Laudatio Karl-Buchrucker-Preis am 14. März 2016 für Ann-Kathrin Eckardt: „Gute Menschen“, erschienen in der SZ am 12./13.12.2015 und Beate Greindl: „Der Kommissar und seine Söhne“, gesendet vom Bayerischen Rundfunk am 8. Juni 2015 Die Jury des Karl-Buchrucker-Preises zeichnet in diesem Jahr zwei Frauen aus, die jede in ihrem Genre eine aufmerksame und sorgfältige journalistische Nahaufnahme eingereicht haben: den Beitrag „Gute Menschen“ in der Süddeutschen Zeitung vom Wochenende des 3. Advent vergangenen Jahres auf Seite 49 in der Rubrik „Gesellschaft“. Und den Beitrag „Der Kommissar und seine Söhne“, der am 8.6.2015 um 21 Uhr in der Reihe „Lebenslinien“ vom BR ausgestrahlt wurde – und der ebenfalls im WDR in der Reihe „Menschen hautnah“ lief, da der Sender das Stück koproduziert hat. Die Jury hatte dieses Mal eine besondere Qual der Wahl – und konnte sich zwischen diesen beiden wichtigen Stücken nicht in der Weise entscheiden, dass eines unter den Tisch fiel. Die Jury entschied somit ganz biblisch-salomonisch, dass sich beide Autorinnen den Preis teilen mögen – über die unterschiedlichen Medien hinweg. Beide Stücke handeln von ganz normalen besonderen Menschen, die ganz Normales, Besonderes tun. Beide handeln von diesem unbedingten, bedingungslosen „Ja“ zum anderen, das nicht revidierbar ist. Beginnen wir mit dem Beitrag von Beate Greindl im Bayerischen Fernsehen. Beate Greindl ist eine international versierte Fernsehjournalistin, die für unterschiedliche Sender – von der BBC über den NDR (Panorama), von Focus TV bis zum BR und für unterschiedliche Redaktionen und für unterschiedliche Formate – gearbeitet hat und jede Menge Preise und Nominierungen – einschließlich einer Nominierung für den Grimme-Preis – vorzuweisen hat. Das lange 45-Minuten-Format der „BR-Lebenslinien“ scheint der 49-Jährigen besonders zu liegen: Hier kann sie akribische Recherche mit einer ausgesucht detaillierten und sensiblen Bilddramaturgie verbinden. Beate Greindl erzählt die Lebensgeschichte des Münchner Polizeibeamten Carlos Benede, der als alleinstehender Mann zwei Jungen adoptiert hat, deren Mütter von ihren Männern umgebracht wurden und die nach der Tat völlig allein auf der Welt waren. Diese Geschichte wurde schon in anderen Medien erzählt. Im Magazin der SZ portraitierte Roland Schulz bereits 2014 diese außergewöhnliche Familie mit ihrem außergewöhnlichen Vater unter dem Titel: „Die Polizei, Dein Freund und Vater“. Der Autor wurde für dieses Portrait mit dem „Theodor-Wolff-Preis 2014“ ausgezeichnet. Wenn man beide Stücke nebeneinanderlegt, dann liest sich der Magazinartikel wie das Drehbuch zum Fernsehbeitrag. Im Magazinartikel erfahre ich von dieser Familie, da wird sie mir glänzend beschrieben – und im Fernsehbeitrag lerne ich sie ganz persönlich kennen. Zwei ganz unterschiedliche Anmutungen, jeweils der Stärke des jeweiligen Mediums geschuldet. Mit einer – in der Tat aufregenden Story. Schauen wir einmal gemeinsam ein paar Minuten des Beitrags an… Beate Greindl zeichnet in ihrem sehr sorgfältig gearbeiteten und mit einer herausragenden Kamera umgesetzten Filmportrait das Psychogramm des Helfers. Carlos – in den siebziger Jahren ein Junge, der im wahrsten Sinn des Wortes mutterseelenallein ist, der von seiner spanischen Mutter mit drei Jahren im Kinderheim der Franziskanerinnen in Dillingen abgegeben wurde. Diese geben dem zurückgelassenen Gastarbeiterkind Heim- und Herzensasyl. Eine Jugend im Heim – eine, die offenbar gut geht. Aus Carlos wird ein typisches Heimkind. Einer, der sich durch die Hierarchien beißen muss, der wild und schwer zähmbar ist, auffällig. Auffällig hübsch auch mit den Locken, den spanischen Glutaugen und dem Aufreißerlächeln. Die Reporterin hat die Archive der Nonnen durchforstet, Fotos gesammelt. Sie lässt den Protagonisten die Plätze der Jugend aufsuchen und der Zuschauer lernt die Nonnen in ihrem Habit kennen, alt und faltig heute, auf den Fotos lebenslustige Frauen im Badeanzug. Man spürt der klösterlichen Heim-Atmosphäre nach. Man spürt etwas von diesem „Ja“ zum Leben des kleinen Carlos. Wir lernen – nennen wir es mal – die „Engel“ kennen, die über Jahre dem verlassenen Jungen das schwarze Loch füllen, das der Verlust der Mutter gerissen hat. Die Nonnen, die nachts ans Bett des Kindes spurten, wenn es krank ist oder schlecht schläft, eine Lehrerin, die den Jungen im wahrsten Sinn unter ihre Fittiche nimmt, die seine Firmpatin wird, sich zusammen mit ihrem Ehemann um den Heranwachsenden und später dann auch um den erwachsenen Mann kümmert. Und wir beginnen zu verstehen, dass der Polizist Carlos dieser Lebenslinie des „Ja“, das er am eigenen Leib erlebt hat, folgt, als er sich dann als Erwachsener und Opferbetreuer ohne Wenn und Aber mit Haut und Haaren einem zurückgebliebenen Jungen verschreibt und dann noch einem. Eine Lebenslogik des „Ja-Sagens“ zu Kindern, die ihr Leben einem Mann des Rechts, einem Vertreter der höheren Gerechtigkeit anvertrauen. Aus diesem Engagement wächst dann in Dachau das ambitionierte und erfolgreiche Projekt eines Heims für Jungen, wo sich alle diese Erfahrungen des Überlebens-trotz-allem bündeln. Der Film kommt ohne religiöses Pathos aus. Ja. Er handelt von Nonnen. Ja, er handelt von Verantwortung und Nächstenliebe. Ja, er handelt von einem uneigennützigen Engagement, das doch zugleich ein Leben reich macht. Ja, der Film kommt ganz ohne religiöses Pathos aus – und ist doch eine Predigt. Zum Beispiel zu Dietrich Bonhoeffers Glaubensbekenntnis von 1934. Da formuliert er: „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.“ Carlos Benede ist solch ein Mensch und Beate Greindl hat seine Geschichte anrührend verfilmt. Der Karl-Buchrucker-Preis für Beate Greindl. Eine ganz andere trotzige Geschichte ist die Schilderung eines Selbstversuchs im Asyl-Hype unserer Tage, wie sie Ann-Kathrin Eckardt erzählt. Auch sie eine erfahrene Journalistin, heute Redakteurin beim renommierten Buch 2 der SZ, vorher bei Neon und Polizeireporterin der AZ, Absolventin der Münchner Journalistenschule. Und mit 36 Jahren Mutter zweier Kinder; das jüngste ist gerade erst ein paar Wochen alt – es meldet sich heute Abend hin und wieder auch zu Wort. Sie berichtet politisch ziemlich unkorrekt von der Realität der Integration von Flüchtlingen aus dem mittleren Orient in unseren Sozialstaat. Ann-Kathrin Eckardt erzählt ihre ganz persönliche ehrenamtliche Helfergeschichte – mit den euphorischen Augenblicken des Glücks der ersten Begegnungen, der Selbstzufriedenheit des Helfers bzw. der Helferin mit der guten Tat, den Enttäuschungen, wenn die betreuten Familien andere Vorstellungen haben und so ganz andere Lebensprioritäten setzen, als das eine deutsche Akademikerin tut. Sie erzählt von den Missverständnissen im Umgang mit dem Sozialstaat und bei den Geschlechterrollen, und sie berichtet von den Rückschlägen im Beziehungsclinch mit den betreuten Flüchtlingsfamilien. Sie erzählt in einer locker-leichten Mischung aus Selbstironie, Selbstkritik, Ernüchterung und gesundem Realismus von den Mühen, wenn man Integration als langfristiges Projekt verstehen will. Sozusagen als Marathonlauf und nicht als Kurzstrecken-Sprint. Die Autorin reflektiert gleich zu Beginn über den Stellenwert ihrer exemplarischen Geschichte inmitten der Wanderungsbewegungen unserer Tage. Hören wir mal hinein in die ausgezeichnete Geschichte: Lesung (Anfang) Ann-Kathrin Eckardt schreibt einen Artikel über Ent-Täuschungen. Ein Beitrag, der es verdient hätte, einen wesentlich prominenteren Platz in der Zeitung zu bekommen als nur auf Seite 49. Ein Beitrag, der es auch wert gewesen wäre, mehr Platz zu bekommen – oder zu einer Reihe ausgeweitet zu werden. Die Autorin gibt nämlich in ihrem Selbstversuch all jenen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern dieser Tage eine Stimme, die sich über die Willkommenskultur des vergangenen Herbstes hinaus langfristig engagieren wollen. Und sie zeigt zudem in aller Nüchternheit die aktuellen Grenzen der kulturellen Verständigung auf, auch den Zorn, wenn die Betreuten die Chancen nicht nützen, die wir für zukunftsrelevant halten, wenn sie Kinder zeugen und gebären für relevanter halten, als Deutsch zu lernen. Zugleich ist das auch eine ehrliche Sicht auf die Grenzen des Ehrenamts. Ein Engagement, das wichtig und durch nichts zu ersetzen ist. Das aber immer auch eine hauptamtliche Begleitung braucht zur Stütze, zur Ermunterung und zur Ermutigung. Ann-Kathrin Eckardt erzählt die Geschichte einer produktiven Ent-Täuschung. Sie räumt auf mit den Täuschungen und den Ideologien, lässt die Fremdheit groß werden und zugleich das dauerhafte Engagement. Hören wir noch einmal eine Passage aus ihrem Text: Wer so gerüstet in die ehrenamtliche Unterstützung von Flüchtlingen einsteigt, der wird auch den langen langen Weg mitgehen, den wir als Gesellschaft einschlagen müssen, damit aus Fremden Freunde werden – und Bürger dieser Stadt und dieses Landes. Mehr davon, sagt die Jury! Der Karl-Buchrucker-Preis für Ann-Kathrin Eckardt. Prof. Johanna Haberer
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