Hier spricht die Gemeinde

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> Seite 24
HALLO
Zahlen, bitte!
Der Getriebene
Routine schlägt
Jugend
Paid Content-Modelle
funktionieren, wenn der Leser
einen relevanten Mehrwert
geboten bekommt > Seite 10
Christian Frommert ist Mediendirektor der TSG 1899 Hoffenheim
und Deutschlands bekanntester
Magersüchtiger > Seite 16
Generation 50plus: In Sachen
Produktivität können Ältere
mit den Jungen ganz locker
mithalten > Seite 34
12. Jahrgang
Inhalt
Nr.  3 / 2015
September  2015
Seite
V E R L AG S LE I T U N G
Google tut sich mit deutschen Verlagen zusammen
Tut Google Gutes?
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Paid Content kann erfolgreich sein
Zahlen, bitte!
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Porträt: Christian Frommert,
Journalist und Mediendirektor
Der Getriebene
16
Amtsblättern geht es gut in ihrer Nische
Hier spricht die Gemeinde
24
Kolumne
Die Rückeroberung der Reichweite
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Rechts-Rath.28
Digitaler Kiosk
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In Sachen Produktivität können Ältere
gut mit den Jungen mithalten
Routine schlägt Jugend
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Schlusswort / Impressum
42
VERTRIEB
R E DA K T I O N
PE R S O N A L
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Google tut sich mit deutschen Verlagen zusammen
Tut Google Gutes?
Die DNI (Digitale News Initiative) von Google ist die zur Zeit lukrativste
Lotterie für deutsche Medienhäuser. Mit der Initiative will Google den
deutschen Journalismus fördern. Zu gewinnen sind bis zu 150 Millionen
Euro. Und wen wundert es, immer mehr Verlage machen mit.
uerst waren aus Deutschland nur
die FAZ und die Zeit am Start beziehungsweise in der Arbeitsgruppe,
die über das viele Geld entscheiden
soll. Rasch kamen der Spiegel, die Süddeutsche Zeitung und andere dazu. Mit
dabei sind auch andere europäische
Zeitungen, etwa die britische Financial
Times oder die spanische El Pais. Der
Springer-Verlag will bis jetzt nicht mitmachen, denn der Geldsegen wird
nicht von irgendeiner Losbude ausgeschüttet, sondern von keinem geringeren als Google, dem Springer seit Jahren die verlegerische Stirn bietet.
Z
Verteilt auf drei Jahre hat der kalifornische Internetgigant die sogenannte „Digital News Initiative“ ausgerufen. Das
Innovationsprogramm steht jedem journalistischen Projekt offen. Bewerben
können sich traditionelle Verlage und
reine Online-Medien, Startups, aber
auch einzelne Journalisten, heißt es aus
der Google-Pressestelle.
„Ich finde es gut, dass wir Teil so einer
Arbeitsgruppe sind. Man hat sich ein
bisschen verrannt in einen Krieg gegen
Google. Ich war nie Teil dieses Krieges,
daher kann ich da auch entspannt darFoto: Shutterstock – Composing: Nina Bauer
über reden“, sagt Jochen Wegner, Leiter der Zeit-Online-Redaktion. Und weiter: „Ich fand das Gesetzgebungsverfahren, eine Lex Google, immer falsch,
um sozusagen Wegezoll von Google zu
verlangen, um das Verlagswesen zu erhalten. Ich finde es viel intelligenter, was
jetzt passiert: Wie kann man die Zukunft bauen? Könnt Ihr da mithelfen?
Wie kann man das fördern?“
Gespalten: Die Meinungen
zur Kooperation mit Google
Statt also wie im August 2013 besonders auf Betreiben von Springer und
anderen deutschen Verlagen geschehen, das Leistungsschutzrecht in Stellung zu bringen, plädiert Wegner für Kooperation mit dem Internetgiganten.
Hendrik Zörner, Pressesprecher beim
Deutschen Journalisten Verband DJV,
ist da ganz anderer Meinung.
„Wir wissen nichts darüber, wie dieser
Betrag von 150 Millionen verteilt werden
soll, welche Projekte, welche Medienhäuser denn nun gefördert werden sollen? Da wird viel spekuliert und es fehlt
an Fakten“, kritisiert der Sprecher der
journalistischen Standesvertretung.
Von Thomas Klatt,
Evangelisches
Journalistenbüro,
Berlin
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Ein ähnliches Programm hat Google
bereits 2013 in Frankreich gestartet,
damals 60 Millionen Euro schwer. Jetzt
pumpt der Internetgigant noch mehr
Geld auf den alten Kontinent, und das
bestimmt nicht, weil dahinter ein reiner
Wohltätigkeitsverein stecken würde.
„Google ist keine Organisation, die aus
menschenfreundlichen Interessen heraus Aufklärung und Transparenz befördert, sondern es ist ein Wirtschaftskonzern“, warnt Zörner.
„Da sind unglaublich viele Daten, da ist
unglaublich viel Geld. Diese Google-­
Gewinne werden mit Inhalten angesammelt, die wir Zeitungsverleger und die
Journalisten herstellen. Wir hätten doch
gerne auch etwas von diesen Einnahmen gesehen“, sagt Anja Pasquay.
Auch die VG Media, also die Verwertungsgesellschaft eines Großteils der
deutschen Presseverleger, liegt im
Rechtsstreit. Google verwendet deutsche Zeitungsinhalte als sogenannte
snippets für die eigenen News-Seiten,
ohne dafür zu zahlen.
Geschenke macht
Google natürlich nicht
aus uneigennützigen
Gründen
Deutsche
Journalisten-Vereinigungen, also den DJV
oder die dju in ver.di, hat Google
dabei allerdings nicht im Blick.
Internetmultis machen
jetzt selbst Journalismus
Google ist immer dabei,
in Europa bläst dem
Konzern aber ein harter
Wind ins Gesicht
Google steckt in Europa so scheint es
in einer politischen Klemme. Die EU ermittelt gegen das Unternehmen wegen
möglicher Wettbewerbsverstöße. In
Deutschland gibt es das Leistungsschutzrecht. Und in Frankreich gilt ein
Gesetz, das Google dazu verpflichtet,
die französischen Medien an den wirtschaftlichen Erlösen zu beteiligen. Kritisch sieht das auch Anja Pasquay,
Pressesprecherin beim Bundesverband
Deutscher Zeitungsverleger BDZV. Die
Mitglieder sehen sich benachteiligt, weil
sie von den Google-Algorithmen nicht
gleichberechtigt in der Suchmaschine
gefunden werden. Die derzeit laufende
Wettbewerbsbeschwerde des Verbandes auf europäischer Ebene werde daher trotz der plötzlichen Geldofferte von
Google auch nicht zurückgenommen.
Druck auf Google kommt etwa auch
aus Österreich. So hat sich der Verband
Österreichischer Zeitungen (VÖZ) erst
kürzlich gegen die Drohung gewehrt,
dass der Internetriese im Falle der Einführung eines Leistungsschutzrechts
für Presseverlage Google News in Österreich abdrehen will. „Googles Aussagen sind ein weiterer Beleg dafür, dass
der Konzern Verlagen nicht auf Augenhöhe begegnen will, sondern Medien
will, die sich seinem Geschäftsmodell
willenlos unterwerfen. Wir lassen uns
von Drohungen nicht einschüchtern“,
sagt VÖZ-Geschäftsführer Gerald Grünberger in einer APA-Meldung.
Man wolle doch nur Gutes
tun – sagt Google
Doch ist alles nur ein Missverständnis?
Man wolle im Grunde doch nur Gutes,
heißt es aus der Google-Pressestelle.
So arbeite man laufend am Ausbau sogenannter Google-Mediatools für Journalisten. Hinzu kämen Trainingsprogramme für neue Methoden im Datenjournalismus sowie Partnerschaften mit
journalistischen Organisationen. Namentlich genannt sind das Global Editors Network (GEN) aus Paris, das European Journalism Center (EJC) in
Maastricht und die International News
Media Association (INMA) aus Dallas.
Nur wenn deutsche Medien digital weiterkommen wollen, sollten sie da das
Google-Angebot nicht annehmen?
Hendrik Zörner vom DJV mahnt zur
Vorsicht: „Es wird schon viel experimentiert. Google sollte sich jetzt nicht
so hinstellen, als ob es dieser 150 Millionen-Mittel bedürfe, damit sich in Europa und Deutschland im Journalismus
überhaupt etwas bewegt. Der Journalismus ist bereits in Bewegung.“
Allerdings sind auch die Internet-Multis
im Um- und Aufbruch. Die deutschen
Verlage und Pressehäuser sehen sich
einer völlig neuen Entwicklung gegenüber. Die Suchmaschinen- und Internetgiganten verwalten nicht mehr nur
fremde Inhalte, sondern steigen nun
selbst in den Journalismus mit ein. Neben Google hat sich etwa auch Facebook mit seinem Instant Article-Dienst
auf dem umkämpften News-Markt in
Stellung gebracht. Auf dem Mainzer
Medien Disput in Berlin wurde jetzt über
die neue Medienmacht der Internetkon-
Die Digitale News Initiative von Google
und Instant Article von Facebook
Die DNI ist eine Initiative von Google
mit europäischen Medienhäusern,
um laut eigener Angabe ein
„nachhaltigeres Ökosystem für
Nachrichten und Innovationen im
digitalen Journalismus“ zu fördern.
Googles Gründungs-Partner sind
Les Echos (Frankreich), FAZ
(Deutschland), The Financial Times
(Großbritannien), The Guardian (UK),
NRC (Niederlande), La Stampa
(Italien), Die Zeit (Deutschland), El
Pais (Spanien), Global Editors
Network (GEN), The International
News Media Association (INMA) und
Fotos: Shutterstock, PantherMedia
European Journalism Centre (EJC).
Die Ankündigung der Digital News
Initiative (DNI) hat europaweit starkes
Interesse ausgelöst. Eine Vielzahl
von Verlagen, Organisationen und
Journalisten haben sich seit Ende
April 2015 mit dem Wunsch einer
Beteiligung an die Gründungspartner
gewandt, unter anderem Der
Spiegel, die Süddeutsche Zeitung,
der Tagesspiegel, Bauer Media
Group, Neue Osnabrücker Zeitung,
Golem.de und das Netzwerk
Medientrainer. In der Schweiz ist
etwa die Neue Zürcher Zeitung
(NZZ) zur DNI gestoßen.
Facebook hat fast zeitgleich zur
Google-Initiative sein neues Feature
Instant Articles auf den Markt
gebracht. Artikel werden nun nicht
mehr nur verlinkt, sondern können
direkt auf Facebook gelesen
werden. Am Start des neuen
Internet-Dienstes haben sich unter
anderem die New York Times, der
britische Guardian, NBC, die BBC,
Spiegel Online und Bild beteiligt. Sie
verzichten damit allerdings auf die
werberelevanten Klicks auf ihren
eigenen Webseiten. Dafür dürfen sie
auf Facebook eigene Anzeigen
schalten.
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Mit Instant Articles
verlinkt Facebook nicht
mehr nur auf Artikel,
sonder macht sie auf
Facebook lesbar
zerne diskutiert. Matthias Müller von
Blumencron, Chef digitale Medien bei
der FAZ, sieht darin zunehmend eine
Gefahr für die klassischen Medien.
Redaktion: Nur noch
verlängerte Werkbank?
Hochprofitable Internet-Konzerne, die
mühelos mehr Geld aufbringen können
als die 30 größten Dax-Unternehmen
zusammen, werden plötzlich selbst zu
Medien. Deutsche Journalisten sollen
jetzt für die Plattform mit 1,4 Milliarden
Usern Content produzieren. Redaktionen würden damit aber nur noch zu einer Art verlängerter Werkbank von Facebook degradiert, befürchtet der Online-Journalist. Da gehe es um unglaubliche Datenmengen, die nicht durch
Mediengesetze oder demokratisch gewählte Gremien kontrolliert würden.
„Rückschauend hatten wir vorher nie
solch große mediale Recherche- und
Darstellungsmöglichkeiten. Noch nie
vorher waren wir dank der digitalen Entwicklung so nah am Leser. Aber die fehlende Medienregulierung macht mir
Gänsehaut. Apple wird jetzt journalistisch aktiv. Als erstes am Morgen wird
nicht mehr Zeitung, sondern von Millionen Facebook und Whats App gelesen.
Die Mediennutzung hat sich total verändert“, sagt Müller von Blumencron, und:
„Die Informationen kommen vorbei gerieselt wie Blätter im Wind. Wir wissen
nicht, wo sie herkommen. Und es gibt
neue Player mit zweifelhaftem Hintergrund. Propagandakanälen wie Russia
Today wird zunehmend geglaubt.“
Der digitale Wettbewerb
der Verlage hat begonnen
Damit müssten die Journalisten aber in
erster Linie selbst zurechtkommen. Unter den Verlagen habe nun ein so noch
nie gekannter digitaler Exzellenzwettbewerb begonnen. Allerdings würden
Deutsche Leistungsschützer gegen Google
Die VG Media ist die Verwertungsgesellschaft der privaten Medienunternehmen, die die Urheber- und Leistungsschutzrechte nahezu aller deutschen und mehrerer internationaler
privater TV- und Radiosender vertritt.
Zu den VG Media-Mitgliedern zählen
unter anderen auch die VDZ-Mitglieder
Springer, Burda und Funke. Die VG
Media vertritt einen Großteil der deutschen Presseverleger (derzeit 230 digitale Online-Angebote) und hat allen
Nutzern Lizenzverhandlungen angeboten. Die VG Media ist eine von 13 in
Deutschland zugelassenen Verwertungsgesellschaften und steht unter
der Aufsicht des Deutschen Patent-
und Markenamtes (DPMA). Das am
1. August 2013 in Kraft getretene Leistungsschutzrecht der Presseverleger
umfasst Presseerzeugnisse, die periodisch erscheinen, verlagstypische
Sammlungen journalistischer Beiträge
darstellen und die unter einem Titel
veröffentlicht werden. Geschützt und
damit vergütungspflichtig ist die Nutzung ganzer Presseerzeugnisse oder
auch nur von Teilen im Internet durch
gewerbliche Anbieter, wie zum Beispiel
Suchmaschinen oder Newsaggregatoren. Zur unabhängigen Überprüfung
der Anwendbarkeit und Angemessenheit des Tarifs hat die VG Media die
Schiedsstelle beim Deutschen Patentund Markenamt angerufen. Das Ver-
die Internetgiganten zuerst in die großen englischen und chinesischen
Sprachräume investieren. Für Google,
Facebook & Co. dürfte der relativ kleine
deutsche Sprachraum weit weniger attraktiv sein. Aber er ist, so beweisen zumindest die neuesten Offerten aus Kalifornien, auf den Konzernschirmen.
Den deutschen Medienunternehmen
fehlten dagegen die Marktmacht und
schlicht das Geld, um mit neuer Software, neuen Apps und ähnlichem mithalten zu können. „Das ist ein kulturtechnisches Problem. Wir können uns
nur als deutsche Journalisten bemühen, Inseln der Glaubwürdigkeit zu bewahren oder eben neue zu schaffen“,
appelliert Müller von Blumencron.
Doch sollte man sich von der vermeintlichen Übermacht des neuen amerikanischen Überwachungs- und Plattformkapitalismus nicht lähmen lassen, als
sei man einfach nur Opfer, warnt der
Schweizer Journalist und publizistische
Berater von Ringier, Frank A. Meyer.
Dämonisierung führe nur zu Ohnmachtsgefühlen. Dagegen solle man
als Demokraten lieber die Macht der
Gesetze nutzen und sie durchsetzen.
Vertrauen in Google haben
nicht alle Verleger
fahren der VG Media vor der Schiedsstelle beim Deutschen Patent- und
Markenamt über die Anwendbarkeit
und die Angemessenheit des Tarifs für
die Nutzung von digitalen Presseerzeugnissen bleibt von der DNI Googles
unberührt. Dieses Verfahren läuft derzeit noch. Eine Entscheidung dazu
wird Ende September erwartet.
im April 2015 gegen Google eine sogenannte „Mitteilung der Beschwerdepunkte“ verschickt, mit der sie
dem Unternehmen vorwirft, seine
Marktmacht missbraucht zu haben,
indem es seinen Preisvergleichsdienst (Google Shopping) in den allgemeinen Suchergebnissen systematisch bevorzugt.
Der BDZV hat zusammen mit dem
Verband Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ) und anderen im Jahr
2010 bei der Europäischen Kommission eine Wettbewerbsbeschwerde gegen Google wegen eines Missbrauchs
von Marktmacht eingereicht. Infolge
der Beschwerde hat die Kommission
Hierdurch finden Nutzer nicht mehr
die für sie relevantesten Ergebnisse
und die Konkurrenzfähigkeit von
Wettbewerbern wird beeinträchtigt.
Sollte die Kommission an ihrer Einschätzung festhalten, droht Google
eine Untersagungsentscheidung mit
einem Bußgeld.
„Wir benehmen uns wie Kinder und
glauben den neuen Heilsversprechen.
Da werden Wallfahrten nach Silicon Valley gemacht. Kai Dieckmann fährt mit
gegelten Haaren hin und kommt mit
Vollbart und Kapuze zurück. Es ist wie
eine neue Religion, eine Priesterschaft,
ein Orden, ein Google-Gott. Kindisch!
Als Journalist werde ich doch vermarktet und ich will dafür bezahlt werden.
Wenn das durchgesetzt werden würde,
sehe das mit der Marktmacht der Internetgiganten schon anders aus“, sagt
Meyer. Er zumindest habe kein Vertrauen in Google, sondern nur in die Regulierungsfähigkeit der Demokratie.
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enau genommen verfolgen ZeitPaid Content-Modelle
bereits seit vielen Jahrzehnten: Verlage
sind damit groß geworden, dass sie ihre
redaktionell aufbereiteten Inhalte an die
Leser verkauft haben. Doch mit dem
Siegeszug des Internets geriet dieses
Geschäftsmodell ins Wanken. War es
am Kiosk für jeden Leser noch selbstverständlich, für die gedruckte Ausgabe eines Titels auch sofort bezahlen zu
müssen, hat sich diese Bereitschaft im
Netz in Wohlgefallen aufgelöst. Und mit
ihr die Vorstellung vieler Verlagsmanager, das analoge Business einfach
in die digitale Welt transferieren zu
können. Das Beratungsunternehmen
Goetz­partners hat kürzlich eine Umfrage
veröffentlicht, die zeigt, wie weit diese
Geringschätzung inzwischen geht. Ein
Printabo einer Zeitung ist danach den
Konsumenten 45 Euro im Monat wert.
Ein digitales Zeitungsabo dagegen
nur noch 5,13 Euro.
G schriften
Paid Content kann erfolgreich sein
Zahlen,
Paid Content-Modelle
funktionieren, wenn dem
Leser ein relevanter Mehrwert
geboten wird. Entscheidend
für die Zahlungsbereitschaft
ist aber auch das Image der
Medienmarke.
bitte!
Die Zahlungsbereitschaft für digitale Produkte ist also gering
ausgeprägt, das ist die schlechte Nachricht. Die gute Nachricht:
Sie ist in einem Umfang vorhanden, der groß genug ist, um darauf neue Geschäftsmodelle errichten zu können. Einfach ist
dies allerdings nicht. Die Kostenlos-Kultur im Netz und die
Omnipräsenz der Gratisinhalte
haben das Verhalten der User
geprägt. Das wollen sie nicht
so ohne weiteres aufgeben.
Wer also für Inhalte Geld verlangt, muss sich sicher sein,
dass es diesen Content nicht
wenige Maus-
Foto: Shutterstock
Von Helmut van Rinsum,
Redaktionsbüro HvR,
München
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kaum noch.“ Ähnlich Erfahrungen hat
Alfons Schräder, Geschäftsführer von
Heise Medien, gemacht. „Leser sind
eher bereit, für tiefergehende Informationen als kurzlebige News zu bezahlen.
Insbesondere der Nutzwert steht im Fokus, aber auch die Einzigartigkeit und
die Verlässlichkeit der Informationsquelle sind entscheidend.“
Viele Verlage im
In- und Ausland
haben Paywalls
hochgezogen und sie
inzwischen wieder
eingerissen
klicks entfernt umsonst gibt. „Es reicht
nicht, die bestehenden Inhalte einfach
mit einem Preisschild zu versehen“, so
Alexander Henschel, Managing Director
bei Goetzpartners. „Die Verlage müssen Mehrwert bieten.“ Dann funktioniere es auch mit dem Paid Content in
der digitalen Welt.
Bezahlt wird nur für Inhalte,
die wirklich nützlich sind
Die Ergebnisse der Befragung decken
sich mit den Erfahrungen der Verlage,
von denen viele seit langem mit unterschiedlichen Paid Content-Modellen
experimentieren. Sie haben Paywalls
eingezogen und wieder niedergerissen,
sie bieten digitale Abos mit Zusatznutzen an, sie arbeiten mit Freemium und
Metered Modellen, manche bitten die
User um Spenden. All diese Ansätze
fruchten aber nur, wenn der Leser den
Eindruck hat, dass ihn die Inhalte wirklich weiter bringen. „Konsumenten sind
dann bereit für Inhalte Geld auszugeben, wenn sie einen substanziellen
Mehrwert erhalten“, sagt Jonas Grashey, Head of Brand PR bei Hubert Burda Media. „Daher gibt es im News-Bereich Vorbehalte. Denn News sind in einer digitalen Welt Commodity, Exklusivität gibt es im Nachrichtengeschäft
Untersuchungen bestätigen diese Einschätzungen. Für den internationalen
Digital News Report 2015 wurden in
Deutschland über 2000 User befragt,
ob sie im vergangenen Jahr für News
im Netz bezahlt hätten. Das Ergebnis:
Nur sieben Prozent gaben an, für
News-Inhalte oder kombinierte Print-Digital-Angebote aus dem Nachrichtenbereich Geld ausgegeben zu haben.
Mit dieser Haltung bildet Deutschland
so ziemlich das Schlusslicht. Stärker ist
die Zurückhaltung nur noch in Großbritannien (sechs Prozent). Die investierten Summe bewegen sich ebenfalls im
eher niedrigstelligen Bereich: Je nach
Land werden im Monat zwischen fünf
(Spanien) und 14 Euro (Großbritannien)
ausgegeben.
Will ein Verlag eine erfolgreiche Paid
Content-Strategie im Netz fahren, muss
er also mehr aufbieten als News. Dann
steigt auch die Zahlungsbereitschaft,
wie eine Umfrage von Survey Monkey
aus dem Mai zeigt. Danach zahlen zwölf
Prozent der User in Deutschland für Inhalte im Netz, was wiederum international ein Spitzenwert ist: In Großbritannien liegt dieser Wert nur bei sechs Prozent. Für einzelne Artikel gibt sogar jeder dritte Deutsche Geld aus. „Die Leser
sind bereit, für journalistische Inhalte zu
bezahlen, wenn diese sich vom allgemeinen Nachrichtenstrom abheben, Zusatzinformationen bieten und das aktuelle Geschehen ergänzen, vertiefen und
einordnen. Dazu zählen exklusive Geschichten, Interviews, Studien oder
Rankings oder Dossiers“, sagt Kerstin
Jaumann, Sprecherin der Verlagsgruppe Handelsblatt. Gut würden sich vor allem Ratgeber-Literatur aus den Bereichen Geldanlage, Versicherungen oder
der Green Economy verkaufen.
Das Unternehmen Heise Medien experimentiert seit einigen Jahren mit den
unterschiedlichsten Paid-Content-Modellen. Im vergangenen Juni wurde hier
beispielsweise ein kostenpflichtiger Foto-Club gegründet. Dort findet der User
Kamera- und Objektiv-Tests mir ausführlichen Messwerten, Beispielbilder
rund um Fototechnik sowie eine Foto-Akademie, die mit Artikeln und Video-Tutorials Foto-Freaks anspricht. „In
der Foto-Akademie verraten Profis
Tricks zu Fototechniken und Bildbearbeitung“, erzählt Jürgen Rink, Chefredakteur von c’t Digitale Fotografie. „Daneben gibt es immer wieder exklusive
Aktionen für Mitglieder, etwa Sonderangebote von Fotozubehör oder Rabatte
für Fotokurse.“ 30 Tage Club-Mitgliedschaft kosten 4,98 Euro, 90 Tage 9,98
Euro und ein Jahr 24,98. Für den fotobegeisterten User keine großen Beträge, für den Verlag der Beleg, dass Paid
Content funktionieren kann.
Durch Anrisse die Artikel
schmackhaft machen
Als Heise im vergangenen Herbst neue
Webseiten für sein Computermagazin
c’t programmierte, wurde auch das
Thema Paid Content neu aufgerollt.
Seitdem gibt es für jeden einzelnen Artikel der Zeitschrift eine eigene Website,
die intern „Steckbrief“ genannt wird. In
diese Steckbriefe kann der Leser hineinlesen. Möchte er den Artikel zu Ende
lesen, kann er ihn über einen Button
kaufen und dazu Bonusmaterial erwerben. Abonnenten müssen sich authentifizieren und können den Artikel kostenlos herunterladen.
Erfolgsfaktoren für Onlineangebote Allgemein
sowie für Paid-Angebote
Top 5 Erfolgsfaktoren für die
Onlinenutzung allgemein
KOSTENLOS VERFÜGBAR
60,1 %
AKTUALITÄT/ INHALTE FRÜHER VERFÜGBAR
57,6 %
ÜBERALL VERFÜGBAR
54,9 %
BEQUEMER
53,0 %
ZUSATZINFORMATIONEN
45,8 %
Quelle: goetzpartners Konsumentenbefragung 2013
Foto: iStockphoto
Top 5 Kriterien für Paid-Angebote
MUSS VIELE INFORMATIONEN ERHALTEN/
HINTERGRUNDRECHERCHEN
55,6 %
NUTZTBAR AUF ALLEN ENDGERÄTEN
54,8 %
MUSS MICH UNTERHALTEN
51,4 %
WERBEFREI
51,5 %
EXKLUSIVE INHALTE
46,9 %
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„Insbesondere bei sehr exklusiven Inhalten mit hohem Nutzwert ist das Interesse der Leser groß, einzelne Artikel zu
kaufen oder gleich Abonnent zu werden“, berichtet Geschäftsführer Alfons
Schräder. „Der Leser bekommt auf alle
Fälle durch den Anrisstext sehr schnell
ein Gefühl dafür, ob sich der Kauf des
Artikels oder der Abschluss eines Abos
lohnt.“ Gefragt seien vor allem langlebiger Know-how-Content, ausführliche
Produkttests und anschauliche Video-Tutorials.
Verlage experimentieren mit
unterschiedlichen Modellen
Die Wirtschaftswoche
bietet den Lesern für
14,99 Euro im Monat
einen Digitalpass
Auch bei Vogel Business Media kann
der User einzelne Beiträge digital erwerben. Die Leser des Titels Kfz Betrieb
können zudem wählen: Mit dem „Digital
komplett“ können sie auf alle redaktionellen Fachbeiträge zugreifen, haben
sie sich für „Digital select“ entschieden,
können sie im Monat ein Kontingent von
zehn Fachartikeln nutzen, danach kostet jeder einzelne Abruf extra. Das Fachmedium IT-Business wiederum fährt ein
Mitgliederprogramm. Mitglieder haben
Zugriff auf exklusive redaktionelle Beiträge und Expertenmeinungen und erhalten Vergünstigungen bei der Teilnahme an Veranstaltungen. „Außerdem“,
sagt Stefan Eiselein, Leiter Vogel Future
Group und Mitglied der Geschäftsleitung, „erhält der Abonnent das
Print-Produkt for free.“ Die Vorzeichen
haben sich hier also in der Wahrnehmung schon umgekehrt. Es ist nicht
mehr das digitale Angebot, das es kostenlos obendrauf gibt. Sondern die gedruckte Zeitschrift.
Die Wirtschaftswoche verfolgt ebenfalls einen clubähnlichen Gedanken.
Mitte des vergangenen Jahres hat der
Titel aus der Verlagsgruppe Handelsblatt den Digitalpass eingeführt. Damit
kann der Leser auf alle kostenpflichtigen Angebote zugreifen, wozu das
E-Magazin, das Archiv der Wirtschaftswoche, die Dossiers sowie die unterschiedlichen Apps für iPad, iPhone und
Fire Phone zählen. Rund 15.000 User
würden den Digitalpass nutzen, meldet
der Verlag, Tendenz steigend. „Wir lassen also keine stählerne Bezahlschranke auf unsere Leserinnen und Leser
niedersausen, sondern biete ein hochwertiges Zusatzangebot zu einem fairen Preis“, so Sprecherin Jaumann.
„Tagesaktuelle Nachrichten sind weiterhin kostenlos verfügbar, für zusätzliche Premium-Inhalte muss dagegen
bezahlt werden.“ 14,99 Euro im Monat
kostet den Leser die Eintrittskarte in die
Welt des digitalen Mehrwerts.
Die Wirtschaftswoche fühlt sich durch
die Erfolge in ihrem Kurs bestätigt, immer mal wieder was Neues zu testen.
Auch künftig will der Verlag verschiedene Angebotsformen ausprobieren,
Preise, Laufzeiten und Bestandteile
von Paid-Content-Paketen testen.
Auch die Kollegen der Zeit raten dazu,
ohne Scheu immer mal wieder neue
Experimente zu wagen. „Unserer Erfahrung nach wird bei dem Thema insgesamt viel zu ängstlich agiert“, sagt
Enrique Tarragona, stellvertretender
Geschäftsführer von Zeit Online.
„Wenn ein neues Angebot, sei es eine
neue Plattform, eine neue Gerätegattung oder ein neuer Shop ins Portfolio
passt und mit vertretbarem technischen Aufwand zu realisieren ist, was soll
den schlimmstenfalls passieren? “
Wichtig sei es, vieles auszuprobieren,
aber auch den Mut zu haben, erfolglose Aktivitäten wieder zu beenden,
damit die Ressourcen für neue Ideen
frei werden.
Die unterschiedlichen Paid-Content-Ansätze
Harte Bezahlschranke:
Bei diesem Modell können zahlende Abonnenten das Online-Angebot nutzen,
für alle anderen ist es nicht zugänglich.
Freemium:
Hier sind solche Inhalte bezahlpflichtig, die aus Sicht des Verlags so
exklusiv beziehungsweise nutzwertig sind, dass Nutzer bereit sind, für diese
zu bezahlen; beispielsweise weil sie keine andere Möglichkeit haben, kostenlos
an diesen aus ihrer Sicht relevanten Content zu kommen.
Metered Model:
Das Metered Model macht dem Nutzer eine bestimmte Anzahl eigentlich kostenpflichtiger Inhalte kostenlos
zugänglich. Der Nutzer kann sich so ein Bild von der Qualität der Inhalte genau bei den Themen machen, die
ihn interessieren. Nach Ausschöpfung des Kontingents wird zumeist zur kostenfreien Registrierung aufgerufen,
die ein zusätzliches Freikontingent beinhaltet. Erst wenn der Nutzer auch die Anzahl dieser erlaubten Abrufe
überschreitet, wird er zum kostenpflichtigen Abonnement aufgefordert.
Spenden-Modell / Freiwillige Bezahlung:
Bei der freiwilligen Bezahlung entscheidet der Nutzer selbst, ob und in welcher Höhe er für die Inhalte bezahlen
möchte.
Quelle: BDZV
Tarragona verweist auch darauf, dass
es nicht immer nur die exklusiven Informationen sein müssten, die beim User
als Mehrwert gelten, für den er im Netz
zu zahlen bereit ist. Manchmal ging es
schlicht und einfach auch um Emotionen. Im Falle der Zeit bedeutet dies, den
in Print so erfolgreichen Mix aus Informationen, Hintergrund, Meinung und
Entertainment auch ins Digitale zu übertragen und dem Leser auch am Ipad ein
Zeit-typisches Gefühl zu vermitteln. Tarragona: „Die Herausforderung ist es, in
einer entbündelten digitalen Welt dennoch das Produkterlebnis erfahrbar zu
machen.“
Erst kürzlich hat eine Studie der Beratungsagentur Bulletproof Media herausgefunden, dass die Positionierung der
Plattform, ihr Image, für die Bereitschaft
der User, für Inhalte zu bezahlen, ein
entscheidender Faktor ist. Je bekannter
die Marke, je vertrauter die Marke, desto
einfacher ist es, für ihren Content auch
Foto: Shutterstock
Geld zu erhalten. „Das Image einer Marke ist neben der Einzigartigkeit des Content entscheidend, ob jemand im Web
Geld ausgibt“, unterstreicht Alfons
Schräder. „Das Internet ist voll von Informationen zu fast allen Themen, aber
nicht alle Informationen sind zutreffend
oder hilfreich. Daher verlassen sich insbesondere zahlungskräftige Leser mit
wenig Zeit auf Informationen von starken und verlässlichen Namen.“
Die Zeit scheint im Netz von ihrem Renommee profitieren zu können. Die wöchentliche Ausgabe wird in unterschiedlichen Formaten auf nahezu allen
Endgeräten angeboten, in Kürze soll es
zudem eine besondere Aufbereitung für
Smartphones geben. Der Lohn dieses
Engagements sind 40.000 zahlende
User im Monat. Das Image sei ein entscheidender Faktor, betont Enrique Tarragona. „Der Mensch trifft Kaufentscheidungen selten nach völlig rationalen Überlegungen.“
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Porträt: Christian Frommert, Journalist und Mediendirektor
Der Getriebene
Christian Frommert war jahrelang Journalist, heute ist er Mediendirektor des Fußball-Bundesligisten TSG 1899 Hoffenheim – und
der bekannteste Magersüchtige Deutschlands.
Von Roland Karle,
Freier Journalist,
Neckarbischofsheim
P
lötzlich war das Schnitzel weg.
Der grauhaarige Mann hatte es
Christian Frommert einfach vom Teller
stibitzt. Sein Aufruhr hielt sich in Grenzen, er war allenfalls verblüfft über den
spontanen Zugriff und, ja, auch ein bisschen dankbar. Denn ungeplante Mahlzeiten, zumal fett und fleischig, bereiten
ihm Stress.
Wie gut also, dass Dietmar Hopp, Eigentümer des Fußball-Bundesligisten
TSG 1899 Hoffenheim, bei jenem Sponsorentermin gedankenschnell reagierte und Frommert freundlicherweise beklaute.
Dadurch befreite er
Frommert
aus
drohender Erklärungsnot
(„Schmeckt’s Ihnen nicht? Haben Sie
keinen Appetit?“). Und die auf dem Teller übrig gebliebenen Spargel waren ein
verkraftbarer Kompromiss. Das Stangengemüse besteht zu mehr als 90 Prozent aus Wasser, ist arm an Kalorien –
und daher keine Gefahr für Frommert.
Peinlich genau achtet der
48-Jährige darauf, was
und wie viel er zu
sich nimmt.
Von Autor Autor,
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Xxxxxxxxxxxxxxxxxx
Xxxxxxxxxxx
Foto: privat
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„Mein Körper ist weiter als der Kopf.
Ich halte mich für unglaublich fett,
aufgebläht wie ein Fesselballon“
Gegessen wird nur einmal am Tag, bevorzugt gegen 19 Uhr und möglichst zu
Hause. Daran immerhin hält sich Frommert, lässt das Essen nicht mehr ausfallen wie früher, als er auf dem schmalen
Grat zwischen Leben und Tod wandelte.
Christian Frommert ist Deutschlands
wohl bekanntester Magersüchtiger. In
seinem Büro im Trainingszentrum des
Fußballklubs gibt er sich an diesem
Spätvormittag aufgeräumt und guter
Stimmung. Er sieht sehr schlank aus,
aber nicht besorgniserregend dünn. Es
könnte trotzdem gefährlich sein, ihm
mitzuteilen, dass er gut aussieht. Magersüchtige halten das für eine rohe
Botschaft, knapp übersetzt: „Du bist
aber fett geworden.“ Es gab Zeiten, da
schloss sich Frommert nach solchen
Sätzen zu Hause ein und verweigerte
tagelang das Essen. Inzwischen is(s)t er
weiter. Ein Fortschritt, denn: „Mein Körper ist weiter als der Kopf. Ich halte mich
für unglaublich fett, aufgebläht wie ein
Fesselballon“, sagt Frommert.
Essen ist kein Genuss, es ist Zwang. Er
muss es sich verdienen, deshalb treibt er
extensiv Sport. Jeden Morgen, oft schon
um 4 Uhr, legt Frommert los. Er läuft,
macht Gymnastik und strampelt auf dem
Hightech-Hometrainer. Manchmal stundenlang. Die tägliche Dosis hat er stets
hinter sich, wenn er an seinem Arbeitsplatz eintrifft. Seinen Job erledigt er ohne
Einschränkung, da geht er in die Vollen.
Die TSG Hoffenheim hat gerade den
Wechsel ihres Brasilianers Roberto Firmino zum FC Liverpool bekannt gegeben. Da machte auch der sonst eher im
Schatten stehende Klub große Schlagzeilen: 41 Millionen Euro plus eventuelle
Es sei viel zu tun, sagt Hoffenheims Direktor für Kommunikation und Medien,
obwohl der Fußball noch schlummert.
Die Profis haben gerade erst das Training
wieder aufgenommen. Der ganz normale
Wahnsinn, wie er sich während der Saison abspielt, macht noch ein bisschen
Pause. Für Frommert gilt das nicht. Er arbeitet permanent an Konzepten, brütet
über Ideen und überhaupt: Die Bundesliga zieht so viel Interesse auf sich, dass
nicht mal in der Sommerpause richtig
Ruhe eingekehrt. Dann herrscht nämlich
Wechselfieber in der Liga. Wo werden
die Trainer ausgetauscht, welche Spieler
gehen, welche kommen?
Frommert im
Rampenlicht:
Als Pressesprecher
von T-Mobile
15 Fragen an den Mediendirektor Christian Frommert
Sagen Sie mal, Herr Frommert ...
Welches Buch lesen Sie gerade?
„Das Goldene Kalb oder: Die Jagd nach der Million“
von Ilja Ilf und Jewgeni Petrow
Mit welchen Medien
beginnen Sie den Tag?
Am Vorabend schon die Süddeutsche und die Bild des nächsten
Tages als E-Paper, morgens Radio. Im Büro
folgt dann die Lektüre des Pressespiegels.
Auf welchen Internetseiten
verweilen Sie am längsten?
Von wem haben Sie beruflich
am meisten gelernt?
Ich habe immer Augen und Ohren offen gehalten, um bei meinen
verschiedenen Stationen im Journalismus, der Unternehmenskommunikation sowie der Öffentlichkeitsarbeit möglichst viel
aufzusaugen, positiv wie negativ. In der Konsequenz muss man
seinen eigenen Weg finden und ihn gerade gehen.
Facebook, Spiegel Online
Was treibt Sie an?
Die Leidenschaft für Kommunikation. In all ihren Ausprägungen.
Die (berufliche) Entscheidung,
auf die Sie besonders stolz sind?
Ich empfinde weder Triumph noch Stolz oder Frustration ob einer
Entscheidung. Eine klare Entscheidung nach intensiver Abwägung
zu treffen, erachte ich als eine Notwendigkeit.
Ihr Lieblingsberuf nach
Medienmanager?
So absurd es klingt: Koch
Ihr Lebensmotto?
Ich halte wenig davon, (s)ein Leben unter ein Motto zu stellen.
Die (berufliche) Entscheidung, die
Ihnen am meisten Ärger brachte?
Jede Entscheidung zieht Konsequenzen nach sich, mit denen es
umzugehen gilt. Die intensivste Auswirkung – auch persönlich – hatte
sicherlich die Suspendierung von Jan Ullrich vor dem Start der Tour
de France 2006.
Ihr größtes Laster?
Unzufriedenheit
Die wichtigste Fähigkeit eines
Mediendirektors?
Verlässlichkeit, Glaubwürdigkeit, Authentizität,
konzeptionelles Denken und Handeln.
Was tun Sie,
wenn Sie nicht arbeiten?
Noch immer fällt es mir schwer, mir selbst mehr Freizeit einzuräumen.
Wenn ich es mal schaffe, dann werkle ich am Haus, im Garten, lese
ein Buch oder dilettiere auf der Gitarre.
In welcher Stadt fühl(t)en
Sie sich am wohlsten?
Vancouver
Ihr bislang interessantester
Gesprächspartner?
Ich hatte und habe das große Glück, mich privat wie beruflich mit
sehr vielen ernsthaften, humorvollen, tiefgründigen, erfahrenen,
neugierigen, reflektierten und facettenreichen Menschen austauschen
zu dürfen. Jede Form der Kommunikation ist wertvoll und interessant,
wenn sie die Oberfläche verlässt und getragen wird von Ehrlichkeit,
Offenheit, Authentizität und Empathie.
Welchen Wunsch wollen Sie sich
unbedingt noch erfüllen?
Endlich wieder genießen zu können. Die Zwänge und Rituale,
die mich derzeit noch gefangen halten, abzuschütteln.
Foto: privat
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hängen manchmal nur an einem Tor.
„Der Sport steckt voller Emotionen“,
sagt Frommert. Durch Internet und digitale Medien hat sich der Informationsstrom beschleunigt. Nie ist Sendepause, immer geht was. Wer will, kann sich
jederzeit und überall informieren – und
online selbst mitkommentieren.
Immer nah an
Promis: Hier mit dem
Profiboxer Wladimir
Klitschko
Nachschläge bei sportlichen Erfolgen
überweisen die Engländer an den
Kraichgau-Club. So viel Ablöse wurde
noch nie für einen Spieler aus der Bundesliga bezahlt.
Hoffenheim ist in diesem Fall der Nutznießer. „Der Markt regelt den Preis“, erklärt Frommert. Einerseits. Der Direktor
für Kommunikation und Medien kann
aber auch verstehen, wenn solch exorbitante Summen auf Unverständnis in
der Öffentlichkeit stoßen. „Ich halte die
Entwicklung nicht immer für vernünftig.
Aber der Fußball kennt derzeit offensichtlich kein Limit.“ Christian Frommert
genießt aber auch das Mittendrin-Sein
und die enorme Beachtung, die der
Lieblingssport der Deutschen auf sich
zieht. „Ich bin mit Leib und Seele Kommunikator“, sagt er.
„Mir ist das direkte Gespräch mit
Journalisten wichtig, um sich mit offenem
Visier zu begegnen“
Im Ballgewerbe ist der Medienchef dabei besonders herausgefordert. Denn
dort drehen sich Stimmungen von einem Spieltag zum anderen. Ein gewonnenes oder verlorenes Spiel kann vieles
ändern. Sympathie oder Abneigung
Dem Rausch der Geschwindigkeit können die Medien kaum widerstehen. „Da
werden mitunter Themen hochgezogen
und Kampagnen gefahren, nur um
Klicks und Aufmerksamkeit auf sich zu
ziehen“, sagt Frommert. Damit einher
gehen erhöhte Empörungsbereitschaft
und Verrohung der Sprachsitten, findet
er. „Nicht nur, aber vor allem im Sport
werden die Akteure schnell zum Trottel,
Versager oder Deppen abgestempelt,
und vielleicht eine Woche später schon
wieder zum Helden erklärt“, beklagt
Frommert. „Durch die permanente Lust
am Skandalisieren fehlt es an Gelassenheit und notwendiger Differenziertheit.“
Das immer höhere Tempo geht zu Lasten von Qualität und Tiefe. Ein Befund,
den Christian Frommert nicht exklusiv
erhebt. Und zugleich eine Tatsache,
der er sich stellen muss. „Mir ist das direkte Gespräch mit Journalisten wichtig, um die Sicht der Dinge auszutauschen und sich mit offenem Visier zu
begegnen“, sagt er. Etliche Journalisten hat Frommert in den Kraichgau eingeladen, damit sie dem Klub und seinen Machern begegnen, sich ein echtes Bild machen – in Nahaufnahme,
nicht nur vom Hörensagen.
Seit knapp zwei Jahren kümmert sich
Frommert auf Direktionsebene, also
direkt unterhalb der Geschäftsführung,
um Kommunikation und Medien. Eine
Stelle, die es vorher nicht gab – und ein
Hinweis, dass hier Nachholbedarf
herrschte. Mit Frommerts Verpflichtung
erhoffte sich der Klub, dass sich das
Ansehen der bundesweit eher mäßig
Mutiger Aufklärer
Zum Thema Magersucht hält
Christian Frommert auch Vorträge,
zum Beispiel an Schulen, um
Aufklärung zu betreiben und
Menschen, besonders auch
Männern („Nur wenige outen
sich“), Mut zu machen.
Der Bayerische Rundfunk hat in
der Reihe „Lebenslinien“ einen
Film über Frommert gedreht:
„Männlich, maßlos, magersüchtig“
(www.br.de/lebenslinien), auf
Facebook äußert er sich unter
„DannIssHaltWas“ zum Thema.
beliebten TSG 1899 Hoffenheim verbessern würde. Zuvor hatte er dort einige
Monate als Berater zugebracht und erkannt, dass der anfangs durchaus anerkannte Dorfklub zum geschmähten Emporkömmling geworden sei. Der schnelle Erfolg, der in der Herbstmeisterschaft
2008 gipfelte, habe dem Verein nicht
gutgetan. „Hoffenheim war nicht mehr
authentisch. Es kam zu einer Kommunikationskrise, aber es gab keine Krisenkommunikation“, sagt Frommert.
Unter seiner Ägide hat sich die Zahl der
Facebook-Freunde innerhalb von 15
Monaten auf rund 185.000 fast vervierfacht, auch die Zugriffe auf die gerade
komplett renovierte Homepage und die
Videos dort sowie auf Youtube sind
nennenswert gestiegen. Das bisherige
Stadionheft wird durch das monatliche
Magazin Spielfeld ersetzt. „Wir haben
noch viele Ideen“, kündigt Frommert an.
Knapp sechs Jahre ist es her, da schaute er nicht in die Zukunft, sondern in den
Abgrund. An Weihnachten 2009 hatte
sich der 1,84 Meter große Mann auf 39
Kilo heruntergehungert und brach im
Hauseingang zusammen. 28 Stufen
trennten ihn von seiner Wohnungstür, in
diesem Moment eine unüberwindbare
Foto: privat
Distanz. Er schaffte es gerade noch, die
Nummer von DFB-Marketing-Direktor
Denni Strich in sein Mobiltelefon zu tippen. Der ist ein guter Freund, einer, der
da ist, wenn es brennt. Strich machte
sich auf den Weg und traf auf einen hilflosen, protestierenden Notfall, den er
die Treppe hinauftrug. „Mir war die Sache unendlich peinlich“, erinnert sich
Frommert. Der Scham folgte ein Schwur.
„Es muss aufhören. Ich fange wieder an
zu essen.“
Doch Frommert schaffte es erneut, abstinent zu bleiben und seiner Vertrauten
Anna, wie er die Magersucht in Anlehnung an den Fachbegriff Anorexie
nennt, zu gehorchen. „Das ist das Wesen meiner Krankheit: Sie lässt nie locker, sie gewinnt immer.“ Es gibt Bilder
von ihm, für jedermann im Internet zugänglich, auf denen er mit nacktem
Oberkörper zu sehen ist. Knochig, ausgemergelt, krank. Als Jugendlicher war
Frommert eher pummelig, wog als junger Erwachsener mal 140 Kilo, fand sich
unattraktiv. Als seine damalige Freundin
BUCHTIPP
Ein Buch als Lebensretter
Zusammen mit Autor Jens Clasen hat
Christian Frommert ein Buch über seine
Magersucht geschrieben: „Dann iss halt
was!“ (Mosaik Verlag, 320 Seiten). Das
Vorwort stammt von Ex-Nationalspieler und DFB-Teammanager Oliver Bierhoff, für den Frommert als Medienberater arbeitete. Aus Tagebuch-Aufzeichnungen von mehr als tausend
Seiten entstand eine auf rund ein Drittel verdichtete Buchfassung. „Ohne das Schreiben hätte ich nicht überlebt“, sagt
Frommert. Denn das Tagebuch sei für ihn wie ein Spiegel gewesen. „Ich habe darin erkannt, wie ich mein Leben herschenke.“ Noch heute isst Frommert wenig. Rohkost, Obst,
Magerquark, vielleicht mal ein Süppchen. Wenn im Sommer
montags und donnerstags der Eismann aufs Hoffenheimer
Trainingsgelände fährt, „ist das eine echte Versuchung“, sagt
er. Eine Kugel Vanille oder Stracciatella? Er lässt es dann doch
lieber, denn: „Ich würde mich dafür hassen.“
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Christian Frommert:
„Printmedien brauchen den Mut, ihre Stärken zu stärken und einen
Kontrapunkt zu setzen gegen die Hektik des Digitalen“
für ein Jahr nach Australien ging, speckte er ab – 60 Kilo. Er merkte, dass er mit
wenig Essen auskommen kann und
fand Gefallen am Dünnsein.
Doch Magersucht war erstmal für viele
Jahre kein Thema. Frommert arbeitete
als Sportjournalist und Wirtschaftsredakteur bei der Frankfurter Rundschau
(FR), wurde dann Pressesprecher von
T-Mobile und machte sich später als
Kommunikationsberater selbstständig.
Den Weg in den Journalismus fand
Frommert über den Sport. Er verfasste
Spielberichte über seinen Heimatverein
VfR Bürstadt und landete bei der FR, wo
er volontierte, als Wirtschaftsredakteur
und Chef vom Dienst arbeitete, später
Geschäftsführer der Verlagstochter
Main Sign wurde. An seine 15 Jahre bei
der FR erinnert sich Frommert, trotz finanziell immer schwieriger werdender
Umstände im Verlag, bis heute gerne.
„Wir waren ein verschworener Haufen
und die Rundschau für mich stets eine
Herzensangelegenheit“, sagt er.
Da war noch alles gut.
Als Jan Ullrich 2006
wegen Dopings suspendiert wurde, war das auch
für Christian Frommert
ein schwerer Schlag
Als Wirtschaftsjournalist schrieb Frommert damals auch über die Telekom. Die
T-Aktie hatte den freien Fall angetreten,
das Unternehmen stand nicht im besten
Ruf, die Medien prügelten gerne mal
drauf ein. Frommert findet, dass er seinerzeit „hart, aber fair berichtet“ hat. Eine Einschätzung, die Philipp Schindera
offenbar teilte. Der heutige Leiter Corporate Communications der Deutschen
Telekom fragte Frommert, ob er einen
geeigneten Kandidaten für die Leitung
der Sponsoring-Kommunikation des
Konzerns wüsste. Er nannte einen Namen und hörte Schindera darauf sagen:
„Falsche Antwort.“ Die Telekom wollte
Frommert – und der sagte zu.
Nun war er unter anderem zuständig für
die Medienarbeit des T-Mobile Teams
um Radstar Jan Ullrich. Eine Position im
Rampenlicht. Als Ullrich 2006 einen Tag
vor Beginn der Tour de France wegen
Dopingverdachts suspendiert wurde,
war Christian Frommert auf sämtlichen
TV-Bildschirmen präsent und erklärte,
Von der Magersucht
gezeichnet
warum. Auch wenn der Anlass eher
freudlos war, so empfand der Sprecher
einen enormen Bedeutungszuwachs.
„Die Welt umschmeichelte mich“, beschrieb Frommert später die Zeit bei
der Telekom. Als die aus dem Radsport
ausstieg, schmiss auch Frommert hin
und machte sich als Kommunikationsberater selbstständig. Was er bald darauf feststellte: „Die Glotze lief weiter,
aber der Frommert war nicht mehr drin.“
Eine Situation, die ihm zusetzte. „Ich
denke, dass man mich nur mag, wenn
ich etwas dafür tue“, sagt er. Es sei sein
Anspruch zu funktionieren. Nach seiner
Kündigung im Sommer 2008 nahm er
sich eine Auszeit und reiste für einige
Wochen nach Südafrika. Es begann
„die Fahrt in den Winter meines Lebens“, wie er in seinem Buch „Dann iss
halt was!“ (siehe Kasten) schreibt. Aus
einem gesunden Menschen wurde bald
eine Gestalt aus Haut und Knochen. Als
äußerst hilfreich erwies sich dabei der
von ihm erfundene Frommert-Triathlon:
Radfahren, Laufen, Hungern. Als sein
Gewicht immer weniger und seine
Krankheit immer schlimmer wurde, litt
Frommert, aber er hörte nicht auf zu arbeiten. „Ich bin getrieben und definiere
mich über die Arbeit.“ Diese Unruhe habe ihm geholfen, sich nicht ganz zu verlieren. Wie viel er heute wiegt, weiß er
nicht. Das letzte Mal, dass er auf einer
Fotos: privat
Waage stand, ist fünf Jahre her. Damals
machte er eine Therapie am Chiemsee,
ein halbes Jahr nach seinem Zusammenbruch. 40,7 Kilo standen auf der
Anzeige.
Beruflich ist Frommert voll auf der Höhe. Die TSG Hoffenheim bewegt sich inzwischen in sportlich ruhigerem Fahrwasser, auch in der Image-Tabelle hat
sie gepunktet. Über die beschleunigte
Medienwelt denkt er viel nach, er erlebt
sie ja jeden Tag. „Printmedien brauchen
den Mut, ihre Stärken zu stärken und einen Kontrapunkt zu setzen gegen die
Hektik des Digitalen.“ Im Wettbewerb
um Aktualität ist Online nicht zu schlagen, also sollten Zeitungen sich nicht
damit aufhalten, Nachrichten zu transportieren, sondern sie einzuordnen.
Ob Frommert, der 15 Jahre lang leidenschaftlich Zeitung machte und sich auch
mit verlegerischen Fragen beschäftigte,
irgendwann dorthin zurückkehrt? „Printmedien und vor allem Zeitungen zu verändern, ihnen einen neuen Kick zu geben, das wäre eine spannende Herausforderung“, sagt er. Als Jobbewerbung
ist das jedoch nicht zu verstehen. Im
dauerbeschleunigten Fußball fühlt sich
Frommert wohl, dort kann er seine Kommunikationsfreude ausleben. Und hat
einen so fürsorglichen Chef, der ihm sogar das Schnitzel vom Teller nimmt.
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HALLO
Von Roland Karle,
Freier Journalist,
Neckarbischofsheim
er Weg zum Verleger war für
Linus Wittich nicht unbedingt
vorgezeichnet. Einiges sprach dafür,
dass er eine Karriere als Tante Emma macht. Denn zusammen
mit seiner Frau Edith betrieb
er Ende der 1950er Jahre im
Schwarzwald einen kleinen
Lebensmittelladen und eine
Milchbar. Um das lokale Geschäft anzukurbeln, wollte er Werbung machen und schaffte sich eine
gebrauchte Druckmaschine an. Darauf
wurden Angebotszettel vervielfältigt
und dann in der Umgebung verteilt.
D
Was als verkaufsunterstützende Maßnahme begann, entwickelte sich rasch
zu einer mehrseitigen, Anzeigen und
Foto: iStockphoto
örtliche Informationen umfassenden
Bürgerzeitung für Lützenhardt, das
Schwarzwalddorf, in dem die Wittichs
arbeiteten und lebten. Sie fanden Gefallen daran, aus amtlichen Bekanntmachungen, Vereinstexten und Reklame ein gedrucktes Ganzes zu machen.
Nach drei Jahren gaben die Wittichs
ihren Lebensmittelgeschäft an einen
Nachfolger und zogen nach Bendorf
am Rhein. Dort führten sie ihre Druckerei fort, expandierten schnell und landeten schließlich im rheinland-pfälzischen Höhr-Grenzhausen nahe Koblenz, wo 1977 ein neues Verlags- und
Druckhaus eröffnet wurde.
Dort hat die Verlagsgruppe Linus Wittich bis heute ihren Sitz. Und sie ist noch
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nicht um publizistisches Kleingemüse:
Laut Expertenschätzungen gibt es in
Deutschland rund 4000 werbeführende
Amtsblätter. Viele gibt es schon seit
Jahrzehnten. Ziel und Zweck ist, dass
die Kommunen auf diese Weise ihre Informationspflicht den Bürgern gegenüber erfüllen. Weil Verwaltungen jedoch
ihre Stärken im Verwalten und nicht im
Verlegen haben, kümmern sich privatwirtschaftliche Medienfirmen um Redaktion, Produktion und Vertrieb der
Amtsblätter und übernehmen das unternehmerische Risiko. Üblicherweise
verdienen die Verlage ihr Geld durch die
Werbevermarktung und einen kleineren
Teil über Abonnements.
Linus Wittich gründete den führenden
Anbieter für lokale Informationen
größer geworden, hat sich zum führenden Anbieter für lokale Informationen in
Zusammenarbeit mit Kommunen entwickelt. Das Unternehmen ist heute an 13
Standorten in elf Bundesländern vertreten, beschäftigt über 900 Mitarbeiter,
betreibt mehrere Druckereien und gibt
über tausend Zeitungen in einer Auflage
von 5,5 Millionen Exemplaren heraus.
Die Branche besteht aus
vielen großen Unbekannten
Dennoch kennen Linus Wittich nur Interessierte und Insider. Das hemmt keineswegs den Fortgang der Geschäfte,
ist jedoch bezeichnend für die Branche:
Sie besteht aus etlichen großen Unbekannten, die im Auftrag von und in Kooperation mit den Kommunen meist wöchentlich erscheinende Amtsblätter herausgeben. Eine Mediengattung, die im
Lokalen fest verankert ist und bei attraktiven Anzeigenpreisen eine hohe Haushaltsabdeckung erreicht. Dabei geht es
Während regionale Medien wie Zeitungen und Anzeigenblätter ordentlich
Werbung in eigener Sache machen, eigene Vermarktungsinitiativen starten
und Studien herausgeben, beschränkt
sich das Miteinander der Amtsblatt-Verlage überwiegend auf losen Austausch
und vereinzelte Kooperationen. In einem
gemeinsamen Verband, wie die Zeitungen im BDZV und die Anzeigenblätter im
BVDA, sind sie nicht organisiert. Und
Gattungsmarketing, das den Namen
verdient, betreiben die lokalen Spezialisten auch nicht.
Datenbank mit sämtlichen Amts- und
Mitteilungsblättern aufzubauen. Denn
die schöpfen ihre Chancen als Werbeträger längst nicht aus. „Gerade bei regional großflächigen Kampagnen, für
die mehrere Amtsblätter relevant sind,
sehe ich großes Potenzial.“
Dass größere regionale Werbungtreibende, zum Beispiel die großen Lebensmittelketten und andere Filialisten,
die kommunalen Hefte bislang kaum
beachten, liegt nicht nur am spröden
Charme, den so manches Amtsblatt
noch immer verströmt. Das größte Problem beschreibt Axel Ahlbrecht von der
Düsseldorfer Agentur Crossmedia:
„Werbung in Amtsblättern ist derzeit ein
mühseliges Geschäft, weil es kaum gut
handhabbare Planungstools gibt.“
Amtsblatt-Verlage auf einen Blick
(Auswahl)
Spezialisten fürs Lokale
Horst Dürrschnabel Druckerei und Verlag, Elchesheim-Illingen,
www.duerrschnabel.com
Fieguth-Amtsblätter – SÜWE-Vertrieb & Dienstleistungen,
Ludwigshafen, www.fieguth-verlag.de
Krieger-Verlag, Blaufelden, www.krieger-verlag.de
Krupp Verlag, Sinzig, www.kruppverlag.de
Nussbaum Medien Weil der Stadt, www.nussbaummedien.de
Nussbaum Medien St. Leon-Rot, www.nussbaum-slr.de
Primo-Verlag Geiger, Horb am Neckar, www.primoinfo.de
Rautenberg Media & Print Verlag, Troisdorf, www.rmp.de
Verlagsgruppe Linus Wittich, Höhr-Grenzhausen, www.wittich.de
Walter Medien, Brackenheim, www.walter.de
Mediaagenturen nutzen oft
nur zentrale Datenbanken
Mediaagenturen, die in vielen Fällen die
Werbeplanung und -platzierung für Markenartikler und große Händler übernehmen, fühlen sich selbst unter Zeit- und
Auch deshalb fehlt es den Amts- und
Mitteilungsblättern an Strahlkraft. Hinzukommt, dass sie oft von den Kommunen herausgegeben werden und dadurch die redaktionelle Gestaltungsfreiheit eingeengt ist. Doch es gibt genügend Beispiele, dass die Zusammenarbeit mit Verwaltungen zu publizistisch
durchaus ansehnlichen Ergebnissen
führt. Der Trend ist deutlich: Die „lokalen
Blättchen“ werden moderner, farbiger,
attraktiver. „Uns sind viele qualitativ
hochwertige Amtsblätter aufgefallen“,
sagt Matthias Wasmuth, Inhaber des
Mediaservice Wasmuth, der den Markt
gerade durchpflügt (siehe Interview).
Sein Ziel ist, eine möglichst lückenlose
Kostendruck und wollen umständliches
Suchen nach Werbeträgern vermeiden.
Sie sind es gewohnt, sich aus zentralen
Datenbanken zu informieren und dann
ohne Verzögerung buchen zu können.
Lokale Blätter werden immer
bunter und attraktiver
Foto: Wittich Verlage KG, Roland Karle
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Zeitungen und Anzeigenblätter sind in
dieser Hinsicht den Amtsblättern um
Jahre voraus.
Dabei wird leicht übersehen, dass
„Amtsblätter deren beider Stärken vereinen: Sie haben eine intensive LeserBlatt-Bindung auf Grund ihrer Inhalte
und genießen eine ähnlich hohe Glaubwürdigkeit wie die Zeitungen“, sagt
Andreas Tews, Geschäftsführer von
Nussbaum Medien St. Leon-Rot. Das
Unternehmen aus der Rhein-NeckarRegion verlegt derzeit Amts- und private Mitteilungsblätter in mehr als 50
Städten und Gemeinden in einer wöchentlichen Auflage von über 220.000
Exemplaren. Das gesamte Nussbaum-Netzwerk inklusive dem größten
Einzelbetrieb in Weil der Stadt kommt
sogar auf eine Million Exemplare in gut
300 Kommunen und ist Marktführer in
Baden-Württemberg.
Stolz auf eine hohe
Haushaltsabdeckung
„Unsere größte Stärke ist die lokale
Aussteuerung. Überall dort, wo das
Geschäft ins Lokale oder sogar Sublokale geht, können Amtsblätter punkten“, betont Tews. Ähnlich wie Anzeigenblätter bieten sie eine hohe Haushaltsabdeckung. Die „liegt bei unseren
„Da ist noch Platz im Markt“
Der Hamburger
Mediaservice
Wasmuth hat eine
Datenbank für Amtsblätter aufgebaut.
Geschäftsführer
Matthias Wasmuth
erklärt, was er damit
bezweckt und warum
das der Gattung einen
Schub geben kann.
Amtsblätter gelten nicht
als sehr aufregend, sind
aber im Lokalen gut vertreten und werden stark
genutzt. Warum spielen
sie in der Mediaplanung
bislang eine ziemlich abseitige Rolle?
Matthias Wasmuth: Für
die regionale und lokale
Planung der Mediaagenturen ist es notwendig,
alle in Betracht kommenden
Medien zu kennen. Dazu
zählt auch die räumliche
Beschreibung der
entsprechenden Werbeträger. Diese Informationen
sind für Amtsblätter bisher
nur sehr zeitaufwändig
durch Einzelrecherche zu
bekommen. Der Zeit- und
Kosteneinsatz steht somit
bisher in keinem Verhältnis
zur Verbesserung des
Planungsergebnisses für
den jeweiligen Kunden.
Richtig ist auch: Manche
Verlage haben in ihr
Produkt investiert und
drucken nun beispielsweise durchgängig
farbig. Erkennen Sie
einen Trend zur Modernisierung bei den
Amtsblattverlagen?
Im Rahmen unseres Projektes haben wir viele qualitativ hochwertige Amtsblätter
gesehen. Aktuell planen wir
in unserer Datenbank auch
Leseproben oder komplette
Exemplare zu hinterlegen,
so dass sich die Agentur
und der Werbungtreibende
direkt ein Bild von der Qualität machen können.
Durch ihre Lokalität und
günstigen Anzeigenpreise können Amtsblätter gerade für
Werbungtreibende vor
Ort durchaus attraktiv
sein. Wo liegt das
größte Potenzial für
das Segment im
Werbemarkt?
Das sehen wir bei regional
großflächigeren Kampagnen, wo mehrere Amtsblätter relevant sind. Die Recherche ist hier durch unsere Datenbank extrem einfach geworden und so rücken die Amtsblätter für alle Werbungtreibenden in
den Fokus.
Sie sprechen von der
bundesweiten Datenbank der Amtsblätter,
die Sie aufgebaut haben.
Wie lückenlos ist das
Angebot?
Wir haben aktuell rund 80
bis 90 Prozent aller
Amtsblätter mit ihren
Anzeigenpreisen und
Verbreitungsdaten
hinterlegt und
abonnierten Amtsblättern bei rund 50
bis 70 Prozent – und damit in der Regel
doppelt so hoch als jene der Tageszeitungen.“ Auch Mediaexperten erkennen die Vorzüge der kommunalen Publikationen. „Man kann sehr zielgenau
mit kleineren Auflagen ohne Streuverlust planen. Und das in einem seriösen
Umfeld mit relevanter örtlicher Berichterstattung“, erklärt Matthias Wasmuth.
Inhaltlich grenzen sie sich von Tageszeitungen und regionalen Wochenzeitungen ab, indem sie sich ganz eindeutig auf das Lokale fokussieren. Öffentliche Bekanntmachungen und Ausschreibungen, Schul-, Kirchen- und
Vereinsnachrichten sowie Werbung
vervollständigen die
Datenbank bis Ende
2015. Unser Ziel sind 100
Prozent. Viele Verlage
haben die Chancen einer
bundesweiten Datenbank
erkannt und unterstützen
das Projekt seit Beginn
aktiv. Das sind
insbesondere RMP
Rautenberg Media &
Print, Heimatblatt
Brandenburg, Nussbaum
Medien St. Leon-Rot,
SÜWE/Fieguth, Horst
Dürrschnabel und die
komplette Linus WittichGruppe.
Und wie steht es um
das Interesse von Werbungtreibenden und
Mediaagenturen?
Deren Interesse ist sehr
groß. Die Datenbank ermöglicht eine sekundenschnelle Recherche und
bietet detaillierte Einblicke
in Anzeigenpreise, Rabatte,
DU-Angaben, Adressen.
Foto: privat
aus der Nachbarschaft transportieren
die „Blättchen“, wie sie oft genannt
werden. Vieles von dem, was in der Lokalausgabe der Zeitung keinen Platz
oder keine Beachtung findet.
Bürgerjournalismus wird
groß geschrieben
Die Amtsblätter stehen wie kaum ein
anderes Medium für das Konzept des
Bürgerjournalismus. Hunderte von
Pressewarten, Schriftführern und sonstige mit der Öffentlichkeitsarbeit für Vereine und Institutionen beauftragte Personen liefern Inhalte. Dadurch ist ein
steter Strom an aktueller Information
Was hat Sie überhaupt
bewogen, eine solche
Datenbank aufzubauen?
Unser Ziel ist es, dem
Werbemarkt alle regionalen Medien mit ihren Verbreitungsgebieten und Anzeigenpreisen anzubieten.
Bisher hatten wir schon
Informationen über Tageszeitungen, Anzeigenblätter
und Hörfunk. In diesem
Jahr folgen neben den
Amtsblättern noch Zeitschriften wie Stadtillustrierte und IHK-Magazine
sowie Online-Angebote.
Was versprechen Sie
sich davon?
Zukünftig wird es möglich
sein, auf Knopfdruck einen
Überblick über alle Medien
in der Region zu erhalten
inklusive der relevanten
Anzeigenkosten. Einige
Mediaagenturen haben eigene Planungstools und
können diese nun mit unserer Datenbank befüllen.
Andere nutzen die Daten
direkt in unseren Online-Mediatools Planbasix
und Tarifkiste.
Können Amtsblätter,
auch dank besserer Datenbasis und Planbarkeit, wie sie Ihre entwickelten Onlineplattformen bieten, den regionalen Zeitungen und
Anzeigenblättern
Marktanteile und Umsatz wegnehmen?
Wir gehen davon aus,
dass Amtsblätter sehr gut
einen Mediaplan ergänzen
können. Zeitungen und
Anzeigenblätter sind gut
aufgestellt, aber wir sehen
bei Werbungtreibenden einen Trend, das zu bewerbende Gebiet immer besser und genauer mit Anzeigen abzudecken. Da ist
definitiv Platz für Amtsblätter.
Das Interview führte Roland Karle
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VERTRIEB
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MNE
U
L
O
K
Mehr Regionales wird gewünscht
Themen, über die in Anzeigenblättern mehr berichtet werden soll
Thema
Nennungen
Berichte über Probleme in der Region
45
Lokalnachrichten
35
Veranstaltungshinweise
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Hintergrundberichte, Reportagen aus der Region
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Informationen zur Lokalpolitik
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Die Rückeroberung
der Reichweite
Angaben in Prozent
Quelle: IfD Allensbach / Studie „Lokale Welten“ (BVDA)
garantiert, wenngleich die Qualitätsunterschiede beträchtlich sein können.
Neu bei Nussbaum:
Eine Bürger-App
Der Bedeutung der Amts- und Mitteilungsblätter als lokales Medium tut das
keinen Abbruch, wie eine Studie des
Instituts für Demoskopie (IfD) Allensbach bestätigt (siehe Tabelle). Demnach zählen sie
neben der regionalen Tageszeitung und dem Anzeigenblatt zu den drei
wichtigsten Informationsquellen, wenn es um Geschehnisse aus der Umgebung geht. Crossmedia-Manager­ Ahlbrecht
wertschätzt die hohe Akzeptanz der Amtsblätter.
„Das Medium selbst ist, je
nach Standort und verlegerischer Präsenz, im Lokalen stark und wird gelesen. Für den Handwerker
um die Ecke, örtliche Immobilien, Gewerbe und
Handel vor Ort können
sich Anzeigen – meist zu
günstigen Tausend-Kontakt-Preisen – durchaus
auszahlen.“ Bald soll ja noch
mehr gehen, wenn Wasmuths
Datenbank die großen Werbungtreibenden dazu animiert, auch mal in Bad
Dürkheim aktuell, den Blieskasteler
Nachrichten oder der Wieslocher Woche zu inserieren. Print ist die bevorzugte Plattform und wirtschaftliche Basis der Amtsblätter und ihrer Verlage.
Aber auch sie müssen sich zunehmend
mit dem digitalen Wandel beschäftigen. Nussbaum Medien St. Leon-Rot
zum Beispiel betreibt seit einigen Jahren das Portal Lokalmatador.de, das inhaltlich ausgebaut und auf weitere Gebiete übertragen werden soll. Zudem
führt der Verlag eine „Bürger App“ ein.
Sie ist nicht nur aktueller, sondern liefert Abonnenten, die bislang ausschließlich auf ihre Lokalausgabe zugreifen konnten, sämtliche Informationen aus der Region.
Was wann und wo in der Timeline von Facebook erscheint, darauf haben Verlage
wenig Einfluss – außer sie zahlen kräftig. Die gute alte E-Mail hingegen landet
punktgenau auf dem Bildschirm der Abonnenten. Ein Plädoyer für den Newsletter.
Von Patrick Priesmann, SZV, Stuttgart
A
ls Ray Tomlinson 1972 die
sind viele von ihnen auf die Reichweite
Sie gegenseitige Kommunikation in
erste E-Mail verschickte, war
des größten sozialen Netzwerks ange-
Echtzeit, noch sind sie sekundenaktu-
er sich der Tragweite seiner
wiesen. Denn Reichweite bedeutet
ell. Vielleicht suchen die Nutzer aber
Handlung nicht bewusst. Noch Jahr-
Seitenaufrufe und Seitenaufrufe be-
nach etwas völlig anderem. Vielleicht
zehnte später sollte seine Erfindung
deuten
ausgespielte
legen eben jene mehr Wert auf einen
der meist genutzte Dienst im Internet
Werbung. Kappt Facebook die Reich-
täglichen Überblick der wichtigsten
sein. Selbst die großen Spam-Wellen
weite, verlieren die Verlage Geld.
Nachrichten, den sie zu einem festen
hat sie überstanden. Nun könnte sie
Viel Geld.
Rhythmus erhalten. Ganz so, wie man
Geld
durch
für Verlage eine attraktive Alternative
Crossmediale Konzepte
zu Facebook werden.
es sonst nur von klassischen Medien,
Auf der Suche nach Alternativen ha-
wie der Tageszeitung oder den
ben die Online-Redaktionen nun die
Acht-Uhr-Nachrichten im Fernsehen
Denn dessen Algorithmus bestimmt
E-Mail – besser gesagt, den täglichen
kennt. Wenn dem so ist, dann ist es für
zunehmend darüber, was seine Nutzer
E-Mail-Newsletter – wiederentdeckt.
die Verlage an der Zeit umzudenken.
zu sehen bekommen und was nicht.
Und der Erfolg scheint ihnen Recht zu
Anstelle von Social-Media Buttons
Laut einem Experiment der Washing-
geben. So erreichen das Handelsblatt,
sollten sie Newsletter Buttons in ihre
ton Post sind heute nahezu die Hälfte
die Süddeutsche, Bild oder die Zeit
Webseiten einbauen. Sie sollten alles
aller Beiträge, die in der Facebook
mit ihren Newslettern jeweils eine stol-
daran setzen, ihren Nutzern die gute
Timeline auftauchen, älter als ein Tag.
ze sechsstellige Anzahl an Abonnen-
alte E-Mail schmackhaft zu machen.
Die meisten aktuellen Beiträge er-
ten. Freiwillig wohlgemeint, denn kein
Ein Blick über den großen Teich zeigt,
scheinen überhaupt nicht auf dem
Leser wird zu einem Newsletter-Abon-
welches Potenzial hier schlummert.
Bildschirm.
nement gezwungen.
Dort erreicht der tägliche Newsletter
sollen Werbung ankurbeln
Das Werbegeschäft soll durch Themenwelt- und crossmediale Konzepte
angekurbelt werden. Auch die medienspezifische IT-Kompetenz birgt
Wachstumschancen. Ob CRM- oder
Content-Management-System oder die
Bürger-App: Auf Know-how und Software könnten lizenziert auch andere
Verlage und Unternehmen zugreifen.
Nussbaum-Geschäf tsführer
Tews
blickt zuversichtlich nach vorne: „Wir
sehen noch viel Potenzial im lokal-regionalen Markt, und zwar medienübergreifend.“
Wollen
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Unternehmen
mehr Reichweite, müssen sie dafür
zahlen. Das gilt auch für Verlage.
der US-amerikanischen NachrichDas Erstaunliche ist, dass E-Mail-
ten-Webseite The Daily Beast mittler-
Newsletter das genaue Gegenteil von
weile mehr als 600.000 klickende
Die jedoch trifft es besonders hart. Mit
dem sind, was heutzutage vom Inter-
Abonnenten. Kostenlos.
ihren werbefinanzierten Webseiten
net erwartet wird. Weder ermöglichen
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R E DA K T I O N
R E DA K T I O N
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RECHTS
§RATH.28
Digitaler Kiosk
erlage nutzen die Artikel ihrer Printausgaben auch für
ihre eigenen Online-Portale, für
die eigene Online-Archivierung,
für den E-Paper-Versand der Hefte wie für die Lizenzierung in den
Intranet-Portalen Dritter. Nun gibt
es auch Online-Nutzer, die nicht
an dem gesamten Heft, sondern
nur an einzelnen Artikeln Interesse haben. Dieses befriedigen von
den Verlagen oder von Dritten betriebene digitale Kioske, in denen
die Interessenten die Beiträge
(Text und/oder Bild) in der Regel
entgeltlich abrufen können.
V
Rechtsanwalt
Dr. Michael RathGlawatz, Hamburg
In unserer mehr­tei­ligen Serie schreibt
der Medienrechts­
experte Rath-Glawatz
über knifflige
Rechtsfragen aus der
ver­legerischen Praxis
Auch mit Blick auf die digitalen
Kioske ist es so, dass ein Verlag
Artikel (Content) nur dann an
Dritte weiterlizenzieren kann (und
darf), wenn dem Verlag dafür die
notwendigen Rechte ausdrücklich oder stillschweigend eingeräumt worden sind.
1. Angestellte Redakteure:
Hier gilt § 12 des MTV Redakteure
Zeitschriften. Die Verwendung
von Print-Beiträgen der angestellten Redakteure in verlagseigenen Online-Portalen/Archiven
und in den E-Paper-Ausgaben ist
honorarfrei zulässig. Gem. § 12
Wenn einzelne Beiträge von
Verlagen ins Internet eingestellt
werden oder im digitalen Kiosk
vertrieben werden, ist die
Rechte-Situation nicht immer
klar. Sollte sie aber sein, sonst
drohen Nachforderungen.
Nr. 3 MTV ist der Verlag zudem
befugt, die Artikel der Redakteure
an Dritte, auch im Ausland, weiter
zu lizenzieren. Diese Weiterlizenzierung ist unter den Bedingungen
des § 12 Nr. 7 MTV vergütungspflichtig. Unter Beachtung der
vorgenannten Bedingungen dürfen die Verlage damit die Printbeiträge ihrer angestellten Redakteure auch an von Dritten betriebene digitale Kioske weiterlizenzieren.
Heute ist jedem freien Mitarbeiter
bekannt, dass seine für ein Printmedium verfassten Beiträge auch
in dem Online-Portal des Verlages
und/oder in E-Paper-Ausgaben
verwendet sowie online archiviert
werden. Deshalb wird in Anwendung der Zweckübertragungstheorie davon auszugehen sein, dass
für die vorgenannten Nutzungen
dem Verlag die erforderlichen
Rechte zumindest stillschweigend
(mit-) eingeräumt worden sind.
2. Freie Mitarbeiter:
Es ist zunächst zu prüfen, ob und
welche Rechtevereinbarungen der
Verlag mit seinen freien Mitarbeitern abgeschlossen hat. Hat der
freie Mitarbeiter nur die Nutzung
für die Printausgabe übertragen,
so ist die Einstellung des Artikels
in einen digitalen Kiosk unzulässig. Ist in der Rechtevereinbarung
mit dem freien Mitarbeiter keine
ausdrückliche Regelung enthalten, die die Weiterlizenzierung der
Artikel an Dritte für einen digitalen
Kiosk regelt, oder fehlt es überhaupt an schriftlichen Vereinbarungen, so bleibt die Frage, ob
man einfach von einer stillschweigenden Rechteeinräumung ausgehen kann.
Ob diese zusätzliche Rechteinräumung dann auch honorarfrei
erfolgt ist, oder bei Nutzung der
Rechte an den freien Mitarbeiter
eine Zusatzvergütung zu zahlen
ist, muss gesondert entschieden
werden. Maßgebend ist insoweit
die Höhe des vereinbarten Honorars. Bewegt sich dies im Rahmen
dessen, was üblicherweise nur für
die Printrechte bezahlt wird, hat
der freie Mitarbeiter Anspruch auf
Nachzahlungen, wenn seine Beiträge auch weitergehend online
genutzt werden.
Dass Verlage dazu übergehen,
die Artikel aus ihren Printprodukten in digitale Kioske einzustellen
(einstellen zu lassen), ist in beFotos: Bilderbox, Privat
stimmten Fachzeitschriftsegmenten schon länger Praxis. In diesen
Bereichen kann dann auch von einer stillschweigenden Einwilligung
des freien Mitarbeiters ausgegangen werden, dass der Verlag dessen Beitrag auch in einen digitalen
Kiosk einstellen darf. Gleichwohl
bleibt die Frage zu klären, wie der
freie Mitarbeiter zu honorieren ist.
Ist dagegen die geschäftsmäßige
Vermarktung von Printartikeln aus
Fachzeitschriften über digitale Kioske in dem jeweiligen Fachzeitschriftensegment noch nicht allgemein üblich, so kann man
(noch) nicht von einer stillschweigenden Rechteeinräumung der
freien Mitarbeiter mit Blick auf
diese zusätzliche, weitergehende
Nutzungsart ausgehen.
Folglich benötigt man von den
freien Mitarbeitern, sofern nicht
bereits in den schriftlichen Vereinbarungen legitimierende Bestimmungen enthalten sind, eine ausdrückliche Einwilligung (incl. der
Klärung der Honorierung).
3. Rechtemanagement:
Wenn sich ein Verlag entschließt,
den Printcontent automatisch
auch in digitale Kioske einzustellen, so bedeutet dies, dass damit
ein professionelles Rechtemanagement einhergehen muss. So
soll verhindert werden, dass im
Einzelfall die notwendigen Rechte fehlen und die Rechteinhaber
neben Unterlassungsforderungen ihr Honorar im Wege der
Lizenz­
a nalogie einfordern, das
dann regelmäßig deutlich über
dem liegen dürfte, was zu zahlen
wäre, wenn man vorher die Rechte erworben hätte.
Die erforderliche Sicherheit lässt
sich beispielsweise in der Weise
gewährleisten, indem das Hono­
rarbuchhaltungsprogramm so
programmiert wird, dass eine
Auszahlung des Honorars nur
dann erfolgen kann, wenn in dem
System hinterlegt ist, dass mit
dem freien Mitarbeiter eine entsprechende Rechtevereinbarung
abgeschlossen worden ist.
4. Fotografen, Bildagenturen:
Bezogen auf Bildveröffentlichungen, die von den Verlagen in
ihren Printobjekten abgedruckt
worden sind, und die ebenfalls
zusammen mit den Artikeln,
oder aber auch getrennt, in digitale Kioske eingestellt werden
sollen, gelten die vorgenannten
Bedingungen. Auch hier ist
zwischen den Fotos von angestellten und freien Fotografen zu
unterscheiden.
Wurden die Fotos von Bildagenturen bezogen, so ist ohnehin zu klären, welche Rechte zu
welchen Bedingungen erworben
worden sind. Ob also auch die
Einstellung der Fotos in einen
eigenen und/oder fremden digitalen Kiosk zulässig ist oder nicht
und wie dies zu vergüten wäre.
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In Sachen Produktivität können Ältere gut mit den Jungen mithalten
Routine
schlägt
Jugend
Die Jungen sind die Fitten. Die
Älteren sind langsam, oft krank
und kommen mit der modernen
Technik nicht zurecht. Wohl
dem Arbeitgeber, der die Wahl
hat – er wird jüngere Bewerber
bevorzugen. Und damit
womöglich einen großen
Fehler machen. Denn
entgegen der
landläufigen Meinung
können die Älteren
mit den Jüngeren
sehr wohl mithalten –
in fast jeder
Beziehung.
us Sicht eines Teenagers sind
30-Jährige alt. Der 30 Jahre alte
Berufsanfänger, der erst vor wenigen
Jahren das Studium beendet hat, glaubt
oft, die Welt stehe ihm offen. Ihm ganz
allein. Er – es kann auch eine sie sein –
ist deshalb komplett verwundert, dass
die Korrespondentenstelle in Wien dennoch nicht an ihn, sondern an den Kollegen geht. Warum er das nicht versteht? Weil der andere doch schon 50
ist. Der bringt es doch nicht. Mehr Erklärung braucht es doch nicht, oder?
A
Übrigens: Diese Sicht der Dinge wiederholt sich alle paar
Jahre. Der jetzt 50-Jährige, der nun die
Korrespondentenstelle
antritt, hat
vermutlich
vor 20 Jahren gedacht
wie der heute 30-Jährige. Vielleicht
erinnert er sich
noch daran und kämpft
nun mit einem unguten Gefühl,
weil ihm bewusst wird, wie
arrogant er damals durch die
Redaktionsräume stiefelte.
Foto: Shutterstock – Composing: Nina Bauer
Von Doris Trapmann,
Freie Journalistin,
Stuttgart
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Und dann kamen die 90er Jahre. Damals herrschte der Jugendwahn. Die
Chefs – Verleger oder Chefredakteure –
übersprangen eine Generation, manchmal auch zwei, und hievten die Jungen
auf die Posten der mittleren Ebene.
Plötzlich hatten viele junge Frauen und
vor allem Männer das Sagen, plötzlich
bestimmten viele junge Frauen und vor
allem Männer um die 30 über den Arbeitstag der Erfahreneren. Die wiederum staunten nicht schlecht. Nicht, dass
nun alles besser lief. Mitnichten. Aber es
wurde kein Wort darüber verloren. Wer
wollte in jenen Jahren der Jugend die
Kompetenz absprechen oder auch nur
mangelnde Erfahrung bescheinigen?
Allerdings: Es war nicht nur bei Verlagen
und in den Medien so. Der Jugendwahn
grassierte überall. Jedenfalls da, wo
nicht generell Stellen abgebaut wurden.
Dort blieben die Alten und die Chefs
klagten ihr Leid, weil sie die Abteilungen
nicht verjüngen durften. Schuld war der
Gesetzgeber, der sozialverträglichen
Arbeitsplatzabbau vorschrieb.
Und heute? Die Situation beginnt sich
zu wandeln. Es wachsen nicht mehr so
viele Junge nach. Ob berechtigt oder
nicht – Unternehmen machen sich inzwischen Gedanken darüber, ob sie
auch in Zukunft noch genügend Fachkräfte bekommen. Wobei es nicht alleine um die Fachkräfte geht. Sondern
auch um die Einstellung zur Arbeit, um
die Frustrationstoleranz und das Engagement. Und sie fragen sich: Sind die
heute 30-Jährigen letztendlich so einsatzfähig, wie es ihre Eltern noch waren.
Oder sind diese jungen Leute heute
schon in dem Zustand, der vor 20 Jah-
„Es geht immer um beide – den
Betrieb und das Individuum“
D
Alexander
Frevel...
...ist Forscher und
Berater im Themenfeld
demografischer Wandel mit den Schwerpunkten Förderung
der Arbeitsbewältigungsfähigkeit (Work
Ability), alternsgerechte Berufsverläufe,
demografierobuste
Personalpolitik.
www.beratungarbeitsfaehigkeit.de
er Sozialökonom
Alexander Frevel sieht
im demografischen Wandel
eine Chance auf bessere
Arbeitsbedingungen. Weit
mehr als bisher nehmen die
Betriebe nun die Belegschaften in den Blick. Es
gehe darum, die Arbeitsfähigkeit zu erhalten. Wobei
Frevel Arbeitsfähigkeit als
das Verhältnis zwischen individueller Kapazität und
Arbeitsanforderungen beschreibt.
Junge Leute sind die
Leistungsträger. Und
die Älteren werden
durchgeschleppt?
Frevel: So etwa war die
Vorstellung in den
90er-Jahren. Olympiareif
sollten die Belegschaften
werden. Gut gefahren sind
die Unternehmen damit
nicht. Denn sie haben sich
nicht vergegenwärtigt, was
Arbeitsfähigkeit heißt.
Und was bedeutet es
genau?
Arbeitsfähigkeit beschreibt
das Verhältnis zwischen der
individuellen Kapazität und
den Arbeitsanforderungen.
Dabei spielen körperliche,
geistige, seelische und soziale Faktoren eine Rolle, und
auf der anderen Seite geht
es um Arbeitszeit, Arbeitsmenge und Erholungsmöglichkeiten. Wenn all diese
Faktoren zusammenpassen,
spricht man von stabiler Arbeitsfähigkeit. Das hat erstmal nichts mit dem Alter zu
tun. Generell wird in jedem
Alter gefragt, aber bei gesundheitlichen Einschrän-
kungen erst recht, was diese
Person noch tun kann. Es
geht darum, die Aufgabe zu
finden, die zu dieser Person
passt – was unter anderem
der Qualifikation, den körperlichen Fähigkeiten, der
Motivation entgegenkommt.
Aber je älter wir werden,
desto weniger können
wir körperlich leisten.
Ein 80-Jähriger kann
weniger fest zupacken
als ein 30-Jähriger.
Ohne Frage ist das so. Das
biologische System Mensch
ist dem Verfall anheimgestellt. Unsere vollständige
biologische Funktionalität
erreichen wir zwischen dem
20. und dem 30. Lebensjahr. Danach lassen wir
nach. Aber wie und wie
schnell wir nachlassen, ist
ren den Älteren nachgesagt wurde:
dass sie oft krank sind, physisch und
schon gar psychisch nicht belastbar,
dass sie auf Veränderungen unwillig reagieren, dass sie am liebsten wollen,
dass alles so bleibt wie es ist. Dass sie
sich nicht weiterbilden wollen.
Die Situation beginnt
sich zu wandeln:
Plötzlich werden die
Eigenschaften der
Älteren wieder mehr
geschätzt
Wobei gerade in Sachen Weiterbildung
die Älteren (und die Gewerkschaften) ihren Teil dazu beigetragen haben, dass
Beschäftigten jenseits der 45 das Unwilligkeitsimage eintätowiert wurde. Denn
damals wurden Tarifverträge abgeschlossen, die besagten, dass älteren
Beschäftigten jenseits der 50 keine Weiterbildungsmaßnahmen mehr zugemutet werden dürften. Wer hat sich wohl
mehr über solche Wohltaten gefreut –
die Unternehmen, die Beschäftigten
oder die Politik?
sehr individuell: Das hängt
vom Lebensstil ab, ob wir
ausreichend schlafen, uns
anständig ernähren und
auch davon, ob wir uns
wohlfühlen, ob wir zufrieden sind. Vom 35./40. Lebensjahr an schwächeln
unsere Sinnesorgane: Hören, Sehen, Schmecken,
Riechen – das wird
schlechter. Dagegen können wir auch gar nichts tun
– außer Hilfsmittel verwenden wie Hörgeräte und Brillen. Die Jungen sind somit
den Älteren bei der Körperkraft überlegen. Aber auf
die Kraft kommt es oft nicht
alleine an. Denn die Älteren
haben andere Vorzüge, die
die Jungen meist nicht vorweisen können – nämlich
Überblickswissen, Erfahrung, Gelassenheit, die Fähigkeit, Probleme zu lösen.
Mit zunehmendem Alter
wachsen auch die Netzwerke der Älteren. Das alles
Fotos: iStockphoto, privat
sind Pfunde, mit denen die
Älteren gegenüber den
Jüngeren wuchern können.
Muss das Unternehmen
umdenken, wenn es
Ältere beschäftigt?
Der Betrieb muss sich die
Arbeitsplätze anschauen
und sich die Frage stellen:
Welche Tätigkeiten kann
ich Älteren anbieten? Für
welche Tätigkeiten braucht
man viel Wissen, viel Erfahrung, aber wenig
körperliche Kraft. Zudem:
Zeitdruck ist auch ein
Killer für Ältere, ebenso
Schichtarbeit. Das gilt
aber nur für die meisten,
nicht für alle. Aber: Wenn
ich die Arbeit anders aufteile, dann darf die neue
Aufgabe nicht mit einem
Statusverlust verbunden
sein. Sonst geht das
schief. Es geht auch nicht
um Schonarbeitsplätze –
was übrigens immer ein
Statusverlust ist. Es geht
darum, den Zuschnitt der
Stellen so zu verändern,
dass sie den jeweiligen
Fähigkeiten und Kompetenzen der Beschäftigten
entsprechen. Und noch
was: Nicht für alle Älteren
steht die Bezahlung über
allem. Es gibt durchaus
Männer wie Frauen, die
wollen lieber weniger verdienen, dafür aber zum
Beispiel nicht mehr an den
Wochenenden arbeiten. In
den Betrieben muss es
mehr Wahlmöglichkeiten
geben, denn je älter wir
werden, desto unterschiedlicher werden wir.
Diese Unterschiedlichkeit
unterscheidet die Älteren
von den Jüngeren. Ein
60-Jähriger ist nicht wie
der andere 60-Jährige.
Die Spannungsbreite –
auch was die körperliche
Fitness angeht – ist
enorm.
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Mit großzügigen
Altersteilzeitregelungen
wurden Arbeitnehmer
nachhause geschickt
Vor allem der Politik kam das schlechte
Image der Älteren zupass. Denn sie hatte ein Problem: Viele junge Leute, die einen Arbeitsplatz suchten, aber eine
schleppende Konjunktur. Deshalb sollten die Alten gehen – und wurden mit
großzügigen Altersteilzeitregelungen
nach Hause gelockt. Wer es wissen
wollte, wusste es schon damals: Diese
Regelungen kommen teuer – und werden letztendlich von den Jungen getragen, die aber vor lauter Stuhlsägen keine Zeit hatten, darüber nachzudenken,
wer am Schluss bezahlt.
Betriebe fangen an,
sich Sorgen zu machen
Wie gesagt, inzwischen sieht die Lage
ein bisschen anders aus. Der eine oder
andere Betrieb macht sich Sorgen. Darüber, ob er auch noch in Zukunft die
Leute bekommt, die die Leserschaft und
den Gewinn mehren. Jetzt ist nicht mehr
die Rede von den langsamen, wenig engagierten Älteren, die dauernd krank
sind. Routine schlägt Jugend – ist jetzt
immer öfter zu hören. Gemeint ist damit:
Wir unterschätzen die Leistungsfähig-
Frühverrentung wegen
psychischer Krankheiten
nimmt zu. Woran liegt das?
Es gibt keine Branche, in der die Beschäftigten nicht über Arbeitsdruck
klagen. Ich denke, es wurde in den
vergangenen Jahren zu viel Personal
abgebaut, der Technikeinsatz hat
nicht zu Entlastung geführt, sondern
es wurde noch mehr Arbeit draufgesattelt. Die Beschäftigten müssen in
der gleichen Zeit deutlich mehr
schaffen. Das ist in der Wirtschaft
wie im öffentlichen Dienst so. In immer mehr Branchen stapeln sich die
Überlastungsanzeigen – nicht nur in
den Kliniken, sondern auch im Stahlwerk und bei der Feuerwehr. Hinzu
kommt: Die Beschäftigten sind gegenüber Arbeitsdruck sensibler ge-
worden und die Ärzte diagnostizieren
häufiger, dass die Psyche betroffen
ist, wenn der Beschäftigte über Rückenprobleme klagt. Nicht umsonst
sagen wir, uns ist was oder wer ins
Kreuz gesprungen oder uns sitze
was oder wer im Nacken.
Ist hier vor allem der Betrieb
gefragt?
Es geht immer um beide – den Betrieb und das Individuum. Der Beschäftigte muss sich fit halten, darf
keinen Raubbau an seinem Körper
betreiben, er muss sich motivieren.
Das Unternehmen wiederum muss
für gute Arbeitsbedingungen sorgen.
Meiner Erfahrung nach sind Jahresgespräche deshalb Gold wert: Hier
müssen Fragen zur Sprache kom-
men wie: Was kannst Du? Was willst
Du? Was brauchst Du? Was hält dich
gesund? Worauf bist du stolz? Was
belastet Dich? Kannst und willst du
diese Tätigkeit bis zur Rente ausüben? Was müsste verbessert werden? Eigentlich stellen die Antworten
auf diese Fragen eine Gefährdungsbeurteilung dar: Es geht um Belastung, Beanspruchung und Verbesserungsmöglichkeiten. Wenn ich alle
meine, sagen wir mal 20 Mitarbeiter,
so befrage, habe ich einen klaren
Fahrplan. Leider sind solche Mitarbeitergespräche immer noch selten.
Und leider machen sich deshalb
auch nur wenige Mitarbeiter Gedanken darüber, wie es ihnen bei der Arbeit geht und was sie genau verbessert haben möchten.
keit der älteren Beschäftigten. Der Hintergrund: Zwei Ökonomen haben Daten
eines Lastwagen-Werks von Mercedes
aus den Jahren 2003 bis 2006 ausgewertet. Dabei verglichen sie die Produktivität von jüngeren und älteren Mitarbeitern miteinander. Sie hatten Zugriff auf
die Statistiken der internen Qualitätskontrolle von Mercedes. Hier werden
Fehler erfasst und nach ihrer Schwere
eingestuft. Das Ergebnis: Die auch bei
Arbeitsökonomen verbreitete Meinung,
ältere Beschäftigte seien weniger leistungsfähig, trifft nicht zu. „Diese Ansicht
können wir nicht bestätigen“, schreiben
Axel Börsch-Supan und Matthias Weiss
in ihrer Studie. Die durchschnittlichen
Fehlerzahlen gehe vielmehr mit steigendem Alter zurück – und zwar stetig.
Den Grund dafür vermuten die Forscher
in der größeren Erfahrung und der daraus resultierenden Gelassenheit. Als
Folge der größeren Erfahrung könnten
die Älteren besser mit Stress umgehen.
Und geht etwas schief, finden sie
schneller den Fehler und korrigieren ihn,
meinen zumindest die beiden Forscher.
„In Extremsituationen, wenn man impro-
Letztendlich braucht es eine
andere Betriebskultur?
Es geht um eine bessere Betriebskultur, exakt. Und damit geht es dann
allen besser, nicht nur den Älteren.
Dass die Betriebe angesichts der demografischen Entwicklung ihre Betriebskultur unter die Lupe nehmen
müssen, birgt letztendlich eine große
Chance. Jetzt tüfteln die Betriebe daran, wie sie die Älteren halten können.
Denn ihnen gehen die Arbeitskräfte aus:
Wenn die Babyboomer in Rente gehen,
verschwindet innerhalb weniger Jahre
ein Großteil der heute Beschäftigten.
Gleichzeitig wachsen kaum Junge nach.
Und wie gesagt – mit den Älteren gehen
Kompetenzen und Fähigkeiten mit in
Rente. Dass sich gute Arbeitsbedingungen rechnen, ist längst klar. Die Beleg-
Foto: Shutterstock
Eine Untersuchung bei
Mercedes beweist es:
visieren muss, sind ältere, erfahrenere
Beschäftigte oft besser in der Lage,
große Probleme zu vermeiden.“ Kurz:
Durchaus möglich, dass die Jüngeren
schneller arbeiten. Die Älteren aber arbeiten effektiver – was der eine oder andere jüngere Zeitgenosse mit Behäbigkeit verwechselt. Wobei eigentlich allen
klar sein müsste, dass es auf das Ergebnis ankommt, nicht auf den Wirbel, der
auf dem Weg dahin gemacht wird.
Und so vermuten Börsch-Supan und
Weiss, dass der Produktivitätsvorsprung der Älteren in der Dienstleistungsbranche noch deutlich höher ist
als in der Produktion, auf die sich die
schaft ist weniger oft krank, die Fluktuation ist geringer und dadurch vermindern sich auch Einarbeitungskosten.
Jeder Euro, den das Unternehmen in
gute Arbeitsbedingungen investiert,
fließt mehrfach zurück. Die Herausforderungen des demografischen Wandels
haben dazu geführt, dass die Betriebe
die Belegschaften und die Arbeitsplätze
in den Blick nehmen. Sie stellen sich
entsprechend auf. Das heißt: Sie setzen
bei den Arbeitsbedingungen an und investieren in die Rahmenbedingungen.
Man kann auch sagen, wer glaubt, das
nicht nötig zu haben, vermindert seine
Chancen am Arbeitsmarkt, beziehungsweise er verschwindet vom Markt. Vielleicht nicht sofort – aber mittelfristig.
Das Interview führte Doris Trapmann
Die Fehlerzahl geht mit
zunehmendem Alter der
Mitarbeiter zurück
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50plus
Es sollte wohl etwas Positives sein, als der Name
50plus erfunden wurde. Wirklich Positives assoziieren
wir mit der Bezeichnung nicht. Man weiß: Ist von
50plus die Rede, dann geht es darum, auf die
Vorzüge der Älteren aufmerksam zu machen.
Beziehungsweise darauf hinzuweisen, dass sie gar
nicht so viele Defizite haben, wie ihnen lange Jahre
nachgesagt wurde.
Oder anders ausgedrückt: Wäre einige Jahre früher
nicht die Jugend über alles gelobt worden und wären
nicht Menschen mit 40 schon als „älter“ eingereiht
worden, niemand hätte Kampagnen im Stile 50plus
gebraucht. Dann hätte niemand darauf hinweisen
müssen, dass die Älteren es sind, die über jede
Menge Erfahrung, langjährig gepflegte Netzwerke,
Disziplin und die Bereitschaft verfügen, Verantwortung zu übernehmen. Eigenschaften, die den jüngeren Arbeitnehmern oft fehlen. Und die Älteren haben
noch einen Pluspunkt: Die Familienplanung ist meist
bereits abgeschlossen, die Kinder sind erwachsen.
Und die Bereitschaft, mit den modernen IT- und Kommunikationsmedien umzugehen, ist meist ausgeprägter als vielfach angenommen. Dennoch: Es leuchtet
ein, dass ein Unternehmen beide braucht – jüngere
und ältere Beschäftigte. Auch damit Erfahrung und
Wissen weitergegeben werden können. Und damit
auch neuer Wind, neue Ideen ins Unternehmen kommen. Klar ist aber auch: Die Jungen sind nicht per se
die Innovativen, Leistungsfähigen, Produktiven. Auch
wenn das manchmal auf den ersten Blick so scheint.
Besonders dann, wenn es um Veränderungen geht.
Während die Jungen oft sofort starten, warten die
Älteren lieber erstmal ab.
Und das hat einen guten Grund: Es sind die Älteren,
die vielleicht diese Veränderungen schon mehrfach
mitgemacht haben – Veränderungen nach dem Motto: Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln –
um mit dem neuen Chef gerade wieder reinzugehen.
Kein Wunder, wenn der Enthusiasmus beim Wechsel
vom Großraumbüro in kleine Zweierbüros nicht mehr
so ausgeprägt ist wie damals als dieser Wechsel zum
ersten Mal auf der Tagesordnung stand. Denn inzwischen wurde mehrfach hin- und hergewechselt. Das
aber verstehen die Jüngeren wohl erst, wenn auch sie
das Spiel „Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“ mehrfach gespielt haben. Die Erfahrung zeigt:
Die Erwartungen, die in solche Veränderungen gesetzt werden, erfüllen sich oft nicht.
Daten ihrer Studie bezogen. Denn in der
Regel wird in der Dienstleistungsbranche weit weniger körperliche Arbeit verlangt. In einem Punkt bleiben die Jungen den Älteren allemal überlegen – und
das ist eben das Körperliche. Da können sich die Mitarbeiter noch so fit halten. Die Menschen sind rein körperlich
am fittesten zwischen 20 und 30 Jahren. Dann bauen sie ab – langsam aber
stetig.
Wie langsam oder wie schnell das geht,
hängt von den Lebensgewohnheiten wie
Ernährung, Schlaf, Bewegung, Zufriedenheit ab und auch von den Genen.
Und weil die Menschen höchst unterschiedlich leben und auch erst recht unterschiedliche Gene haben, altern sie
unterschiedlich. Mehr noch: Mit zuneh-
mendem Alter geht die Schere weit auseinander. Während kleine Kinder oft
ähnlich weit sind in ihrer Entwicklung,
kann ein 70-Jähriger rundum fitter sein
als sein 15 Jahre jüngerer Kollege. Und
das heißt: Es kommt auf den Beschäftigten an. Älter ist nicht gleich älter.
Und: Dass Erfahrung und Routine Jugend schlagen, wussten auch die meisten, die in den 90er-Jahren nicht müde
wurden, die Vorzüge der Jugend zu propagieren. Doch damals ging es eben um
Politik, ist sich auch Alexander Frevel sicher, Forscher und Berater im Themenfeld demografischer Wandel. Heute
geht es darum, die Älteren im Beruf zu
halten. Welch ein Glück, dass gerade
jetzt immer öfter auf Analysen wie die
Mercedes-Studie eingegangen wird.
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
„Google macht Senf, Publisher die Wurst.
Wenn Du keine Wurst hast, ist Senf
ziemlich uninteressant.“
Thomas Lindner. Vorsitzender der Geschäftsführung. Frankfurt Allgemeine Zeitung

I M PR E S S U M
Herausgeber:
Südwestdeutscher Zeitschriftenverleger-Verband e.V. (SZV)
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Redaktion:
Michaela Schnabel (Chefredaktion)
Patrick Priesmann (verantwortlich i.S.d.P.)
Autoren
dieser Ausgabe:
Roland Karle, Thomas Klatt, Patrick Priesmann, Michael Rath-Glawatz,
Helmut van Rinsum, Doris Trapmann
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