Religion and Transformation in Contemporary European Society Band 10 Herausgegeben von Kurt Appel, Christian Danz, Isabella Guanzini, Richard Potz und Sieglinde Rosenberger Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed. Kurt Appel / Isabella Guanzini (Hg.) Europa mit oder ohne Religion? II Der Beitrag der Religion zum gegenwärtigen und künftigen Europa Mit 9 Abbildungen V& R unipress Vienna University Press ® MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen www.fsc.org FSC® C083411 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-5235 ISBN 978-3-8471-0507-7 ISBN 978-3-8470-0507-0 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0507-4 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Rektorats der Universität Wien. Ó 2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: RaT-Logo (Gerfried Kabas, Wien). Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Inhalt Kurt Appel / Isabella Guanzini Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I. Philosophische Perspektiven einer europäischen Geistesgeschichte Christian Danz Religion – Reformation – Moderne. Anmerkungen zur Bedeutung der Religionsgeschichte für Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Jakob Deibl Hölderlin-Gesamtausgabe 1914: ein Beitrag zur Autobiographie Europas? 29 Martina Roesner Das geistige Europa als Projekt transzendentaler Genese. Das Problem der geschichtlichen Präsenz des Absoluten in Husserls Krisis-Schrift . . . 51 Isabella Guanzini Die Zukunft des Symbolischen. Europa zwischen Religion und Apparat . 65 II. Vergangene und künftige Narrative zum Projekt Europa Gerhard Langer Jiddisch als paradigmatische europäische Sprache und Kultur . . . . . . Marianne Grohmann Exil – ein Narrativ der Hebräischen Bibel in europäischen Diskursen . . 83 95 6 Inhalt Regina Polak Diversität und Convivenz: Zusammenleben in Verschiedenheit. Ein praktisch-theologischer Beitrag zum Narrativ der europäischen Migrationsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Rüdiger Lohlker Performativität des Religiösen: (Neo-)Fundamentalistische Videos . . . . 131 III. Institutionelle Herausforderungen für ein (post)säkulares Europa Richard Potz Religiöse Pluralisierung der Zivilgesellschaft als Herausforderung des säkularen Rechtsstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Stefan Hammer Öffentliche Religionen zwischen Kulturalismus und säkularer Vernunft . 167 Julia Mour¼o Permoser Österreichs MEPs: Zwischen Privatisierung und Politisierung der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Wolfram Reiss Religiös-kulturelle Betreuung im Strafvollzug. Herausforderungen für Staat, Anstalten, Religionsgemeinschaften und Forschung . . . . . . . . . 203 Astrid Mattes Towards a universal religion? Symbolic boundaries in Austrian immigrant integration policies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Die AutorInnen und HerausgeberInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Kurt Appel / Isabella Guanzini Vorwort Die Forschungsplattform „Religion and Transformation in Contemporary European Society“ (RaT) wurde 2010 an der Universität Wien eingerichtet, um die wechselseitige Beeinflussung von religiösen Symbolsystemen und politischen Transformationsprozessen zu analysieren. Ein Schwerpunktthema der ersten Periode war dabei die Frage, ob und inwieweit die gegenwärtigen Religionsgemeinschaften in Europa dazu beitragen können, an einem neuen europäischen Narrativ mitzuwirken und am „Projekt Europa“ mitzubauen. Zu diesem Zwecke wurde nach entsprechender Vorbereitungszeit 2013 ein großer Kongress „Rethinking Europe With(out) Religion“ organisiert, der 2014 unter dem Titel „Europa mit oder ohne Religion? Der Beitrag der Religion zum künftigen und gegenwärtigen Europa“ veröffentlicht wurde.1 Ein großer Teil der Mitwirkenden dieses Bandes waren international angesehene Experten, die mit der Plattform in einem wissenschaftlichen Austausch stehen, ergänzt wurde der Band durch Beiträge einzelner Plattformmitglieder. Innerhalb der Plattform wurde das Thema intensiv weiterdiskutiert, wobei der Kongress und die damit verbundene Publikation in vielerlei Hinsicht weitere Anregungen lieferte. Der vorliegende Band ist die Frucht dieser Reflexionsarbeit innerhalb der Plattform und kann inhaltlich als Ergänzung und Weiterführung des oben genannten Bandes betrachtet werden. Natürlich kann er aber auch unabhängig von ihm gelesen werden, da es durchaus das Ziel war, neue Gesichtspunkte des Verhältnisses von Europa und Religion in der aktuellen politisch-kulturellen Situation in die Diskussion aufzunehmen. Der Band selber ist in drei große Kapitel gegliedert, nämlich „Philosophische Perspektiven einer europäischen Geistesgeschichte“, „Vergangene und künftige Narrative zum Projekt Europa“ sowie „Institutionelle Herausforderungen für ein (post)säkulares Europa“. Diese Struktur bringt nicht zuletzt die interdisziplinäre Diskussion der Plattform zum Ausdruck: Neben des Grundlagendis1 Appel, Kurt / Guanzini, Isabella / Walser, Angelika (Hg.): Europa mit oder ohne Religion? Der Beitrag der Religion zum künftigen und gegenwärtigen Europa. Göttingen 2014. 8 Kurt Appel / Isabella Guanzini kurses spielt die Frage nach neuen Narrativen, die das Projekt Europa konstruktiv begleiten können, eine zentrale Rolle, wobei die Frage nach den diese Narrative stützenden Institutionen nicht außer Acht gelassen werden darf. I. Der erste Teil „Philosophische Perspektiven einer europäischen Geistesgeschichte“ enthält vier Beiträge. Christian Danz geht in seinem Aufsatz „Religion – Reformation – Moderne. Anmerkungen zur Bedeutung der Religionsgeschichte für Europa“ auf die Frage der geschichtlichen Rolle der Religionen für die Herausbildung des gegenwärtigen Europas und seiner Identitäten ein. Besonders wird der Fokus auf die Reformation gelegt, da sie sowohl als Ausgangspunkt einer religiös-motivierten Individualisierung der Gesellschaft als auch einer Pluralisierung der europäischen Religionsgeschichte betrachtet werden kann. Inhaltlich legt Danz besonders den Akzent darauf, dass Religion heute einhergehen muss mit einem reflektierten Endlichkeitsbewusstsein als Grundlage einer Anerkennung des Anderen. Jakob Deibl begibt sich in seinem Beitrag „Hölderlin-Gesamtausgabe 1914: ein Beitrag zur Autobiographie Europas?“ auf die Spurensuche eines Dichters, dessen Werk als paradigmatisch für Europa und dessen Aufnahme religiöser Motive betrachtet werden kann. Deibl betont, dass Europa einen Bedeutungsraum aufeinander verweisender Symbole, Motive und Narrative darstellt, die in mannigfaltigen Verschiebungen und Versetzungen, Translationen und Zitationen immer wieder neu konfiguriert werden. Ohne einen Akt, der als Re-thinking bezeichnet werden kann, gibt es, so die zentrale These, kein Europa. Die religiöse Sprache kann insbesondere die Möglichkeit eröffnen, dem Sprachverlust und der Zerrissenheit der Zeit einen Ausdruck zu geben. Martina Roesner beschäftigt sich in ihrem Beitrag „Das geistige Europa als Projekt transzendentaler Genese. Das Problem der geschichtlichen Präsenz des Absoluten in Husserls Krisis-Schrift“ mit einem anderen zentralen europäischen Denker, nämlich Edmund Husserl, der in seiner Krisis-Schrift dem europäischen Geist Ausdruck geben will. Ein Schwerpunkt der Darstellung liegt dabei in der Frage nach der geschichtlichen Rolle der europäischen Rationalität in der auf sie gegründeten Kultur. Der Terminus jq_meim (krinein) bringt eine Scheidung der legitimen Ansprüche des europäischen Vernunftgedankens von seinen illegitimen Auswüchsen und Fehlentwicklungen zum Ausdruck. Besonders bedeutsam ist dabei – gegen das Fantasma zeitenthobener Idealität – die Situierung der Vernunft in ihren lebensweltlich-geschichtlichen Ursprüngen (und die Reflexion derselben), was nicht zuletzt auch für eine Verhältnisbestimmung von Religion und Vernunft von Bedeutung ist. Vorwort 9 Der erste Teil des Bandes wird mit einem Beitrag von Isabella Guanzini unter dem Titel „Die Zukunft des Symbolischen. Europa zwischen Religion und Apparat“ abgeschlossen. Im Zentrum steht die Frage nach Rand-Orten, die der Logik eines von Guanzini diagnostizierten allgegenwärtigen bürokratischen Apparates, durch den menschliche Beziehungen in mechanistischen Karikaturen gelebt werden, entgegenstehen. Sowohl dieser Apparat als auch fundamentalistische Religionen bezeichnen zwei Formen des „Aberglaubens“, die beide einer positivistischen Auffassung der Welt geschuldet sind. Die von Guanzini anvisierten Rand-Orte zeichnen sich dadurch aus, dass sie gegen undurchlässige Zugehörigkeiten für eine neue Offenheit und Sorge um der Unverwechselbarkeit und Verletzlichkeit des Menschen willen stehen. II. Der zweite Teil des Bandes trägt den Titel „Vergangene und künftige Narrative zum Projekt Europa“. Dieser Teil spürt in besonderer Weise Leitwörtern einiger der großen europäischen Religionen nach und schaut, wie diese europäische Narrative strukturieren. Gerhard Langers Beitrag „Jiddisch als paradigmatische europäische Sprache und Kultur“ betont besonders die Dimension der Diaspora. Jiddisch ist Ausdruck einer Diasporakultur, die das Eigene erst dadurch entwickelt, indem es das Fremde integriert. Es handelte sich über Jahrhunderte um eine europäische Sprache, die weltweit gesprochen, rezipiert und verändert wurde. Der jiddischen Kultur gelang es, die vielfältige jüdische Tradition in ihren großartigen Dokumenten zu transportieren. Dabei wies sie eine große Akkulturationsfähigkeit auf, die sich dadurch zur Grundlage für diverse bi- oder polyvalente Identitätskonstruktionen eignete. Marianne Grohmann betont in ihrer Studie „Exil – ein Narrativ der Hebräischen Bibel in europäischen Diskursen“, dass das Exil einen wesentlichen Erfahrungsraum des ethischen, politischen, spirituellen und theologischen Selbstverständnisses von Juden und Christen bildet. Ihre Kernaussage besteht darin, dass die Hebräische Bibel ein großes Repertoire an Texten zur Verfügung stellt, mit denen Erfahrungen von Migration, Vertreibung und Exil gedeutet werden. Der Verlust des Landes bewirkt einerseits eine schwere Krise für die Identität des biblischen Israels, andererseits bewirkt es einen Neuentwurf der eigenen Identität, der sich in Kontinuität mit älteren Identitätskonzepten darstellt. Die Vertreibung der Jüdinnen und Juden aus Europa stellt eine weitere tragische Facette der Exilserfahrung dar und ist ein bis heute nachwirkendes Trauma. Das spannungsvolle Verhältnis zwischen der gúlāh und den im Land 10 Kurt Appel / Isabella Guanzini Israel Lebenden bleibt dabei für jüdische Identität zentral – ein Phänomen, das es so in vergleichbarer Weise im Christentum und im Islam nicht gibt. Die Frage der Migration und die daraus hervorgehenden Narrative sind Thema des Beitrags von Regina Polak mit dem Titel „Diversität und Convivenz: Zusammenleben in Verschiedenheit. Ein praktisch-theologischer Beitrag zum Narrativ der europäischen Migrationsgesellschaft“. Besonders unterstrichen wird darin die Bedeutung von neuen Narrativen für Gesellschaften in Transformationsprozessen, also nicht zuletzt Gesellschaften, die massiv durch das Phänomen der Migration strukturiert werden. Polak stellt die Frage, welche Narrative und Erinnerungen christlichen Kirchen in einer Migrationsgesellschaft zur Verfügung stünden, die in gesellschaftliche Diskurse eingebracht werden können. In diesem Zusammenhang führt der Artikel ein leidenschaftliches Plädoyer für die Erinnerung fremden Leides und eine Kultur der Diversität, der nicht zuletzt das bis dato vorherrschende Integrationsparadigma in Frage stellt. Der zweite Teil des Bandes wird durch einen Artikel von Rüdiger Lohlker mit dem Titel „Performativität des Religiösen: (Neo-)Fundamentalistische Videos im islamischen Bereich“ abgeschlossen. Betont wird darin, wie sehr Videodateien im Internet mittlerweile zu einem Medium des religiösen Ausdrucks geworden sind. Nicht zuletzt Strömungen wie der (Neo-) Salafismus verstehen es, neue Medien wie Internet und Satellitenfernsehen für sich zu nutzen und damit ihre Narrative, die massiv durch diese Medien strukturiert sind, großflächig zu verbreiten. Ein besonderes Charakteristikum sind klare, immer wieder repetierte Botschaften, die durch die ständig wiederkehrende Performanz auch für das Publikum wiederholbar und einprägsam werden. III. Der dritte Teil des Bandes untersucht in besonderer Weise die „Institutionellen Herausforderungen für ein (post-)säkulares Europa“. Richard Potz behandelt in seinem Beitrag „Religiöse Pluralisierung der Zivilgesellschaft als Herausforderung des säkularen Rechtsstaats“ die rechtlichen Herausforderungen, die sich durch das Ende staatskirchlicher Dominanz und die neue religiöse Pluralisierung in Europa ergeben. Er hält fest, dass in einem säkularen Staat die religiösen Bürger akzeptieren müssen, dass der politisch relevante Gehalt ihrer Beiträge in einen allgemein zugänglichen, von Glaubensautoritäten unabhängigen Diskurs übersetzt werden muss, bevor er in die Agenden staatlicher Entscheidungsorgane Eingang finden kann. Religiöse Argumente haben sich ohne fundamentalistische Umsetzungsansprüche im zivilgesellschaftlichen Meinungs- und Willensbildungsprozess gleichsam in einer Vorwort 11 für die Religionen in Europa bislang ungewohnten „freien Wildbahn“ der modernen Kommunikationsgesellschaft zu bewähren. Diese Möglichkeit darf ihnen im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat nicht genommen werden. Der Beitrag von Stefan Hammer „Öffentliche Religionen zwischen Kulturalismus und säkularer Vernunft“ nimmt den „cultural turn“ im religionspolitischen Diskurs- und Aktionsraum in den Blick. Die Migrationsbewegungen der letzten Jahrzehnte führten zu einer verstärkten Thematisierung der Rechte religiöser Minderheiten unter dem Aspekt erwünschter kultureller Vielfalt und negativer Religionsfreiheit. Völlig ausgeblendet bleibt bei dieser Art der Wahrnehmung jedoch der Anspruch an religiöse Gruppierungen, ihre ethischen Normen und Sinngehalte derart reflexiv in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen, dass sie auch von säkularen Teilnehmern erwogen werden können. Unter diesen Bedingungen sollte das staatliche Recht die Aufgabe haben, den institutionellen Rahmen für die Möglichkeit einer diskursive Integration jener Gehalte bereitzustellen, ohne dabei die Dichotomie zwischen säkularer Rationalität und identitätsbedingter Glaubenstreue in der Praxis der Zivilgesellschaft zu vertiefen. Julia Mour¼o Permoser erörtert in ihrem Beitrag „Österreichs Abgeordnete im Europäischen Parlament: Zwischen Privatisierung und Politisierung der Religion“ die Rolle der Religion im Europäischen Parlament, vor allem im Hinblick auf die Arbeit und Einstellungen der österreichischen Europa-Abgeordneten. Die Hauptthese, die anhand einiger Beispiele belegt wird, geht dahin, dass die Religion des „Anderen“ systematisch politisiert wird, während die Religion der Mehrheit privatisiert wird. Wolfram Reiss analysiert in seinem Artikel „Religiös-kulturelle Betreuung im Strafvollzug. Herausforderungen für Staat, Anstalten, Religionsgemeinschaften und Forschung“ besonders die religiöse Betreuung in der Institution Gefängnis, an der paradigmatisch Rückschlüsse über die institutionelle und kulturelle Verfasstheit eines Staates überhaupt möglich wären. Der Artikel bietet einen Überblick über religiöse und ethnische Gruppen, die im Justizvollzug von Bedeutung sind sowie über den aktuellen Stand der religiösen Betreuung. Diese ist bisher kaum Gegenstand der Forschung, obwohl sie sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt hat. Neue Konzepte der Häftlingsbetreuung, die der multikulturellen und multireligiösen Situation Rechnung tragen, müssen in Zusammenarbeit von Staat, Zivilgesellschaft und Religionsgemeinschaften entwickelt werden. Den Abschluss des Bandes bildet ein Beitrag von Astrid Mattes unter dem Titel „Towards a universal religion? Symbolic boundaries in Austrian immigrant integration policies“. Darin wird anhand einer Fallstudie zur österreichischen Integrationspolitik zwischen 2008–2013 der Frage nachgegangen, wie sich die Rolle von Religionen, namentlich des Christentums und des Islams, in der 12 Kurt Appel / Isabella Guanzini Konstruktion kollektiver Identitäten seitens öffentlicher Autoritäten verändert hat. Während, so die These der Arbeit, das Christentum als Ressource universaler Werte behandelt und somit zum Identitätsmerkmal des „Eigenen“ gemacht wird, lässt sich in der Adressierung des Islams eine Entwicklung beobachten. Ausgehend von der zunächst deutlichen Zuschreibung der Funktion des „Anderen“ kommt es im Zuge institutioneller und parteipolitischer Veränderungen zu einer schrittweisen Einbeziehung bei gleichzeitiger Ausgrenzung von bestimmten, diskursiv weiterhin mit dem Islam verbundenen, Elementen. Abschließend wollen wir die Gelegenheit nutzen und allen, die an der Entstehung dieses Bandes beteiligt waren, herzlich danken, den Autoren, aber auch Isabella Bruckner, Agnes Leyrer, Christoph Tröbinger, Julia Mour¼o Permoser sowie Francesco Ghia, der den Review-Prozess durchgeführt hat. I. Philosophische Perspektiven einer europäischen Geistesgeschichte Christian Danz Religion – Reformation – Moderne. Anmerkungen zur Bedeutung der Religionsgeschichte für Europa Wer über die Bedeutung der Religionsgeschichte für Europa nachdenkt, wird gut daran tun, sich zunächst den Facettenreichtum seiner Themenstellung ins Bewusstsein zu rufen. Die Frage kann in einem deskriptiven Sinne gemeint sein und sich auf die geschichtliche Rolle der Religionen für die Herausbildung des gegenwärtigen Europas und seiner Identität beziehen. Das Interesse an der Geschichte zielt indes, worauf bereits Ernst Troeltsch hingewiesen hat, stets auch auf ein „Verständnis der Gegenwart“.1 Die Frage nach der Bedeutung der Religionsgeschichte verbindet sich dann mit der nach der möglichen weiteren Gestaltung Europas durch die Religionen. Die kurzen Andeutungen machen bereits deutlich, dass sich in der Themenstellung deskriptive und normative Perspektiven überlagern. Deshalb beinhaltet die Frage nach der Bedeutung der Religionsgeschichte für Europa stets auch eine Stellungnahme zu dem umstrittenen Verhältnis von Religion und Moderne. Damit erweitert sich freilich die Themenstellung um die Probleme des Religionsbegriffs und um die der gesellschaftlichen Evolution. Angesichts der angedeuteten Überlagerung und Verschränkung von Problemstellungen kann es nicht überraschen, dass die Bedeutung der Religionen und ihrer Geschichte für Europa schon in den Sozialwissenschaften höchst unterschiedlich eingeschätzt wird. Sie bewegen sich um die Extreme Säkularisierung auf der einen Seite und Wiederkehr der Religion auf der anderen. Während ältere Theorien der modernen Gesellschaft von einer Unverträglichkeit von Religion und Moderne ausgegangen sind, so dass jene mit zunehmender Modernisierung verschwinde, mehren sich in den letzten Jahren Stimmen, welche in dieser Deutung der gesellschaftlichen Evolution lediglich „Gründungsmythen zeitgenössischer europäischer Identität“ erblicken.2 Es sei das Selbstbild der Moderne, welches Religion ausschließe,3 aber dieses Bild trügt. Es 1 Troeltsch 2011, S. 206. 2 Casanova 2009, S. 10. 3 Vgl. hierzu auch Seiwert 1995. 16 Christian Danz verkenne die prägende Rolle von Religionen und religiösen Diskursen für das Selbstbild Europas. Die jüdisch-christlichen Wurzeln Europas sind neben der Antike und der Aufklärung auch gar nicht zu bestreiten.4 Schon Ernst Troeltsch hatte in seinem Historismusband als Aufbauelemente der europäischen Kultursynthese den hebräischen Prophetismus, das klassische Griechentum, den antiken Imperialismus sowie das abendländische Mittelalter benannt.5 „Diese vier Urgewalten sind es, die als die tragenden Grundpfeiler und als die fortzeugenden Kräfte noch die moderne Welt tragen und durchwirken und mit deren Eigenem sich unübersehbar kreuzen und vermischen. Aus allem zusammen und aus dem Einsatz neuer Kräfte muß die seelische Kraft der Zukunft herausgearbeitet werden.“6 Allerdings sind Kollektivsingulare wie das Christentum ebenso Abstraktionen wie der Islam, das Judentum oder der Protestantismus. Geschichtlich gibt es solche Religionsfamilien lediglich im Streit von höchst divergierenden und konfligierenden Selbstdeutungen. Insofern besagt auch der Hinweis auf die jüdisch-christlichen Wurzeln des Abendlandes noch nichts über deren Beitrag für die Herausbildung des modernen Europas. Damit ist der Problemhorizont meiner nachfolgenden Überlegungen benannt. Sie können – aber das versteht sich von selbst – das Thema nicht in seinem ganzen Facettenreichtum erschöpfend behandeln. Ich beschränke mich auf einen Ausschnitt aus der europäischen Religionsgeschichte. Einsetzen werde ich mit der Reformation. Sie markiert ohne Zweifel einen epochalen Bruch in der europäischen Religionsgeschichte. In ihrer Folge koexistierten divergierende konfessionelle Auffassungen über das Christliche in Europa. Sodann ist in einem zweiten Abschnitt auf die europäische Aufklärung einzugehen. In den Religionsdiskursen der „Sattelzeit der Moderne“ (R. Koselleck) kommt es sowohl im Religionssystem als auch in der Gesellschaft zu beschleunigten Transformationen mit einer hohen Entwicklungsdynamik. Vor diesem problemgeschichtlichen Hintergrund kann dann abschließend in einem dritten Abschnitt Stellung zu den in der Gegenwart kontrovers diskutierten Fragen nach der Bedeutung der Religionen für Europa genommen werden. Es wird sich zeigen, dass die Bedeutung der Religionsgeschichte für Europa sehr ambivalent ausfällt. Das beinhaltet freilich für die Religionen die Aufgabe, ein kritisches Selbstverständnis ihrer eigenen Geschichte auszuarbeiten. Nur so können sie einen Beitrag für die europäischen Selbstverständigungsdebatten leisten. 4 Vgl. nur aus dem gegenwärtigen Diskurs Casanova 2009, S. 29. 5 Vgl. Troeltsch 2008, S. 1081–1099. 6 Troeltsch 2008, S. 1093. Religion – Reformation – Moderne 1. 17 Luther und die moderne Welt, oder die Ambivalenz der Reformation Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat in seinen 1822 bis 1831 gehaltenen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie in der Reformation und vor allem in der Gestalt Martin Luthers die „Hauptrevolution“ erblickt, in der „aus der unendlichen Entzweiung […] der Geist zum Bewußtsein der Versöhnung seiner selbst kam“.7 Die Reformation ist nicht nur das weltgeschichtliche Datum, mit dem das Zeitalter der Subjektivität und der Freiheit des Individuums anhebt, auch der Reformator trägt für den Berliner Philosophen durch und durch die Züge der Neuzeit, welche das dunkle Mittelalter weit hinter sich lässt. Eine solche Deutung Luthers findet sich freilich nicht nur bei Hegel, sie ist geradezu signifikant für den Protestantismus des 19. Jahrhunderts. Protestantische Intellektuelle machten, gern auch in Absetzung von der Modernitätsuntauglichkeit und Inferiorität des Katholizismus, den Beginn der Moderne an der Reformation fest und sahen ihre eigene Gegenwart in unmittelbarer Kontinuität zu den Hammerschlägen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche.8 Gewiss, die Deutungen der Reformation sowie ihre Einordnung in den geschichtlichen Entwicklungsgang hängen selbst wieder von einer Stellungnahme zu ihr ab. Aber ist die Reformation wirklich die Morgenröte der neueren Geschichte, wie Hegel meinte, oder nicht doch eine verhängnisvolle Kirchenspaltung, die es zu überwinden gelte?9 Luther hat in der Tat die Innerlichkeit und Individualität in das Zentrum der Religion gerückt.10 Die religiöse Subjektivität tritt in Form des Sündengedankens in den Vordergrund. Dem korrespondiert die grundlegende Funktion des Glaubens als dem Inbegriff und Ganzen des christlichen Heils vor Gott. Der Wittenberger kann den gesamten Gehalt der christlichen Religion in der Formel „[g]laubst du, so hast du; glaubst du nicht, so hast du nicht“ zusammenfassen.11 Die sakramentalen Vermittlungen der mittelalterlichen Kirche treten gegenüber der Subjektivität des Glaubens vollständig in den Hintergrund. Auf der Grundlage des innerlichkeitsbezogenen Glaubensbegriffs werden von dem Reformator die Sozialformen der christlichen Religion umgebildet, sodass ein gegenüber dem überlieferten Kirchenverständnis völlig neuartiges Gebilde entsteht. Die wahre Kirche – die unsichtbare Gemeinschaft der Glaubenden – fällt nicht mehr mit der Institution zusammen. 7 8 9 10 11 Hegel 1982, S. 128. Vgl. hierzu Brandhorst 1981. Zu der Kontroverse vgl. Troeltsch 2001; Nipperdey 1986a; Ebeling 1975. Vgl. auch Bellah 2006, bes. S. 40–44. Ausführlich zur Theologie Luthers vgl. Danz 2013a. Luther 1995a, S. 243. 18 Christian Danz Auch das Verhältnis von Kirche und Staat erfährt eine Neudeutung. Die Kirche ist ausschließlich auf die Innendimension des Glaubens bezogen und die staatliche Gewalt auf das äußere Zusammenleben. „Das weltliche Regiment hat Gesetze, die sich nicht weiter erstrecken als über Leib und Gut und was äußerlich ist auf Erden. Denn über die Seele kann und will Gott niemanden regieren lassen als sich selbst allein. Darum: Wo weltliche Gewalt sich anmaßt, der Seele Gesetze zu geben, da greift sie Gott in sein Regiment und verführt und verdirbt nur die Seelen.“12 Die Dimension der Innerlichkeit, also das Gewissen des Menschen, ist der staatlichen Gewalt entzogen. Hier regiert Gott allein. Wo sich die weltliche Gewalt anmaßt, über das Gewissen zu regieren, da maßt sie sich verwerflicher Weise die Stelle Gottes an, die ihr nicht zusteht. Umgekehrt kann freilich auch die Welt nicht durch das geistliche Regiment regiert werden. Es bezieht sich ausschließlich auf die Innendimension des Glaubens. Allerdings bedarf der wahre Christ weder des Staates noch des Rechts. Er erduldet alles Unrecht und Leiden als von Gott gegeben.13 Der angedeutete innerlichkeitsbezogene Glaubensbegriff Luthers, die Entdeckung der religiösen Individualität sowie die aus ihm hieraus gezogenen Konsequenzen für die Sozialgestalt der Religion mögen modern anmutende Elemente enthalten, sie werden jedoch im Zaume gehalten und überlagert durch die Macht seines Bibelverständnisses, die radikale Betonung des Erbsündengedankens sowie die aus diesem folgende Begründung der Notwendigkeit des Staates zur Eindämmung der Bösen. Das in der Heiligen Schrift niedergelegte Wort Gottes ist die einzige Autorität in religiösen Dingen. Hierzu muss die Bibel freilich selbst in den Rang einer unfehlbaren Wahrheitsinstanz treten, die – im Hinblick auf das Heil des Menschen – klar und vollständig ist und jeden Einzelnen selbst von ihrer Wahrheit überführt. Auch die Freiheit des Christenmenschen meint keine Autonomie, sondern allein die von Gott geschenkte Freiheit von Gesetz und Sünde. Von Luthers Neuprägung des Christentumsverständnisses führt ebenso wenig wie von dem Calvins ein direkter Weg in die Moderne. Gleichwohl bedeutete die Reformation für das frühneuzeitliche Europa einen Modernisierungsschub sondergleichen. Er besteht in dem gegenläufigen Verhältnis von äußerer Pluralisierung und innerer Homogenisierung, welches von der Geschichtsforschung seit einiger Zeit als Konfessionalisierung beschrieben wird.14 In Folge der Reformation sowie des Augsburger Religionsfriedens koexistierten divergierende christliche Konfessionen in Europa, die für die jeweils eigene Deutung des Christlichen den Anspruch erhoben, die einzig wahre Gestalt zu 12 Luther 1995b, S. 60. Vgl. hierzu Holl 1932. 13 Vgl. nur Luther 1995b, S. 48. 14 Vgl. hierzu Kaufmann 2009, S. 702–709. Religion – Reformation – Moderne 19 sein, während alle anderen als Teufelszeug und Häresie zu verdammen sind. Dadurch ändert sich allerdings auch das Verhältnis von Religion und Gesellschaft. Auch wenn das Stichwort corpus christianum die religionskulturelle Lage des Mittelalters sowie die Situation in Deutschland am Ende des 15. Jahrhunderts nur sehr unangemessen beschreibt,15 so muss man doch mit einer relativ homogenen kirchlichen Einheitskultur rechnen, in der die gemeinsame Religion den Einzelnen in die Gesamtgesellschaft integriert. Mit der Reformation hat sich diese Form der gesellschaftlichen Integration durch die Religion insofern grundlegend geändert, als diese nun allein noch durch divergierende Konfessionen auf der Ebene von kleineren staatlichen Territorien möglich ist. Die Einheitskultur wird nun auf der Ebene der Territorialstaaten als Konfessionskulturen durchgesetzt, und zwar wesentlich effektiver als zuvor.16 Im Hinblick auf die Genese der modernen Welt sind die Reformation und das konfessionelle Zeitalter ambivalent. Die Zuspitzung der Religion auf die Innerlichkeit des Subjekts wird bei Luther von der Objektivität der Schriftautorität überlagert. Der durch die Reformation bewirkten religiösen Differenzierung nach außen korrespondiert in den unterschiedlichen religiösen Territorien eine hohe Homogenisierung nach innen. 2. Die Transformation der Religionsdiskurse in der Sattelzeit der Moderne Die Reformation hat die cum grano salis mittelalterliche Einheitskultur aufgelöst und das, wie es Ernst Troeltsch in seiner Studie Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt aus dem Jahre 1906 nannte, konfessionelle Zeitalter herbeigeführt. Drei einander ausschließende und verdammende infallible Kirchentümer diskreditierten das Kirchentum überhaupt, von dem es keinen Plural gibt. Das 16. und 17. Jahrhundert sind nicht mehr Mittelalter, aber sie sind auch nicht Neuzeit; sie sind das konfessionelle Zeitalter der europäischen Geschichte, und erst aus der gegenseitigen, freilich nur relativen Zerreibung dieser drei Übernatürlichkeiten ist die moderne Welt entstanden, die zwar wohl das Übersinnliche, aber nicht mehr das mittelalterliche Übernatürliche kennt.17 Durch die Reformation wurde die europäische Religionsgeschichte wohl grundlegend pluralisiert, aber es wurden nicht die modernen Ideen von Religions- und Gewissensfreiheit sowie des modernen Staates hervorgebracht. Dies 15 Vgl. hierzu Wall 1999; Kohnle 2005. 16 Zum Stichwort Konfessionskulturen vgl. Graf 2001. 17 Troeltsch 2001, S. 247. 20 Christian Danz ist erst das Werk der europäischen Aufklärung. Sie sei – so Troeltsch – „Beginn und Grundlage der eigentlich modernen Periode der europäischen Kultur und Geschichte“18 und bedeute „eine Gesamtumwälzung der Kultur auf allen Lebensgebieten“.19 Die Aufklärung habe zwar religiöse Wurzeln, welche mit der Reformation zusammenhängen, aber nicht auf die aus dieser hervorgegangenen Konfessionskirchen und ihre Wahrheitsansprüche zurückgeführt werden können. Vielmehr seien es die Stiefkinder der Reformation gewesen, die Täufer und Spiritualisten, der englische Independentismus sowie andere reformatorische Sekten, von den neuen Kirchentümern ebenso wie von den Altgläubigen in die „neue Welt“20 vertrieben und von dort auf Europa rückwirkend, welche die Ideen der Menschenrechte, der religiösen Toleranz, der Gewissensfreiheit sowie der Trennung von Kirche und Staat hervorgebracht haben.21 Die religiösen Wurzeln der Moderne liegen nur mittelbar in der Reformation. Die modernen Ideen der Autonomie des Individuums, der Religionsfreiheit sowie der Unterscheidung von Kirche und Staat, die zu den Grundvoraussetzungen des europäisch-demokratischen Selbstverständnisses gehören, sind im Hinblick auf die Reformation eine Wirkung wider Willen. Zivilisiert wurde die europäische Religionsgeschichte nicht durch die Religionen, sondern durch den Staat. Die Entstehung des modernen Staates, der als das Werk eines aus der menschlichen Vernunft hervorgehenden Vertrags und nicht mehr als Stiftung Gottes verstanden wird, sowie – damit einhergehend – die Emanzipation der Rechtsordnung von der Religion im 17. Jahrhundert infolge der rationalen Umformung des Naturrechts durch Hugo Grotius, Samuel Pufendorf und andere neutralisierte zunehmend die konfessionellen Geltungsansprüche. Der mortal god beschränkt die Willkür der Individuen mit Zwangsgewalt und stiftet dadurch Frieden. Die Selbsterhaltung und Durchsetzung der konfessionellen Wahrheitsansprüche, welche ohne übergreifende rationale Ordnungsstrukturen in einen Krieg aller gegen alle treibt, findet ihre Grenze am Recht. Es ist, mit Immanuel Kant gesprochen, „der Inbegriff der Bedingungen“, „unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“.22 Als solches ist es mit Zwang 18 19 20 21 Troeltsch 1925, S. 338. Vgl. hierzu Pfleiderer / Heit 2008. Troeltsch 1925, S. 339. Troeltsch 2001, S. 267. Vgl. Troeltsch 2001, S. 268: „Hier wurzelt die altliberale Theorie von der Unantastbarkeit des persönlich-inneren Lebens durch den Staat, welche dann nur weiter auch auf mehr äußerliche Dinge ausgedehnt wurde; hier ist das Ende der mittelalterlichen Kulturidee bewirkt, ist an die Stelle der staatlich-kirchlichen Zwangskultur der Anfang der modernen kirchenfreien individuellen Kultur getreten. Es ist zunächst ein rein religiöser Gedanke. Er ist dann säkularisiert und von der rationalistischen, skeptischen und utilitaristischen Toleranzidee überwuchert worden.“ Vgl. hierzu Anselm 2008. 22 Kant 1983, S. 337 (A 33). Religion – Reformation – Moderne 21 verbunden. Jeder hat seine eigene Freiheit so einzuschränken, dass sie mit der Freiheit des anderen zusammen bestehen kann. Das aufgeklärte Zeitalter der Toleranz kannte freilich weder eine grundgesetzlich gesicherte Religionsfreiheit noch andere Grundrechte des Individuums – sie erlangten in ganz Deutschland auch erst nach 1989 Geltung. Und auch das Toleranzverständnis bezog sich, wie John Locke in seinem für die aufgeklärten Debatten einflussreichen Brief über Toleranz erklärte, auf religiös Andersdenkende, nicht aber auf Atheisten und Katholiken.23 Beide gefährden gleichermaßen die bürgerliche Ordnung. Die einen, weil sie keine überindividuelle Instanz anerkennen und somit auch keinen Eid leisten können, und die anderen sind dem römischen Papst zum Gehorsam verpflichtet und können es somit gegenüber der staatlichen Ordnung nicht mehr sein. Die veränderten Rahmenbedingungen, das Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft, führten um 1800 in den sich abkühlenden Konfessionskulturen zu einer hohen Veränderungsdynamik. Letzteres spiegelt sich in den Debatten über zunehmenden Religionsindifferentismus.24 Das gehört allerdings zu den Mustern des Diskurses. Entscheidender für unsere Fragestellung sind die Transformationen im Religionssystem selbst. Die von Friedrich Heinrich Jacobi Gotthold Ephraim Lessing in den Mund gelegten Worte, er – Lessing – könne die orthodoxen Begriffe von Gott nicht mehr genießen, markieren einen Wandel im Gottesbild. Die überlieferten Begriffe von Gott als weltenthobenes persönliches Wesen, welches die Welt ex nihilo geschaffen hat, ließen sich mit dem veränderten Selbst- und Weltverständnis des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts nicht mehr vermitteln. Dies schlägt sich nirgends so deutlich nieder wie in den großen Streitsachen über die göttlichen Dinge in der Sattelzeit der Moderne.25 Sowohl der zwischen Jacobi und Moses Mendelssohn in den 1785er Jahren geführte Pantheismusstreit als auch der 1798 an der Jenaer Universität entbrannte Atheismusstreit um Johann Gottlieb Fichte sowie der 1811/12 zwischen Jacobi und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling ausgetragene Theismusstreit indizieren einen dramatischen Plausibilitätsverlust des überlieferten christlichen Gottesgedankens. Diese komplexen und keineswegs einlinigen Transformationsprozesse lassen sich mit der Kategorie der Säkularisierung nur sehr unangemessen erfassen. Die vielschichtigen Überlagerungen und Entgegensetzungen in den Religionsdiskursen der Sattelzeit reflektieren vielmehr die einsetzende gesellschaftliche Ausdifferenzierung. Jetzt erst wird nach der Eigenständigkeit der Religion und ihrem kategorialen Unterschied zu Denken und Handeln, Politik 23 Locke [1685/86] 1975. 24 Vgl. Niethammer 1796. 25 Vgl. hierzu Essen / Danz 2012. 22 Christian Danz und Moral gefragt.26 Die „komplexe Fülle teilweise sich widersprechender Entwicklungen“ um 1800 sei, so Hartmut Lehmann, eher als ein Ensemble von Prozessen der Säkularisierung, Dechristianisierung und Rechristianisierung zu beschreiben.27 Die Religionsdiskurse pluralisieren sich bereits um 1800, und das nicht nur in den christlichen Konfessionskulturen. Zugleich spielt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Religion sowohl in den staatstheoretischen als auch den politischen Debatten eine zentrale Rolle. Ihr obliegt nicht nur die Stärkung der Moralität der Staatsbürger,28 sondern vor allem auch die Aufgabe der gesellschaftlichen Integration. Ohne Religion – so die Meinung durch alle Konfessionskulturen und deren innere Positionsvielfalt hindurch – lasse sich die fragmentierte Gesellschaft nicht integrieren.29 Angriffe auf die Religion werden folglich, wie die kontroversen Debatten um den vermeintlichen Atheismus etwa eines Johann Gottlieb Fichte deutlich machen, als Angriff auf die staatliche Ordnung und ihre Voraussetzungen empfunden. Die für die staatliche Ordnung elementare Funktion der Religion macht erst die Aufregung und einhellige Verurteilung quer durch alle theologischen Lager verständlich, welche das 1835 erschienene epochale Jugendwerk von David Friedrich Strauß erfuhr.30 Die Religionsdiskurse um 1800 dokumentieren starke Transformationen und Verschiebungen im religiösen Feld sowie in den religiösen Semantiken. Einerseits wird die Religion zunehmend von kosmologischen Spekulationen sowie dem politischen Feld abgelöst, und anderseits wird deren unverzichtbare Funktion für den Staat sowie die Gesellschaft betont. 3. Religion in den Diskursen der Moderne Die Bedeutung der Religionsgeschichte für die Herausbildung des modernen europäischen Selbstverständnisses ist – wie wir gesehen haben – komplex und vor allem ambivalent. Von den Konfessionskulturen führt kein direkter Weg ins 26 Vgl. nur Schleiermacher 1984. 27 Vgl. Lehmann 1997, S. 13. Vgl. auch ebd.: „Versteht man unter Säkularisierung ein Nachlassen der Orientierung von Einzelnen, von Gruppen und der ganzen Gesellschaft an übernatürlichen Instanzen und Kräften, wobei das Christentum nur eine Variante dieser Grundeinstellung darstellen würde, faßt der Begriff Dechristianisierung sehr viel präziser das Nachlassen eines spezifisch christlichen Einflusses, sei es in der Politik und bei der Begründung der politischen Ordnung, bei der Aufrechterhaltung von öffentlicher Moral, im Erziehungswesen, oder beim Umgang mit Krankheit und Tod, um nur einige von vielen Formen christlicher Prägung des Lebens zu nennen“. 28 Vgl. nur Hegel 1956, S. 220–233 (§ 270). 29 Vgl. Nipperdey 1986b, bes. S. 168; Graf 2005; Danz 2013b. 30 Vgl. hierzu Graf 1989. Religion – Reformation – Moderne 23 moderne Europa. Die Etablierung der rechtlichen Ordnung im Staat sowie im 20. Jahrhundert die Gewährung von individuellen Grund- und Freiheitsrechten garantieren das friedliche Zusammenleben der Bürger und nicht die Religion. Allerdings beschleunigt das Grundrecht auf Religionsfreiheit auch die Transformationen von Religionssystemen. Der Symboltransfer auf den globalen religiösen Märkten etabliert eine hohe Veränderungsdynamik in den Religionsfamilien, so dass die Innen- und Außengrenzen von Religionswelten zunehmend unschärfer werden. Dadurch erhöht sich nicht nur die innere Pluralisierung und Fragmentierung der Religionsfamilien, sondern es treten neue Spannungen in Folge von Neuerfindungen religiöser Identitäten und mit ihnen verbundener Exklusionen auf. Die staatliche Rechtsordnung befriedet das Zusammenleben und befördert zugleich eine beschleunigte religiöse Differenzierung. Welche Funktion kommt den Religionen vor diesem Hintergrund für das gegenwärtige Europa, die vielfältigen europäischen Integrationsprozesse sowie die Bearbeitung der strukturellen Verwerfungen der modernen Gesellschaft zu? In einer Reihe von Beiträgen hat in den letzten Jahren Jürgen Habermas auf die Bedeutung der Religion auch für die moderne – von ihm nun postsäkular genannte – Gesellschaft aufmerksam gemacht.31 Angesichts eines durch die gesamtgesellschaftliche Modernisierung aus dem Gleichgewicht geratenen Verhältnisses zwischen den zentralen Steuerungsfunktionen der Gesellschaft, insbesondere einer zunehmenden Dominanz des Marktes sowie einer hiermit verbundenen Umstellung der Einstellungen auf „Mechanismen des erfolgsorientierten, an je eigenen Präferenzen orientierten Handelns“,32 können die religiösen Traditionen auch einer sich säkular verstehenden Gesellschaft nicht mehr gleichgültig sein. „Im Gegensatz zur ethischen Enthaltsamkeit eines nachmetaphysischen Denkens, dem sich jeder generell verbindliche Begriff vom guten und exemplarischen Leben entzieht, sind in heiligen Schriften und religiösen Überlieferungen Intuitionen von Verfehlung und Erlösung, vom rettenden Ausgang aus einem als heillos erfahrenen Leben artikuliert, über Jahrtausende hinweg subtil ausbuchstabiert und hermeneutisch wach gehalten worden.“33 Die 31 Vgl. Habermas 2001; Ders. 2005a. Zur Religionstheorie von Habermas vgl. Langthaler / Nagl-Docekal 2007; Danz 2008. 32 Habermas 2005b, S. 112. 33 Habermas 2005b, S. 115. Vgl. schon Ders. 1992, S. 60: „Die ihrer Weltbildfunktionen weitgehend beraubte Religion ist, von außen betrachtet, nach wie vor unersetzlich für den normalisierenden Umgang mit dem Außeralltäglichen im Alltag. Deshalb koexistiert auch das nachmetaphysische Denken noch mit einer religiösen Praxis. Und dies nicht im Sinne der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem. Die fortbestehende Koexistenz beleuchtet sogar eine merkwürdige Abhängigkeit einer Philosophie, die ihren Kontakt mit dem Außeralltäglichen eingebüßt hat. Solange die religiöse Sprache inspirierende, ja unaufgebbare semantische Gehalte mit sich führt, die sich der Ausdruckskraft einer philosophischen Sprache (vorerst?) entziehen und der Übersetzung in begründende Diskurse noch harren, wird die 24 Christian Danz religiösen Überlieferungen verfügen über eine Artikulationskraft, auf welche die profane Vernunft zwar nicht verzichten, die sie sich aber als Religion auch nicht zu eigen machen kann. Es komme daher auf eine rettende Aneignung und Übersetzung der semantischen Potentiale der Religionen an. Was allerdings unter den semantischen Potentialen der Religion, welche der postsäkularen Gesellschaft gleichsam auf halbem Wege entgegenkommen, genauer zu verstehen sei, ist nicht nur unklar, der Rekurs auf sie verrät auch einen unzulänglichen Begriff der Religion. Sind damit die biblischen Texte gemeint oder deren moderne Umformungen und Interpretationen? Lässt sich Religion so verstehen, dass sie gleichsam invariante Gehalte durch die Geschichte transportiert, damit diese dann in säkulare Vernunft transformiert werden können? Vor dem Hintergrund der angedeuteten Schwierigkeiten des Versuchs von Jürgen Habermas, die semantischen Potentiale der Religion durch eine rettende Aneignung zu bewahren, wurde in den Debatten der Vorschlag unterbreitet, die Religionen müssten selbst gesellschaftliche Perspektiven entwickeln, wenn sie in Zukunft noch eine Bedeutung für den gesellschaftlichen Diskurs spielen wollen. „Es fehlt den meisten Religionsgemeinschaften“, so unlängst Ferdinand Sutterlüty, „heute ein gesellschaftliches Projekt, das sie bräuchten, um in der zivilen Öffentlichkeit eine größere Rolle spielen zu können.“34 Solche Vorschläge bekunden ein hohes Vertrauen in die Modernisierungsfähigkeit von religiösen Traditionen sowie deren Umgang mit ihren eigenen Ambivalenzen. Jede Religion artikuliert umfassende normative Leitbilder des gesellschaftlichen Lebens sowie dichte Vergemeinschaftungsformen mit klaren Unterscheidungen von gut und böse. Gesellschaftliche Projekte von Religionen, welche durchaus erfolgreich die hohe innere Fragmentierung und Zerklüftung der modernen Gesellschaft integrierten, beendeten das lange 19. Jahrhundert am 1. August 1914 mit. Die religiöse Deutung des Krieges wirkte in vielen europäischen Ländern als „Integrationsideologie“, die es erlaubte, soziale Brüche und Verwerfungen zu überbrücken. Diskriminierten Minderheiten, wie den Protestanten in Österreich oder den Katholiken in Deutschland, bot der Krieg die Möglichkeit, nicht mehr als Außenseiter angesehen zu werden. Sie konnten nun ihre Vaterlandstreue unter Beweis stellen, was sie auch umstandslos taten. Der Hinweis auf den Ersten Weltkrieg mag übertrieben erscheinen. Allerdings sind auch alle anderen Betätigungsfelder für gesellschaftliche Projekte von Religionen, etwa die Kritik des Kapitalismus oder an dekadenten westlichen Lebensstilen etc., mit demselben Problem konfrontiert wie die religiöse Philosophie auch in ihrer nachmetaphysischen Gestalt Religion weder ersetzen noch verdrängen können.“ 34 Sutterlüty 2012, S. 61. Religion – Reformation – Moderne 25 Kriegsideologie vor einhundert Jahren.35 Sie greifen komplexitätsreduzierend auf die Gesamtgesellschaft in einer normativen Perspektive aus. Die strukturellen Probleme der funktional ausdifferenzierten modernen Gesellschaft lassen sich indes weder durch romantische noch durch religiöse Einheitsideale überwinden. Die gesellschaftlichen Leitbilder der diversen Christentümer kritisch restringiert zu haben, gehört, wie der Durchgang durch die europäische Religionsgeschichte deutlich gemacht haben dürfte, zu den unhintergehbaren Errungenschaften der Moderne. Haben dann aber nicht diejenigen Modernisierungstheoretiker doch Recht, welche eine Unverträglichkeit von Religion und moderner Gesellschaft unterstellen? Diese Konsequenz legt sich mit Blick auf die europäische Religionsgeschichte freilich nicht nahe. Allerdings stellt die Religionsgeschichte eine für die Religionen selbst wahrzunehmende Aufgabe. Sie betrifft den Kern religiösen Bewusstseins. In religiösen Identitätskonstruktionen artikulieren sich immer letzte Gewissheiten mit umfassenden normativen Leitbildern und klaren Unterscheidungen von gut und böse. Für das religiöse Bewusstsein sind eine Unbedingtheits-, eine Einheits- sowie eine Totalitätsdimension konstitutiv, welche die gesamte Gesellschaft einbezieht. In jeder Religion geht es um eine Totaldeutung menschlichen Lebens sowie der Gesellschaft. Die Welt als ganze wird in der christlichen Tradition als Schöpfung Gottes verstanden, und der Mensch ist zugleich ganz Sünder und ganz Gerechter. Dieser für das religiöse Bewusstsein grundlegende Totalitätsbezug stiftet zwar eindeutige Orientierungen, aber er prallt an der modernen Gesellschaft ab. Letztere kennt keine übergreifende und integrierende Einheitsfunktion mehr, sondern lediglich Subsysteme, welche jeweils füreinander Umwelt sind. Auch die Religion hat in der modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft keine gesamtgesellschaftliche Funktion mehr inne. Sie ist zu einem gesellschaftlichen Subsystem neben anderen geworden.36 Die Subsysteme der modernen Gesellschaft wie Recht, Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst etc. folgen allein ihrer eigenen Funktionslogik – ohne übergreifende Einheit. Normative religiöse Leitbilder des gesellschaftlichen Ganzen und Gesellschaft fallen nicht mehr zusammen. Aus der Spannung zwischen religiösem Totalitätsbezug und funktional ausdifferenzierter Gesellschaft resultieren die mit der Religion verbundenen Ambivalenzen sowie die religiösen Konflikte der Gegenwart. Religionen müssen sich, wie es Niklas Luhmann formuliert hat, in der modernen Gesellschaft darauf einstellen, dass es neben ihnen andere gibt und 35 Vgl. hierzu jüngst Graf 2014. 36 Eben dies beinhaltet der religionssoziologische Begriff der Säkularisierung. Vgl. Luhmann 2000, S. 278–319.
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