: »Worüber hast du gelacht?«
Überrascht sah sie auf. »Bitte?«
»Mit Fabian. Du hast gelacht.« Es war schon dämlich, wie er sich verhielt.
Eifersüchtig. Auf seinen Bruder, weil sie mit ihm gelacht hatte! Bescheuert!
Sie sah verwirrt aus.
»Du siehst mich nie so an.«
»So?«, hakte sie nach.
»Und du lachst auch nie.«
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Sie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht ...«, murmelte sie.
»Hast du dich auch bei ihm beschwert, er hielte dich zu nah?«
Sie stockte im Schritt, ihre Lippen teilten sich und ihre Pupillen weiteten sich.
Sie hatte verstanden. Patrick schluckte. Mit Schmerz hatte er nicht gerechnet.
Sie riss sich los.
»Sie ...« Sandra schüttelte den Kopf, während sich Tränen in ihren Augen
sammelten. »Er ist verheiratet!«
Er runzelte die Stirn. Das war Bauer auch.
»Ich ...« Sie wendete sich ab und er griff nach ihr.
»Warte!«
»Lassen Sie mich los, ich möchte gehen.«
»Warte, bitte.« Warum konnte er nicht mal den Mund halten. »Ich bin ein
Idiot, okay. Ich frage mich nur ...« Warum nicht mit ihm? Warum sprach sie nicht
mit ihm so unbeschwert? Warum lachte sie nicht mit ihm?
Er sah fort und entdeckte Rainer, nur wenige Schritte von ihnen entfernt.
»Scheiße! Komm!«
»Hey, Patrick«, rief der Kollege. Es war zu spät. Innerlich fluchend drehte er
sich wieder um.
»Rainer.«
»Na, sowas! Dich habe ich hier nicht erwartet.«
Natürlich nicht, das letzte Mal, dass er auf dem Sorpe-Festival gewesen war,
war mit seiner Verlobten vor zehn Jahren.
»Möchtest du mir nicht deine Freundin vorstellen?«
Nein, mit Sicherheit nicht. Er knirschte mit den Zähnen.
»Meine Begleitung. Nein.« Er sollte ihre Hand loslassen.
»Nein? Was ist los? Angst, dass sie mit mir durchbrennt?« Rainer lachte auf.
»Na, komm schon, zeig mir deine Sahneschnitte!« Er versuchte an Patrick vorbei
zu spähen, aber er vertrat ihm den Weg.
»Ich würde meiner Begleitung sicherlich keinen so schlechten Dienst
erweisen. Entschuldige uns bitte.«
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»Oh, bitte, was glaubst du, wie lange du sie verstecken kannst? Hier?«
Rainer deutete auf die Umgebung. »Vor wem eigentlich? Ist Bauer auch hier?«
»Du verstehst das falsch. Sie ist nicht meine Freundin«, stellte Patrick klar.
Deswegen wollte Sandra nicht mit ihm ausgehen. Sie hatte eben diese Situation
gefürchtet. Wie musste sie ihn verfluchen.
»Ach, komm schon! Ich halte den Mund. Ich bin nur gespannt, ob du mit so
einem heißen Gerät wie Bauers kleine Anwältin aufwarten kannst.«
Patrick versteifte sich und Sandra zog in seinem Rücken an ihrer Hand.
»Neugierde, okay?«
»Sie ist nicht ...« Bauers kleine Anwältin. Aber das war sie wohl. Er knirschte
mit den Zähnen und schloss ab: »Meine Freundin. Wir gehen nicht miteinander
aus. Kapiert?«
Noch immer zerrte Sandra an ihrer Hand. Rainer versuchte über ihn
hinwegzusehen.
»Brünett. Nicht Eva?«, spielte Rainer auf die Düsseldorfer Kollegin an.
»Lass es gut sein«, warnte Patrick eindringlich, obwohl er wusste, dass es
bei Rainer vergeblich war. Er konnte beharrend sein wie ein Terrier.
»Sie ist scharf, Mann! Ihr beiden wisst euer Glück gar nicht zu schätzen!
Wenn mir eine wie die, schöne Augen machen würde ... Wir wären am Vögeln
bevor ...«
»Scheiße, Mann! Kannst du einmal etwas Benehmen an den Tag legen?«,
fluchte Patrick und ließ locker. So wie Sandra sich hinter ihm wand tat sie sich
sonst noch weh.
»Glaub mir, die Weiber stehen auf etwas dirty talk. Probier es aus!« Er
deutete hinter ihn. »Nicht wahr, Schätzchen?«
»Lass sie ...«, warnte Patrick erneut, nicht sicher, ob er hoffen sollte, dass sie
ging. Rainer lag nicht falsch. Verstecken konnte er sie hier nicht. Er würde
erfahren, mit wem Patrick hier war. »Okay. Wir sind kein Paar. Wenn du Unsinn
herum erzählst, wird sie nur Probleme bekommen.«
Er hatte sich verraten. Patrick sah es in seinen Augen.
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»Oh. Und ich kann es ihm nicht einmal unter die Nase halten.«
»Nur zu ihrer Sicherheit«, bestärkte Patrick und hoffte auf Rainers Verstand.
Dass er kombinierte, dass Patrick auf Sandra aufpasste und nicht scharf auf sie
war. Wenn Rainer sie beobachtete, würde er wohl anderer Meinung werden ...
»Hör zu, sie ist eine unausstehliche Kratzbürste.«
»Und Sie sind ein unaussprechliches Arschloch!«
Patrick verfluchte sich innerlich. Sie hätte das nicht hören sollen.
»Kommissar Rainer, guten Abend.« Sie reichte ihm die Hand. »Sie
entschuldigen mich hoffentlich? Meine Verletzung schmerzt, und ich würde mich
gerne irgendwo hinsetzten.«
Schmerzen?! Warum sagte sie denn nichts? Er streckte die Hand nach ihr
aus und sie wich zurück. »Es geht schon!« Sie blitzte verärgert zu ihm auf.
»Kommissar Rainer.«
Dann drehte sie ihnen den Rücken zu und schlängelte sich durch die Menge.
»Geiler Arsch!«
Patrick ballte die Hände. »Und du arme Sau hast keine Schnitte, was? Mich
würde das wurmen. Nun, ich würde versuchen sie flachzulegen, ganz gleich wie
sie mich nennt.« Er sah abwartend zu ihm auf. »Aber du spielst lieber den Ritter,
was? Hast nichts dazugelernt. Naja, wir bleiben in Kontakt.« Er winkte und
tauchte wieder in der Masse unter.
Patrick entlehnte sich Bauers Euphemismus. »Blöder Affe!«
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Kapitel 15 - Keine Klärung in Sicht
Sandra lehnte sich gegen die Balustrade und wünschte sich Claudia würde
einen Moment den Mund halten. Die Aussicht über den Sorpesee war
bemerkenswert. Sie presste die Lippen aufeinander und entlastete ihr verletztes
Bein. Die Schmerzen wurden immer schlimmer seit sie sie eingestanden hatte.
»Etwas Eifersucht ist ja ganz süß ...«
Sandra hatte nicht zugehört und zuckte nichts sagend die Schultern.
»Aber das ist albern.« Sie sah sie abwartend an.
Sandra nickte seufzend. Sie wünschte, sie wäre allein.
»Er liebt Patrick, er würde ihm so etwas niemals antun.«
Sandra versagte sich, die Hand auf die Wunde zu legen.
»Und er liebt mich. Ich vertraue ihm, Patrick sollte ihm auch vertrauen.«
Sie sollte das Schmerzmittel einnehmen. »Claudia entschuldige bitte, ich
brauche etwas zu trinken.«
»Oh, natürlich. Ist alles in Ordnung?«
»Ja, natürlich«, behauptete Sandra und belastete vorsichtig ihr verletztes
Bein.
»Ihr habt euch gestritten und du willst es nicht noch mal versuchen, nicht
wahr?«, mutmaßte Claudia, sie am Arm zurückhaltend. »Ist es wegen Peter? Du
arbeitest doch mit ihm.«
Sie wurde ihn einfach nicht los, erkannte Sandra. Deswegen war es absolut
unmöglich. Da konnte Schulte-Henning sie noch so wahnsinnig küssen, dass sie
vergaß, wo sie waren. Er konnte nichts tun, damit vergessen wurde, was bereits
getan worden war. Was sie getan hatte. Mit wem.
»Versucht er ... Das tut er bei jeder, Sandra, ganz gleich was er dir erzählt,
es geht ihm nur darum, ihm weh zu tun.« Claudia schüttelte bedauernd den Kopf.
»Er hat nicht nur Patricks Verlobte verführt, es gab Dutzende ...«
»Bitte, das ...« Wollte sie nicht hören.
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»Sagen wir, dass Peter es immer schafft, dazwischen zu funken. Immer.«
Sandra schloss die Augen. Sie wollte da nicht mit hineingezogen werden!
Aber dafür war es zu spät.
»Er ist ein manipulativer Lügner. Kaltherzig, gewissenlos. Wenn du mich
fragst: Ein Psychopath«, bekräftigte Claudia ruhig. »Um deinetwillen: lass dich
nicht auf ihn ein. Selbst wenn du mit Patrick Schluss machst: halt dich besser
von ihm fern.«
Sandra lief es eiskalt den Rücken hinunter. Die Warnung war verstörend.
Und kam eindeutig zu spät. »Danke«, murmelte sie verwirrt.
»Soll ich dich begleiten?«
Sandra schlug aus und humpelte zum Getränkeverkauf. Sie orderte ein
Wasser und zählte ihre Münzen, als sie angesprochen wurde: »Gott muss tot
unglücklich sein ...«
Sandra sah irritiert auf und wagte die Einschätzung zu bezweifeln. Gott
kugelte sich sicherlich vor Vergnügen zwischen den Wolken herum.
»... Weil ihm ein Engel verloren ging«, fuhr der Typ fort und grinste dabei
selbstsicher. Er war dunkelhaarig, gebräunt und sehr von sich selbst
eingenommen. Das goldene Kreuz lag auf einem Bett krausem Haar, das dank
der offenen Knöpfe hervorquoll. »Ich bin Angelo ...«
»Und ich bin nicht interessiert«, stellte sie klar und wendete sich ab.
»Ah, Bella, du weißt nicht, was dir entgeht. Lass mich dich einladen auf
meine Jacht ...«, gab Angelo nicht so schnell auf. Sandra verdrehte die Augen.
Sie bekam ihr Wasser, bezahlte und wollte gehen, aber Angelo trat ihr in den
Weg.
»Und die Nacht prickelnd genießen. Mit Champagner ...«
»Ich habe kein Interesse, Herr Angelo.« Sie versuchte, an ihm vorbei zu
kommen.
»Ich werde dein Interesse wecken, Bella ...« Er griff nach ihr und ihr Wasser
schwappte über.
»Los lassen, auf der Stelle!«, forderte Schulte-Henning harsch.
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Sandra schloss die Augen.
»Er tut mir weh.«
»Amigo, spiel den Helden bei einer Anderen. Bella und ich lernen uns gerade
kennen.« Angelo versuchte sie zu küssen und Sandra schüttete ihm ihren
Sprudel ins Gesicht. Mit Erfolg. Schulte-Henning zog sie fort und warnte: »Lass
die Finger von ihr!«
Angelo wischte sich die Feuchtigkeit aus den Augen und verfluchte sie
malerisch.
»Verschwinde.«
»Ich habe die Puta zuerst gesehen und noch eine Rechnung offen!« Er
lüftete das nasse Hemd.
»Hey, gibt es hier ein Problem?« Rainer stellte sich lässig an den Tresen.
»Angelo?«
Gemeinter knirschte: »Meine Süße und ich, haben eine
Meinungsverschiedenheit und der Typ mischt sich ungebeten ein!«
Sandra schnaubte verächtlich. »Der Herr hat mich belästigt und Kommissar
Schulte-Henning ...«
»Hm, dachte ich mir schon. Möchten Sie eine Anzeige aufgeben, Frau
Anwältin?«
Angelo brach seine Verteidigung ab und begann ruhiger: »Ah, Bella, ich war
fortgerissen von Ihrer Schönheit, kann man mir das vorhalten? Ich entschuldige
mein Temperament!«
»Kommissar Rainer, ich sehe von einer Anzeige ab. Kommissar
Schulte-Henning, wäre es Ihnen recht mich nach Hause zu bringen?«
Seine Finger schlossen sich fester um ihren Ellenbogen und machten sie
damit erst darauf aufmerksam. Sie stand viel zu nah bei ihm. Sie löste sich etwas
und zuckte zusammen.
»Können Sie stehen?«, grummelte er sie musternd.
Sandra nickte schnell. »Vielleicht sollte ich die Tabletten zuerst nehmen, aber
dann können wir los. Ich brauche nur ...« Sie sah auf ihr leeres Glas herab.
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Schulte-Henning schob sie zum Tresen und orderte Wasser.
»Immer gut für etwas Aufruhe, hm?«, fragte Rainer und scheuchte Angelo mit
der Warnung fort, nicht noch einmal unangenehm aufzufallen. An sie wendend
fuhr er fort: »Notorischer Aufreißer, leider nicht strafbar.«
Sandra lächelte gezwungen.
»Haben Sie ein Schmerzmittel dabei?«, fragte Schulte-Henning gepresst.
»Meine Schwägerin hat sicherlich Paracetamol in ihrer Tasche. Wenn Sie
wünschen ...«
»Danke, ich bin versorgt.« Sie zog ihre Tabletten aus der Tasche und
wedelte damit. Seine Mutter hatte ihr geraten sie einzustecken für den Fall der
Fälle.
»Ich bin erleichtert Sie wohlauf zu sehen«, schaltete sich Rainer ein. »Es
klang ernster.«
»Danke, Kommissar Rainer, es sind hauptsächlich blaue Flecken, man
versicherte mir, ich würde es überleben.« Sandra schluckte zwei Tabletten
runter.
»Ich hoffe, von qualifizierterer Seite als Patrick.«
»Keine Sorge, Frau Bresinsky wurde von Ärzten versorgt, nicht von mir.«
»Ich werde nicht der Einzige sein, der froh ist Sie quietschfidel zu sehen«,
bemerkte Rainer hintergründig.
»Das reicht, Rainer«, warnte Schulte-Henning. »Frau Bresinsky, brauchen
Sie Unterstützung?«
»Es geht, Kommissar Schulte-Henning.« Sandra nahm noch einen tiefen
Schluck.
»Ich meine nur.« Rainer sah an ihr herab. »Wann haben Sie das letzte Mal
mit Bauer gesprochen, Frau Bresinsky?«
Sandra hätte ihn gern ignoriert, schließlich war öffensichtlich, worauf er
hinaus wollte. »Am Donnerstag.« Keine angenehme Erinnerung. »Warum?«
»Ach, nur interessehalber. Hm. Sie haben nicht telefoniert? Gestern?
Heute?«
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»Nein.«
»Rainer«, grummelte Schulte-Henning warnend. »Frau Bresinsky, wollen wir
aufbrechen?«
Es rollte ihr eiskalt den Rücken runter. Da war es. Schulte-Henning deutete
zur Straße. »Kommissar Rainer, guten Abend.« Sie wollte sich abwenden.
Sandra wusch sich die Hände. Das lauwarme Wasser wärmte ihre kühlen
Finger auf und erinnerten sie an einen anderen Abend. Es war gefährlich an
diese Nacht zu denken, besonders in dieser Nacht, an diesem Ort. Sie sollte gar
nicht daran denken, nicht an Sex, nicht an ihn und schon gar nicht an Sex mit
ihm. Besser sie beschäftigte sich mit anderen Dingen. Dem Fall, den
Nachahmungen und der Verbindung dazwischen. Eine Verbindung, die
Schulte-Henning sah und in die er sie nicht einweihen wollte. Rainer kannte sie,
würde er ihr die Information auch vorenthalten? Sie starrte auf ihre Finger herab.
Sie konnte ihn anrufen. Oder sie ging nach unten und verlangte die Auskunft von
ihm. Wagte sie es? Traute sie sich zu Schulte-Henning eine Antwort
abzuverlangen?
Ihre Hände bebten und sie schloss sie zu Fäusten. Sie konnte es. Sie war mit
ihm aus gewesen, da konnte sie auch auf ein offenes Wort bestehen. Sie musste
wissen, was das sollte. Warum er sie ausschloss, abschottete, küsste. Was vor
sich ging, was er verbarg.
Sie stellte das Wasser ab, mit nun zittrigen Knien. Der Blick in den Spiegel
gab ihr keine Sicherheit, ganz im Gegenteil. Mit den offenen Haaren und dem zu
großen T-Shirt sah sie aus wie damals mit fünfzehn, als sie sich eingestand,
dass alles falsch gelaufen war. Es fehlte nur das verschmierte Maskara und die
Flecken an ihrem Hals. Sandra schloss die Augen und vertrieb die
Vergangenheit. Sie war keine fünfzehn und Schulte-Henning nicht Kevin. Sie hob
das Kinn. »Du bist achtundzwanzig und Staatsanwältin. Du kannst das!«
Sie konnte das. Es brannte kein Licht im Flur, obwohl sie es angelassen
hatte. Irritiert blieb sie mit der Hand am Schalter stehen. Ihre Silhouette auf dem
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Teppichboden erschien monströs und blockte fasst die gesamte Helligkeit der
Badezimmerlampe. Zur Rechten war die Treppe ins Untergeschoss, zur linken
der Gang zu den restlichen Zimmern, gegenüber das von Schulte-Henning. Dort
wartete ein herrlich gemütliches Bett. Sandra atmete langsam aus und schalt
sich einen Feigling. »Du kannst ...«, murmelte sie und drehte sich zur Treppe.
Die Berührung ihrer Schulter ließ sie erschrocken herumfahren. Ihr Herz
hämmerte in ihrer Brust.
»Sandra?«
Oh Gott, er war nackt! Sie konnte sich nicht helfen, ihr Blick flog über seine
Brust, dem definierten Bauch und stoppte - völlig unbeabsichtigt - knapp
darunter. Die eine Frage, die sie nicht beantwortet brauchte, stach ihr ins Auge.
Sex war durchaus im Bereich des Möglichen. Wenn sie wollte. Die Hand
ausstrecken. Sie auf seiner Brust ablegen und seine glatte, heiße Haut spüren.
Hinüber gleiten, über die Schulter, in seinen Nacken. Die Finger in seinem Haar
vergraben. Sich an ihn lehnen und seine Hitze durch das Shirt hindurch spüren.
Wenn sie wollte. Ihre Brustwarzen zogen sich schmerzhaft zusammen.
»Sandra«, murmelte er und nahm ihr die Entscheidung ab. Er zog sie in die
Arme. Seine Finger vergruben sich in ihrem Haar und seine Lippen pressten sich
auf ihre. Sandra schloss die Augen, vergessen waren Fall, Nachahmer und
Verbindungen.
Patrick kuschelte sich an den warmen Leib an seiner Seite. Den Arm schlang
er um sie, während er das Gesicht in ihr Haar vergrub. Sandra. Sie roch gut und
schmeckte noch viel besser. Salzig. Nach Sex. Sein Schwanz schwoll an. Gute
Idee. Er schloss seine Hand an ihrer Brust, deren Spitze sich verhärtete.
Zufrieden küsste er ihren Hals, ihre Schulter, ihr Ohr, bis sie leise seufzte. Patrick
grinste, ohne seine Liebkosung zu unterbrechen. Wenn es nach ihm ginge,
blieben sie heute im Bett. Nicht tatenlos, lediglich atemlos ... Wenn es nach ihm
ginge. Leider ging es nicht nach ihm. Sandra versteifte sich in seinen Armen und
hielt den Atem an.
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Patrick nahm seine Lippen von ihrer Haut. Er musste sich irren.
Sie keuchte leise, gezwungen nach Atem zu schnappen. Nein! Das konnte
nicht ihr ernst sein! Nicht schon wieder! Nicht nach der Nacht! Nicht nach dem
Sex! Was war ihr Problem?
»Ich soll dich loslassen, nicht wahr?« Er wartete ihre Antwort nicht ab. Auf
dem Boden vor dem Bett lag ihre Wäsche, das T-Shirt und der Slip, den er ihr vor
nicht allzu langer Zeit ausgezogen hatte. Um sie zu küssen. Sie war zerflossen
unter seiner Zunge. Er hatte sich eisern zurückgehalten, sie oral zum Höhepunkt
gebracht, bevor er mit ihr schlief. Wie konnte es sein, dass sie so eindeutig auf
ihn reagierte, leidenschaftlich und explosiv und dann doch anführte, ihn nicht zu
wollen? Sie hatte nicht widersprochen! Patrick zermarterte sich das Hirn, konnte
aber keinerlei Widerstreben benennen. Kein Wort hatte sie verloren. Da war kein
nein gewesen. Trotzdem wiederholte er im Geiste jeden Moment. Er hatte sie an
sich gezogen, nachdem sie ihn mit einem dermaßen verlangenden Blick
gemustert hatte. Das allein hatte genügt, um sein Glied anschwellen zu lassen,
ein Blick! Er schüttelte den Kopf. Sie hatte die Arme um seinen Nacken
geschlungen und sich küssen lassen. Seinen Kuss doch auch erwidert, oder trog
ihn seine Erinnerung? Patrick riss die Kommode auf und stieg in seine
Jogginghose.
Sie hatte ihn geküsst! Als er in sie eindrang. Sie hatte gestöhnt, sich an ihn
geklammert ... Er zog sich den Sweater über. Das bildete er sich doch nicht ein.
Er warf einen Blick zurück. Sandra saß mit angezogenen Beinen im Bett, das
Bettzeug um sich gerafft und schaute ihm ängstlich zu.
Angst! Als würde er gleich über sie herfallen. Er ignorierte den
dahingehenden Wunsch und schlüpfte in die Laufschuhe. »Ich gehe joggen!«
Er musste den Kopf klarkriegen, eine Strategie ersinnen, wie er sie zum
Reden bringen konnte. Er wollte eine Erklärung. Er brauchte eine Erklärung! Er
schmiss die Tür hinter sich zu. Der Knall hallte schmerzhaft in ihm wieder.
Sandra scrollte durch die Tatortbilder. Es gab nichts zu sehen. Wie Patrick
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bereits bemerkt hatte, waren alle Beweise vom Regen fortgewaschen worden.
Die Leiche lag in einer Lache aus Schlamm, das Gesicht in einer Pfütze. Der
Körper gereinigt, bleich, unwirklich. Entmenschtlicht. Auf den ersten Blick war
nicht einmal das Geschlecht zu erkennen. Es könnte auch ein männlicher
Heranwachsender sein. Erst nach dem Drehen erkannte man die Grausamkeit in
seinem vollen Ausmaß. Die Stiche in den Brustkorb. Dreizehn. Die aqurat
ausgeführten Schnitte, die die Identität verschleierten. Alles, was Dr.
Schulte-Henning definitiv sagen konnte waren Gewicht und Größe der
unbekannten Toten. 1,65 cm und 55kg. Der Todeszeitpunkt: irgendwann vor
Donnerstagnacht. Sandra lehnte sich an. Wie die anderen Frauen war sie rasiert
worden, aber die Brauen ließen vermuten, dass sie nicht blond gewesen war,
trotz der blauen Augen. Wenn sie brünett gewesen war, nahm es der Nachahmer
nicht so genau. Der Pumps wurde in der Beweissicherung nicht erwähnt, was
Sandra irritierte. War bereits auszuschließen, dass er der Toten gehörte? Sandra
klickte einen weiteren Ordner an. Er war passwortgeschützt. Noch mehr
Geheimnisse. Der Dateigröße nach beinhaltete er weitere Bilder. Sie würden
fragen müssen. Seufzend ging sie noch einmal durch die zugänglichen Daten.
Zumindest brauchte sie sich keine Gedanken um die unerlaubte Nutzung seines
Laptops machen. Er hatte wohl vermutet, dass sie früher oder später das
Passwort benutzen würde. Keine Anhaltspunkte. Dieser Mord barg keinerlei
Erkenntnisse. Nun, außer der, dass es zwei sein mussten. Die Verletzungen
dieser Leiche waren so akkurat wie jene an Jacqueline Bach. War sie auch eine
Prostituierte?
Sowohl der Tox-Screen, als auch der Drogenabgleich waren mit einer
Ausnahme negativ. GHB.
Sie ging erneut durch die Bilder, langsamer dieses Mal. Fast fünf Kilometer
weit in den Wald wurde sie geschleift. Sie verglich den Autopsiebericht.
Abschürfungen an den Hacken, also tatsächlich geschleift. Einschnitte in den
Hand- und Fußgelenken, demnach gefesselt, mit Kabelbindern? Laut Bericht
keine Fasern. Fußabdrücke. Sandra hielt inne. Fußabdrücke waren nicht gerade
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beständig. Sie betrachtete das Bild eingehend. Es war ein großer Schuh mit
Riffelsohle, vermutlich ein Gummistiefel. Der Abdruck kam ihr bekannt vor. Wenn
sie sich nicht täuschte, dann war er in Ausprägung ähnlich dem, der bei den
anderen beiden Leichen gefunden worden war. Sandra verglich die Zahl mit dem
Polizeibericht. Er tauchte nicht auf. Verwirrt überflog sie erneut den Bericht. Er
war vom Samstagmorgen, nicht unbedingt die aktuelle Version. Sandra suchte
nach einem Update und fand eine Notiz. Sekundärer Fundort.
Sandra lehnte sich zurück. Wo der Pumps gefunden wurde? Sie spürte ein
Stechen im Rücken und ließ die Schultern kreisen. Dabei betrachtete sie den
Abdruck. Neben diesem sah man nur das Maßeck, das eine Größe von 46,5 cm
angab. Deutlich kleiner, als die vorherigen. Sandra holte ihr Mobiltelefon und
suchte nach dem Foto zu den Schuhabdrucken am anderen Auffindeort. Die
Sohle war anders.
Sandra ließ die Hand sinken und starrte auf den Bildschirm des Laptops.
Entweder, etwas war völlig anders, als bei dem Doppelmord vom letzten
Wochenende, oder ...
Sandra stieß sich vom Tisch ab und sprang auf. Es war ihr Abdruck. Die
einzige Erklärung, aber sie brauchte Gewissheit. Auf der Treppe zoomte sie den
anderen Abdruck noch einmal ran. Ein Grätenmuster, keine Rillen, aber etwas
war gleich. Die Erde, die beim Abrollen der Sohle verrückt wurde, war beide Male
eher mittig.
Sie schnappte sich Patricks Schlüssel auf dem Weg nach draußen. Sie nahm
die Stufen und streckte die Hand aus, um mit der Fernbedienung den Kofferraum
zu entriegeln und ließ sie wieder fallen.
»Sandra!«
Zwei Schritte vor dem Wagen wurde sie abgefangen und herumgerissen.
»Du kannst nicht einfach mein Auto stehlen und abhauen! Verdammt noch
mal! Es war ein Fehler, okay!«
Die Anklage traf sie. Als würde sie ein Auto stehlen! Oder war es das andere,
das ihr Beklemmung bereitete?
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»Ich war betrunken, sonst hätte ich dich nicht angesfasst.«
Sandra erschauerte und starrte ihn an. Das hatte sie nun falsch verstanden.
Er wollte nicht sagen, dass er eigentlich kein Interesse mehr an ihr hatte.
»Ich bin durch, okay!«
Der Mund klappte ihr auf. Durch! Sie schwankte. Ihre kalten Finger krampften
sich um Schlüssel und Handy und die Brust zog sich zu. Ihre Augen brannten.
Sandra senkte den Blick von seinem ärgerlichen Gesicht auf den grauen Kies der
Einfahrt.
»Sandra ...«
»Schön«, murmelte sie, nicht sicher, ob es zu verstehen war.
»Du ...« Er griff nach ihr und sie wich ihm aus. Sie hob die Hand mit dem
Schlüssel. »Hier.« Es gelang nur mit Mühe, die Finger zu lockern. Patrick fing
den Bund auf, bevor er zu Boden fiel. Sandra wendete sich ab, den Kofferraum
vor Augen, dessentwegen sie überhaupt herunter gekommen war.
»Bist du in Ordnung?«
Sie schüttelte seine Hände ab. »Fass mich nicht an«, flüsterte sie und wich
ihm erneut aus.
»Bitte, Sandra, das kommt nicht wieder vor. Du musst vernünftig sein und ...«
»Mir geht es gut!« Was für eine Lüge! Ihre Knie wackelten bedenklich und sie
stützte sich am Heck ab.
»Verdammt noch mal, du bist ganz blass geworden! Erzähl mir doch nicht,
dass ...«
Sandra unterdrückte ein Stöhnen und konzentrierte sich auf ihre Aufgabe. Sie
wollte die Sohle vergleichen. Der Deckel des Kofferraums schwang auf und sie
beugte sich vor.
»Was hast du vor.«
Sandra drehte den Stiefel um. Rillen, wie erwartet. Sie schloss kurz die
Augen. Noch die andere Vermutung austesten. Sie drehte sich, um sich auf die
Kante zu setzen. Ihre Ballerina schlackerte sie ab.
»Bekomme ich eine Antwort, Sandra?«
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Sie stieg in die Schuhe und stand auf. Erst, nachdem sie ihm den Rücken
zugewendet hatte, gab sie ihm die Erklärung: »Ich habe mir die Bilder
angesehen, die Abdrücke gehen mir nicht aus dem Kopf.« Ihre Stimme war
erstaunlich fest und das Zittern hatte sich auch wieder gelegt. Es war gleich,
dass er sie nicht mehr wollte. Der Gedanke trieb ihr erneut die Tränen in die
Augen. »Die Abdrücke?« Er folgte ihr. Am Wegrand blieb sie stehen und machte
einen großen Schritt, um in die feuchte Erde zu treten. Es gab ein unschones
Geräusch, als sie den Fuß wieder hob und sie schwankte erneut. Patrick
umklammerte ihren Ellenbogen. »Du hast dir die Tatortfotos vom Freitag
angesehen? Es ist dein Abdruck. Er soll eventuelle ...«
»Ich weiß«, würgte sie ihn ab und befreite ihren Ellenbogen. Sie drehte sich
um und hielt ihr Telefon hoch. »Hm.« Vielleicht. »Ich brauche einen Vergleich.«
»Es ist dein Abdruck.«
Sie sah zu ihm auf. »Das weiß ich.« Seine Augen huschten über ihr Gesicht.
»Okay.« Er drückte seinen Fuß in die Erde.
»Du musst abrollen. So, als würdest du tatsächlich gehen«, wies sie ihn an
und drehte sich dabei schwankend zu ihm um. Es war nicht so schwierig, wie am
Freitag im Schlamm herum zu tapsen.
Er starrte sie an.
»Beim Abrollen stößt man sich zum Schluss mit dem Ballen ab, es sollte also
das letzte Drittel sein, dass ...« führte sie aus und deutete auf ihren Abdruck.
»Weggedrückt wird. Bei mir ist es etwa bei der Hälfte.«
Patrick folgte ihrem Hinweis und machte zwei Schritte. Sandra fotografierte
das Ergebnis. »Danke.« Sie wendete sich ab und ging zum Auto zurück, um ihre
Ballerina wieder anzuziehen. »Du glaubst doch nicht, dass Rainers Nachahmer
eine Frau ist?«
Er schien die Vorstellung weit von sich weißen zu wollen, also zuckte sie
lediglich die Schulter.
»Die Frauen wogen zwischen fünfzig und siebzig Kilo. Eine Frau könnte die
Leichen nicht wegschaffen. Sie wurden vergewaltigt.«
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Sandra ließ ihn stehen. Sie hatte, was sie wollte. Sie würde nun ihre Sachen
packen und sich ein Taxi rufen. »Sandra, sprichst du bitte mit mir!«, forderte
Patrick und hielt sie auf, nachdem sie die Stiefel zurück in den Korb gelegt und
den Deckel wieder zugeklappt hatte. Er stand ihr im Weg.
»Lass mich vorbei.« Sie versuchte ihm auszuweichen, aber er verstellte ihr
erneut den Weg.
»Wir müssen reden, Sandra.«
»Da gibt es noch mehr?«, fragte sie gepresst und versuchte erneut an ihm
vorbeizukommen. »Ja. Einiges.«
Verärgert sah sie zu ihm auf. »Einiges?« Gott war er ein Arschloch. »Sehr
schön, Patrick, ich habe nur keine Lust mehr, mich mit dir zu beschäftigen.«
Sie schubste ihn und hastete an ihm vorbei. Sie kam noch die Stufen hoch,
die Tür schlug er ihr vor der Nase wieder zu.
»Warte.« Sein Atem strich über ihre Wange. »Letzte Nacht ...«
»Ein Fehler«, wiederholte sie seine Worte. Er stand viel zu nah hinter ihr.
Berührte sie fasst. Eine Gänsehaut zog sich über ihren Körper und verhärtete
ihre Brustwarzen. Sie biss sich auf die Lippe, um nicht aufzustöhnen. Wie
machte er das nur? Dass ihre Haut kribbelte, obwohl er sie nicht einmal berührte.
»Ich verstehe es nicht, Sandra«, murmelte er an ihrem Ohr. »Was mache ich
falsch?«
Sandra schluckte. »Alles.« Sie spürte, wie er starr wurde.
»Alles.« Fast tonlos. Sandra schloss die Augen. Alles. Seine Hand rutschte
ab und machte ihr den Weg frei. Ihre zitterte, als sie die Tür wieder aufzog.
»Warte. Ich ... Verstehe es immer noch nicht. Was bedeutet alles? Bin ich
nicht zärtlich genug? Bin ich zu schnell? Oder hast du andere ... Vorlieben?«
Natürlich bezog er es auf den Sex! Sandra presste die Lippen aufeinander.
»Sandra, ich hatte den Eindruck ... Vielleicht habe ich den falschen Blickwinkel.
Vielleicht schließe ich von mir auf andere. Auf dich. Mir gefällt unser Sex.« Er
legte seine Hand auf ihre, die immer noch die Klinke umklammerte. »Ich dachte
... Ich weiß, dass es keine Rechtfertigung ist, aber ich dachte wirklich, du wärst
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einverstanden. Nach dem Kuss ...« Sein Daumen streichelte über ihren
Handrücken. »Ich habe die Situation falsch beurteilt.«
Sandra zog ihre Finger fort. »Gut.«
»Bitte. Was mache ich falsch? Warum ziehst du ihn vor?«
Sandra stöhnte, nicht schon wieder Bauer!
»Ich möchte es nur verstehen.«
»Ich ziehe ihn nicht vor.« Sie musste schlucken. Es zuzugeben nahm ihr den
Atem. Und sie wartete angespannt auf seine Reaktion. Sie blieb aus, zumindest
für eine lange Weile.
»Bitte?«
Er drehte sie zu sich um. »Was hast du gesagt?«
Er hob ihr Gesicht und suchte in ihm nach einer Antwort. »Sandra?«
Er beugte sich vor und ließ seine Lippen über ihre gleiten.
Ihre Lider klappten zu und einen Moment lang, konnte sie sich nicht helfen.
Erst, als er sie an sich zog, schaffte sie es, sich loszureißen. Sie wendete den
Kopf, um den Kuss zu unterbrechen. »Nicht!«
Sie drückte ihn von sich. »Hör auf.«
»Warum?« Er sah verwirrt auf sie herab und schüttelte den Kopf. »Lass mich
los, Patrick.« Sie entwand sich ihm.
»Warte, warum? Du ...«
»Du bist durch, schon vergessen? Ich bin nicht ... Ich will keinen Sex.« Nicht
so, nicht unter den Bedingungen. »Nicht so schnell. Sandra, das macht mich
fertig! Gerade ...«, er brach ab und drehte sich, sich durch das Haar fahrend,
weg. »Ich verstehe das nicht! Du willst nicht? Mich nicht? Keinen Sex? Wenn du
es anders willst ... Was magst du? Was muss ich tun?«
Sandra schloss die Augen. Sex, Sex, Sex, war das alles woran er denken
konnte?
Oder ging es ihm letztlich um Bestätigung? Er wollte unbedingt Peter
ausstechen. Das war es, worum es ihm ging.
»Möchtest du SM, oder Bondage? Soll ich ... Nein, du willst doch nicht
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wirklich, dass ich dir weh tue? Dann ... Soll ich ... Ist es etwas
Außergewöhnliches? Rollenspiele?«
Sandra stöhnte entsetzt. »Nein!« Sie schüttelte den Kopf und bedeckte die
Augen. »Nein. Der Sex ... Ist gut.« Hitze stieg ihr in die Wangen. »Besser als ...«
Oh, musste sie es aussprechen? Überrascht starrte er sie an. »Was ... Was
ist es dann?« Sie versuchte es. Sie versuchte es ja. Sie fuhr mit der Zunge über
die Lippen. »Es geht nicht.« Sie schüttelte den Kopf. Wie sollte sie es erklären?
»Du ... Willst mich doch nur, weil ...«
»Du mich verrückt machst! Das ist der Grund! In deiner Nähe kann ich an
nichts anderes denken, als ... An dich. Wie du dich anfuhlst, wie du schmeckst ...
Es macht mich fertig, okay!«
Verrückt machen, na das konnte sie nachempfinden. Sie hob die Hand, als er
sie wieder berühren wollte. »Du weißt gar nichts von mir. Es geht dir nur um
meinen Körper, aber ich will das nicht mehr. Ich will nicht ...« Benutzt werden.
Sandra schluckte und ließ sich gegen die Wand in ihrem Rücken fallen.
»Nein«, widersprach er, eine Strähne aus ihrer Stirn streichend. »Das stimmt
nicht. Ich kann mir vorstellen, dass es den Eindruck macht, aber ... So ist es
nicht. Und ich weiß jede Menge von dir.«
Sie schüttelte den Kopf und er legte die Hände an ihre Wangen, damit sie zu
ihm auf sah.
»Doch. Deine Schwestern: Anne und Katharina. 13. Juli 1987 in Osnabrück
geboren. Abschluss 2007 Städtisches Gymnasium Minden. Studium in Aachen,
Examen 2011 als Jahrgangsbeste. Du hattest Angebote im ganzen Land und du
wähltest Verkehrsrecht in Dortmund!«
»Du hast mich ausspioniert?« Sandra versuchte ihm auszuweichen. »Nein,
nur ein paar Gespräche geführt und die Akte zu deinem Stalkingfall gelesen.«
Sein Daumen fuhr zärtlich über ihre Wange. »Du arbeitest zu viel, gönnst dir
keine Auszeiten, isst nicht gern. Du tanzst wie eine Göttin ...«
»Hör auf damit!«, verlangte sie und befreite sich zittrig. »Du weißt gar nichts!
Ich bin wie Peter!«
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Ihr Magen zog sich zusammen. Er würde sie hassen, wenn er es erst einmal
wusste. Sie schlang die Arme um sich. »Ich habe meiner besten Freundin den
Freund ausgespannt.«
Er hatte es Peter nicht verziehen, da würde er sie doch auch verachten.
Patrick starrte sie an.
Sandra zog die Schultern hoch. Vielleicht hätte sie es doch für sich behalten
sollen. Es ging ihn nichts an und viel schlimmer noch, sie wollte sich gar nicht
daran erinnern. Sie schluckte, weil sie Galle schmeckte. Es half nicht.
»Ich muss ...« Würgend brach sie ab. Sandra ließ ihn stehen, riss die Tür auf
und lief den Flur entlang zum Gäste-WC.
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Kapitel 16 - Eine unerwartete Festnahme
Patrick folgte ihr und blieb im Rahmen stehen. Sandra übergab sich. Sie
würgte schwer. Schon wieder. Er besorgte ihr Wasser aus der Küche und kniete
sich zu ihr. Sie hatte sich gegen die Wand gelehnt und versteckte das Gesicht in
den Armen. »Sandra?«
»Es geht schon«, hauchte sie, ohne aufzusehen.
»Spüle dir den Mund aus.«
Folgsam nahm sie ihm das Glas ab und beugte sich zum Ausspucken wieder
über die Schüssel. »Danke.«
Sie mied seine Augen. »Hast du ihn geliebt?«
Sie wendete das Gesicht ab, aber er hatte schon gesehen, was sie
verbergen wollte: Ekel.
Verwirrt betrachtete er sie. Sie befeuchtete sich die Lippen und krachzte ein:
»Nein. So war das nicht.«
Wie dann? Die ganze Geschichte wurde immer merkwürdiger.
»Bitte, ich möchte nicht darüber reden.« Sie presste die Lider fest
aufeinander. »Gut«, murmelte Patrick und streckte die Hand nach ihr aus. Er
nahm eine Strähne auf und wickelte sie sich um den Finger. »Lass das bitte«,
flüsterte sie, noch immer, ohne ihm einen Blick zu gönnen. »Du bist nicht ... Wie
er, Sandra. Das ist Unsinn.«
Eine Träne glitzerte in ihren Wimpern.
»Wolltest du deine Freundin damit verletzen?«
Sie würgte erneut. »Hey.«
»Es geht schon.« Wie aus der Pistole geschossen. Patrick runzelte die Stirn.
Sie dachte gar nicht darüber nach.
»Hast du gefrühstückt?« Sie würgte lediglich und erbrach sich nicht mehr.
Sandra schüttelte den Kopf und spülte sich zittrig den Mund aus.
»Du solltest essen. War dir schon länger übel?«
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Weitere Perlen rollten über ihre bleichen Wangen.
»Ich bin schwanger, nicht wahr? Deswegen fragst du doch.«
Endlich sah sie ihn an. In ihren Augen stand gefasstes Entsetzen.
Patrick runzelte die Stirn. »Sollten die Ergebnisse nicht mittlerweilen
vorliegen?«
Ergebnisse? »Scheiße! Das habe ich ganz vergessen!«
Sie wurde noch blasser und krächste: »Dann bin ich krank?« Ihre Lider
schlossen sich. »Oh Gott! Du hättest ein Kondom benutzen müssen!«
»Nein. Nein, ich habe es vergessen, es tut mir leid. Ich bekam die Ergebnisse
am Donnerstag. Negativ.« Er drückte ihre Finger. »Es tut mir wahnsinnig leid.
Jetzt hast du dir meinetwegen noch mehr Sorgen gemacht! Kein Wunder, dass
du ...«
»Ich bin nicht schwanger?« Ihre Stimme schwamm vor Erleichterung.
»Nein«, wiederholte Patrick versichernd und verschluckte den Zusatz: noch
nicht. Sie hatte recht, er hätte ein Kondom benutzen sollen. »Sandra? Ich möchte
dich eigentlich gar nicht mit der Nase drauf stoßen, aber ... Du dutzt mich.«
Ihre Lippen pressten sich wieder zusammen und ihre Miene wurde einmal
mehr abweisend. »Ich weiß, was ich tue!«
Patrick hielt den Atem an. Kein Versehen! »Du warst nüchtern.«
Sie verengte die Augen. »Ich bin keine Alkoholikerin!«
»Das heißt, dass du wolltest. Mich. Letzte Nacht. Ich habe zuviel getrunken,
ja, aber ich habe es nicht falsch aufgefasst. Du wolltest.«
Sie schluckte.
»Aber heute Morgen ... Wovor hattest du Angst?« »Ich habe keine Angst!«,
behauptete sie und rappelte sich auf. Das Glas stellte sie auf das Waschbecken.
Patrick trat ihr in den Weg.
»So?« Sie war definitiv verschreckt gewesen! »Wegen des Kondoms?«,
machte er einen Schuss ins Blaue und traf dabei ins Schwarze.
»Das war verantwortungslos«, flüsterte sie. »Du wusstest ...« Sie brach ab
und schüttelte den Kopf. »Nein«, murmelte er. »Ich bin bereit die Konsequenzen
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zu tragen. Ich stehe zu meiner Verantwortung.«
Ihr Blick flog verständnislos zu ihm.
Patrick berührte ihre Wange, ließ die Finger über sie wandern und sie dann in
ihr Haar rutschen. Ihre Lippen teilten sich, als er sie zu sich zog und ihr Lider
senkten sich, lange bevor sein Mund auf ihrem lag. Sie wollte!
Sie stöhnte und grub ihre Nägel in seine Brust. »Nein«, hauchte sie. »Ich
kann nicht!«
»Was kannst du nicht«, fragte er zwischen zwei Küssen, er hatte nicht vor sie
gehen zu lassen. Nicht ohne triftigen Grund!
»Du bist furchtbar!«, klagte sie leise. »Schrecklich!«
Er zog sie fester in die Arme. »Du sagtest, dir gefällt unser Sex und jetzt ist er
schrecklich?«
Sie schlug ihm auf die Brust. »Bei dir geht es immer nur ...« Er küsste ihr das
Wort von den Lippen. Erst, als sie gegen ihn sank, widersprach er: »Nein.
Eigentlich nicht.«
Sie schlang die Arme um seinen Hals. Patrick ließ die Hände an ihrem
Rücken herab wandern und presste sie dabei an sich. Das Blut rauschte laut in
seinen Ohren und überdeckte fast ihren neuerlichen Protest: »Doch! Doch, du
bist schrecklich!«
Ihr Puls jagte regelrecht unter der weichen Haut, die er küsste. »Du denkst
an nichts anderes ...«
»Du schmeckst so gut!«, raunte Patrick und ignorierte ihre Faust. Er ließ
seine Lippen weiter wandern, über ihren Hals in die Beuge zwischen Hals und
Schulter. »Du bist verantwortungslos.«
Er rieb sich an ihrem Schoß.
»Egoistisch.«
Drängte sie gegen das schmale Becken in ihrem Rücken. »Nervtötend ...«
Sie stöhnte auf.
Patrick knöpfte hastig ihre Bluse auf.
»Warte!« Sie hielt ihn mit kalten Fingern auf, zaudern in ihrem
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ausdrucksstarken Gesicht. »Nicht hier.« Ohnehin eine recht bescheuerte Idee.
Seine Eltern und seine Nichten hielten sich unter Garantie im Erdgeschoss auf
und von ihnen erwischt zu werden, lag sicherlich nicht in seiner Absicht. Sandra
wäre es wahnsinnig peinlich. Ihre Pupillen weiteten sich. Er beugte sich vor und
zupfte an ihren Lippen. »Nicht ...« Ihre Nägel bohrten sich in seine Schultern.
»Oben«, murmelte Patrick, ohne sich losreißen zu können.
»Verantwortungsvoll ...« Er rutschte an ihr herab, schob die Hände unter ihren
BH und massierte ihre vollen Brüste.
»Warte«, stöhnte sie und legte ihre Hände über seine. »Warte, das ...« Sie
schüttelte den Kopf. »Das geht nicht.«
»Du wirst es nicht bereuen, glaube mir«, murmelte er an ihrem Busen.
Patrick ignorierte das Räuspern in seinem Rücken. Sandra schrie auf, das
konnte er leider nicht überhören. Seufzend sah er über die Schulter zurück.
»Verschwinde Fabian!«
Sein Bruder hatte ihnen den Rücken zugewandt. »Lass sie los, sie hat
deutlich genug Nein gesagt!«
Sandra versuchte, mit zittrigen Fingern ihren Busen aus seinem Griff zu
befreien.
»Lass mich!«, flüsterte sie den Tränen nahe. Zähneknirschend erfüllte er
ihren Wunsch und zog die Hände weg. Sie drehte ihm augenblicklich den
Rücken zu. »Raus hier!«, verlangte Fabian grimmig, aber Patrick hatte
keineswegs vor, das Feld zu räumen. »Du verschwindest«, hielt er dagegen.
»Sandra und ich räumen gerade ein paar Missverständnisse aus dem Weg.«
»Es ist kein Missverständnis, dass sie nicht mit dir schlafen will, Patrick! Los,
lass sie in Frieden!«
Sandra stöhnte hinter ihm und ein Blick bewies, dass sie immer noch mit
ihrer Bluse beschäftigt war. Sie bekam die Knöpfe nicht zu.
»Nicht hier unten«, räumte er ein und übernahm ihre Aufgabe, nach einem
sachten Kuss auf ihre feuerrote Wange. »Lass mich das machen, deine Finger
zittern zu sehr.«
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Sie wendete das Gesicht ab.
»Trägst du eigentlich nie Schmuck? Eine Kette würde wundervoll in diesen
Ausschnitt passen.«
Sie wendete sich ihm mit großen Augen wieder zu.
»Patrick! Komm jetzt, oder ich helfe nach.«
Patrick drückte ihr seelenruhig einen weiteren Kuss auf die Lippen. »Magst
du Fabian beruhigen?«
Sie öffnete den Mund.
»Du setzt sie unter Druck!«
Patrick seufzte. »Hilf mir in der Küche.« Er zog an seinem Hemd.
»Sandra?«
Sie biss sind auf die bebenden Lippen. Patrick seufzte erneut. Sie würde ihn
nicht aufhalten und Fabians Ansicht nicht korrigieren. »Möchtest du uns vielleicht
auch helfen?«
Sandra versuchte, unauffällig ihren Arm zu befreien. »Du tust mir weh«,
hisste sie und ließ sich in das Büro schieben. »Wo zum Teufel warst du schon
wieder? Ich habe das halbe Wochenende versucht, dich zu erreichen!« Peter
stieß sie von sich. »Du warst nicht zu Hause! Du hast nicht abgenommen!«
Sandra stolperte tiefer in den Raum hinein. »Bei wem warst du?«
Unsicher sah sie zu ihm auf. Eine steile Falte teilte seine Stirn und sein Mund
war verkniffen. Seine dunklen Augen fuhren unablässig über sie. Sie schluckte
schwer. Sie musste die Fakten auf den Tisch legen. »Ich ...« Peter fing ihren Arm
wieder ein und zog sie an sich. »Das hört auf!« Er schüttelte sie. »Du gehörst
mir! Du wirst das auf der Stelle beenden!« Ein Muskel zuckte an seiner Wange
und verunsicherte Sandra. Sie schluckte nervös und wich ihm erneut aus, als er
sich vorbeugte, um sie zu küssen. »Hör auf, Peter! Ich will das nicht!« Deutlich
formulieren! »Ich möchte nicht, dass du mich anfasst, küsst oder ...«
»Rede keinen Scheiß!« Er fing ihr Gesicht ein. Daumen und Zeigefinger
bohrten sich in ihre Wangen und Sandra stöhnte schmerzlich. »Hör ...«
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»Wen hast du dir angelacht, hm? Ziegler? Weiß er von uns?« Er drückte ihr
einen harschen Kuss auf. »Du glaubst doch nicht, dass du das beendest?«
Sandra rann ein Schauer über den Rücken. »Lass mich los!«, forderte sie
erneut. »Du wirst mich zukünftig ...«
»Ficken, Sandra und zwar, wann immer mir der Sinn danach steht!«,
unterbrach er sie ungerührt und drängte sie zurück. Der Tisch! Das Herz stockte
ihr. Nicht schon wieder.
Sandra stieß gegen den Schreibtisch. Das würde Patrick ihr niemals
verzeihen! Tränen stiegen ihr in die Augen. Peter küsste sie hart und drängte sie
weiter zurück. Sie würde sich gleich nicht mehr wehren können, eingeklemmt,
förmlich unter ihm liegend. Sie würde es nicht verhindern können. Sie schluchzte.
»Nein!« Und versuchte zur Seite auszuweichen. Seine Hand grub sich
schmerzhaft in ihr Haar. »Oh doch!«, grummelte Peter und biss ihr in den Hals.
Vielleicht konnte sie es geheim halten. Die Bisse überschminken, die Flecken.
Vielleicht musste Patrick es niemals erfahren? Wenn sie vorsichtig war ... Vor
Ana hatte sie es auch nicht verstecken können und die schlief nicht in ihrem Bett.
»Nein! Mein Freund wird ...« Nichts mehr von ihr wissen wollen. Sie
schluchzte erneut und dieses Mal, ließen sich die Tränen nicht mehr zurück
halten. »Ich bin dein Freund«, unterbrach er sie. »Wir fangen von vorne an.
Okay? Aber du wirst aufhören, so rumzuzicken!« Seine Hand schob sich über
ihren Schenkel und ihr wurde schlecht.
»Na komm schon, Ziegler ist ein Idiot. Er weiß doch gar nicht, wie man dich
richtig ran nimmt.«
»Nein!«
Sandra versuchte seine Hand aufzuhalten, die unter ihren Rock wanderte.
»Nein!«
Es war zwecklos. Er war stärker als sie. Und skrupellos. Es war ihm gleich,
ob er sie verletzte. Sie schloss verzweifelt die Augen. »Nicht!«, schniefte sie.
»Ich will nicht!« Sie musste ihn aufhalten. Sandra zerrte verzweifelt an seinem
Jackettärmel und versuchte die Knie zusammenzuhalten. »Nein!«
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»Verdammt!«
Sandra erstarrte erschrocken und blinzelte zu Patrick auf, der Peter von ihr
fortriss.
»Lass sie los du Schwein!«
»Verschwinde!«, giftete Peter und stieß Patrick mit der flachen Hand gegen
die Brust. »Das geht dich nichts an!«
Patrick vertrat Peter den Weg, stellte sich zwischen den Anwalt und Sandra
und kehrte ihr dabei den Rücken zu. »Sie hat Nein gesagt, Bauer!«, spie er dabei
und ließ sie durch seinen harschen Ton zusammenzucken. »Das ist unser Spiel,
Patrick. Sie steht auf Vergewaltigungsszenarien.« Peter grinste süffisant,
während Patricks Schultern verspannten. »Du bist ein Arschloch, Bauer!«
Sandra schniefte und versuchte die Knicke aus ihrem Rock zu bügeln. »Sag
es ihm, Sandy, sag ihm, dass du darauf stehst.«
»Du bist festgenommen, Bauer«, schnarrte Patrick und riss seine
Handschellen aus der Halterung an seinem Gürtel. »Umdrehen!«
Peter lachte auf. »Sex ist nicht strafbar, Patrick, aber es wundert mich nicht,
dass du das nicht weißt. Bezahlst du immer noch dafür?« Sein Grinsen troff vor
Hohn. »Hast du noch nicht genug von der Hure?«
»Umdrehen!«, wiederholte Patrick lediglich hart.
»Ich würde auf ihn hören, alter Freund«, riet Rainer, der im Türrahmen lehnte
und zwischen ihr und Peter hin und her sah. »Und hoffen, dass Frau Bresinsky
es auf sich beruhen lässt. Andererseits ...« Er zuckte die Schultern. »Nötigung«,
knurrte Patrick. »Sexuelle Belästigung. Wie passend.« Er machte einen Schritt
auf Peter zu, der ihn warnend anfunkelte.
»Sandra, sag diesen Holzköpfen ...«
»Nein.« Sandra schluckte und stoppte ihre unsinnige Bemühung, ihren Rock
knitterfrei zu streichen. Patrick stockte und drehte sich zu ihr um.
Peter lachte auf.
»Du bist ein Idiot, Patrick!«
Patrick presste kurz die Lippen aufeinander. »Ich stehe nicht auf ...« Sie
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konnte es nicht aussprechen. Es war absurd.
»Möchten Sie Anzeige erstatten, Frau Bresinsky?«, erkundigte sich Rainer
gelassen. »Patrick und ich haben beide Ihre Ablehnung vernommen. Laut und
deutlich.«
»Das ist bullshit!«, knirschte Peter. »Das weißt du, Sandra.« Er warf Patrick
einen hasserfüllten Blick zu und wendete sich dann an Rainer: »Patrick versucht
sie schon die ganze Woche gegen mich aufzubringen. Komm schon, Rainer ...«
»Fein!«, knurrte Patrick. »Festgenommen bist du trotzdem. Los, Hände auf
den Rücken.«
Sandra schluckte. Sie sollte einschreiten. »Du wirst mich sicherlich nicht in
Handschellen abführen«, spie Peter. »Wir haben eine Affäre. Wir haben Sex, es
geht ziemlich heftig zu, okay!« Er trat zur Seite, um in Sandras Blickfeld zu
kommen. »Es war einvernehmlich!«
Sandra schlang die Arme um sich. »Ein letztes Mal: Umdrehen!«
»Kommissar«, krächzte Sandra und zitterte erbärmlich. »Du bist
festgenommen, Peter Bauer, wegen Vergewaltigung und Mordes an Martina
Pastanak, Jacqueline Bach und Kirsten Wichtrup.«
Sandra drehte sich der Magen um und ihre Knie gaben nach. Sie sackte zu
Boden. »Sandra!«
Patrick kniete sich zu ihr. Bauer lachte auf. »Ja, klar!«
»Sandra?«
Patrick berührte ihre Schulter. »Patrick. Die Verhaftung. Ich würde hier meine
Zuständigkeit überschreiten«, bemerkte Rainer ungeduldig. Patrick legte ihr kurz
die Hand an die Wange. »Einen Moment«, murmelte er. Sein Daumen glitt über
ihren Mundwinkel. Sandra schloss die Lider. »Also gut. Die Hände auf den
Rücken, Bauer. Du hast das Recht ...«
»Spinnst du?«, knurrte Bauer unkooperativ. »Du wirst mir keine
Handschellen anlegen, schon gar nicht mittels einer erfundenen Anklage!«
Sandra hob die Hände und versteckte das Gesicht in ihnen. Patrick beendete
seine Belehrung. »Deine letzte Chance, Bauer, ansonsten wende ich Gewalt
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an«, warnte Patrick auf Bauer zutretend. Der schlug die Hand weg. Patrick
brauchte nicht lange, um ihn zu überwältigen. Bauer auf die Tischplatte nieder
drückend, ließ er die Schellen zuklicken.
»Darauf warte ich schon eine ganze Weile«, murmelte er dabei und schubste
Peter Bauer dann zu dem zu ihnen getretenen Kollegen. »Pflicht erfüllt! Ich
schicke dir den Papierkram später und kümmere mich zunächst um Frau
Bresinsky.«
»Klar, eilt nicht«, wunk Rainer ab. »Eure Leute sollten die Durchsuchung
durchführen, kennst du Milicz?«
Sandra horchte auf. »Durchsuchung?«
»Er ist gründlich. Erwarte keine schnellen Ergebnisse«, gab Patrick Auskunft
und kniete sich wieder zu ihr. »Geht es Ihnen wieder besser?«
»Durchsuchung?«, wiederholten Sandra. »Doch nicht hier?« Ihre Akten. Der
Fall. Sie riss die Augen auf. »Der Fall geht baden! Nein! Das geht nicht.«
»Sie haben Kopien der Akten ...«
»Nein! Nur die, die noch bearbeitet werden mussten!« Alle anderen waren
hier, im Büro des leitenden Anklägers. »Mein Gott, es dauert viel zu lange alle
Unterlagen erneut ...«
»Sie haben digitale Kopien, Frau Bresinsky«, versuchte Patrick sie zu
beruhigen.
Die Tür fiel hinter Bauer und Rainer zu und Patrick zog Sandra auf die Füße.
Seine Hand legte sich an ihre Wange und sie schloss die Augen. »Hey«, raunte
er, während seine Nase an ihrer entlang glitt. Dann küsste er ihren Mundwinkel.
»Geht es dir gut? Hat er dir wehgetan?«
Sandra lehnte sich an ihn, vergrub die Finger in seinem Hemd. Das Herz
schlug ihr immer noch bis in den Hals.
»Es tut mir leid«, versicherte sie zittrig. »Ich wollte nicht ... Ich wollte wirklich
nicht, dass ...« Peter sie anfasste. Sie schluckte und verkrampfte sich noch mehr
in seiner Umarmung. »Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht will.«
»Natürlich«, murmelte er an ihrer Schläfe. »Bist du sicher, dass du ihn nicht
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anzeigen willst?«
Sie schüttelte den Kopf. »Bitte, ich kann nicht«, murmelte sie leise. »Ich kann
nicht.«
Patrick seufzte. Sein Daumen strich über ihren Nacken und erweckte eine
Gansehaut.
Sandra wartete angespannt auf seine Forderung. Wie bei Tramitz würde er
sie dazu bringen, eine Anzeige zu erstatten. Und wartete. Sein Daumen machte
kleine Kreise und strich langsam ihre Furcht fort.
»Besser?«
Sofort verspannte sie sich wieder. »Hey?« Er rückte sie ein Stück von sich ab
und hob ihr Gesicht an. Seine Augen fuhren suchend darüber hinweg. »Was ist
es? Was macht dir Angst?«
Sie senkte ertappt die Lider. »Nichts!«
Patrick seufzte und drückte leicht seine Lippen auf ihre. »Lügnerin.«
»Ich kann es nicht«, murmelte Sandra, erneut den Tränen nahe.
»Entschuldige.«
Sandra erstarrte verwirrt.
»Zu meiner Verteidigung: ich wollte nur einen kleinen Kuss. Ich dachte, nach
letzter Nacht ... Nun ich mache offensichtlich immer den selben Fehler.« Er
seufzte und ließ sie los.
»Ich wollte das wirklich nicht, Patrick!« Sie legte die Arme um sich. »Er hat
mich einfach gepackt und ...« Ihre Hände führen über ihre Oberarme und
bedeckten die sensiblen Stellen. »Ich habe versucht ...« Sie brach erstickt ab.
»Ich verlange keine Rechtfertigung, Sandra.« Wieder suchte er etwas in
ihrem Gesicht und schüttelte den Kopf. »Nur ... Sind wir nun zusammen, oder
nicht?«
Sandra riss die Augen wieder auf. Wollte er ihr wieder sagen, dass er durch
war mit ihr? Er hob die Hände. »Wenn du nicht möchtest, dass ich dich küsse, ist
das in Ordnung. Ich habe nicht nachgedacht. Natürlich möchtest du jetzt nicht
geküsst werden ...« Er fuhr sich leise fluchend durchs Haar. »Entschuldige.«
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Sandra schüttelte den Kopf. »Patrick. Ich glaube, wir reden wieder
aneinander vorbei.« Zumindest wenn sie seine Worte richtig deutete.
»Ich kann ... Bauer nicht anzeigen, bitte bringe mich nicht dazu. Wenn du
mich noch möchtest ...« Sandra biss sich auf die Lippe. Ihr Magen revoltierte bei
der Aussicht, dass es anders sein könnte. »Kannst du es gern tun.«
»Meine Freundin küssen?«, hakte er nach, berührte aber bereits ihre
flammende Wange.
»Ja«, hauchte Sandra nervös und brach den Blickkontakt. Ihre Lider fielen
ganz zu, als er sie wieder an sich zog, um sie zu küssen. Seine Hand schob sich
in ihr Haar und lockerte den Dutt, während die andere in ihrem Rücken herabglitt.
Sandra schlang die Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn. Sein Schoß
presste sich an ihren und sie sank gegen den Tisch an ihrem Po. Sie stöhnte, als
er sich an ihr rieb. Ihr Schoß zog sich zusammen. Sandra musste einfach mehr
von ihm spüren! Ihre Finger rutschten über seine Brust zum Rand seines Shirts
und zogen es hoch. Damit beschäftigt eine Entscheidung zu fällen, ob sie ihm
lieber erst das Shirt auszog, oder die Hose öffnete, bemerkte sie nicht gleich,
dass seine Küsse stoppten.
»Verflixt!«, murmelte Patrick und legte seine Stirn an ihre. »Verflixt!«
Sie blinzelte verwirrt.
»Ich will dich.«
Das traf sich gut, sie wollte ihn auch. Ihre Finger glitten über seinen Bauch.
Hoch oder runter? Sie streckte sich, um ihn zu küssen. Er stöhnte an ihren
Lippen, bevor er sich losriss.
»Scheiße, Sandra!«
Sie zuckte zusammen. Seine blauen Augen fuhren unzufrieden über ihr
Gesicht, dann flog sein Blick zur Tür, zum Tisch und zurück zu ihr. Er schüttelte
den Kopf. »Nicht?« Sandra zog die Hand fort. »Du möchtest doch nicht?«
Er stöhnte erneut fing ihr Gesicht ein und gab ihr einen leidenschaftlichen
Kuss. »Nicht hier.«
Sandra blinzelte verwirrt.
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»Nicht in Bauers Büro. Nicht an seinem Schreibtisch. Nicht so.«
Sandra schluckte schwer. Ihre Augen begannen erneut zu brennen und der
Hals zog sich ihr zu. Seine Daumen streichelten über ihre Wangen.
»Du bist keine Trophäe.«
Sie konnte die Tränen nicht weiter zurückhalten.
Sandra sortierte die Akten zu Stapeln. Montag: Prozessbegin. Ein kleiner
Stapel mit letzten Eingaben, Anträgen und zu erwartenen Gegenanträgen. Da im
Vorfeld auf ein schnelles Verfahren gepocht worden war, um Herrn Kramer einen
unnötig langen Gefängnisaufenthalt zu ersparen, dürfte der Verteidigung auch
weiterhin nicht daran gelegen sein, den Prozess zu verschleppen. Zumindest
hoffte Sandra das inständig.
Kapitel 17 - Bauer auf freiem Fuß
Patrick stieg aus dem Fahrstuhl und hielt sich rechts. Er hatte es in Sandras
Büro versucht, dass aber verwaist war, und hoffte sie in Bauers zu finden. Erst in
der letzten Nacht hatte sie sich indirekt über die Beengtheit in ihrem Büro
beschwert und er hatte ihr die Alternative vorgeschlagen. Es stand ohnehin leer
und die Spurensicherung hatte bereits am Mittwoch ihre Arbeit beendet. Patrick
folgte dem Gang fröhlich grinsend und legte sich seine Worte zurecht. Es war
Mittagszeit und er wollte sie überreden mit ihm Essen zu gehen. Gewöhnlich
schlug sie aus, ließ sich maximal auf einen schnellen Imbiss ein, weil sie zu viel
zu tun hatte. Sie bestand darauf, dass die Zeit knapp wurde und sie die
Vorbereitung niemals pünktlich abschließen könnte, obwohl sie in der letzten
Woche von acht bis acht im Gerich gewesen war. Und zwischen zehn und sechs
im Bett. Viel Schlaf hatten sie trotzdem nicht bekommen, was sie ihm jeden
morgen beim Frühstück vorhielt. »Mahlzeit, Frau DaSilva, ich hoffe, Sie sind nicht
...«, grüßte Patrick die portugiesische Anwältin und brach ab. Das gebräunte
Gesicht war bleich und das Makeup verlaufen. »Schulte-Henning!« Sie rang die
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Hände und kam auf ihn zu. »Sie müssen Sandra zur Vernunft bringen!«
Patrick schauderte es und von seiner fröhlichen Stimmung war schlagartig
nichts mehr übrig. »Wo ist sie?« Er wartete nicht auf die Antwort, sondern lief
weiter. Ein Streifenpolizist trat aus Bauers Büro. Etwas war geschehen.
»Sie ist gegangen. Sie ließ sich nicht aufhalten«, rief Frau DaSilva ihm
hinterher und versuchte zu ihm aufzuschließen. »Sie müssen sie von
Dummheiten abhalten!«
Patrick wurde von dem uniformierten Kollegen aufgehalten. »Verzeihung,
niemand hat hier Zutritt, bis ...«
Patrick zückte seine Marke. »Kriminalpolizei.«
»Es tut mir leid, ich habe Anweisung ...«
»Schulte-Henning, gehen Sie bitte zu Sandra. Sie weigerte sich auf den
Krankenwagen zu warten, ich befürchte ...«, lenkte die Portugiesin ihn ab. Seine
Hände schlossen sich schmerzhaft. »Krankenwagen?« Dann war sie verletzt. Eis
quälte sich durch seine Adern. »Was ist hier passiert?« Die Frage war an die
Anwältin gerichtet, der Polizisten würde sich ohnehin mit laufenden Ermittlungen
herausreden.
»Er hat sie gewürgt, als ich dazu kam. Ich glaube ...« Sie befeuchtete sich die
Lippen und sah entschuldigend zu ihm auf. »Es machte den Anschein, dass er
...«
Nicht vergewaltigt betete Patrick, obwohl er da kaum noch Hoffnung hatte.
Wenn Frau DaSilva mit Dummheiten meinte, Sandra von der Vernichtung der
Beweise abzuhalten und sich im Krankenhaus untersuchen zu lassen ...
Das durfte nicht sein. Was sonst? Eine andere Erklärung. Ein Überfall. Im
Gerichtsgebäude? Wohl nicht. Sie war gegangen, also konnte Sandra nicht
ernsthaft verletzt sein. Oder doch?
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einvernehmlich war. Er hat sie
gewürgt und beschimpft. Sie war in Tränen aufgelöst und er hat auf sie
eingewirkt, sie solle behaupten ...«
Patrick schüttelte den Kopf. »Vergewaltigt?«
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Frau DaSilva nickte mit aufwallenden Tränen in den Augen. »Er hat verlangt,
dass sie duschen geht. Gehen Sie und halten Sie Sandra davon ab!«
Warum sollte sie die Beweise vernichten? Sie war Anwältin und wusste um
die Wichtigkeit von handfesten Beweisen. Ohne die, wäre eine Verurteilung ihres
Angreifers wesentlich schwieriger. Patrick versteifte sich mit einer Ahnung.
»Wer?«
»Staatsanwalt Bauer.«
Deswegen. Sie wollte Bauer nicht anzeigen. Hass vertrieb die Kälte in seinen
Gliedern und sein Kiefer verkrampfte sich. Sein erster Impuls war, zu Bauer zu
stürmen und ihn zusammenzuschlagen. Er drehte sich dem Uniformierten zu, der
die Tür blockierte. »Herr Schulte-Henning«, flehte Frau DaSilva und legte ihm
eine Hand auf den Arm. »Gehen Sie zu Sandra! Bringen Sie sie ins
Krankenhaus!«
Patrick atmete zischend aus. Die Beweise durften nicht vernichtet werden.
Kontaminiert waren sie ohnehin, aber das war nun nicht mehr zu ändern.
Solange Bauers DNA an Sandra gefunden wurde, genügte auch Frau DaSilvas
Aussage und Sandras, so sie sich dazu durchringen konnte. Patrick versuchte es
mit der Vernunft. Er nickte der Anwältin zu und wendete sich an den Kollegen:
»Informieren Sie Ihren Vorgesetzten, dass ich zur Beweissicherung zu Frau
Bresinsky fahre. Schicken Sie die Forensik in die Kaiserstraße 17. Um den
Krankenwagen kümmere ich mich selbst.«
Auf dem Weg zur Treppe zog er sein Mobiltelefon aus der Jackentasche.
Zwei Anrufe in Abwesenheit behauptete das Display. Patrick nannte der
Spracherkennung Sandras Namen und sprang derweil die Stufen herab.
»The person you have called is temporarly not available. Der gewünschte
Teilnehmer ist momentan nicht zu erreichen.«
Patrick versuchte es erneut und schickte dann eine Nachricht: Wo bist du?
Auf dem Weg zu seinem Auto wählte er wieder ihre Nummer. Und noch einmal
an der Kreuzung. Dann schwang er um und versuchte es auf dem Festnetz.
»Hinterlassen Sie Ihre Nachricht bitte nach dem Piep.«
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»Sandra? Bist du zu Hause? Ich bin gleich bei dir. Bitte warte auf mich, ganz
gleich, was du tun möchtest. Warte auf mich. Ich liebe dich.« Ihm versagte die
Stimme. »Bitte warte auf mich.«
Patrick stellte die Sirene an. Die Meter grauen Asphalts dehnten sich und er
musste immer und immer wieder anhalten, weil irgendein Arschloch zu dämlich
war auszuparken. Oder einzuparken. Oder die simpelsten Verkehrsregeln nicht
beherrschte. »Rechts vor Links du Spacken! Fahr endlich!«
Dann war die Straße ganz zu. Patrick stellte seinen Wagen ab und lief den
Rest der Strecke. Die Haustür stand auf und er nahm die Stufen in den dritten
Stock. Er klopfte an der Tür. »Sandra? Bitte mach auf.«
Das Schloss knackte und Patrick schloss erleichtert die Augen.
»Schulte-Henning?«
Patricks Erleichterung verpuffte und er begegnete dem irritierten Blick seines
Kollegen.
»Zimmermann.« Sandra hatte die Polizei gerufen und war damit vernünftiger,
als er angenommen hatte. »Ist Sandra noch hier? Ich begleite sie ins
Krankenhaus.«
Zimmermann verengte die Augen. »Wann haben Sie Frau Bresinsky das
letzte Mal gesehen?«
»Heute Morgen, zum Frühstück. Lassen Sie mich rein.« Die Tür blieb halb
geschlossen und machte Patrick damit gehörig nervös. Warum ließ Zimmermann
ihn vor der Tür stehen?
»Sie will mich nicht sehen?« Er wendete sich ab und fuhr sich dabei fluchend
durchs Haar. »Scheiße!« Er stand schon wieder am Anfang. »Also gut, ich warte.
Sie wird die Untersuchung verweigern. Bieten Sie ihr eine Ärztin an und Sie
sollten den Polizeipsychologen einschalten. Egal was sie sagt, sie ist
traumatisiert.«
»In welchem Verhältnis stehen Sie zu Frau Bresinsky?«, fragte der Kollege
vorsichtig. »Christiansen erwähnte Ihr Interesse flüchtig.«
»Christiansen?« Wie zum Teufel war der involviert. Patrick schob die Frage
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beiseite und stellte recht stolz fest: »Wir sind ein Paar.«
Zimmermann sah sich um und öffnete dann die Tür. »Kommen Sie rein, wir
müssen uns unterhalten.« Der Kollege klang ernst. Patricks Sorge vergrößerte
sich, als er Sandras Wohnung betrat. Das Telefontischchen war umgestoßen
worden. Patricks Augen klebten am Anrufbeantworter, der neben der Türzage
zum Wohnzimmer lag und rot blinkend zwei verpasste Anrufe angab. »Wo ist
Sandra?«
Zimmermann räusperte sich. »Das wissen wir nicht.«
Patrick kämpfte mit dem Atmen. »Was soll das heißen, Sie wissen es nicht?
Sie sind in ihrer Wohnung, Sie ...«
Zimmermann hob die Hände und stoppte ihn damit. »Die Tür stand offen, als
Frank und ich ankamen. Das war vor ...« Er warf einen Blick auf seine
Armbanduhr. »... vor zehn Minuten.«
»Frank ist auch hier?« Patrick sah sich suchend um.
»Spricht mit den Nachbarn. Ich wollte mir den Tatort ansehen.«
»Der Tatort ist am Amtsgericht, hier befinden sich hoffentlich die Beweise«,
unterbrach Patrick ihn und wählte bereits Sandras Nummer. Es klingelte. Patrick
fuhr herum. Der Ton kam aus ihrem Schlafzimmer. Zimmermann hielt ihn nach
zwei Schritten in die Richtung auf, dennoch genügte ein Blick. Ihre Handtasche
lag direkt hinter dem Eingang und ihr Inhalt war verstreut. Das Handy war nicht
darunter, aber ihr Taser und die Wohnungsschlüssel. Patrick stockte
fassungslos. »Was ist hier los«, flüsterte er tonlos. »Wir gehen von einer
Entführung aus«, gab Zimmermann ruhig an. »Wir haben das Eindringen auf
Band und denken, dass es mindestens zwei Täter waren.«
»Zwei?«, murmelte Patrick und musste unwillkürlich an Rainers
Nachahmungen denken. Er sah sich um. Soweit er wusste, war keine der drei
Frauen aus ihrem Zuhause entführt worden. Jacqueline Bach war während der
Ausübung ihres Jobs verschwunden. Martina Pastanak nach einer Party und
Kirsten Wichtrup nach dem Sport. Immer war es dunkel gewesen und das Opfer
allein. »Ist dies sicher? Dass es zwei sind? Sandra wird gestalked. Daniel
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Tramitz. Es ist aktenkundig. Sandra wollte erneut eine Verfügung erwirken ...«
Als wäre die Alternative besser. Bisher hatte sich Tramitz außerhalb des Radars
gehalten. War nicht auffällig gewesen und nur die SMS und die Orchidee wiesen
Sandras Gefährdung hin. Sein Aufenthaltsort war unbekannt. »Die Fahndung
läuft. Christansen hat diesen Hinweis bereits gegeben.« Zimmermann machte
eine Pause, die er dazu nutzte Patrick erneut zu mustern. »Frau Bresinsky
verständigte Christiansen vor knapp einer Stunde. Sie sprachen gerade von
einem zweiten Tatort ... Sie kennen demnach die Situation?«
»Dass Bauer Sandra vergewaltigte?« Allein der Gedanke ließ ihn sieden vor
Hass. »Ja, das ist mir bekannt.« Er presste kurz die Lippen aufeinander und
mahnte sich zur Ruhe. Zimmermann anzupfeifen würde die Tatsachen nicht
ändern. »Sandra ist gegangen. Vermutlich bevor die Kollegen eintrafen.«
Zimmermann nickte. »Sie hat Christiansen angerufen. Ihre Aussage ist auf
Band. Sie hat sich umgezogen und sollte auf eine Kollegin warten, die sie in die
Klinik fährt.«
Patrick betrachtete das von seinem Standort aus sichtbare Chaos im
Schlafzimmer. Sandra hatte sich vernünftiger verhalten, als er es vermutet hatte.
Und dann war etwas fürchterlich schief gelaufen. Es klopfte und Zimmermann
warf ihm eine kurze Warnung zu, bevor er die Wohnungstür öffnete. Frank hob
zum Gruß eine Hand.
»Milicz Team ist mir auf den Fersen.« Er schob die Tür weiter auf und ließ
drei Tatortermittler ein. Je einer verschwand in Wohnzimmer, Schlafzimmer und
Badezimmer. »Verstärkung?«, fragte Frank und begutachtete das Telefon am
Boden. »Zwei Nachrichten. Habt ihr sie schon abgehört?« Ohne auf ihre Antwort
zu warten kniete er sich hin und betätigte die Wiedergabetaste. Frank war ein
Desaster für die Forensik. »Nachricht 25.07. 11:27 Uhr: Sandy, Süße, es gibt hier
ein kleines Problem. Komm doch bitte zurück in mein Büro und versichere
Kommissar Geiger, dass ich dich weder verletzt noch genötigt habe.« Bauer
lachte auf. »Frau DaSilva scheint unser Verhältnis völlig falsch einzuschätzen.
Sie hat tatsächlich die Kollegen von der Polizei verständigt mit der Behauptung,
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ich habe dich gezwungen. Du wirst es klarstellen ... müssen.« Im Hintergrund
verlangte jemand den Hörer, es knackte in der Leitung und eine tiefe Stimme
murmelte: »Frau Bresinsky, hier spricht Kommissar Geiger. Ich muss Sie bitten,
sich mit mir in Verbindung zu setzen. Sie erreichen mich unter folgenden
Nummern ...«
Frank pfiff erstaunt und Zimmermann setzte hinzu: »Oberstaatsanwalt Bauer
wurde zwischenzeitlich arretiert. Was sagen die Nachbarn?«
»Einen Moment, hier ist eine zweite Nachricht«, unterbrach Frank und
lauschte gespannt. »Nachricht 25.07 12:03 Uhr: Sandra? Bist du zu Hause? Ich
bin gleich bei dir. Bitte warte auf mich, ganz gleich, was du tun möchtest. Warte
auf mich. Ich liebe dich. Bitte warte auf mich.«
Patrick schoss Hitze in die Wangen. Es klang viel intimer, als er es in
Erinnerung hatte.
Frank starrte ihn an, während Zimmermann murmelte: »Nun denn.«
»Deine Freundin schläft mit deinem Schwager?«
Zumindest vertrieb die Zusammenfassung die Röte aus seinem Gesicht.
Patrick korrigierte fest: »Er hat sie vergewaltigt. Er hat sie bedroht und gewürgt.
Und versucht sie, mit diesem Anruf weiter unter Druck zu setzen!«
»Hm«, machte Frank. »Die Nachbarn sind sich in einem einig: Frau
Bresinsky ist unauffällig und zurückhaltend. Keiner kennt sie näher, oder weiß
etwas aus ihrem Privatleben zu berichten.«
»Stalkingopfer«, erklärte Zimmermann. »Ich habe die Akte angefordert.«
»Es gibt eine zweite Akte, sie ist versiegelt«, fügte Patrick an, nicht sicher ob
sie von Bedeutung war. »Ihr müsst Tramitz finden. Er hat erst vor zwei Wochen
versucht, Sandra habhaft zu werden. Er hat ihr GHB verabreicht.« Auch wenn es
dafür keine Beweise gab. Unruhig wechselte er das Standbein. »Sie hat einen
Anwalt. Ich kenne seinen Namen nicht ...«
»Die Fahndung ist raus, Schulte-Henning«, wiederholte Zimmermann. »Gibt
es andere Tatverdächtige?«
»Ich komme von der Wache. Ich habe bis Viertel vor zwölf mit
»Du sollst nicht begehren ...«
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Hauptkommissar Lübbe an der Vernehmung eines Verdächtigen an einem
Raubmord im letzten Jahr gesessen. Dann bin ich zum Amtsgericht gefahren, um
mit Frau Bresinsky zum Mittagessen zu gehen. Dort erfuhr ich ...« Seine Stimme
brach und er senkte den Blick. »Ich bin sofort hergekommen. Sandras
Freizeitaktivitäten halten sich in Grenzen. Sie arbeiten viel und ist nur schwer zu
überzeugen, das Haus zu verlassen.«
»Keine regelmäßigen Aktivitäten?«, hinterfragte Zimmermann nachdenklich
und Patrick schüttelte den Kopf. »Wir verlassen morgens vor acht das Haus und
sind zu unterschiedlichen Zeiten zurück.«
»Gemeinsam?«
Patrick nickte. »Zumindest nach Tramitz Versuch Sandra unter Drogen zu
setzen.«
»Dann war heute der perfekte Moment für eine Entführung«, stellte Frank
fest. »Sie war allein.«
Patrick lief es eiskalt den Rücken herunter. Sandra hatte beteuert, dass
Tramitz sie nicht vergewaltigt hatte. In der Akte zu seiner Verurteilung war auch
nur von Körperverletzung die Sprache. Und doch hinterließ die ganze Sache
einen bitteren Nachgeschmack. »Begleiten Sie uns zur Wache?«
Patrick nickte. »Selbstverständlich. Ihr Handy sollte zuerst überprüft werden.
Vermutlich hat Tramitz versucht, sie zunächst telefonisch zu erreichen. Die
Nummer ihres Anwalts sollte gespeichert sein. Sie hat ihn am 13ten angerufen.
Und vermutlich sind ihre Schwestern abgespeichert.«
»Richtig, guter Hinweis, Schulte-Henning«, murmelte Zimmermann und
bedeutete ihm hinauszugehen.
Patrick rutschte auf seinem Stuhl herum. Es gab keine Neuigkeiten. Seit zwei
Stunden war Sandra nun vermisst und sie machten einfach keine Fortschritte.
Nun, bis auf einen. Vor einer halben Stunde wurde gemeldet, dass Tramitz in
Gewahrsam war. Er habe sich gestellt, hieß es. Um exakt 11:30 Uhr, damit
schied er als mutmaßlicher Entführer aus. Patrick hatte es nicht glauben wollen
und kämpfte immer noch mit der Akzeptanz. Wer sonst sollte Sandra entführt
»Du sollst nicht begehren ...«
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haben? Patrick hatte kurz Bauer als Möglichkeit ins Auge gefasst, allerdings war
der nachweislich zur Tatzeit im Amtsgericht gewesen. Wer sonst? Unter der
Premisse, dass Bauer der Nachahmer war, sein Partner? Der unbekannte
Zweite.
Patrick hielt es nicht mehr aus und tigerte angespannt durch den Raum.
»Patrick!?«
Er fuhr herum. Seine Schwester stand im Türrahmen, die Hand noch auf der
Klinke und mit verweinten Augen. »Steffi? Was machst du denn ...« Er brach ab.
»Kommissar Geiger bat mich, herzukommen. Peter soll ...« Sie stoppte
schniefend. Patrick verfluchte sich innerlich. Natürlich würde man Steffi befragen
wollen. Und sie würde Bauer verteidigen. Er knirschte mit den Zähnen.
»Setz dich, Steffi.« Er führte seine Schwester an den Tisch und drückte sie
auf den Stuhl nieder. »Kann ich etwas für dich tun? Möchtest du ein Wasser?
Oder Kaffee?«
Sie schüttelte den Kopf. »Oh, Patrick, hast du ihn wieder verhaftet? Bitte, du
musst die Anzeige ...«
»Er hat sie vergewaltigt, Steffi!«, fuhr er dazwischen, heftiger als angebracht.
Er schluckte, konnte sich aber nicht entschuldigen. Ihre ständige Verteidigung
Bauers war einfach nicht mehr zu ertragen. »Das behauptet sie!«, spie Steffi und
in ihrem Gesicht spiegelte sich Hass. »Sie hat ihn angestiftet, hat von ihm
verlangt, dass er sich scheiden lässt!«
Es war sinnlos, dennoch schüttelte Patrick den Kopf. »Nein.«
»Sie hat es erfunden, Patrick! Genau wie Martina!«
Patrick schüttelte erneut den Kopf. »Sie hatte kein Interesse an ihm.«
Steffi lachte verärgert auf. »Oh, natürlich! Ich bitte dich, Patrick, sie wollen ihn
alle!«
»Ich hole dir ein Wasser. Ich nehme an, du hast seinen Anwalt verständigt?«,
lenkte Patrick ab. Er hatte keine Geduld, sich ausgerechnet jetzt mit Steffi
auseinanderzusetzen.
»Natürlich. Er sollte schon hier sein.«
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Patrick warf an der Tür noch einen Blick zurück. Steffi sah ihm nach, Tränen
in den Augen, aber mit festem Blick. Irritiert nickte er ihr zu und schloss dann
nachdrücklich die Tür. Am Wasserspender traf er Christiansen und fragte ihn
nach dem Stand der Dinge. »Die versiegelte Akte ist eingetroffen«, gab der
Auskunft, während er seine Chipkarte vor das Gerät hielt. »Erst dachte ich, sie
hätten sich vertan und die Falsche geschickt.«
»Von Berg«, unterbrach Patrick, schließlich kannte er ihren gebürtigen
Namen bereits. »Helena von Berg.«
Christiansen wählte ein kohlensäurearmes Mineralwasser. »Richtig. Und ihr
Anwalt kam gleich mit. Zimmermann spricht mit ihm, Frank ist rüber zur
Steinwache, um Tramitz abzuholen. Geiger schlägt sich noch mit Bauer rum.
Behauptet steif und fest eine Beziehung mit Frau Bres ... Von Berg zu führen.«
»Das ist Unsinn«, wehrte Patrick ab. »Und wir sollten bei Bresinsky bleiben,
sonst führt es nur zur Verwirrung.«
»Es ist lächerlich«, bestätigte Christiansen. »Klar, stille Wasser sind tief und
so, aber bei der Vorgeschichte ...« Er schüttelte den Kopf. »Ein Skandal.«
Patrick räusperte sich. »Wer hat noch Einblick in die Akte?«
»Zimmermann und Frank natürlich.« Er zuckte die Achseln. »Waren beide
überrascht. Frau Bresinsky macht einen recht biederen Eindruck.«
»Was sollte dem entgegenstehen? Bauers angebliche Affäre?«
»Der gehäuft auftretende Widerspruch. Tramitz behauptet, dass sie ein Paar
sind, Bauer behauptet es ...« Christiansen sah ihn an und hob eine Braue.
»Wichtig ist wohl, was Frau Bresinsky dazu sagt«, murmelte Patrick gepresst.
»Und das widerspricht beidem!«
»Richtig. Bei Tramitz wurde die Akte nach einem Rückzieher Frau Bresinskys
geschlossen. Sowohl die Anklage wegen der Entführung, wie auch die
mehrfache Vergewaltigung wurde fallen gelassen.« Wieder zuckte Christansen
die Schultern und Patrick begegnete fest seinem prüfenden Blick. Also doch, er
hatte es ja geahnt. »Das erklärt zumindest ihren Rückzieher bei ihrer ersten
Anzeige vor zwei Wochen.«
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»Sie kennt das Prozedere, sie war sich unsicher ...«, erklärte Patrick, obwohl
er es besser wusste. »Sie hat Dutzende Anzeigen vorgebracht, aber selbst nach
der Verurteilung, ließ Tramitz sie nicht in Ruhe.«
»Und dann Bauer. Er unterhält Geiger mit seinen Anekdoten. Er bewirft Frau
Bresinsky dabei ziemlich ungeniert mit Dreck. Sie unterhielte eine Affäre mit
Staatsanwalt Ziegler um ihn eifersüchtig zu machen. Flirtet mit Ihnen aus dem
selben Grund ...«
Patrick biss die Zähne zusammen. »Weder noch! Frau Bresinsky und ich ...«
»Ihr Interesse ist offenkundig, aber Frau Bresinsky ...« Christiansen ließ den
Satz so stehen und zuckte die Schultern. »Zumindest scheinen Sie aus dem
Kreis der Verdächtigen raus zu sein.«
Patrick atmete tief durch. Dass er als Partner tatverdächtig war, überraschte
ihn nicht. »Frau Bresinsky flirtet nicht. Sie ist sehr zurückhaltend und ...«
»Reserviert. Ich kann mir bei Leibe nicht vorstellen, dass sie über
Staatsanwalt Bauer herfällt, wie er es beschreibt.«
Patrick ballte die Fäuste. Es war unerträglich, dass man Sandra so
demütigte. »Bauer schmückt es gerne aus«, boomte Rainer aus seinem Rücken.
Patrick fuhr herum. »Ich dachte mir schon länger, dass da nicht viel dran sein
kann.« Er wendete sich an Patrick. »Wir haben ein Problem. Ich muss mit deiner
Anwältin reden.«
Patrick versteifte sich böses ahnend.
»Ich habe euch auf Band«, fuhr Rainer ungerührt fort. »Kein Zweck es weiter
abzustreiten. Du hast mich ganz schön an der Nase herumgeführt, mein
Freund!«
»Wovon redest du bitte?«, knirschte Patrick. »Frau Anwältin kann kaum die
Finger von dir lassen, oder du von ihr. Also ich hätte sie ja nicht vertröstet.« Er
hob die Hand und schwenkte eine Festplatte. »Eure Jungs haben die Festplatte
aus Bauers Büro geklont und sehr interessantes Material gefunden«, stellte
Rainer mit einem Zwinkern fest, um dann ernst zu werden. »Das führt mich her.
Ich dachte, du solltest wissen, was zwischen Bauer und deiner Anwältin
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tatsächlich lief.«
Arschloch! Patrick mahnte sich zur Ruhe. »Es ist scheiß egal, was lief, es ist
vorbei!«
»Das wirst du anders sehen. Komm, ich zeigs dir.« Er wendete sich ab. »Du
wirst den Fall weitergeben müssen ...«
»Welchen Fall?«
Wieder schwenkte Rainer die Festplatte. »Die Nötigungen deiner Anwältin ...
Der Idiot hat tatsächlich alles aufgenommen.« Rainer schüttelte den Kopf. In
Patricks Ohren rauschte es orkanartig. »Nötigung?«, flüsterte er. »Auf Band?«
Eisflocken rieselten durch seine Adern. »Du hast es auf Band?« Die
Vergewaltigung? Sandras Demütigung. Dieses verfluchte Arschloch hatte es
auch noch aufgenommen? »Er hat ein ganzes Sammelsurium an Sexfilmchen
mit ihm in der Hauptrolle. Und deine Anwältin hat einen Ehrenplatz: 1a. Unsere
Opfer sind ebenfalls vertreten.« Rainer winkte mit dem Speichermedium. »Na
komm schon. Ich muss die Beweise weiterreichen, damit Bauer angeklagt
werden kann.«
»Das untermauert Bauers Aussage, dass eine Beziehung zwischen ihnen
bestand«, schaltete sich Christiansen ein. »Kommissar Rainer, Sie müssen die
Beweise an Kommissar Geiger übergeben.« Er warf Patrick einen
entschuldigenden Blick zu. »Auch wenn sie Staatsanwalt Bauer entlasten.«
»Er hat sie mit Gewalt gefügig gemacht!«, spie Patrick unfähig sich
zurückzuhalten. Als mache es einen Unterschied, ob sie zuvor einvernehmlich
verkehrten. »Richtig«, bestätigte Bauer. »Und was Bauer so gern als Lustschreie
verkauft, waren wohl eher bitten um Schonung.«
Patricks Glieder wurden ganz starr. »Wovon zum Teufel sprichst du?«
»Er hat fünfhundert Filmchen hier drauf. Vierhunderfünfundneunzig sind
maximal ohne Zustimmung der Partnerin aufgenommen, die restlichen Fünf ...«
Rainer zuckte die Schultern. »Sind strafrechtlich relevant. Auch ohne Frau
Bresinskys explizite Anzeige. Ruf sie an. Ich muss mit ihr sprechen, bevor wir die
Sachlage an euch übergeben. Bezugnehmend auf unsere Mordserie.«
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Patrick schüttelte den Kopf. »Warum ist Bauer auf freiem Fuß? Warum hast
du mich nicht vorgewarnt?«
»Er hat Kaution gestellt und die Festnahme wurde kritisiert. Bauer spielt
seinen Trumpf: Polizeigewalt. Wir haben erst heute die Sequenz ausgewertet, in
der Bauer von uns festgenommen wird.« Rainer zuckte die Achseln. »War zu
spät, um ihn festzuhalten. Mit der Aufnahme und Frau Bresinskys eidesstattlicher
Versicherung ...«
»Scheiße!«, fluchte Patrick. »Du hättest mich anrufen müssen!«
»Ich habe die Dienststelle verständigt«, tat Rainer den Vorwurf ab. »Also, ruf
deine Anwältin an, damit wir das hier klären können.«
»Frau Bresinsky wurde entführt«, informierte Christiansen. »Sie können die
Festplatte mir überlassen, ich werde die Daten Kommissar Geiger übergeben.«
»Einen Moment ...« Patrick haderte mit sich. Er wollte es nicht sehen. Er
hätte es auch nicht einvernehmlich sehen wollen, aber schon gar nicht
gezwungenermaßen. »Diese Aufnahmen ... wo wurden sie gemacht? Du sagtest,
ich wäre auch drauf?«
»Häufig«, bestätigte Rainer abschätzend. »Wie bitte?«
»Frau Bresinsky anschmachtend«, grinste Rainer. »Wie ein Mondkalb.«
Unsinn, er hatte Sandra nicht angeschmachtet. »Wo?«
»In seinem Büro.«
Patrick stutzte. »Die Aufnahmen wurden in seinem Büro gemacht? Alle?«
»Nicht alle, aber die Neueren. Sie sind bearbeitet. Zusammengeschnitten,
was auf mindestens zwei Kameras hinweist. Milicz schätzt drei«, bestätigte
Rainer. »Wenn er sie entführt hat ... Sein Jagdhaus steht unter Beobachtung?«
»Bauer ist inhaftiert«, stellte Christiansen fest, während Patrick sein Handy
zückte und Milicz Nummer wählte. »Schulte-Henning hier. In Staatsanwalt
Bauers Büro-PC wurde Bildmaterial gefunden, das von einer Kamera vor Ort
stammen müsste ...«
»Rainers Fall? Sorry, sprich ihn an.«
»Moment! Wurde Bauers Büro erneut unter die Lupe genommen? Es könnte
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neues Bildmaterial aufgenommen worden sein.«
Eine lange Weile blieb es still in der Leitung. »Tatsache«, murmelte Milicz
dann. »Den Computer hätte ich nicht noch mal überprüft, schließlich war er nicht
in Benutzung. Aber nach dem Hochfahren wurde eine WLAN Verbindung
hergestellt und nun werden Daten übertragen.«
»Ich komme rüber.« Patrick legte auf. »Christiansen übergeben Sie die
Festplatte an Geiger und informieren Sie ihn, dass ich die neuen Daten bringen
werde ...«
»Kommissar Schulte-Henning, Sie müssen sich raus halten«, unterbrach der
junge Kollege ihn und verstellte Patrick den Weg.
»Ich begleite ihn, Christiansen«, bot Rainer an. »Es tangiert meinen Fall und
damit auch seinen.« Rainer deutete auf ihn. Christiansen schien hin und her
gerissen. »Vielleicht liefert es neue Hinweise. Er kennt sie von uns am besten,
nicht wahr?«
»Okay«, murmelte Christiansen und übernahm die Festplatte. Patrick drückte
ihm das Wasser in die freie Hand.
»Meine Schwester ist im Wartezimmer, bringen Sie ihr das!« Er fügte noch
ein Dank hinzu und hastete dann den Gang hinunter. Rainer folgte ihm
schweigend. Erst im Wagen bemerkte er trocken: »Dann hat er es wieder
geschafft? Ich wäre verdammt angefressen. Zumindest kannst du dir diesesmal
sicher sein, dass das Interesse einseitig war.«
»Vergleich Sandra nicht mit Jen, okay.«
»Die Situation ist schon ähnlich«, behauptete Rainer ungerührt. »Wer hatte
sie eigentlich zuerst?«
Patrick stieg in die Bremsen und zog aus dem Verkehr raus. Sich Rainer
zuwendend, hob er den ausgestreckten Zeigefinger. »Das reicht! Sprich nicht so
von ihr! Sie ist nicht wie deine verfluchte Schwester, okay!«
»Du bist ein Idiot, Patrick. Letztlich sind die Weiber alle gleich. Aber gut.
Gehen wir von der Premisse aus, dass Frau Bresinsky die Ausnahme ist. Fakt
ist: Peter wusste, dass du sie wolltest, und hat systematisch dagegengearbeitet.«
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Er hob die Hände. »Ich halte den Mund.«
Patrick hatte Mühe seinen Ärger zu bezwingen.
Noch immer glühend vor Ärger betrat Patrick das Bauer zur Verfügung
gestellte Büro. Tatortermittler waren damit beschäftigt, Fingerabdrücke zu
katalogisieren. Die Ledercouch war von der Wand gerückt und die Kissen bereits
eingetütet worden. Davor lagen die Akten in gestürzten Stapeln. Patrick konnte
seinen Blick kaum davon losreißen. Wie von ihm vorgeschlagen hatte sie den
Platz hier genutzt, um ihre Akten zu sortieren. Wenn er es nicht vorgeschlagen
hätte, wäre sie Peter nicht in die Finger geraten. Der Hals dorrte ihm aus und
Schuld brannte in seinen Adern.
»Schulte-Henning.« Milicz schüttelte seine Hand. Ich habe die Daten kopiert,
wir können sie auf dem Pad abspielen.«
Patrick nickte. Nur widerwillig fasste er das Pad ins Auge. Auf dem
unbewegtem Bild lag ein verlassenes Zimmer. Der Blickwinkel lag erhöht und
umfasste den größten Teil des Zimmers, inklusive Schreibtisch. »Es sind
zweihundertfünf Minuten aufgezeichnet, in drei Dateien«, erklärte Milicz und
deutete in die Raumecke. »Das Video wurde wohl aus der Ecke aufgenommen,
noch haben wir nicht nach der Kamera gesucht. Eine zweite sollte in Leibeshöhe
zwischen den Büchern versteckt sein und die dritte scheint Mobil zu sein. Mit der
wurden auch nur dreiundvierzig Minuten gefilmt.« Milic ließ das Video laufen.
Das Licht ging an, wieder aus und schließlich wieder an. Sandra betrat den
Raum und schob ein vollbeladenenes Wägelchen vor sich her. Sie schob es bis
vor die Couch, stellte ihre Handtasche darauf ab und drehte sich dann zu ihrer
Begleitung um. »Danke, Herr Goldbach, das wäre dann alles.« Sie lächelte dem
Justizbeamten kurz zu. »Stellen Sie die Kartons ruhig dazu.«
Goldbach stellte die Kartons ab, die er getragen hatte.
»Gern geschehen, Frau Bresinsky. Ehm ...« Er räusperte sich. »Vielleicht ...
Darf ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen?« Überrascht sah Sandra zu ihm auf
und Goldbach schwenkte um: »Ganz kollegial in der Mensa ...«
»Oh!« Sandra runzelte die Stirn. »Das ist nett von Ihnen, Herr Goldbach.«
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»Aber es bleibt beim Nein?«, beendete der Uniformierte.
»Ein anderes Mal vielleicht. Heute habe ich einfach zu viel zu tun und
vermutlich muss ich eine lange Mittagspause einplanen.« Sie seufzte.
»Schulte-Henning«, murrte Goldbach und nickte. »Glückliche Sau.«
»Ich oder er?«, fragte Sandra, während sie bereits die Kisten überflog. »Er.«
Sandra sah erneut auf. »Ich. Aber es wäre nett, wenn das unter uns bliebe.«
Sie zwinkerte vergnügt. »Dann verschweige ich ihm auch diesen Flirtversuch.«
Goldbach ging schnell darauf ein und verabschiedete sich. Sandra war
bereits ganz in ihrer Arbeit vertieft. Sie zog die einzelnen Akten heraus und legte
sie zurecht. Milic spulte vor bis Sandra aufgeschreckt nach ihrer Handtasche
griff. Sie zog ihr Handy heraus. »Bresinsky?-Dr. Schu ...« Sie stockte verschreckt
und fuhr flüsternd fort: »Max.« Sie riss die Augen auf. »Geburtstag!« Der Schreck
stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Am Wochenende? Ich denke ... Das wird
möglich sein. - Einen Moment, Max. Was ... was gefällt Patrick denn?« Ihr
klappte der Mund auf und dann stotterte sie: »Ich ... ich meine doch ... nicht ...
was ich anziehen soll!« Sie setzte sich auf die Couch und schüttelte den Kopf.
»Wenn Sie das sagen«, murmelte sie. »Ja. Bis morgen ...« Sie ließ das Telefon
sinken und ihre Lippen formten ein: Oh, mein Gott! Sandra fasste sich und wählte
eine Nummer. »Ana, ich bins. Er hat Geburtstag!« Sie sprang auf. »Was? Ach
bitte, Ana, was soll ich ihm denn schenken?« Sie begann im Zimmer auf und ab
zu tigern und blieb unvermutet wieder stehen. »Ana! Ich werde niemandem
jemals Rosaplüschhandschellen schenken! - Und auch keine ... Was ist eine ...
Ana, du bist keine Hilfe!« Sie legte auf und ließ sich wieder auf die Couch fallen.
»Scheiße!«
Sie hob die Hand und starrte einen Moment auf ihr Telefon. Dann wählte sie
erneut. Sie biss sich auf die Lippe. »Hallo, Anne. - Bitte mache mir jetzt keine
Vorwürfe, ich brauche deine Hilfe und verspreche mich ganz bald zu melden,
damit du mich nach Herzenslust ausschimpfen kannst. - Danke. Also, was
schenkst du Robert so zum Geburtstag?« Sie hielt den Atem an. »Für meinen
Freund.« Sie biss sich wieder auf die Lippe. »Oh.« Sie schloss die Augen.
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»Okay, danke, Anne. Ich melde mich ... Ja, versprochen!« Wieder legte sie auf
und wählte erneut. Sie richtete sich auf und befeuchtete sich die Lippen.
»Patrick? Bitte melde dich doch, wenn du deine Nachrichten abhörst. Vielleicht ...
gehen wir zusammen essen? Ich habe eigentlich keine Zeit, wie du weißt, aber
ich denke ... ein paar Minuten kann ich dir opfern.« Ihre Lippen bogen sich zu
einem herausfordernden Grinsen. »Ja, ich glaube, das lässt sich vertreten. Also,
ruf zurück, oder komm mich holen.« Sandra nahm das Telefon vom Ohr und
wollte auflegen, entschied sich dann anders. »Ich liebe Dich.«
Patrick legte die Hand auf sein Mobiltelefon, das in seiner Hosentasche
steckte. Seine Augen brannten, aber er wagte nicht, sie zu schließen. Auf dem
Pad errötete Sandra und presste das Handy an die Brust. Dann lachte sie auf
und erstickte es mit der Hand. Kichernd streckte sie sich nach ihrer Tasche und
schreckte auf. Schwankend kam sie auf die Füße. Bauer hatte das Zimmer
betreten und die Tür ins Schloss geworfen. »Willst du mich verarschen?« Bauer
stürmte auf Sandra zu, die ihn lediglich geschockt anstarrte. Er schlug sie und
Sandra ging schwer zu Boden. »Patrick? Du fickst Patrick? Spinnst du?« Er
kniete sich zu ihr und riss ihren Kopf zurück. »Ich dachte, du wärst etwas
besonderes!«
Sandra stöhnte schmerzerfüllt auf und versuchte den Griff in ihrem Haar zu
lockern. Tränen standen in ihren Augen. »Ich wollte sie endlich verlassen - für
dich!« Er stieß sie von sich. Sandra rutschte weiter von ihm fort.
»Sie verlassen?« Sie schüttelte den Kopf. »Du bist ein Schwein. Er hatte
Recht. Von vornherein.«
Patrick schloss die Augen. Sie hätte den Mund halten sollen. Bauer war
unberechenbar in seiner Wut und man musste mit dem Echo auskommen
können, wenn man ihn in der Stimmung weiter reizte.
Sandra schrie auf. Bauer hatte sie erneut geschlagen. »Du verfluchtes
Miststück!« Bauer starrte schwer atmend auf sie herab. »Warum Patrick? Hat dir
Ziegler nicht gereicht?«
Sandra wischte sich mit zittrigen Fingern das Blut von der Lippe. Bitte
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schweig, flehte Patrick innerlich und schloss erneut die Augen, als Sandra
widersprach: »Ich schlafe nur mit Patrick. Ausschließlich!«
Bauer lief rot an, ballte die Hände und sirrte förmlich vor Anspannung.
»Glaubst du?« Die Ruhe seiner Stimme stand so im Gegensatz zur Situation,
dass es Patrick eisig kalt den Rücken herab lief. Er kannte den Ausgang der
Geschichte. Er wollte sie nicht vor Augen haben. Bauer stoppte ihren Rückzug
indem er die Hand wieder in ihrem Haar vergrub. An ihm reißend zerrte er sie an
sich. Er ging in die Knie, um auf Augenhöhe mit ihr zu kommen. »Tatsächlich
ficke ICH dich.«
Sandra begegnete Bauers Blick. »Nein.« Fest. Sicher. »Du fasst mich nicht
an.«
Bauer lachte gehässig auf und drückte seinen Mund auf ihren. Sie versuchte
auszuweichen, krallte ihre Finger in seine Hand, die sie mit einem festen Griff in
ihrem Haar an Ort und Stelle hielt. Mit dem anderen Arm versuchte sie, ihn auf
Abstand zu halten. Dennoch riss er ihr die Bluse auf.
»Lass mich los!«
»Ah, bestimmt nicht.«
»Ich will nicht, dass du mich anfasst! Das hier ist sexuelle Belästigung! Du
wirst mich jetzt gehen lassen!«, verlangte Sandra um Durchsetzungskraft
bemüht. »Ich werde dich ficken, Sandra. Du gehörst mir. Ich entscheide.« Er
schwang sie herum und presste sie auf die Couch nieder.
»Schalt es aus«, krächzte Patrick und nahm Milicz das Gerät aus der Hand,
da er nicht schnell genug handelte. »Es wird ohnehin gesichtet, Patrick, das
kannst du nicht verhindern«, mahnte Rainer und Patrick herrschte ihn an: »Geilt
dich das auf, oder was! Verdammt noch mal, das ist abartig!«
»Es geilt mich nicht auf, Patrick. Er geht zu weit. Aber es ist relevant. Jeder
Moment jedes Wort.« Er machte eine Pause, in der er Patrick musterte.
»Vielleicht enthält es Hinweise, was später mit ihr geschah. Du willst sie doch
zurück, oder?«
Patrick schluckte. Er wollte sie zurück. »Wir überspringen die nächsten
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Minuten«, schaltete sich Milic ein. »Wir werde das Video zuerst auswerten, da
werden einige Stunden keinen Unterschied machen.« Er zog Patrick das Pad
aus der Hand und spulte vor.
Sandra saß keuchend vor der Couch, ihr Rock war über die Schenkel
gezogen, die sie fest an sich gezogen hatte. Bauer stand mit herabgelassener
Hose vor ihr. »Das war doch mal ein Fick!«
Sandra sah auf. Sie war bleich, Tränen hingen in ihren Wimpern und die
Finger, mit der sie ihren Rock richten wollte, bebten heftig. »Das war
Vergewaltigung«, korrigierte sie. Bauer lachte auf. »Versuch es gar nicht erst,
Sandy. Du weißt, wie schwer diese Fälle zu beweisen sind und bei unserer
Vorgeschichte ...« Er tätschelte ihr Wange. »Ich habe dutzende
Leumundszeugen, was hast du? Affären und Patrick selbst wird Aussagen ...«
»Dass du ein Schwein bist! Untreu, egoistisch, brutal ...«
Bauer lachte erneut auf. »Dass ich keine Frau zwingen muss, Sandy! Dass
sie mir hinterher laufen, um meine Aufmerksamkeit buhlen!«
Sandra schluckte, offenkundig verunsichert. »Ich nicht!«, flüsterte sie. »Ich
nicht.«
»Ach, und wer soll das glauben? Dein Patrick? Ist dir schon mal der Gedanke
gekommen, dass er dich nur fickt, um sich an mir zu rächen?«
Sandra schüttelte schwach den Kopf. »Er fickt nicht.«
»Wie bitte?«
Sie sah auf. »Patrick fickt nicht. Er ist nicht so ein Arschloch, wie du eines
bist, er ist fürsorglich und zärtlich. Er ist ...«
»Halt die Fresse!«, zischte Bauer angespannt, aber Sandra fuhr ungerührt
fort: »... aufrichtig, hilfsbereit, tatkräftig ... Er ist ein toller Mann, nicht so ein
jämmerlicher Abklatsch ...«
Blitzschnell war Bauer über ihr und drückte ihr die Luft ab.
»Du verfluchte Schlampe!«
Sandra keuchte und versuchte Bauers Hände von ihrem Hals zu lösen.
»Ich bin tausend mal mehr Mann, als Patrick es sein könnte. Jede sieht das.
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Jede zieht mich vor, also halt dein verfluchtes Maul!«
»Ich nicht!«, keuchte Sandra, obwohl sie kaum genug Luft dafür haben
konnte.
»Du ...«
»Was ist denn hier los?«, wurde Bauer unterbrochen. Sein Griff um Sandras
Hals lockerte sich. »Lassen Sie sie los!« Staatsanwältin DaSilva trat ins Bild. Sie
zückte ihr Mobiltelefon. »Goldbach? Frau Bresinsky wird in Zimmer 3.23
angegriffen. Wir brauchen den Sicherheitsdienst. Unterrichten Sie auch ...«
»Das ist Bullshit!«, brüllte Bauer, um Frau DaSilva zu übertönen. Sandra
rutschte von ihm fort, eine Hand an den Hals gelegt. Bauer erhob sich und hob
die Arme. »Sie interpretieren mal wieder die Situation falsch, Frau DaSilva. Das
ist ja nicht das erste Mal nicht wahr?«
»Die Kollegen von der Kriminalpolizei. Bitten Sie ...«, fuhr die portugiesische
Anwältin fort und wich zurück. Damit verlor die Kamera sie aus dem Blickfeld,
das Mikro fing noch auf: »In meinem Namen um Kommissar Geiger.«
Bauer folgte der Kollegin aus dem Raum. »Das ist völlig unnötig. Sie mischen
sich in Dinge ein ...«
Sandra zog ihre Tasche an sich, wühlte ihr Handy heraus und wählte zittrig.
Patrick, murmelte sie tonlos. Sie drückte das Telefon ans Ohr, schloss die Augen
und zog dabei die Beine an. Die Enttäuschung zeichnete sich deutlich in ihrem
Gesicht ab, noch bevor sie die Hand wieder sinken ließ. » ... wagen Sie es nicht
...«, war aus dem Hintergrund zu vernehmen und Bauer brüllte: »Sie dämliche
...«
Sandra rappele sich auf, zerrte dabei den Rock über ihre Beine und verzog
schmerzlich das Gesicht. Sie stoppte. Machte eine kurze Rast auf der Couch.
Tränen rannen über ihre bleichen Wangen. Sie raffte mit zittrigen Fingern den
Stoff ihrer Bluse vor der Brust, schloss den Blazer und versuchte erneut
aufzustehen. »Ich warne Sie ...«, schrie Bauer außerhalb der Aufnahme. Sandra
sah ängstlich in die Richtung, bevor sie sich fahrig nach ihrer Tasche umsah. Sie
griff nach dem Henkel und stolperte los. Sie fiel und der Inhalt ihrer Tasche
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ergoss sich vor ihr auf dem Boden. Sandra sammelte Taser, Hausschlüssel und
Geldbeutel und stopfte die Sachen zurück in die Tasche. Dann ihren
Terminplaner. Ein Kärtchen steckte in ihm, mit einem kleinen Säckchen. Ein
Geschenk, das Patrick am Morgen dort platziert hatte.
In der Aufnahme stockte Sandra, drehte den Planer und zog das Kärtchen
dann hervor. Man konnte Sandra ihre Verblüffung von der Miene ablesen. Sie
öffnete das Säckchen und ließ sich den Inhalt in die flache Hand fallen. Ein
Goldkettchen mit Anhänger. Ein kleines Herz mit Rubin. Nur ganz klein. Patrick
hatte mit sich gehardert. Er hatte einerseits ihr Gesicht sehen wollen, wenn sie
sein Geschenk auspackte und hatte sich gleichzeitig davor gefürchtet. Jen hatte
nicht eines seiner Geschenke je gefallen. Er hatte ihr in den drei Jahren ihrer
Beziehung nicht einmal ein Lächeln mit einem Präsent entlockt. Nicht einmal der
Verlobungsring war gut genug gewesen. Patrick hatte halb befürchtet, dass
Sandra die Kette nicht mögen könnte. Oder besser: den Anhänger. Seine
Bedeutung. Deswegen hatte er feige den Schmuck in ihre Tasche geschmuggelt.
Tränen rollten über ihre Wangen. Sie schloss die Faust und die Lider gleich mit.
»Sie mischen sich in Dinge ...«, brüllte Bauer aus dem Nebenraum und
Sandra zuckte zusammen. »Die Sie absolut nichts angehen! Sandra!«
Sie kam schwankend auf die Füße und wich zurück. Bauer stürmte auf sie
zu, griff nach ihrem Arm und zischte: »Bring sie zu Vernunft! Dann fährst du nach
Hause und duschst. Wenn der Lackaffe Geiger dich fragt ...«
Sandra schüttelte den Kopf. »Du wirst tun, was ich dir sage, Sandra«, warnte
Bauer fest. »Niemand wird dir glauben, schon gar nicht Patrick. Wie wirst du
dastehen? Ein Verhältnis mit mir, Ziegler und Patrick obendrein. Du wirst dich
hier nicht mehr sehen lassen können.« Er zog sie an sich und zwang ihr Kinn
nach oben. »Du weißt, dass man dir nicht glauben wird.«
Sandra schluckte, sparte sich aber den Widerspruch. Zu eingeschüchtert,
oder vielleicht hatte Bauer sie auch überzeugt. Patrick konnte es nicht
ausschließen, denn ihr Gesicht war absolut ausdruckslos. Bauer ließ sie los und
schubste sie dabei in Richtung Tür. »Geh duschen, alles Weitere klären wir
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später.«
Sandra torkelte aus dem Aufnahmefokus.
»Sandra!«, rief Frau DaSilva. »Geht es dir gut? Wo willst du denn ...« Die
Stimme verlor sich und zurück blieb Bauer, der sich konzentriert umsah.
Sandra erwachte mit Schmerzen. Zunächst waren sie nicht lokalisierbar,
dann wurden sie deutlicher, stärker und Sandra erkannte, dass sie überall waren.
Der Kopf, der Rücken, die Schulter auf der sie lag, der Schenkel mit der langsam
verheilenden Schnittwunde. Und der Kopf. Sandra stohnte und bereute es
umgehend. Ihr Schädel drohte zu platzen. Sie atmete flach, in der Hoffnung die
Schmerzen wegzuatmen. Es funktionierte eher leidlich. Sie stohnte erneut und
bemerkte den pelzigen Geschmack im Mund. Ein Lappen. Sie war geknebelt.
Sandra wollte ihn entfernen, konnte sich aber nicht bewegen. Ihre Hände waren
auf dem Rücken gefesselt. Sandra versuchte zu schlucken. Der Hals wurde ihr
immer enger und sie bekam Schwierigkeiten zu atmen. Nein. Nein! Kalte, nackte
Panik überrollte Sandra und raubte ihr schließlich die Besinnung.
Patrick fing Christiansen auf dem Flur ab. »Was ist hier los?« Es war Viertel
vor sechs und noch immer gab es keine Neuigkeiten. Zumindest waren sie nicht
zu ihm vorgedrungen. Christansen seufzte vernehmlich. »Sie wissen ...«
»Keine Ausflüchte, Christiansen! Haben die Befragungen etwas ergeben? Es
muss einen Komplizen geben!«
Patrick selbst hatte immer noch Tramitz in Verdacht. Natürlich war Bauer
ebenfalls verdächtig, aber der war nachweislich bei Gericht gewesen, als Sandra
verschwand und hatte nicht telefoniert. Hatte er von vornherein geplant Sandra
zu entführen und hatte sich absichtlich in die derzeitige Situation gebracht, um
ein Alibi zu haben? Bauer war verquer, aber so? Tramitz war seiner Meinung
nach ein Psychopath. Er stalkte Sandra seit vierzehn Jahren, hatte sie bereits
entführt und zwei weitere Male versucht ihrer habhaft zu werden. Aber der war
ebenfalls in Gewahrsam gewesen, als Sandra verschwand. Christiansen
schüttelte bedauernd den Kopf. In seinen dunklen Augen stand seine
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Zerrissenheit. »Schulte-Henning ...«
»Bitte!«
Christiansen stockte, atmete tief durch und sah sich schnell um. »Nichts, und
beide haben ihre Anwälte eingeschaltet. Vermutlich werden sie auf freien Fuß
gesetzt. Gegen Tramitz gibt es nicht einmal Indizien und Bauer ... Sein Anwalt
nennt es Willkür und will die Aufnahmen ausschließen lassen. Ohne Frau
Bresinsky ...«
Patrick fuhr sich durchs Haar und bemühte sich um Ruhe. Seine Muskeln
vibrierten bereits vor Anspannung. Es würde nicht einmal Anklage erhoben
werden, wenn Bauers Anwalt Erfolg hatte und Sandra ihren Fall nicht selbst
vertreten konnte. »Gibt es Hinweise von der Spurensicherung?« Patrick hatte
Milicz bereits angerufen, aber der weigerte sich hartnäckig, Auskunft zu geben.
Christiansen schüttelte den Kopf. »Scheint ein Blitzangriff gewesen zu sein.
Bisher keine fremden Fingerabdrücke. Hauptsächlich zwei Sätze.«
»Sandras und meine«, murmelte Patrick und rieb geistesabwesend die
Finger aneinander. Reste der Farbe klebte unter seinen Nägeln. Christiansen
nickte. »Bisher auch keine ortsfremden Fasern, oder ...« Er zuckte die Achseln.
»Nichts relevantes. Tut mir leid.«
»Die Befragung der Anwohner?«
»Nichts.«
Patrick ließ entmutigt den Kopf hängen. »Bringen Sie Ihre Schwester nach
Hause. Kümmern Sie sich um sie. Hier ... Können Sie doch nichts tun.«
Patrick schloss die Augen. Das Letzte, was er wollte war, sich mit Steffi
beschäftigen. Er hielt es nicht einmal mit ihr in einem Raum aus. Sie nur
anzusehen, ließ alles wieder hoch kommen. Seinen Hass auf Bauer. Seinen
Brass auf sie, weil sie ihren Mann verteidigte und Sandra den Schwarzen Peter
zuschieben wollte. Dabei hatten sie es auf Band. Er stockte. »Was ist denn mit
den Aufnahmen?«
»Nichts Brauchbares für die Auffindung Frau Bresinskys.«
Patrick runzelte die Stirn. »Und die Alten?«
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Christiansen schüttelte den Kopf. »Darüber weiß ich nichts. Ich habe die
Festplatte Geiger übergeben, keine Ahnung, wer sie sichten wird.«
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Kapitel 18 - In falschen Händen
Sandra rollte sich zusammen. Sie schloss die Augen und atmete flach, aber
äußerst bedacht ein und aus. Sie konzentrierte sich auf diese Tätigkeit, blendete
alles andere aus. Den Typen neben ihr, der sich in aller Gemütsruhe eine
Zigarette ansteckte. Die Schmerzen. Sie hatte Routine darin. Sie versetzte sich
einfach auf eine sonnenbeschienene Wiese. Gras kitzelte sie. Die Butterblumen
schwangen im seichten Wind. Bienen summten in der Luft. Tränen drängten sich
in ihre Augen und sie unterdrückte sie schnell. Sandra stellte sich vor, das
Gesicht in die Brise zu halten. Die Sonne zu spüren. Aber sie fror zu sehr. Sie
versuchte, sich noch kleiner zu machen. »Schade, dass ich mich ans Drehbuch
halten muss.«
Sandra versuchte ihn zu ignorieren, aber ihre Fantasie switchte sofort um.
Anstelle der beruhigenden Wiesenidylle lag sie auf erdigem Grund. Blätter
rauschten im Wind. Sie war nackt und wartete auf ihre Verstümmelung,
vergewaltigt hatte er sie ja schon. Sandra schluchzte und konnte die Tränen nicht
mehr bezwingen. Sie kamen in Sturzbächen.
»Warum nur zustechen, wenn man sie doch so einfach quälen kann? Ich
könnte dir hübsche kleine Brandings verpassen. Hier, mit der Zigarette, zum
Beispiel.« Er ließ Asche auf sie herabregnen. »Ich könnte dir die Augen
rausschneiden. Wir könnten uns ein paar Tage mit dir amüsieren.«
Sandra erschauerte und hoffte inständig, dass es dazu nicht kommen würde.
Sie wollte nicht wieder angefasst werden. Sie wollte fort von hier. Sie wollte zu
Patrick. Sie schniefte. Wenn er sie überhaupt noch wollte. Sie schluchzte.
»Warum diese Eile?«, philosophierte der Typ weiter. »Der Kerl ist ein Idiot, wenn
man mich fragt. Kein Wunder, dass er erwischt wurde!«
Sandra presste noch immer die Lider aufeinander. Sie wollte gar nichts
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sehen. »Ich würde die Leichen auch nicht einfach liegen lassen. Dieser Aufwand
die Körper zu reinigen und durch die Gegend zu schlörren.«
Sie wollte auch nichts hören. Aber dagegen konnte sie nichts tun.
»Hirnrissig!«
Sandra versuchte, sich wieder auf ihre Fantasie zu konzentrieren. Sie wollte
nicht in diesem Raum sein, in diesem Bett, in dieser Situation. Nicht schon
wieder! Aber sie schaffte es nicht die Stimme auszublenden. »Ich habe mir bei
der Letzten eine Beule eingefangen! Das Scheiß Laub! Warum nicht einfach
verscharren? Hier draußen findet man sie doch eh nicht!«
Idiot! Sandra schüttelte innerlich den Kopf. Wie dumm konnte man sein?
Hunde könnten die Leichen ausbuddeln, wenn sie nicht tief genug vergraben
wurden. Und Nachbarn könnten aufmerksam werden, wenn man ständig Löcher
in den Garten buddelt. Dann die Parasitenentwicklung bei der Verwesung.
Sandra blinzelte und fuhr gedanklich zurück. Nachbarn. Ihr Herz begann, wie
wild zu schlagen. Rettung. Es gab ein kleines Fenster durch das gefiltert
Sonnenlicht fiel. Aber nicht gleichmäßig. Ein Baum? Blätter, die in einer leichten
Brise schwangen? Der Schatten durchmaß das gesamte Zimmer. Sandra
schätze, das es bereits Nachmittag war. Samstag Nachmittag. Sie konnte das
Fenster von ihrer Position aus nicht sehen, nicht ohne sich zu drehen. Die Tür
jedoch war in ihrem Blickfeld. War sie verschlossen? Wenn ja: von innen oder
von außen? Sie rief sich die Ankunft des Typen in diesen Raum zurück. Sie hatte
in der Ecke gekauert, wohl wissend was auf sie zukommen würde. Hatte er die
Tür verschlossen? Neben ihr bewegte sich der Kerl. Sandra erstarrte
erschrocken. Nicht noch einmal. Sie ertrug es nicht noch einmal. Aber er stand
auf. Sie keuchte leise. Er ließ sie allein! Er versperrte den Fluchtweg! Sandra
rappelte sich auf. Er sah spöttisch zu ihr zurück.
»Keine Sorge, meine Hübsche, wir haben noch einige ungestörte Stunden.
Ich habe vor sie zu nutzen!«
Die Tür schlug hinter ihm zu, dann drehte sich ein Schlüssel im Schloss.
Sandra rutschte aus dem Bett. Nicht noch einmal, sagte sie sich erneut und fand
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endlich die Kraft auch zu handeln. Sie sah sich um. Bisher hatte sie ihre
Umgebung eher abstrakt wahrgenommen, nun konzentrierte sie sich darauf.
Neben dem Bett gab es einen Bauernschrank und eine Kommode. Kleidung!
Aufregung beflügelte sie. Sie würde natürlich auch nackt fortlaufen, aber es war
ihr viel lieber angezogen zu sein. Sandra riss die Tür auf und starrte hinein.
Nichts außer einigen Kleiderbügeln. Holzbügel, die mit Stoff überzogen und
gepolstert waren. Sie eigneten sich nicht einmal zum Zuschlagen. Sie schloss die
Tür wieder und kniete sich hin, um die Schublade aufzureißen. Leer. Gerademal
Staubschwaden grüßten sie. Sandra sackte auf die Ferse zurück. Sie war nicht
die erste, die hier gefangen gehalten worden war. Zumindest Martina Pastanak
und wohl auch Kirsten Wichtrup mussten einige Zeit hier verbracht haben.
Vermutlich hatten die beiden Frauen auch versucht ihr Schicksal zu ändern. Und
waren gescheitert. Tränen trüben ihren Blick und ließen die Lade wabern. Es gab
zwei Optionen: Eine Hiebwaffe, mit der man seinen Gegner niederschlagen
konnte. Oder eine Stichwaffe, mit der man den Gegner verletzen konnte, dass er
geschwächt war, vielleicht sogar tot. Sandra sah auf. Es gab keine
Nachtschränkchen und damit keine Lampen darauf. Das kleine Fenster wurde
von schweren Gardinen umrahmt und von Kordeln an ihrem Platz gehalten.
Sandra sprang auf und entwirrte eine der Kordeln. Viel zu kurz, als dass man sie
zum Erdrosseln verwenden könnte, wenn sie die Kraft dafür gehabt hätte! Sie
ließ sie fallen und versuchte das Fenster zu öffnen. Ohne Erfolg. Ihr Blick richtete
sich in die Ferne. Bäume soweit man sah. Sandra verließ die Entschlossenheit.
Sie schniefte, wischte sich die Tränen aus den Augen und musterte den Rest des
Raums. Das Bett, die Kommode, die Tür, der hässliche Kunstdruck ... Eine
Waffe. Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen.
Sandra wartete mit heftig klopfendem Herzen. Sie wartete schon eine
geraume Weile und hob nun den schweren Rahmen. Das Schloss knackte, dann
schob sich die Tür auf. Der Typ trat ein, immer noch nackt und Sandra schlug so
fest zu, wie sie konnte. Der Schwung warf sie fast um. Der Typ ächzte und
sackte zusammen. Sie starrte verdutzt auf ihn herab. Lehnte an der Wand,
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gegen die sie nach ihrem Angriff getorkelt war und klammerte sich noch immer
an das Bild eines röhrenden Hirsches. Ihr neues Lieblingsmotiv. Sie hielt den
Atem an und lauschte. Sollte sie noch einmal zuschlagen? Oder lieber rennen so
schnell sie konnte? Vorsichtig stupste sie ihn mit dem Rahmen an. Er bewegte
sich nicht. Sandra rutschte an der Wand entlang zur Tür, öffnete sie, ohne den
Kerl aus den Augen zu lassen und schlüpfte hindurch. Jetzt erst ließ sie das Bild
fallen und riss an der Klinke. Schnell drehte sie den Schlüssel herum und sackte
wieder gegen die Wand. Dieses mal von der anderen Seite der Mauer. Sandra
bemühte sich ihre Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Und die Gedanken
beisammen. Sie hatte einen Plan. Er war simpel: Kleidung finden und abhauen.
Hilfe finden. Ein Telefon, Nachbarn. Dann war sie in Sicherheit. Sie atmete tief
durch und drehte sich um. Vor ihr lag ein schmaler Flur von dem weitere Räume
abgingen. Sie lauschte angestrengt. Waren sie allein? Hatte der Typ Komplizen?
Vorsichtig bewegte sie sich an der Wand entlang und warf nur einen schnellen
Blick in das offene Zimmer. Ein Bad. Die Tür gegenüber war geschlossen.
Sandra drückte das Ohr an das Holz. Nichts. Auch das Zimmer war leer. Es war
ein weiteres Schlafzimmer und auf dem Bett lagen Kleidungsstücke. Jeans und
T-Shirt. Unterwäsche, Socken, Schuhe. Alles von namhaften Herstellern. Die
Sachen ihres Entführers? Sandra huschte zum Bett. Im Begriff sich anzuziehen,
stockte sie. Der Gedanke seine Kleider zu tragen war widerwärtig, aber nackt zu
bleiben? Sie sah sich um. Wie das andere Schlafzimmer war es sehr spartanisch
eingerichtet, auch wenn es größer war und ein größeres Fenster besaß. Bäume
standen davor und Sandra befürchtete, dass es nicht so einfach sein würde, zu
entkommen. Wenn sie sich nun mitten im Wald befanden? Es war später
Nachmittag, die Tage zwar noch warm, die Nächte allerdings ... Wenn sie länger
unterwegs wäre ohne Kleidung ... Sandra nahm sich vor, erst auf bessere Dinge
zu hoffen und prüfte den Schrank. Zu ihrer Verblüffung landete sie einen
Volltreffer. Er war voll. Sandra wählte Jeans, Pullover und die einzigen Schuhe,
die zur Auswahl standen. Gummistiefel in der Größe 48. Auf dem Weg zur Tür
hielt sie noch einmal inne. Wer war heutzutage schon ohne Mobiltelefon
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unterwegs? Der Notruf war immer zu wählen, auch mit Tastensperre und Pin.
Schnell durchwühlte sie die Sachen. Kein Telefon, dafür Autoschlüssel. Fast
genauso gut! Im Flur hielt sie sich rechts und wagte sich vorsichtig weiter. Der
Gang mündete in eine Wohnküche. Auf der Küchenzeile lag ein mobiles Telefon.
Sandra starrte es einen Moment an, ohne es einordnen zu können. Festnetz.
Also nicht in der Einöde. Und Rettung war zum Greifen nahe. Ihre Finger
zitterten, als sie das Gerät aufnahm. Sie wählte. Mit klopfendem Herzen und
angehaltenem Atem wartete sie darauf, dass abgenommen wurde. Die
Augenblicke zwischen dem Tuten dehnten sich. Bitte, bitte, bitte! »Der
gewünschte Gesprächspartner ...«
»Nein!«
»Du verfluchtes Miststück!«, röhrte es hinter ihr. Sandra fuhr herum und ließ
dabei das Telefon fallen. Der Typ warf sich gegen die Tür. Sie musste weg.
Schnell! Sie stolperte los, um die Zeile herum, durch das anschließende
Wohnzimmer zur Tür. Sandra riss sie auf und wurde von der Sonne geblendet.
Blind lief sie weiter, übersah die Stufen und fiel. Direkt vor ein Paar abgewetzter
Turnschuhe. Oh bitte nicht!
»Wieder auf der Flucht, Helena?«
Das Herz blieb ihr stehen und sie wünschte sich sehnlichst, dass es so blieb.
Patrick schreckte auf. Der Bildschirm war aus und das einzige Licht im Raum
kam von den Standby-Lämpchen der Elektrogeräte. Er war eingeschlafen.
Verärgert rieb er sich das Gesicht. Die Augen schmerzten. Der Nacken. Die
Schultern. Er reckte sich. Dann schob er die Maus über das Pad, um den
Computern wieder anzuschmeißen. Während des Bootvorgangs checkte er sein
Handy. Etliche Anrufe in Abwesenheit. Er scrollte durch die Nummer, die die er
suchte, war nicht dabei. Natürlich nicht, Sandras Telefon lag schließlich in der
Asservatenkammer. Zwei unbekannte Nummern. Er wählte die erste und hielt
gespannt den Atem an. Vielleicht war es Sandra. Vielleicht lagen sie einfach
falsch. Vielleicht war sie gar nicht entführt worden, sondern sie war von sich aus
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verschwunden. Unsinnig.
Es läutete immer noch. Niemand nahm ab. Patrick konzentrierte sich auf den
Bildschirm. Er hatte in den letzten 26 Stunden einen Großteil der Aufnahmen
gesichtet. Zuerst jene mit Sandra, was ihm eine ungeheure Zurückhaltung
abverlangte. Sandra hatte nie auch nur den Anschein erweckt, dass das, was
zwischen ihr und Bauer gewesen war, nicht aprobat gewesen sein könnte.
Eigentlich bereits ein Warnsignal, wenn man darüber nachdachte, schließlich
hatte sie auch die Vergewaltigung durch Tramitz verleugnet. Und die war
aktenkundig, auch wenn sie als Jugendakte geschlossen gewesen war. Die
Anfrage hatte Sandras Anwalt auf den Plan gerufen und der hatte dem ganzen
Bild eine noch düstere Färbung gegeben. Patrick legte auf und wählte die zweite
Nummer. Schon nach wenigen Augenblicken wurde diesmal der Anruf
entgegengenommen. »Kuhn.«
Patrick stockte verblüfft. Sandras ältere Schwester hatte er nicht erwartet. Er
räusperte sich. »Schulte-Henning, Kriminalpolizei Dortmund«, spulte er ab und
schlug sich dabei gedanklich gegen die Stirn. Wenn es nun kein dienstlicher
Anruf gewesen war, wäre Anne dann jetzt noch offen für Nachfragen?
»Oh, Gott, bitte sagen Sie mir, dass Sie sie nicht gefunden haben!«
Der Schreck war ihr durch die Leitung hindurch anzuhören. Wieder räusperte
er sich. »Nein, leider gibt es noch nichts Neues.« Oder auch zum Glück, wenn
man jene Nachricht erwartet wie Anne Kuhn. »Ich habe Ihre Nummer auf der
Abwesenheitsliste. Ich bin ...« Der Mund wurde ihm trocken und die Aussage
hatte keinen guten Beigeschmack mehr. »Sandras ... Helenas Freund.«
»Oh.« Es blieb einen unangenehm langen Moment still in der Leitung, dann
seufzte Anne. »Verzeihen Sie bitte, es ist so ... merkwürdig.«
Patrick räusperte sich. »Die Situation ...«
»Heli hat mich angerufen, bevor sie ...«, unterbrach sie schnell. »Ich habe es
bereits der Polizei ... Sie sind auch Polizist.«
»Frau Kuhn, ich verstehe Ihre Aufregung. Glauben Sie mir, ich bin selbst ...
Aber wir müssen Ruhe bewahren. Um sie zurück zu bekommen, müssen wir all
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unsere Sinne beisammenhaben. Ich weiß, dass Sie mit Sandra telefoniert haben.
Oder ... zwei mal?«
»Ja, zwei mal. Sie bat mich, zu ihr zu kommen. Ich war auf dem Weg, als
mich Kommissar Zimmermann von Helenas ... Was hat sie Ihnen erzählt? Sie hat
Probleme.«
»Ich weiß von Tramitz«, räumte Patrick ein. »Ich habe die Akte gelesen und
mit ihrem Anwalt gesprochen. Sandra ... Helena hat die Körperverletzung und
das Stalking eingeräumt, alles andere aber bestritten.«
»Es ist Tramitz! Er ist besessen von ihr!«
Patrick schluckte. Seine Befürchtung ausgesprochen. »Frau Kuhn, Tramitz
war zum Tatzeitpunkt unter Beobachtung. Dies werden Ihnen die Kollegen
sicherlich gesagt haben. Halten Sie es für möglich, dass er einen Komplizen hat?
Familie? Freunde, vielleicht?«
»Nein. Daniel war immer schon ein Einzelgänger und hat lediglich eine
Cousine, die zumindest behauptet nichts von ihm wissen zu wollen. Karin Klein.
Sie wohnt hier in Minden.«
Patrick seufzte lautlos. »Er ist gerissen«, warnte sie leise. »Keinem von uns
ist es aufgefallen. Erst, als er sie hatte, konnten wir uns den Rest
zusammenreimen. Dass er es die ganze Zeit nur auf Heli abgesehen hatte.«
Patrick schluckte erneut. Er kannte den Sachverhalt, hatte beide Akten
studiert und konnte sich gut vorstellen, was zwischen den Zeilen fehlte.
»Es ist meine Schuld«, stellte Anne am anderen Ende der Leitung fest. »Ich
war zu faul, um meine Hausaufgaben selbst zu machen. Dadurch bekam er
Zugang zum Haus. Er war fast jeden Tag da. Mir ist es nicht komisch
vorgekommen, wenn er nach Heli fragte.«
»Frau Kuhn ...« Selbstvorwürfe würden sie nicht weiter bringen. »Ich weiß,
was Sie sagen wollen. Hören Sie, wenn es Tramitz ist ... fürchte ich, bekommen
wir sie nicht zurück.«
Patrick lief es eiskalt den Rücken herab.
»Er würde sie eher umbringen«, flüsterte Anne mit Grabesstimme. »Er wird
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niemals aufhören. Heli hat es gewusst. Und ich habe ihr Vorwürfe gemacht, weil
sie ständig nicht da war. Immer neue Nummern, neue Anschriften. Dass sie sich
weigerte, nach Hause zu kommen. Ich dachte, sie benütze Daniel als Ausrede
...« Anne schniefte und Patrick stohnte innerlich. Das war ganz und gar nicht
hilfreich. »Frau Kuhn ...«
»Nein, bitte hören Sie mir zu! Wenn Daniel von Ihnen weiß, bringt er Heli um!
Er hat sie gewarnt. Er sagte, sie gehöre ihm! Bitte, wenn er sie hat ...«
Patrick schluckte. »Frau Kuhn, noch ist Tramitz in Haft. Wenn er dahinter
steckt, muss er einen Komplizen haben!«, beharrte er mit kratziger Stimme,
Sandra vor Augen, wie sie im schlammigen Waldboden Abdrücke fabrizierte.
»Oder eine Komplizin.« Es auszusprechen, elektrisierte ihn. Er setzte sich auf.
Die Cousine? Sandra hatte laut Christiansen auf eine Kollegin gewartet, die sie
ins Krankenhaus begleiten sollte. Einer Frau hätte sie bedenkenlos geöffnet.
»Die Cousine. Klein? Katrin? Standen sie sich nahe als das alles begann?«
»Karin Klein. Nein. Sie ist einige Jahre älter als er. Ich kenne sie nicht
besonders gut. Mein Mann ist ihr Zahnarzt, aber privat haben wir keinen
Kontakt.«
Patrick presste die Lippen aufeinander und schloss die Lider. Nicht noch eine
Sackgasse!
»Gibt es einen Ort, der ihm etwas bedeutet? Etwas Abgeschiedenes.«
»Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, Herr Schulte-Henning. Ich wünschte
wirklich ...« Sie brach mit einem Schluchzen ab. Patrick vergrub das Gesicht in
seiner freien Hand. Er verlor sie. Er hatte sie doch gerade erst bekommen.
Gerade erst von sich überzeugt. Er durfte sie nicht verlieren!
Tramitz stieß sie vor sich her. Sandra stolperte und ging schwer zu Boden.
Sie stöhnte und blieb liegen. Sie konnte nicht mehr. Sie hatte die letzten Stunden
kämpfend verbracht. Erst gegen den Fremden, der sie dreist am helligsten Tag
aus ihrer Wohnung entführte und dann gegen Daniel Tramitz. Es hatte ihr nichts
eingebracht als Schmerz. Sie hatte die Vergewaltigung nicht verhindern können.
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Der Typ hatte sie geschlagen, um sie gefügig zu machen, Tramitz hatte sie
schließlich ans Bett gefesselt. Ihre wundgescheuerten Handgelenke erinnerten
sie beständig daran.
»Steh auf Heli. Komm schon, lass es uns zu Ende bringen.«
Sie schloss die Augen. Zu Ende. Welch berauschende Idee. Sie konnte nicht
mehr. Sie wollte nicht mehr. Sie ertrug es nicht mehr. »Komm schon.«
Sie schaffte es nicht. »Wirst du mich umbringen«, murmelte sie, nicht sicher,
ob es einen Unterschied machte.
»Nein. Ich werde deinen Stecher abmurksen.«
Sandra stockte das Herz. Patrick! »Nein!« Es war kaum mehr als ein
Krächzen. Tränen, von denen sie dachte, keine mehr vergießen zu können,
rannen ungewollt über ihre Wangen. Nicht Patrick.
»Bitte ...«
»Steh auf, Helena«, forderte Tramitz erneut und half nach. Er griff nach ihrem
Arm und zog sie hoch. »Vielleicht kann ich sie davon überzeugen, dich am Leben
zu lassen. Wir können auswandern. Was hältst du von Bolivien?«
Lieber starb sie. »Du hättest mit mir kommen sollen, Helena. Dann hätten sie
dich nicht bekommen. Warst du mit dem Typen im Bett?« Tramitz drehte sie zu
sich. »Mit wem noch, Heli? Hast du wieder wild durch die Gegend gefickt?«
Sandra antwortete nicht, sah lediglich trotzig zu ihm auf.
»Ich habe dich gewarnt. Alles, was ich wollte, war mit dir zusammen zu sein.
Es hätte alles gut sein können, stattdessen ... Vielleicht sollte ich Pastanak
erlauben, dich zu ficken. Was macht es schon noch für einen Unterschied?«
Sandras Hirn drehte im Leerlauf und Tramitz zog sie bereits weiter, als die
Information auf fruchtbarem Boden fiel. »Pastanak? Der Typ, der ... Eine der
toten Frauen hieß Martina Pastanak.«
Tramitz lachte auf. »Deine Rivalin um die Gunst deines Stechers. Wusstest
du von ihr?«
Peter Bauer war aufgrund seiner Verbindung mit zwei der drei Toten
verhaftet worden. Das machte keinen Sinn. Tramitz, Bauer und Pastanak unter
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einer Decke? Woher kannten sie sich? Welche Ziele verfolgten sie?
»Pastanak hat sie beschatten lassen. Er hat den selben Ermittler engagiert
wie ich. Leider eine rechte Zeitverschwendung. Eine teure Zeitverschwendung.
Er hat fast ein Jahr gebraucht, um dich ausfindig zu machen.«
Tramitz blieb wieder stehen. »Du kommst mir teuer zu stehen, Heli«, meinte
er und sah an ihr herab. Er hatte ihr die gefundene Kleidung wieder
abgenommen und konnte deswegen ihren nackten Leib betrachten. »Mir
kommen langsam Zweifel, ob du es wert bist.«
Sandra sah zu ihm auf. Er war lang und schmal, überragte sie um fast zwei
Kopflängen. Ob sie es wert war, Geld in ihre Verfolgung zu stecken? War nicht
die Frage an sich schon Irrsinn?
»Aber ich liebe dich nun mal.«
Sandra sparte sich den Widerspruch. »Und das, obwohl du mit jedem ins Bett
gehst, der dir über den Weg läuft.«
Auch dazu sagte sie nichts. Wozu auch? Er glaubte ohnehin, was er glauben
wollte. »Was ist mit dem Bullen?«
Patrick. Ihre Nase begann zu kribbeln beim bloßen Gedanken an ihn.
»Sag schon, hast du ihn auch gefickt?«
»Nein«, hauchte sie, da Tramitz auf eine Antwort drängte. Patrick hatte sie
nicht gefickt. Oh, Patrick. Tramitz musterte sie scharf und brummte schließlich:
»Also gut. Ich versuche sie davon abzubringen, dich zum letzten, nicht
überlebenden Opfer zu machen. Aber ich warne dich, Heli, du bleibst bei mir. Du
wirst niemanden mehr ficken, oder ich mache es selbst. Ich schwöre dir, ich
bringe dich um und jeden, mit dem du zusammen warst!«
Sandra sah in seine Augen und zweifelte nicht einen Moment an seinen
Worten. »Du solltest mit Pastanak anfangen«, murmelte sie und empfand keine
Schuld dabei, einen Wahnsinnigen dazu anzustiften, einen Menschen
umzubringen. Pastanak hatte es verdient. »Und Bauer.«
Sie begann zu zittern. Anstiftung zum Mord, wie tief war sie gesunken?
»Pastanak?«, wiederholte Tramitz leise. »Keine Sorge, er wird dafür
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bezahlen, dass er dich angefasst hat. Das war meine einzige Bedingung und er
hat sie missachtet.« Er klang gefährlich. Er war gefährlich. »Darum kümmere ich
mich noch.«
Er sah erneut an ihr herab und schalte sich dann aus seiner Jacke. Sandra
hatte die Wahl die Geste abzuweisen, aber dann stände sie weiter nackt vor
ihnen. Also ließ sie zu, dass er ihr die Jacke um die Schultern legte.
»Keine Zicken, Helena, das ist deine letzte Chance«, warnte er. Er zog sie
am Arm weiter. Sandra wappnete sich. Sie wusste nicht, was als Nächstes
geschehen würde, aber sie hatte keine Hoffnung auf einen positiven Ausgang.
Sie hatte Angst.
»Ah, da haben wir sie ja.«
Sandra sah auf. Eine Blondine lehnte an der Spüle, ein Glas Champagner in
der Hand. Ihre blauen Augen wanderten an Sandra herab und sie schüttelte den
Kopf. »Sandy, nicht wahr?«
Sandra starrte sie an. Sie kannte sie! »Ihr Name ist Helena und sie schwört,
dass es ein Missverständnis ist, nicht wahr, Heli?«, stellte Tramitz klar. »Ein
Missverständnis?«, höhnte die Blondine mit einem weiteren giftigen Blick an ihr
herab. »Und du bist so blöd und fällst drauf hinein?«
»Heli, sag ihr, dass du kein Interesse an ihrem Mann hast.«
Sandra schloss die Augen. »Peter Bauer«, murmelte sie und konnte nicht
glauben, dass Patrick sie so hintergangen hatte.
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Kapitel 19 - Keine guten Aussichten
Patrick gab auf. Er hatte Stunden damit verbracht Bauers Videos zu sichten,
hatte versucht bei Milicz an Information zu kommen, ohne Erfolg. Er war fertig.
Körperlich, geistig, seelisch. Er hatte einfach keine Ideen mehr. Er wusste, was
es bedeutete. Wenn er aufgab, verlor er sie. Es war ohnehin unwahrscheinlich,
dass sie noch lebte. Oder? Wenn es einen Hinweis gäbe, könnte er es sicherer
einschätzen. Wer der Entführer war, zu welchem Zweck sie entführt wurde. Aber
es gab nichts. Die einzigen Verdächtigen waren in Haft und waren es bereits zum
Zeitpunkt Sandras Verschwinden. Sie hatten ein wasserfestes Alibi. Patrick hatte
Christiansen beschworen Tramitz Cousine zu befragen, aber auch die hatte ein
Alibi. Sie war in einer Redaktionskonferenz ihrer Zeitung gewesen. Nachweislich.
Zimmermann hatte ihn schließlich nach Hause geschickt. Mit dem Versprechen
ihn sofort zu informieren, wenn es Neuigkeiten gab. Patrick hatte widerstrebend
nachgegeben. War nach Hause gefahren, mit einem kleinen Umweg in die
Kaiserstraße. Hatte versucht zu schlafen. Hatte ausgiebig geduscht, nach
seinem Fitness-Programm und war dann zwanzig Minuten rastlos durch seine
Wohnung getigert. Dann hatte er sich an den verpassten Anruf erinnert. Auch ein
neuerlicher Rückruf blieb unbeantwortet. Unzufrieden starrte er auf das Display.
Die Nummer war ihm nicht bekannt, aber die Vorwahl gehörte in den
Hochsauerlandskreis. Die Nummern seiner Familienangehörigen kannte Patrick
auswendig, die alter Freunde waren namentlich abgespeichert. Wo genau stand
das zur Nummer gehörige Endgerät zu dieser Festnetznummer? Eine
Überprüfung via Telefonbuch ergab eine unangenehme Überraschung. Stefanie.
Mit einer Neheimer Adresse. Wie merkwürdig. Seine Schwester war die letzte
Person, mit der er derzeit sprechen wollte. Vielleicht sollte er seine Eltern nach
der Adresse fragen? Es war recht spät am Sonntagabend, vermutlich lagen sie
bereits im Bett. Patrick hatte sich noch nicht entschieden, da vibrierte sein
Handy. Ein schneller Check ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Geiger. Er
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ahnte, welche Nachricht er bekommen würde. »Schulte-Henning«, murmelte er
rau.
»Geiger hier, Zimmermann bat mich, Sie zu informieren ...«
»Sie haben Bauer gehen lassen?« Die andere zu erwartende Antwort wäre,
dass man Sandras Leichnam gefunden hatte, aber daran wollte Patrick nicht
einen Moment lang denken. Geiger seufzte am anderen Ende der Leitung. »Es
tut mir leid.«
»Er hat sie vergewaltigt. Sie haben es aufgezeichnet. Es gibt keinen Zweifel
an seiner Schuld!«, spie Patrick aufgebracht und nahm seine Wanderung wieder
auf. »Es tut mir leid, Schulte-Henning. Die Anklage wird morgen mit Sicherheit
erhoben, aber ...«
Patrick brauchte die Erklärung nicht. Bauer hatte seine Verbindungen.
»Okay, halten Sie ihn auf, ich werde ihm folgen.«
»Schulte-Henning! Eine Observation muss genehmigt werden«, warnte
Geiger eindringlich. »Bauer hat bereits Beschwerde eingelegt. Sie kommen in
Teufels Küche ...«
»Es gibt nicht viele Hinweise, vielleicht ist es die einzige Chance ...«
Geiger fluchte verhalten. »Sagen Sie mir bitte Bescheid, wenn Tramitz ...«
»Scheiße, Mann!«, unterbrach Geiger. »Der ist schon weg.«
Patrick stockte im Schritt und ließ die Jacke wieder sinken. »Seit wann?«
»Gestern.«
»Tramitz und Bauer sind die einzigen Anhaltspunkte, die wir haben«,
krächzte Patrick und lehnte sich gegen den Türrahmen. Es durfte nicht wahr
sein, dass die Kollegen beide Verdächtige einfach gehen ließen! Geiger seufzte.
»Schulte-Henning beide haben ein wasserdichtes Alibi.«
»Es gibt einen Komplizen!«, knurrte Patrick und rieb sich die Stirn. »Eine
Komplizin, genau genommen. Frau Bresinsky ...«
»Bauers Kontakte werden überprüft, aber der Abgleich wird Wochen
brauchen, bei der Anzahl der Einträge. Es tut mir leid, Mann, ich kann nichts
tun.«
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Patrick kaute auf seiner Zunge herum. »Ich schaue mal, ob ich die
Entlassung verzögern kann, aber mit Bauer bewegen wir uns da auf sehr
dünnem Eis.«
»Ich bin gleich da. Ich brauche nur zehn Minuten«, murmelte Patrick und
legte auf. Er schlug gegen die Türzage und fluchte noch einmal laut. Tramitz war
weg. Es war anzunehmen, dass er ebenso verschwand, wie er zuvor
unauffindbar gewesen war. Bauer war seine letzte Chance, so er etwas mit
Sandras Entführung zu tun gehabt hatte. Es gab keine Indizien dafür. Auf dem
Weg durch das Treppenhaus hastete er im Gedanken noch einmal durch die
Nachahmungen. Ja, jede Tote hatte ein Verhältnis mit Bauer gehabt. Aktuell. So
wie Sandra. Martina Pastanak hatte die Scheidung vorbereitet. Jacqueline Bach
hatte Bauer zu erpressen versucht mit einer Schwangerschaft. Kirsten Wichtrup
hatte Steffi von der Affäre berichtet und Bauer für sich beansprucht. Und
Sandra? Sie hatte Bauer definitiv auch erzürnt. Mit der Verbindung zwischen
ihnen, mit ihrem unbedingten Rückzug aus den Verhältnis mit Bauer. Der hatte
also ein Motiv. Wann hatte Bauer von Sandras Beziehung zu ihm erfahren?
»Wir haben eine Abmachung!«, knurrte Tramitz an ihrer Seite. Sandra
schlang die Arme um sich und schloss dabei die Jacke. Sie war gerade lang
genug, um ihren Schoß zu bedecken und den Po. Sie schloss die Augen, milde
verwundert, dass sie nicht mehr Angst hatte. »Sie muss sterben!«, beharrte Steffi
kalt und wendete ihnen den Rücken zu, um sich nachzuschenken. »Es ist der
perfekte Abschluss. Sie liefert das perfekte Motiv! Ihn anzuzeigen! Besser geht
es gar nicht.«
»Du brauchst sie nicht.«
Steffi lachte auf, prostete ihnen zu und bot dann an: »Vielleicht möchten Sie
auch einen Champagner? Du, Daniel? Heute haben wir einiges zu feiern!«
Sandra schüttelte den Kopf. Champagner in ihrer Situation? Sicher nicht,
schließlich wurden die anderen Frauen mit GHB ruhig gestellt.
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»Sie gehört mir!«
Steffi zuckte die Achseln und sah wieder an Sandra herab. »Ich verstehe
nicht, was so besonders an ihr ist.«
Sandra kribbelte die Nase und sie kämpfte gegen die Tränen an.
»Sie gehört mir!«, wiederholte Tramitz fest.
»So?«, höhnte Steffi. »Sie fickt mit meinem Mann!«
Sandra schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Es änderte nichts. Gleich, was
sie sagen könnte, dies war lange Hand geplant, sie würde niemanden zur
Vernunft bekommen.
»Heli ...«
Das Klingeln eines Telefons ließ Tramitz abbrechen. Steffis Lippen verzogen
sich zu einem zufriedenen Grinsen. »Na endlich!« Sie stellte das Glas zur Seite
und trat an den Esstisch, auf dem ihre Tasche lag. »Das wird Sven sein. Peter
hat überall versucht, einen Gefallen einzufordern.« Sie lachte erneut, diesmal
recht diabolisch. »Vielleicht hätte er eher Erfolg gehabt, wenn er nicht jedem
Kollegen die Frau ausgespannt und jede Kollegin sitzen gelassen hätte!«
Sandra erschauerte einmal mehr bei dem Hass in Stefanie Bauers Stimme.
Die nahm ab und meldete sich mit ihrem Namen. Das Grinsen auf ihren Lippen
vertiefte sich. »Sehr gut. Bring ihn her. Wir bereiten schon mal alles vor.« Sie
legte auf und nippte erneut an ihrem Champagner.
»Du brauchst sie nicht«, beharrte Daniel an ihr vorheriges Gespräch
anknüpfend. »Ich nehme sie mit.«
»Nein, Daniel! Kapiere es endlich. Sie ist ein Flittchen. Sie wird niemals bei
dir bleiben und schon gar nicht den Mund halten. Mann, was bist du für ein Idiot?
Sie hat dich einsperren lassen! Sie fickt jeden nur dich nicht! Hast du nicht selbst
gesagt, sie sei dir entwischt, weil sie diesen anderen Typen angebaggert hat?«,
höhnte Stefanie und genoss es Daniel aufzustacheln. »Vor deinen Augen. So
war es doch. War die ganze Nacht mit ihm zusammen oder? Komm schon! Sei
nicht so ein Idiot! Sie ändern sich nicht!«
Sandra senkte die Augen auf das Parkett. Vermutlich sollte sie
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argumentieren. Flehen vielleicht, aber sie konnte nicht. Sie brachte kein Wort
hervor. Frau Bauer würde ihr ohnehin nicht glauben. Wenn sie schon die Anzeige
nicht ernst nahm. Und es war besser, wenn Daniel nichts von Patrick ahnte. Er
durfte nicht in Gefahr geraten. Nicht wegen ihr.
»Das stimmt nicht!«, knurrte Daniel. Sein Griff um ihren Oberarm war
schmerzhaft, aber nichts zu dem, was sie bisher durchgemacht hatte. All die
Stunden in der Gewalt der Männer. Pastanak hatte sie gleich im Lieferwagen
vergewaltigt, mit dem er sie dann hergebracht hatte. Sie hatte verzweifelt
versucht sich zu wehren, obwohl ihr Schädel noch dröhnte von der Wucht seines
Kinnhakens. Sie war unachtsam gewesen. Hatte geglaubt, dass die Polizei vor
der Tür stand, um die Beweise entgegenzunehmen. Sie hatte weder die
Gegensprechanlage benutzt, noch durch den Spion geschaut. Sie war selbst
schuld. Wäre sie mal vorsichtiger gewesen!
Tränen rollten unbeachtet über ihre Wangen und fielen lautlos zu Boden.
Sandra schloss die Augen. Oh, Patrick.
Patrick lief über den Parkplatz und riss die Tür zur Wache auf. Im Vorraum
rempelte er einen Kollegen an und rannte ohne Entschuldigung weiter. Der
Kollege rief ihm nach: »Schulte-Henning! Verdammt warte!«
Patrick ignorierte ihn und nahm die Stufen nach oben. Zimmermanns Büro
war im zweiten Obergeschoss, aber soweit kam er nicht.
»Warte Mann!«, rief ihm der Kollege erneut nach, als Patrick den ersten
Absatz erreichte. »Er ist weg!«
Das stoppte ihn auf der Stelle. Er fuhr herum und schnauzte: »Was soll das
heißen: Er ist weg! Scheiße er ist der einzige Weg ...« Patrick brach ab. Das
durfte nicht wahr sein! »Fünf Minuten, Patrick. Ich hab mein möglichstes
versucht, okay. Es tut mir leid.« Lübbe fuhr sich durch das strubblige Haar. »Er
ließ sich nicht provozieren. Drohte lediglich mit Worten und ohne selbst
handgreiflich zu werden ...« Er zuckte die Schultern. »Es tut mir leid, Mann.«
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Patrick stützte sich am Geländer ab und ließ den Kopf hängen. Scheiße!
Scheiße, Scheiße, Scheiße! »Verdammt, was soll ich jetzt tun?«
»Du solltest dich raushalten Patrick. Geiger und Zimmermann wissen, was
sie tun«, mahnte Lübbe leise. »Ich bin mir sicher ... Da läuft was. Vertraue
ihnen.«
»Wie meinst du das?« Er hatte sein Interesse geweckt. Lübbe presste die
Lippen aufeinander. »Okay hör zu. Ich habe Geiger telefonieren gehört mit einem
Kollegen aus Balve. Es ging um ein Jagdhaus und wer den
Durchsuchungsbeschluss ausstellen müsse.«
Patrick atmete tief durch. Natürlich, Bauers Jagdhaus. Er selbst war nicht
mehr dort gewesen, seit er Bauer mit Jen dort erwischt hatte. Stirnrunzelnd
schüttelte er den Kopf. »Das wäre dumm«, murmelte er. Bauer wusste, dass er
von dem Haus wusste. Und Rainer auch. Es wäre ein guter Ort, um eine Frau
gefangen zu halten. Man war dort oben mutterseelenallein. Niemand würde die
Schreie hören, aber es war doch zu offensichtlich. »Weißt du, ob es ein Ergebnis
gab?« Ihre Leute würden so oder so erst am nächsten Tag runterfahren. Rainer
jedoch ... Er war scharf darauf Bauer was anzuhängen und eine solche Sache ...
»Nein. Komm schon, du willst doch nicht hinfahren oder?«, fragte Lübbe und
stemmte die Arme in den Hüften ab. Sie waren in etwa gleich alt und von gleicher
Statur, aber Patrick brauchte nicht befürchten, von ihm aufgehalten zu werden.
Lübbe war nicht der durchtrainierte Typ.
»Er ist mein Schwager«, murmelte Patrick. »Ich kann doch mal schauen, wie
es ihm geht. Vielleicht ist meine Schwester bei ihm. Oder die Mädchen. Er ist ein
brutaler Mistkerl, vielleicht lässt er seine Wut nun an ihnen aus?«
Lübbe starrte ihn an. »Oh, Mann. Okay weißt du was? Ich mach für heute
Schluss und begleite dich. Nur für den Fall ...«
Patrick schüttelte den Kopf. »Meine Anwesenheit lässt sich erklären, deine
nicht.«
»Du solltest dich raushalten«, warnte Lübbe eindringlich. »Selbstjustiz ist
keine Lösung!«
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»Ich will ihn nicht umbringen, Markus. Ich will nur Sandra zurück.
Unbeschadet.« Das war nicht ganz die Wahrheit, aber traf den Kern. Patrick sah
auf seine Hand herab, die das Geländer immer noch umklammerte. Wenn er sich
nicht festhielte, würde sie zittern. Er schluckte und konzentrierte sich wieder auf
das Wesentliche. »Ich glaube nicht, dass sie dort ist«, gab er zu.
»Aber du willst trotzdem hin?«
»Ich will nichts auslassen. Hör zu, etwas stimmt an der ganzen Sache nicht.
Bauer kann nicht so blöd sein eine Vergewaltigung als Alibi zu planen. Wir
übersehen da was. Check, ob es irgendwelche Verbindungen zwischen ihm und
Tramitz gibt. Wie hat er Sandra gefunden? Möglich, dass es Zufälle sind. Dass
Tramitz gerade jetzt auftaucht, kurz bevor Sandra verschwindet. Oder, dass alle
Frauen in Verbindung mit Bauer stehen.« Eine Häufung dieses Ausmaßes an
Zufällen war unwahrscheinlich. Was also übersahen sie? »Die Nachahmungen
waren so präzise«, murmelte Patrick wieder vor sich her starrend. »Das
Stichmuster ... Woher konnten sie es kennen? Sandra war sich sicher, dass es
ein Duo war und einer von ihnen eine Frau.«
»Patrick«, mahnte der Kollege leise. »Du musst aufhören. Geh und seh nach
deiner Familie, aber alles Weitere solltest du jetzt so stehen lassen. Ermittle nicht
weiter. Lasse es ruhen.« Lübbe versuchte seinen Blick einzufangen. »Und sprich
um Himmelswillen mit niemandem darüber.«
Patrick erstarrte. »Es gibt einen Verdacht?«
»Möglichkeiten. Die Kollegen in Düsseldorf und Köln gehen dem bereits
nach.«
»Eine seiner Geliebten?«, mutmaßte Patrick und atmete erleichtert aus.
»Gut. Ich spreche mit Steffi, sobald ich in Balve war.«
»Patrick du musst ...«
»Er könnte Beweise vernichten«, redete er sich raus. »Ich behalte ihn nur im
Auge, okay! Ich greife nicht ein, aber vielleicht kommt sie zu ihm ...« Er zuckte
die Achseln, schon wesentlich besser gelaunt, als den Rest des Tages. Er schlug
Lübbe auf die Schulter und hüpfte die Stufen wieder herab. »Sei vorsichtig,
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Mann,«, rief Lübbe ihm nach und Patrick drehte sich zu ihm um.
»Klar, hey, kannst du eine Nummer für mich überprüfen? Ich leite sie dir
weiter. Ich nehme an, es ist der Anschluss zu Bauers Jagdhaus, aber es ist mir
neu, dass es da überhaupt einen geben sollte.«
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Kapitel 20 - Der Anfang vom Ende
Sandra wartete angespannt. Sie saß neben Daniel auf der wuchtigen Couch,
die Arme um sich geschlungen und zitternd. Daniel diskutierte noch immer mit
Stefanie Bauer, mal hitzig, dann einschüchternd oder flehend. Für Patricks
Schwester gab es nur ein Ende: Sandras nackter, toter Leib zu ihren Füßen.
»Mein Gott noch mal! Sie ist ein Flittchen!«
Sandra schloss die Augen.
»Sag es ihm! Sag ihm, dass du meinen Mann fickst!«
Stefanie stand Sandra gegenüber. Frau Bauers schmales Gesicht bezeugte
ihre Meinung auch ohne, dass sie sich in ihren Augen spiegelten. Die waren
glasig und unstet.
»Sag ihm, was du mit meinem Mann machst!«
»Er vergewaltigt mich.«
Das war nicht das, was sie hören wollte. Verärgert schleuderte Stefanie
Bauer ihr Champagnerglas. Es traf Sandra an der Stirn. Das prickelnde Nass lief
an ihr herab und tropfte auf ihren Schoß. Es war kühl und angenehm, aber es
wurde schnell von warmem Blut weggespült. Sandra hob nicht einmal die Hand,
um die Wunde zu berühren. Sie spürte sie kaum. Lediglich die
Temperaturunterschiede der Flüssigkeiten, die ihr in den Schoß tropften. Daniel
sprang auf und stellte die fauchende Furie, indem er nach ihren Armen griff und
Stefanie schüttelte.
»Spinnst du oder was?«
»Sie lügt! Diese kleine, miese Schlampe lügt!«, keifte sie und fand noch
weitere freundliche Worte. Sandra betrachtete die roten Schlieren auf ihrem
Schenkel.
»Ich lüge nicht«, murmelte sie und es war nicht dazu gedacht, von den
Streitenden gehört zu werden. Es war für sich selbst gedacht. Sie wollte sich nur
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einmal laut versichern, dass sie schuldlos war. Dieses Mal hatte sie es nicht
provoziert. Wie bei Kevin. Sie hatte es nicht begünstigt, wie damals, als sie in
Daniels Auto gestiegen war, weil sie den Anschuldigungen Melanies und den
Verunglimpfungen der Klassenkameraden entgehen wollte, indem sie einfach
weglief.
»Ich wollte nicht, dass er mich anrührt. Er hat mich überrumpelt. Ich habe ihn
gebeten aufzuhören. Jedes Mal. Er hat mir wehgetan und er wusste es. Er hat
mich unter Druck gesetzt, vor anderen so getan, als hätte er Interesse an mir.
Dabei wollte er nur eines: mich demütigen.«
Sie hatte sich einschüchtern lassen. Sie war einfach in die Illusion
abgetaucht, die Bauer für alle anderen erschaffen hatte: dass sie eine Affäre
hatten. Es war leichter zu ertragen, als zuzugeben, wieder ein Opfer von
sexueller Gewalt zu sein. Von Ausbeutung und Missbrauch. Deswegen die vielen
Überstunden, die Arbeit, die sie nur zu gern übernommen hatte, um keinen
Augenblick zur Reflexion zu haben. Deswegen hatte sie Anne im letzten halben
Jahr nicht gesehen, nicht einmal angerufen. Die SMS ignoriert und die E-Mails
nicht beantwortet. Was hatte sie schon antworten können auf: Wie geht es dir?
Tränen verdünnten das Blut und bildeten Schlieren auf ihrem Schenkel.
»Er wollte sich scheiden lassen wegen Ihnen!«, zischte Stefanie und
schubste Daniel von sich. »Die sexy Kollegin aus Dortmund!«
Sandra schüttelte den Kopf. »Nicht wegen mir. Ich hasse ihn. Ich hätte mich
direkt nach seinem ersten Übergriff an die Polizei wenden sollen, aber ich hatte
Angst.«
Stefanie maß sie verächtlich. »Das ist eine Lüge!«
Sandra schüttelte den Kopf und ließ ihn hängen. »Man hat mir nicht geglaubt.
Ich war fünfzeh,n als es passierte, angetrunken und vertrauensselig. Er war der
Freund meiner besten Freundin. Er hat behauptet ich hätte es gewollt. Ich hätte
mich über ihn hergemacht. Man hat ihm geglaubt und nicht mir. Niemand hat mir
geglaubt, nicht einmal meine Freundin.«
Es war still in der Hütte, kaum mehr als ihr Atem war zu hören. Sandra hob
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nun doch die Hände und versteckte ihr Gesicht in ihnen. Der Riss an ihrer Stirn
brannte, allerdings nicht mehr, als der in ihrer Lippe oder ihre wunden
Handgelenke. Oder ihr Schoß. Nichts im Vergleich zu ihren Kopfschmerzen oder
der Prellungen an ihrem ganzen Körper. Eine Kataphonie an Schmerz. Sie
schloss die Augen. Ihr Herz toppte alles. Der Gedanke Patrick nicht
wiederzusehen.
»Ich weiß, Sie werden mich umbringen und ich weiß, Sie werden mich nackt
irgendwo im Wald abladen, damit man mich nicht so leicht identifiziert. Aber
können Sie mir nicht eine Kleinigkeit lassen?« Sie sah auf. »Die Kette, die ich
trug? Sie ist neu. Niemand weiß von ihr ...« Sandra brach ab, weil Stefanie den
Kopf schüttelte.
»Wozu?«, fragte die. »Wenn sie Sie nicht identifiziert? Wozu dann die
Kette?«
Sandra öffnete den Mund zu einer Lüge und brachte sie nicht über die
Lippen. »Sie war ein Geschenk«, gab sie zu. Es war gleich. Sie durfte sie
ohnehin nicht behalten und ihrer Leiche wäre es wohl gleich, ob etwas Gold sie
verzierte. »Sie wäre identifizierend.« Sie wollte sie doch nur haben. »Kann ich sie
vielleicht tragen, wenn sie ... Mich verstümmeln und umbringen?« Es war ihr
gleich, dass sie sahen, wie wichtig es ihr war, Sandra glaubte ohnehin nicht,
dass man sie ihr geben würde.
»Eine Kette?«, fragte Stefanie und warf Daniel einen Blick zu. »Wo hat Sven
ihre Sachen?«
»Ich nehme an im Van«, murrte Daniel ohne Sandra aus den Augen zu
lassen.
»Hol sie!« Man sah ihm an, dass er widersprechen wollte. Stefanie warf
genervt die Arme in die Luft und tat es selbst. Sandra sah ihr nach. Würde sie die
Kette tatsächlich bekommen oder würde man sie einsetzen, um sie zu quälen?
Sie konzentrierte sich wieder auf das Muster auf ihrem Schenkel. Aus ihrer
Stirnwunde suppte immer noch Blut, aber es tropfte nicht mehr. Ihre Tränen
waren wieder versiegt.
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»Das hier?« Stefanie schreckte Sandra auf. Zwischen ihren Fingern
baumelte das kleine Herzchen am goldenen Strang. Sandra zog es den Hals zu
und so nickte sie lediglich.
»Sie wird es nicht tragen!«, verlangte Daniel, wobei er ebenfalls das Kettchen
anstarrte. Stefanie lachte auf.
»Ein Herzchen, wie süß!« Sie hob die Hand und ließ den Anhänger
schwingen. »Es ist ausgeschlossen, dass Sie ihn von Peter bekommen haben.«
Sandra öffnete den Mund für einen schmerzhaften Hauch, bevor sie das
Gesicht abwendete und die Augen schloss. Sie brauchte nicht zu antworten.
Gerade, als Stefanie auf eine Antwort dringen wollte, wurde die Tür aufgestoßen.
Peter Bauer stolperte herein und ging zu Boden. Pastanak folgte ihm.
»Ah, mein Göttergatte«, flötete Stefanie breit grinsend. Bauer drehte sich.
»Steffi? Was zum Teufel ...«
Pastanak trat ihm in die Seite und Bauer krümmte sich stöhnend.
»Halte dich zurück, Sven. Du darfst dich gleich an seiner Geliebten
auslassen. Sag mal, Schatz, haben wir eigentlich die Richtige? Sie behauptet
doch glatt ...« Stefanie sah sich zu Sandra um und brach ab. Sandra wich in die
Ecke der Couch zurück und zog die Beine an.
Bauer richtete sich mühsam auf. »Was soll ... Sandy?« Er lachte auf. »Jetzt
verstehe ich! Du Miststück!« Er kam mithilfe eines Sessels auf die Füße. »Hat sie
das ausgeheckt?«, fragte er und sah an Daniel herab. »Und wer ist das?«
Niemand antwortete ihm, also wendete er sich wieder an seine Frau. »Was
soll das hier Steffi? Steckst du mit deinem Scheiß Bruder unter einer Decke?«
Patrick ließ den Wagen am Waldesrand stehen und nahm den Trampelpfad
zum Haus. Noch bevor er die Lichtung erreichte, wurde deutlich, dass Rainer den
Topf gewonnen hatte und keine Sekunde zu viel verstreichen ließ, bevor er die
Amtsgewalt einsetzte.
»Hey! Wer ist da? Kommen Sie ins Licht!«
»Kommissar Schulte-Henning, Kripo Dortmund«, rief er und trat mit
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erhobenen Armen ins Flutlicht.
»Es tut mir leid, aber ich muss Ihren Ausweis sehen, Herr Kommissar.«
Patrick zog ihn aus der Tasche. Der Uniformierte blinzelte gegen das Licht
und Patrick trat seufzend einen Schritt zur Seite.
»Schulte-Henning«, murmelte der Streifenpolizist. »Morddezernat Dortmund.
Gut. Kommissar Rainer hat Sie erwartet. Kommen Sie, ich bringe Sie zu ihm.«
Patrick korrigierte ihn nicht, sondern folgte stumm. Dabei sah er sich um. Das
Flutlicht beleuchtete den Hof und man konnte erahnen, dass weitere Lampen im
Garten aufgestellt waren. Man konnte einen Hund bellen hören. War Bauer doch
so dämlich? Hatte er die Frauen hier gefangen gehalten und getötet?
»Patrick? Scheiße, was tust du denn hier?« Rainer war aus dem Haus
getreten, sein Telefon in der Hand.
»Ich wollte nach meiner Schwester sehen«, behauptete er gelassen und
versuchte dabei in Rainers Miene zu lesen.
»Sie ist nicht hier. Niemand ist hier.«
Das ließ nur den Schluss zu, dass man sich gewaltsam Einlass gewährt
hatte. Patrick war das egal, alles war ihm recht, solange man dadurch Sandra
fand. »Niemand«, murmelte er. Eine Sackgasse. Er sah über den Hof.
Festgestampfte Erde, etwas Kies. Es hatte sich in den letzten zehn Jahren kein
bisschen geändert.
»Ich hatte so gehofft ...«, offenbarte Rainer und brach ab. »Scheiße, Mann.
Wir haben nichts! Nur Indizien. Niemand hat ihn persönlich gesehen.«
Das hatte Patrick auch nie erwartet.
»Er wird uns vor Gericht in der Luft zerreißen! Wie steht es im
Vergewaltigungsfall? Ist deine Anwältin wieder aufgetaucht? Mit ihr hätten wir
zumindest ein Nachweis für seine Brutalität. Eine Zeugenaussage.«
Patrick schüttelte den Kopf. »Hat sie mit dir über den Fall gesprochen? Über
die Möglichkeit, dass der zweite Täter eine Frau sein könnte?«
Sie hatte, das war Rainer anzusehen. »Wer steht unter Verdacht?« Rainer zu
überrumpeln war nicht so einfach und Patrick erwartete nicht, mit einem so
»Du sollst nicht begehren ...«
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plumpen Versuch Erfolg zu haben. Klüger wäre es, so zu tun, als kenne er die
Namen der Verdächtigen und darauf zu hoffen, dass Rainer sich versprach.
»Das kann ich dir nicht sagen, Patrick.«
Patricks Gedärm zog sich schmerzhaft zusammen. Rainer hielt seinem Blick
stand, trotz dessen Bedauerns.
»Steffi?« Das war idiotisch. Steffi war nach wie vor verrückt nach Bauer,
hatte sogar die bloße Möglichkeit ihr Mann könne Sandra vergewaltigt haben
brüsk abgewiesen. Sie war ihm absolut treu ergeben. Patrick erstarrte. Das
genau war der Punkt. Ihre Liebe war absolut. Was, wenn Bauer sich trennen
wollte? Wenn sie ihn verlor? Sie würde die Schuld nicht bei Bauer suchen,
sondern bei seinen Affären. Martina Pastanak, die zu Steffis engen Bekannten
zählte. Kirsten Wichtrup, die mit ihrem Verhältnis geprahlt hatte. Jacqueline Bach
mit ihrem Baby. Sandra. Auf der Aufnahme hatte Bauer behauptet, sich scheiden
lassen zu wollen. Um mit Sandra zusammen zu sein.
»Ich kann dir zu laufenden Ermittlungen ...«
Patrick ließ ihn stehen und zückte sein Mobiltelefon.
»Warte, Mann«, rief Rainer ihm nach.
»Ich bin kein Idiot, in Ordnung!«, gab er zurück, ohne sein Schritttempo zu
verringern. Es tutete in seinem Ohr und er beschwor den Kollegen endlich
abzunehmen. »Lübbe, Kriminal ....«
»Schulte-Henning. Die Nummer. Gibt es schon eine Adresse?« Er hastete
den Waldweg hinunter zu seinem Wagen.
»Gerade rein gekommen«, behauptete Lübbe. »Sie ist in Sundern. Alter
Forstweg. Keine Nummer ...«
»Okay. Markus gib mir eine halbe Stunde Vorsprung, dann informierst du
Rainer über Stefanies Zweitadresse. Er wird wohl selbst nachsehen. Sag ihm
ruhig, dass ich nach der Adresse gefragt habe.«
»Patrick ...«
»Sie ist meine Schwester!«, murrte Patrick und legte auf. Er brauchte
zwanzig Minuten, um zu der Adresse außerhalb Sunderns zu gelangen.
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Kapitel 21 - Kein gutes Ende
Sandra umarmte sich krampfhaft. Stefanie hatte ihr die Kette gegeben, blieb
aber bei ihrem bisherigen Plan. Daniel diskutierte immer noch hitzig. Pastanak
verfolgte das Spektakel eher amüsiert, nachdem er Bauer auf dem Sessel
festgebunden hatte.
»Die Voraussetzungen ...«
»Sind mir egal! Es geht nicht anders. Wir werden nicht alles umschmeißen,
wegen dieser Kleinigkeit!«
Sandra schloss die Augen. Sie hatte schließlich auch nicht geglaubt, dass sie
lebend hier herauskam.
»Sie ist unschuldig!«, beharrte Daniel Tramitz hitzig. »Du hast einen Fehler
gemacht! Du brauchst sie nicht, um ...«
»Sie hat ihn angezeigt. Sie ist perfekt für den Abschluss. Niemand wird
Fragen stellen! Verdammt, es ist völlig gleich, ob sie freiwillig mit ihm schlief oder
Peter sich ihre Affäre nur eingebildet hat. Mit der Anzeige hat Peter ein Motiv.
Man wird nicht weiter graben. Er wird nicht widersprechen können und wir sind
fein raus.«
»Du dämliche Kuh!«, spie Peter und ruckte an seinen Fesseln. Pastanak
hatte keinerlei Feingefühl an den Tag gelegt, als er ihn an den Sessel fesselte. Er
hatte ihn mehrfach geschlagen und man sah, dass die Kordel tief in Peters
Fleisch schnitt. Sandra wendete den Blick wieder ab. Blut trocknete an Peters
Nase, Kinn und Wangen.
»Das wirst du büßen! Dein minderbemittelter Bruder wird im Knast verrotten!
Und du ...« Er brach mit einem Schnaufen ab, weil Pastanak ihm die Faust in den
Magen rammte.
»Wir sollten anfangen«, murmelte Stefanie und ging zum Esstisch, auf dem
ihre Tasche lag. Sie holte ein kleines Fläschchen heraus und ging mit ihm zur
Spüle. Mit Wasser in einem Glas kam sie zurück. Sie stellte es auf den
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Wohnzimmertisch vor Sandra ab. »Es ist so weit. Sie sollten das trinken, es wird
für Sie recht unangenehm werden.«
Sandra starrte mit brennenden Augen zu ihr auf, die Hand zittrig um den
Anhänger geschlossen. »Ich verstehe nicht, warum das alles.«
Stefanie verkniff die Lippen. »Jetzt wollen Sie reden? Etwas durchsichtig
oder?«
»Wir werden sie nicht umbringen, Stefanie«, knurrte Daniel und stellte sich
ihr in den Weg. »Es war ein Irrtum. Sie hatte nie Interesse an deinem Mann und
wollte nicht mit ihm ficken. Die anderen Schlampen geben Grund genug für das
hier. Erschieß ihn und wir platzieren die Beweise, wie abgesprochen. Helena
nehme ich mit.«
»Ihre DNA ist schon im Van, du hast ausreichend Spaß mit ihr gehabt ... Es
wäre ...«, gab Pastanak genervt dazu.
»Du meinst, du hattest ausreichend Spaß mit ihr!«, zischte Daniel und fuhr zu
ihm herum. »Du erbärmlicher Wichser ...« Ein Schritt auf ihn zu und Daniel
torkelte zurück. Er krachte auf den Tisch und fegte dabei das Glas davon. Er
brüllte und rappelte sich wieder auf, um sich auf Pastanak zu werfen. Nach zwei
Hieben lag er stöhnend am Boden.
»Das reicht jetzt!«, befahl Stefanie. »Wir werden uns an den Plan halten.«
»Es ist vorbei«, flüsterte Sandra. Sie sah auf. »Sie haben sie nicht unter
Kontrolle. Frau Bauer, Pastanak ist ein Psychopath. Er hat Geschmack gefunden
und wird nicht aufhören zu töten. Wahrscheinlich werden Sie sein nächstes Opfer
sein. Sie wissen zu viel. Sie sind eine Gefahr.«
Stefanie lachte auf. »So ein Blödsinn!«
Pastanaks Augen lagen auf ihr, aber er sagte nichts. Für ihn barg Sandra
keine Gefahr. Daniel stöhnte am Boden und Bauer schnaufte: »Ihr kommt damit
nicht durch! Patrick ist zu dämlich, um ...«
»Lass Patrick da raus!«, spie Stefanie. »Er hat hiermit nichts zu tun.«
»Oh natürlich nicht! Hältst du mich für dämlich? Er fickt sie und hat ihr
eingeredet, dass ich ...«, knurrte er und betrachtete Sandra verächtlich. Stefanie
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fuhr zu ihr herum, Unglauben in der Miene, während Daniel aufheulte. Er klang
wie ein Wahnsinniger und das gab den Ausschlag. Sandra stellte die Füße auf
den Boden, um etwas Erdung zu bekommen und fing Stefanies Blick auf.
»Nein!«
»Du verfluchte Schlampe!«, spie Daniel und rappelte sich auf. Seine Hände
schlossen und öffneten sich immer wieder und er starrte sie mit einer Wut an, die
Sandra fast den Atem nahm, es weiter abzustreiten.
»War er der Bulle ...«
»Nein!« Sandra stockte. Die Lüge war zu öffentlich. »Ja, er hat mich vom
Tropicana abgeholt ...« Sie versuchte Daniel anzusehen, und glaubhaft die
Wahrheit zu verdrehen. »Und er ist auch bei mir geblieben, aber da war nichts!
Du hast mich unter Drogen gesetzt. Ich war komplett weg!« Sandra unterbrach
sich und wechselte den Ansprechpartner. »Frau Bauer Sie kennen Ihren Bruder.
Er würde so eine Situation nicht ausnutzen.«
»Nein«, bestätigte Steffi nachdenklich. Daniel kniff die Lider zusammen.
Seine schmale Unterlippe zuckte. Sandra wendete sich wieder an Tramitz. Für
Patrick war er die Gefahr, nicht die Schwester. »Er brachte mich zu seinem
Bruder für Bluttests. Es ist belegt!« Eine handfeste Lüge. »Er meinte, mich
beschützen zu müssen.« Noch immer hielt sie Daniels Blick. Er war nicht
überzeugt, allerdings auch nicht von der anderen Version. Zweifel waren gut.
Sandra schluckte und fuhr fort: »Er bestand auf eine Anzeige und, weil ich mich
weigerte ... Kommissar Schulte-Henning ist verflucht beharrend. Ich hatte keine
Chance, mich durchzusetzen. Er bestand darauf, mich zu beschützen ...« Sandra
ging der Atem aus und sie kämpfte mit den Tränen.
»Du hast mich seinetwegen angezeigt?«
Sandra befeuchtete sich die Lippen. »Ja. Er meinte, ich sei nicht sicher,
bevor du wieder in Verwahrung bist. Ich sollte die Wohnung nicht alleine
verlassen oder das Gericht. Er brachte mich zur Arbeit ... Zu den Tatorten und
zur Gerichtsmedizin nach Arnsberg. Es war rein beruflich.«
Daniel schien nicht überzeugt.
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»Er schlief auf der Couch.«
»Ja, klar!«, höhnte Bauer. »Die kleine Schlampe hat ihn gefickt! Genau wie
Ziegler! Du kannst nicht glauben, ich sei so dämlich euer Spielchen nicht zu
durchschauen! Ihr werdet alle ...« Pastanak stoppte sein Gezeter mit einem
Schlag ins Gesicht. Bauer röchelte und spuckte Blut. Sandras Finger zitterten
und legten sich noch fester um den Hänger. Stefanie runzelte die Stirn.
»Frau Bauer das hier ist Wahnsinn. Die Ermittlungen sprachen deutlich von
mehr als einem Täter. Ihr Mann mochte augenscheinlich als Täter infrage
kommen, aber durch die jüngsten Ereignisse ... Meine Entführung ...« Sandra
schüttelte den Kopf. »Man wird die Verbindung finden. Sie haben durch ihn
Zufang zu den Ermittlungsakten zum Fall Kramer gehabt und die Handschrift
kopiert. Aber es gab zu viele Fehler.«
»Wir haben keine Fehler gemacht!«, unterbrach Stefanie sie und schüttelte
den Kopf. »Und wir haben keine Zeit für diesen Unsinn! Trinken Sie, Sandra oder
Helena oder wie auch immer, es ist zu Ihrem eigenen Besten. Sven bitteschön
...« Sie machte eine einladende Geste. »Bringen wir es zu Ende.«
»Sie vielleicht nicht«, lenkte Sandra ein und fuhr eilig fort: »Er schon!« Sie
deutete auf Pastanak. »Die Stichverletzungen unterscheiden sich deutlich von
den anderen beiden Frauen. Sie sind tiefer und nicht gezielt ausgeführt. Es war
rasende Wut! Das hat ihn verraten. Das wird sie alle verraten!«
Stefanies blaue Augen verengten sich leicht.
»Und Daniel ... Das war der größte Fehler ... Er wird immer unter Verdacht
sein. Man wird seine Schritte zurückverfolgen. Man wird die Verbindung finden.
Zu Herrn Pastanak.«
»So ein Unsinn«, knurrte Pastanak. »Willst du dir das wirklich weiter
anhören?«
Stefanie runzelte die Stirn.
»Sie hat recht«, ging Bauer nuschelnd dazwischen. »Sie hätten mich nicht
gehen lassen, wenn nicht Zweifel bestünden.«
Sandra atmete zittrig ein. »Frau Bauer, Sie kennen Ihren Bruder. Was wird er
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tun, wenn meine Leiche auftaucht? Wie lange wird er die Geschichte glauben,
die Sie verkaufen werden? Ihr Mann hat mich vergewaltigt. Meine Kollegin ...«
»Das ist eine Lüge!«, scharrte Bauer. »Wir wurden erwischt, deswegen ...«
»Bring ihn zum Schweigen!«, befahl Stefanie und Pastanak rammte ihm die
Faust in Gesicht. Sein Kopf fiel nach vorn und er regte sich nicht weiter, als
Sandra holprig fortfuhr: »Meine Kollegin kam herein, sonst ...« Sie deutete auf
ihren Hals. »Er hat mich gewürgt, weil ich ihn ein Schwein nannte. Weil ich ihn
mit einer Anzeige drohte, wenn er mich nicht gehen ließe. Weil ich es nicht mehr
zulassen wollte.« Nie wieder. Tränen perlten unbeachtet über ihre Wangen.
»Meine Kollegin hat die Sicherheit verständigt und Kommissar Geiger. Patrick
wird früher oder später über diese Ungereimtheit stoßen. Er ist ein
hervorragender Polizist. Dann das hier ...« Sandra deutete auf die Umgebung
und schloss den Staatsanwalt mit ein. »Wie wollen Sie das erklären? Dass er
zusammengeschlagen wurde ...«
Stefanie seufzte. Zumindest bei ihr schien Sandra Erfolg zu haben.
»Wo haben Sie die Waffe her? Was tun Sie hier überhaupt? Pastanaks und
Daniels DNA gemischt mit der der Opfer ... Sie haben keine Ahnung, wie viele
Indizien gegen Ihren Mann als Täter sprechen werden.«
»Sie haben Kondome benutzt«, murmelte Stefanie. »Sven kommt zu meiner
Rettung. Er prügelt sich mit Peter und ich erschieße ihn mit seiner Pistole. Man
wird mir glauben. Patrick wird mir glauben. Er liebt mich, selbst wenn er Zweifel
hat ... Er will Peter genauso gerne erledigt sehen, wie ich!«
Sandra wollte erneut Einspruch erheben. Zum einen hatte niemand Kondome
verwendet, als man sie vergewaltigte, dann war da das Blut am Rahmen des
röhrenden Hirsches. Daniel passte nicht in die Geschichte, ganz gleich, wie man
es drehte. Seine Verbindung zu ihr ließe alles platzen, was sich Stefanie und
Pastanak ausgedacht hatten. Stefanie fuhr ihr über den Mund: »Nein! Das reicht
jetzt. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Sven, bitte ...«
Pastanak grinste breit, als er auf sie zu kam und Sandra sprang auf die Füße.
Kämpfe oder flieh. Sie versuchte um den Tisch herum zu kommen. Ohne Waffe
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hatte sie keine Chance. Aber etwas brauchbares zu bekommen schien
unmöglich. Ebenso die Flucht. Pastanak fischte über den Tisch nach ihr und riss
sie an der Jacke zurück. Sandra fiel und landete hart auf ihrer Rückseite. Sie
keuchte vor Schmerz. Pastanak setzte sich auf sie und legte die Hand an ihren
Hals. Die schlichte Berührung ließ sie erstarren. Vor Furcht. Sie wusste mit
grausamer Genauigkeit, was nun geschehen sollte. Pastanak zückte sein
Messer, dass in einer Lederscheide an seinem Gürtel befestigt war und ließ die
Klinge über ihre Wange gleiten.
»Lass uns ein wenig Spaß haben ...«, murmelte er mit einem anzüglichen
Grinsen.
»Lass sie los!«, forderte Daniel und wagte sich einen Schritt vor. »Du wirst
sie nicht anrühren!« Er schrie fast und zumindest Sandra zuckte überrascht
zusammen, als sie die Aufforderung vernahm: »Hände hoch. Alle!«
Sandra stockte das Herz in der Brust. Patrick! Das konnte nicht sein. »Zur
Seite Tramitz und Pastanak: eine Bewegung und meine Kugel wird schneller
sein.«
»Patrick«, murmelte Stefanie fassungslos. »Was machst du denn hier?« Sie
machte einen Schritt auf ihn zu und er warnte: »Das gilt auch für dich Stefanie.
Es ist aus.«
Pastanak verstärkte kurz den Druck der Klinge auf Sandras Wange, dann
folgte er der Anweisung. Langsam hob er die Hand und ließ die Waffe fallen. Sie
landete knapp neben ihrem Ohr. Endlich konnte sie den Kopf wenden und ihn
ansehen. Nie war sein Anblick herrlicher gewesen. Tränen drängten sich in ihre
Augen und verwischten ihre Sicht.
»Patrick ...«, versuchte es Stefanie erneut, blieb aber wo sie war und hob nur
in flehentlicher Geste die Hand. »Das hier ...«
»Komm her, Sandra«, unterbrach Patrick sie und hielt Sandra die Hand
entgegen. Sie versuchte, auf die Beine zu kommen. Sie zitterte erbärmlich.
»Bitte hör mir zu, Pat. Es ist wichtig ...«, beharrte Stefanie eindringlich. »Wir
müssen das hier zu Ende bringen. Peter hat den Bogen überspannt. Er hat es
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verdient! Er hat ...«
»Komm her, Sandra«, wiederholte er angespannt. »Komm zu mir.«
Sie schniefte. Sein Blick versicherte ihr, dass alles gut werden würde. Wenn
sie zu ihm kam, war sie sicher. Endlich. Ihre Knie zitterten bei der Aussicht.
Sandra schwankte, Patrick kam ihr entgegen, um sie zu stützen und Daniel
nutzte die kurze Unaufmerksamkeit und stürzte auf ihn zu. Patrick wehrte ihn
erfolgreich ab, aber Pastanaks Kinnhaken kam unbemerkt. Er torkelt und ein
weiterer Angriff kostete ihn die Pistole. Daniel hob sie auf und Stefanie machte
einen Schritt auf sie zu.
»Warte«, forderte sie. »Ich kann das regeln.«
Daniel schoss. Blut spritzte Sandra ins Gesicht, aber sie war zu geschockt,
um es zu bemerken. Sie starrte Patrick an. Stefanie schrie auf, aber Sandra hatte
keinen Ton hervorzubringen. Sie starrte Patrick nur an, der die Hand auf die
Brust gepresst ihren Namen murmelte. Seine Knie knickten ein und er ging zu
Boden. Es fielen noch zwei Schüsse. Stefanie torkelte in Sandras Blickfeld und
ging zu Boden. Nicht besonders weit von ihr entfernt. Steffi stöhnte und hielt sich
den Bauch. Tramitz riss an Sandras Ärmel. »Komm!«
»Nein«, murmelte sie und stürzte, weil er immer noch an ihr zog. Eine
Armlänge von Patrick entfernt.
»Du kommst mit!«, herrschte Daniel sie an und versuchte sie am Kragen der
Jacke hoch zu zerren.
»Du hast sie umgebracht!«, klagte sie leise. »Du hast sie kaltblütig ...«
»Sie wollten dich tot sehen, du solltest mir dankdar sein«, knurrte Tramitz
und hatte Erfolg. Sie kam schwankend auf die Füße. Er wollte sie weiter zerren.
»Nein«, hauchte Sandra erneut. Sie konnte es nicht verhindern. Sie war
machtlos gegen ihn, wenn er Gewalt anwendete. »Bitte. Nicht nackt. Bitte.«
Daniel zögerte und Sandra wiederholte: »Bitte!«
»Wage nicht wegzulaufen, Heli. Wage es nicht!«
Sandra schüttelte den Kopf. Sie hatte nicht vor wegzulaufen. Daniel ließ sie
allein und Sandra fiel wieder auf die Knie. Vor Patrick. Er war bleich. Die Lider
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waren geschlossen.
»Patrick«, hauchte sie fassungslos und streckte die Hand aus. »Patrick ...«
»Atmet er«, flüsterte Steffi und Sandra sah sich zu ihr um. »Wo ist er
getroffen?«
»Sie ...«
Steffi schüttelte den Kopf. »Bauchschuss. Ich werde verbluten, wenn ich nicht
schnell professionell versorgt werde. Aber Patrick ... Schulter? Wenn er noch
atmet ...«
Sandra checkte seinen Puls an der Halsschlagader, dann schob sie die
Jacke zur Seite, um einen besseren Blick auf die Wunde zu haben. »Linker
Brustkorb. Es blutet noch.« Sandra presste die Hand auf die Wunde. Blut quoll
zwischen ihren Fingern hervor.
»Nehmen Sie die Jacke«, verlangte Steffi und rutschte näher. Obwohl sie die
Hand auf ihre Wunde hielt sprudelte das Blut nur so aus ihr hervor. »Ich drücke
die Wunde ab. Sie holen mein Handy aus der Tasche, damit ich Hilfe rufen kann,
wenn Sie weg sind.«
Sandra begegnete ihren vertrauten, blauen Augen.
»Ich kann nicht gehen ...«
»Sie müssen! Wenn Daniel merkt ...« Steffi keuchte und lehnte sich schwer
auf Patrick. »Sie müssen gehen, bevor Daniel zurückkommt. Wenn er merkt, was
Patrick Ihnen bedeutet ...«
Sandra kämpfte gegen das Grauen und sah auf Patrick herab. Er war
todesbleich.
»Nur so hat er eine Chance!«, beharrte Steffi und überzeugte Sandra mit:
»Ich habe Medizin studiert. Ich weiß, was ich hier tue! Bitte! Das Handy und dann
gehen Sie. Schnell!«
Sandra erhob sich wackelig und stolperte zum Tisch. Mit der Tasche kam sie
zurück. Zu gehen, war da bedeutend schwerer. Am Türrahmen sah sie zurück.
Steffi wählte bereits und forderte: »Gehen Sie!«
Tränen trübten ihren Blick.
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»Heli!«
Sie ließ los. Ihre medizinischen Kenntnisse waren sicherlich nicht besonders
umfassend, aber sie wusste, dass Schussverletzungen behandelt werden
mussten. Dass lediglich die Blutung zu stillen, nicht reichen würde. Er hatte keine
Chance. Und sie auch nicht. Sie stolperte vorwärts, weg von Patrick. Weg von
dem, was ohnehin zu gut gewesen war, um wahr zu sein.
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Kapitel 22 - Du sollst nicht begehren, deines
Nächsten Weib!
Sandra Bresinsky starrte aus dem Fenster. Sie waren die Nacht
hindurchgefahren, hatten lediglich einen Tankstopp eingelegt auf einem
Rastplatz. Sie hatten die Autobahn schon vor einer Weile verlassen und waren
auf einer kurvigen Landstraße unterwegs. Ihr Magen knurrte vernehmbar.
Tramitz sah zu ihr rüber.
»Du hast hunger.«
Sie würde kotzen, wenn sie etwas essen müsste, oder mit ihm reden. Sie
schloss die Augen und wendete das Gesicht ab.
»Sag das doch, Liebling. Wir machen eine Rast.«
Die Welle der Übelkeit war kaum zu bezwingen.
»Du musst dich herrichten. So können wir uns nirgends sehen lassen.«
Er meinte mit den Blutspritzern im Gesicht. Patricks Blut. Die Erinnerung ließ
ihres gefrieren. Wie er sie angesehen hatte. Sie riss die Lider auf, um den
Anblick zu vertreiben. Sie hatte geweint. Stundenlang. Still. Bis der Schock
verflog und nur der bohrende Schmerz blieb. Sie wollte sich vormachen, dass er
eine Chance hatte, dass Stefanie Bauer sich um ihn gekümmert hatte und er es
überlebte, aber es funktionierte nicht. Er war nicht einmal mehr bei Bewusstsein
gewesen. Ihr Herz wurde zermalmt von Trauer und Schuld.
»Es ist auch nicht mehr weit bis zur Grenze.«
Sandra würgte. Daniel Tramitz, ihr Langzeitstalker und Entführer, reagierte
schnell. Er ließ den Wagen ausrollen und öffnete ihren Gurt.
»Nicht in den hübschen Mercedes, Liebes. Wir können ihn verkaufen und
eine Weile gut davon leben.«
Sandra ignorierte ihn und rutschte aus dem Sitz. Nahe der Grenze hieß, dass
ihr die Zeit davon lief. Sie musste handeln, wollte sie nicht das Los erleiden, das
Tramitz ihr zudachte. Sie wollte nie wieder von ihm berührt werden. Sie
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schauderte bei der Erinnerung. Bei der viel zu nahen Erinnerung, aber es gab
auch ältere. Verteilt über fast vierzehn Jahre ihres Lebens. Sie wollte nicht eine
einzig Weitere sammeln. Das Fenster in ihrem Rücken fuhr herunter.
»Besser? Wir sollten weiter. Am nächsten Rastplatz kannst du dich säubern.
Dann gehen wir schön essen. Wenn wir erst über die Grenze sind, können wir
uns endlich etwas Zeit lassen für uns.« Um sie zu vergewaltigen. Sandra drehte
es den Magen um.
»Nein«, murmelte sie leise. Der Protest war für sie selbst gedacht. Sie ließ es
wieder zu. Immer und immer wieder ließ sie zu, dass man sie verletzt.
Missbrauchte. Sie war mitschuldig daran. Sie war Mitschuld an der Eskalation.
Mitschuld an Patricks Tod und noch immer ließ sie es einfach zu. Als lernte sie
nicht dazu.
»Komm schon Helena!«
»Ich muss mal.« Sie musste fort. Was geschehen war, ließ sich nicht mehr
ändern, aber sie konnte es zukünftig besser machen. Oder bei dem Versuch
sterben. Was hatte sie zu verlieren? Nichts, denn sie hatte schon alles verloren.
Patrick. Ihr Herz zog sich zusammen und sie keuchte vor Schmerz.
»Was?«
»Ich muss mal«, wiederholte Sandra lauter, wenn auch nur bedingt
verständlicher.
»Pinkeln? Muss das jetzt sein?«
Ja, es musste jetzt sein. Wenn sie einstieg und sie weiterfuhren verlor sie
vielleicht die Entschlusskraft. »Ja«, krächzte sie. »Es muss sein. Es ist
dringend.«
»Bleib in Sichtweite«, verlangte Tramitz und Sandra schwankte los. Ihre Knie
waren ganz weich und schienen ihr Gewicht nicht tragen zu wollen. Es war
aussichtslos. Sie blieb stehen und lehnte sich gegen einen Baum. Sie hatte keine
Chance. Sie schloss die Augen und riss sie gleich wieder auf. Sie wollte nicht
sehen, was die Schwärze für sie bereithielt. Sie schwankte weiter. Den leichten
Hang hinauf.
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»Das ist weit genug!«, rief Tramitz ihr hinterher. »Nun beeil dich!«
Sandra warf einen Blick zurück. Tramitz war ausgestiegen und hielt die
Pistole in der Hand. Eine wortlose Drohung. Die Bäume gaben ihr einen
gewissen Schutz, aber er würde sie doch schnell eingeholt haben.
»Okay«, rief sie. »Ich brauche einen Moment!« Sie ging in die Hocke und
kroch weiter. Äste verhakten sich in ihrer Kleidung. Einem grauen
Trainingsanzug mit pinken, prominenten Streifen an den Seiten. Es war schwierig
voranzukommen, aber nicht schwieriger als aufrecht. Sie erklomm den Hügel und
rutschte auf ihrem Gesäß auf der anderen Seite herab.
»Helena! Helena, wo bist du?«
Ihr Herzschlag verdoppelte sich unversehens und sie rappelte sich auf, um
zu rennen. Um ihr Leben. Die niedrigen Äste peitschten ihr in Gesicht und zerrten
an ihrem Haar. Es war aussichtslos und doch rannte sie. Selbst, als die ersten
Schüsse fielen, lief sie einfach weiter. Sie stoppte erst, als ein Bach ihr den Weg
versperrte. Aber nicht lang. Es war gleich, wie nah oder fern Tramitz war, es gab
nur diese eine Chance. Sie watete hinein und ließ sich, dann von der Strömung
tragen.
»Helena!«, brüllte Tramitz in nicht allzu ferner Nähe. »Komm zu mir zurück!«
Sandra schloss die Augen. Hin und wieder berührte sie ein Stein, Gestrüpp
oder ein Fisch und es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis sie wieder etwas anderes
vernahm, als das Plätschern des Wassers.
»Hey! Da treibt was! Scheiße ist das eine Leiche?«
Ja, stimmte Sandra im Stillen zu. Die Leiche von Sandra Bresinsky,
Staatsanwältin für Verkehrsrecht im Großraum Dortmund. Patrick
Schulte-Hennings Freundin starb mit ihm. Helena von Berg jedoch hatte noch
eine Aufgabe zu erfüllen: Sie musste aussagen. Sie musste ihre Zeugenaussage
zu Papier bringen, damit Familie Schulte-Henning abschließen konnte. Auch
wenn es schmerzhaft sein würde zu erfahren, dass ihre Tochter Stefanie eine
Mörderin war. Um die Zusammenhänge zu verstehen, mussten sie es erfahren.
Sie konnte ihnen nur den Trost des Wissens geben. Zumindest konnte sie ihnen
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sagen, dass Stefanie versucht hatte, Patrick zu retten. Das konnte Helena für sie
tun. Nur das.
Sie schlug die Augen auf. Das grelle Sonnenlicht stach in ihre Augen.
»Hilfe!«, krächzte sie, dann lauter: »Bitte! Ich brauche Hilfe ...«
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