Wenn Pilatus anders geurteilt hätte …

Wenn Pilatus anders geurteilt hätte …
Überlegungen im Anschluss an das Buch »Pontius Pilatus« von Alexander Demandt
Von: Hans-Jochen Luhmann, erschienen im Deutschen Pfarrerblatt, Ausgabe: 3 / 2016
Was wäre geschehen, wie wäre die Geschichte der letzten 2000 Jahre verlaufen, wenn Pilatus anders entschieden hätte,
wenn er Jesus nicht zum Tode verurteilt hätte? Eine Gedankenspielerei? Vielleicht! Aber eine, der Hans-Jochen Luhmann
durchaus etwas abgewinnen kann.
Alexander Demandt, Emeritus an der FU Berlin, wo er vormals Alte Geschichte lehrte, gehört zu den im besten Sinne
"gelehrten" Historikern, breit interessiert und methodisch offen und unbefangen. Das drückt sich u.a. darin aus, dass er sich
nicht scheut vor dem tückischen Subjekt "ungeschehene Geschichte". Er elaboriert gelegentlich, mit hohem methodischem
Bewusstsein, kontra-faktisch, darüber, wie es hätte laufen können, wenn ... In diesem Fall, in seinem Pilatus-Buch, anhand
der Frage: Was wäre geschehen, wenn Pilatus anders entschieden hätte?
Die Antwort findet sich im letzten und abschließenden 7. Kapitel seines bei "Beck" in der Reihe "Wissen" erschienenen
Taschenbuches. Das Kapitel trägt den Titel "Jesus freigesprochen - was wäre geschehen?" Die Fassung bei "Beck" basiert
auf einer ausführlichen Pilatus-Darstellung des Autors aus dem Jahr 1999, damals unter dem Titel "Hände in Unschuld.
Pontius Pilatus in der Geschichte" vorgelegt. Sie ist nicht nur, taschenbuchgerecht, angenehm knapp formuliert, sondern
auch in der Interpretation der Passionsgeschichte deutlich korrigiert; nach Bekunden des Autors geschah das aufgrund einer
nachgeholten Lektüre von Bultmanns "Geschichte der synoptischen Tradition".
"Jesus freigesprochen - was wäre geschehen?"
Eingebunden ist das 7. Kapitel, um das es mir geht, in eine geschichtliche Darstellung im Großraum Judäa, der römischen
Herrschaft dort und der (politischen) Sorgen, um die der Statthalter sich zu kümmern hatte. Daraus hebe ich Zweierlei hervor.
(1) Bei dem Todesurteil gegen Jesus handelt es sich nach Demandt um einen Justizmord. Zum Hintergrund dieser
Einschätzung gehört die Differenzierung vorgeworfener Vergehen gemäß der beiden Rechtsräume in Jerusalem, (a) nach
jüdischem Recht und (b) nach römischem Recht.
Mit seiner Tempelreinigung und seinen Predigten auf dem Tempelberg provozierte Jesus nicht nur, sondern verstieß gegen
das jüdische Recht. Die Tempelbehörde war schon zweimal gegen Jesus qua Versuch der Steinigung vorgegangen Paulus gehörte bekanntlich zur Truppe der Christenverfolger. Wäre gegen Jesus erneut nach jüdischem Recht vorgegangen
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worden, so wäre er, wie sechs Jahre später Stephanus, per Steinigung getötet worden und hätte keinen Tod am Kreuz
erlitten. Das wäre kein Justizmord gewesen.
Zum Passahfest im April des Jahres 30 n.Chr. jedoch war der römische Statthalter aus seinem üblichen Dienstsitz Caesarea
nach Jerusalem gereist, der bei Juden zu erwartenden religiösen Unruhen wegen - die Juden waren, ihres habituellen
religiösen Unruhepotentials wegen, im Römischen Reich berühmt-berüchtigt. Pilatus’ Anwesenheit sah die jüdische
Religionsbehörde unter Kaiphas als Chance, Jesus auf Basis seines eigenen Bekenntnisses des Herrschaftsanspruchs nach
römischem Recht aburteilen zu lassen.
(2) Pilatus übernahm den Fall, und im Verhör wurde der Vorwurf von Jesus selbstbewusst eingeräumt: "Du sagst es." Die
Strafe aber, die darauf folgen sollte, stand für Pilatus zur Wahl; die Kreuzigung war nicht alternativlos. Steinbrucharbeit,
Auspeitschung oder Verbannung, z.B. als Rücksendung nach Galiläa, wären möglich gewesen. Eine die römische Herrschaft
ernstlich bedrohende Truppe von Jüngern hatte Jesus schließlich nicht hinter sich. Auch eine Überstellung nach Rom, wie im
Falle Paulus’, war denkbar, wenn auch eigentlich nur für Personen hohen Rangs.
Dass Pilatus sich für das Todesurteil entschied, wird von Demandt aus einer Analyse des Verhältnisses zu Kaiphas heraus
erklärt. Das war ein Verhältnis der Kooperation in wichtigen Fragen, z.B. dem Bau der Wasserleitung aus Mitteln der
Tempelkasse - da musste auch Pilatus gelegentlich geben, er konnte nicht nur nehmen. So erklärt Demandt den Justizmord
an Jesus.
Was wäre geschehen mit Jesus als Person?
Angenommen, Jesus hätte die Verbannung nach Galiläa akzeptiert und auf die Predigt verzichtet; dann hätten sich
womöglich die Jünger enttäuscht von ihm abgewandt, Jesus hätte das Geschäft seines Vaters übernommen und Maria
Magdalena geheiratet.
Eine andere Variante, auf die Demandt mit Augenzwinkern hinweist, entnimmt er dem "Briefwechsel des Landpflegers", der
vom Schweizer Autor Jörg von Uthmann im Jahre 1991 herausgegeben wurde.(1) Da wird Jesus nicht gekreuzigt, sondern
nach Damaskus verbannt, wo Paulus ihn dann bekanntlich getroffen hat; während die Gemeinde in Jerusalem von Jakobus
weitergeführt wird.
Jesu eigene Worte zu "Ginge ich nicht ..."
... finden sich in bei Joh. (16,7): "Es ist gut für euch, dass ich gehe. Denn ginge ich nicht, dann käme der Helfer nicht zu
euch. Wenn ich aber fortgehe, werde ich ihn euch senden." Das heißt zweierlei: (i) "Johannes (15,22) läßt Jesus auch sagen,
was geschehen wäre, wenn er nicht gekommen wäre und nicht zu den Menschen gesprochen hätte: Dann wären sie frei von
Sünde. Nun aber gebe es keine Entschuldigung für den verweigerten Glauben, der allein selig macht." (S. 109) Und (ii): Dann
kein Paulus, dann keine christliche Weltreligion, wesentlich ermöglicht durch Verzicht auf Beschneidung, Speisevorschriften
und Sabbatgebot.
Ein anderer Messias?
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Kandidaten dafür gab es damals etliche. Doch nach Demandt gilt: Jesus war nicht auswechselbar. (Pilatus hingegen war
auswechselbar; ein anderer Statthalter hätte ähnlich gerichtet.)
Fortgang der römischen Geschichte ohne Kreuz und Christentum
Das hält Demandt für leicht vorstellbar. Das Römische Reich wäre dann möglicherweise stabil geblieben. "Es fehlt nicht ... an
Stimmen, die dem neuen Glauben die Schuld am Zusammenbruch des Imperiums zuweisen: Unter Augustus war das
Römerreich politisch geeint, aber in Hunderte von Religionen gespalten. Unter Justinian war derselbe Raum flächendeckend
christianisiert, aber politisch in Einzelteile zersplittert. War diese Gegenläufigkeit Zufall?
Einen Zusammenhang haben ... bereits die Christenverfolger angenommen. Sie glaubten, mit der Abkehr von der Religion
der Väter hätte Rom den Schutz der Götter verspielt, die das Reich groß und stark gemacht hätten. In diesem Falle wäre
Pilatus schuld am Untergang Roms. Mit großer Entschiedenheit vertraten Voltaire, Gibbon und Nietzsche die These, der
Jenseitsglaube habe den Patriotismus untergraben und so dem Staat seine moralische Basis entzogen. Autoren, die der
massenhaften Weltflucht und dem endlosen Glaubensstreit der Christen eine Mitschuld am Zusammenbruch des Reiches
zumessen, erachten bei einem Ausbleiben der Christianisierung sogar ein Überleben des Imperiums für möglich.
Das "finstere Mittelalte" entfiele. ... Die mittelalterliche Welt hätte ohne Christentum ein völlig anderes Gesicht erhalten. ...
Wenn wir eine Begnadigung Jesu durch Pilatus annehmen, dann gelangen wir in ein Mittelalter, dessen Städte nicht um
Kirchen und Kathedralen, sondern um Sonnentempel und Kapitole gebaut sind, in denen nicht die Bibel, sondern Homer und
Vergil gelesen wurden, in denen es keine Glaubenskämpfe und keine Inquisition gab, aber auch keine Spitäler, keine
Armenfürsorge und keine christliche Kunst." (112f)
Weiterexistenz des Heidentums, des Polytheismus?
Dafür sieht Demandt eine Möglichkeit, aber keine Wahrscheinlichkeit. Er sieht, dass das Christentum ein Bedürfnis
befriedigte, eine "Marktlücke" füllte. Ich übergehe hier seine aufschlussreiche Beschreibung in vier Punkten. Sein Schluss ist:
Dann wäre eine andere Religion in diejenige Rolle geschlüpft, die das Christentum faktisch ausfüllte; und zwar eine der
Religionen, die das Christentum damals auskonkurrenziert hat. Die Optionen bzw. Kandidaten sind:
Mithras-Kult
Kaiser Julian (355/61 bis 363) verehrte den "König Helios". Es existierte ein etablierter Kult. Doch diese heidnische Religion
befand sich bereits in einer Defensivstellung, nicht allein gegenüber dem Christentum, sondern auch anderen expansiven
Religionen gegenüber. Eine von denen hätte das Rennen gemacht.
Islam
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Jacob Burckhardt hat das erwogen. Nach Demandt aber hätte der Islam für einen Erfolg im Westen auf zweierlei seiner
"essentials" verzichten müssen: auf Beschneidung und Bilderverbot. Und drittens: Der Koran hätte auf Griechisch vorliegen
müssen. Ansätze, Übersetzungen ins Lateinsiche, hat es immerhin gegeben.
Wahrscheinlich erfolgreicher Kandidat: die jüdische Religion
Dann hätten die Juden auf ihre Auserwähltheit und auch auf ihre drei expansionshinderlichen Sitten verzichten müssen:
Beschneidung, Speisevorschriften und Sabbatruhe.
"Ein Weg des Judentums zur Weltreligion ist aufzeigbar. Nehmen wir an, Antonius Primus, der für Vespasian dessen
Vorgänger und Konkurrenten Vitellius 69 n. Chr. bei Bedriacum besiegt hat, wäre unterlegen und Vespasian selber wäre im
Kampf mit Vitellius oder vor Jerusalem umgekommen, dann hätte sein Sohn Titus das Kaisertum beansprucht. Um sich
gegen Vitellius durchzusetzen, hätte er die Legionen aus Palästina benötigt. Zu diesem Zweck hätte er mit den
Aufständischen in Jerusalem einen Frieden geschlossen und ihnen im Rahmen eines theokratischen Stadtstaates Autonomie
gewährt. Der Tempel wäre erhalten geblieben. Titus hatte sein Herz an Berenike, die Schwester von Agrippa II und Urenkelin
von Herodes dem Großen, verloren. Aber die Bindung löste sich. Doch wäre sie erhalten geblieben, hätte die Jüdin den
Kaiser vielleicht bekehrt, und Titus wäre der Constantin des Judentums geworden. Die auf Vespasian gesetzten
Messiaserwartungen hätten sich in seinem Sohn glänzend bestätigt." (117)
Demandt, Alexander: Pontius Pilatus, C.H. Beck Verlag, München 2012, 128 S., 8,95 €
▸ Hans-Jochen Luhmann
Anmerkung
1 Originaltitel: "Pontius Pilatus - Briefwechsel".
Deutsches Pfarrerblatt, ISSN 0939 - 9771
Herausgeber:
Geschäftsstelle des Verbandes der ev. Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland e.V
Langgasse 54
67105 Schifferstadt
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