Kapitel 8: Eine brennende Frage Wie naturnah oder naturfern wir uns verhalten spielt auch bei der Brennholzfrage eine Rolle. In Kapitel 1 hatte ich beschrieben, dass die Sicherstellung der Brennholzversorgung ein Kernthema bei der Bürgerbeteiligung war. Im Soonwald schien es aus der Ferne betrachtet sogar das alles entscheidende Thema zu sein, weshalb ich den Auftrag bekam zunächst einmal für die Soonwaldregion ein Brennholzkonzept zu entwickeln. Das Ziel war klar: auch bei Ausweisung eines Nationalparks sollte genügend Brennholz für die Bevölkerung zur Verfügung stehen. Völlig unklar war mir zunächst, wie das zu bewerkstelligen sei. Viele Lösungsvorschläge schwirrten durch die Luft - einer ungeeigneter als der andere. Versorgung aus anderen Landesteilen? Jährlich 10.000 Kubikmeter Brennholz aus dem Pfälzerwald oder aus dem Idarwald in den Soonwald verfrachten? Unmöglich! Die Errichtung eines Nationalparks ist ein Leuchtturmprojekt des Naturschutzes. Und was fällt uns als erstes ein, wenn es Schwierigkeiten gibt? Eine Fahrzeugflotte in Bewegung setzen, CO2 emitieren und schon ist das Problem gelöst – wie immer mit Öl und mit Technik. Weniger passend zum Nationalpark geht es kaum noch. Brennholzversorgung aus den Nahehängen? Völlig inakzeptabel! Der Soonwald hat viele fast ebene oder nur schwach geneigte Lagen. Die Bevölkerung, die am Rand des Soonwaldes lebt, ist es gewohnt, an ihr Brennholz ohne großen Aufwand heranzukommen. Für die Soonwälder wäre es wohl kaum eine akzeptable Alternative gewesen, mit dem Traktor die fünfzehn Kilometer runter zur Nahe zu fahren, um dann dort in den Steillagen ihr Brennholz zu schlagen. Versorgung aus dem Gemeindewald? Undenkbar! Der Gemeindewald gehört der Gemeinde. Sie hat die Entscheidungshoheit hinsichtlich der Verwendung des genutzten Holzes. Ich kann als Landesbeamter nicht daher kommen und einer Gemeinde vorschreiben, dass sie aus dem Wald, der ihr gehört, alles Holz als Brennholz verkauft. 98 Ich bin zunächst etwas ratlos. Um eine Anregung zur Lösung des Problems zu bekommen, studiere ich als erstes die IUCN-Schutzgebietsrichtlinien und werde fündig. Unter Kategorie II: Nationalpark, „Weitere Ziele“ ist unter anderem folgendes Ziel aufgeführt: „Berücksichtigung der Bedürfnisse der eingeborenen Bevölkerung und lokaler Gemeinschaften einschließlich der Nutzung von Ressourcen zur Deckung ihres Lebensbedarfs mit der Maßgabe, dass dies keinerlei nachteilige Auswirkungen auf das vorrangige Managementziel hat;…“ Das ist es! Die lokale Gemeinschaft. Ich muss sofort an mein Heimatdorf denken. Dort, genauso wie in den Nachbargemeinden, gibt es kein Bürgerhaus, sondern ein Gemeinschaftshaus. Viele Erinnerungen kommen hoch. Erinnerungen an Weihnachtsfeiern, an Wahlen, an den Leichenschmaus nach der Beerdigung meines Vaters. Ich fühle mich von dem Ausdruck lokale Gemeinschaft sofort angesprochen. In den nächsten Tagen führte ich viele Gespräche. Mit Kollegen, mit Juristen, mit Mitarbeitern anderer Nationalparks. Das Grundmuster des Gesprächsablaufs wiederholte sich und ging in etwa so: „Ich plane Brennholz aus dem Nationalpark zu gewinnen. Aus der Pflegezone. Was hälst Du davon?“ „Brennholz aus dem Nationalpark? Wie kommst Du denn auf die Idee?“ „Es geht um die Einwohner der lokalen Gemeinschaften, die direkt am Nationalpark wohnen. Sie benötigen die Ressource Holz, um ihr Haus im Winter zu heizen.“ „Nein, nein, das geht nicht. Mit lokalen Gemeinschaften sind die Indios in Brasilien gemeint. Das gilt nicht für Deutschland.“ „Und wo steht das?“ Nach dieser Frage trat in der Regel eine kleine Pause ein. Es steht halt nirgendwo! Die Antwort lautete meist „Das kann man sich doch denken.“ Eben das ist das Problem. Wir denken immer noch in unseren seit Jahrhunderten eingeübten Kategorien. Die „da unten“, die „Edlen Wilden“, die sind auf die natürlichen Ressourcen angewiesen. Die dürfen in den Wald gehen und Brennholz sammeln. Aber wir doch nicht! Wir können ja mit Öl heizen, wenn ein 99 Nationalpark die Brennholzversorgung beeinträchtigt. Oder eben Holz von woanders herbeischaffen – wozu man auch wieder Öl braucht. Wir haben immer ganz schnell eine Lösung zur Hand, die auf dem Schmiermittel unseres Wirtschaftssystems beruht, dem Öl. Aber wenn wir Globalisierung wirklich ernst nehmen, müssen die gleichen Regeln für alle gelten. Die Bürger aus dem Hochwald haben diesen Gedankengang übrigens sehr gut nachvollziehen können und sich nach der Vorstellung meines Brennholzkonzeptes scherzhaft Hochwald-Indianer genannt. Auch wenn ich mich ausdrücklich auf die lokalen Gemeinschaften bezogen habe und nicht auf die eingeborene Bevölkerung, habe ich diesen Scherz gerne mitgemacht. Naturschutz muss ja nicht zwangsläufig humorfrei sein. Doch auch die Bezeichnung lokale Gemeinschaft für die Einwohner eines Hunsrück- oder Nahedorfes sorgte für sehr lebhafte Diskussionen, die andauern und mit Sicherheit zukünftig weitergeführt werden. Deshalb möchte ich erläutern, wieso ich diesen Begriff ganz bewusst verwende: Naturvölker, Eingeborene, lokale Gemeinschaften, Ureinwohner, indigene Völker, Ökosystem-Menschen und noch viele mehr. Allein die Fülle der Bezeichnungen zeigt wie schwer uns der Umgang mit Menschen fällt, die nicht unserem Kulturkreis angehören. Nach der internationalen Definition könnte ich auch die Bayern als indigenes Volk sehen: - sie sind die relativ gesehen „ersten“ Bewohner die ein bestimmtes Gebiet vor der Kolonisierung (Reichgründung durch die Preußen 1871) bewohnten (Hier geht es schon los mit den Schwierigkeiten. Die allerersten Bewohner waren ja wohl die Neandertaler, dann kamen viele andere und die Bajuwaren setzten sich erst in der Völkerwanderungszeit, also vor anderthalb tausend Jahren im Voralpen- und Alpenraum fest. Dieses Problem, zu bestimmen wer denn nun die ersten waren, tritt weltweit häufiger auf, deshalb steht in der Definition auch „relativ gesehen“), - die Bayern verstehen sich bis heute als eigenständiges Volk (Wer könnte daran zweifeln?), - sie haben eigene soziale, wirtschaftliche und politische Einrichtungen 100 und kulturelle Traditionen (Wobei der Rest der Welt begonnen hat, zumindest Teile der kulturellen Traditionen der Bayern zu übernehmen. Selbst die Chinesen feiern schon Oktoberfest und die Amerikaner sowieso. Dieses Phänomen, dass die dominante Kultur Elemente der Indigenen übernimmt, kommt allerdings häufiger vor. Auch ich trage einen Ring, den ich mir bei den Navajos in Arizona gekauft habe. Indigenisierung heißt der Fachausdruck hierfür.) Wenn sie diesen kleinen Scherz allzu lächerlich finden, überlegen sie sich mal, wie zum Beispiel die Inuit (früher Eskimos genannt) in Grönland leben. Meinen sie wirklich, die fahren alle wie in alten Zeiten mit dem Hundeschlitten zur Jagd, mit der Walknochenharpune in der Hand und bauen sich dann abends zum Übernachten ihr Iglu? Auch die Inuit von heute benutzen Motorschlitten, verwenden Schnellfeuergewehre und schätzen den Nutzen eines in kürzester Zeit aufzubauenden Thermozeltes. Worum es bei dieser Indigenen-Diskussion wirklich geht, wurde mir auf einer Reise nach Chile bewusst. Ich besuchte einen befreundeten Förster, der nach Südamerika ausgewandert ist und dort die multifunktionale Forstwirtschaft nach deutschem Modell praktiziert. Eine große Herausforderung in einem Land, in dem üblicherweise nur die Plantagenwirtschaft angewandt wird. In einer LiveMusik-Bar in Temuco trafen wir eines Abends eine Bekannte von ihm, eine Mapuche-Indianerin, und es ergab sich ein für mich äußerst aufschlussreiches Gespräch. Die Mapuche sind die indigene Bevölkerung eines südlich von Santiago de Chile gelegenen bis nach Argentinien hinein reichenden Gebietes. Sie sind schon alleine deshalb ein erstaunliches Volk, weil sie es schafften, sich erfolgreich der Kolonisierung durch die Spanier zu widersetzen. Erst das von Spanien unabhängige Chile unterwarf diese Volksgemeinschaft im 19. Jahrhundert und gliederte das von ihnen bewohnte Territorium dem chilenischen Staat ein. Seitdem gibt es ein stetiges, heftiges Ringen um die Ansprüche der Mapuche, welches zu teilweisen Landrückgaben geführt hat. In der zum Teil hitzigen, in spanisch, englisch und deutsch geführten Diskussion waren die Positionen schnell klar: Die Grundaussage unserer Gesprächs- 101 partnerin war: „Zuerst raubt ihr uns unser Land und jetzt respektiert ihr noch nicht mal unsere Kultur und unsere Lebensweise.“ Mein Freund hielt dagegen: „Aber wozu führt denn Eure Lebensweise? Schau Dir doch das Land an, das Euch der Staat zurückgegeben hat. Es ist total verwildert. Brennholz wird so lange gehauen bis keins mehr da ist und dann ruft ihr nach neuem Land.“ Es war ziemlich offensichtlich, dass hier zwei vollkommen unterschiedliche Kulturen aufeinandertrafen. Einzeln betrachtet, konnte ich die Argumente beider Seiten nachvollziehen. Schwierig wird es jedoch, wenn man die verschiedenartigen Sichtweisen zusammenbringen will und überlegt, wie ein gemeinsames, von gegenseitigem Respekt geprägtes Leben aussehen könnte. So fanden auch wir an diesem Abend keine Lösung für dieses Problem, das sich aus der Geschichte der letzten Jahrtausende ergeben hat. Der Mensch hat den amerikanischen Kontinent, mit großer Wahrscheinlichkeit vor etwa 15.000 Jahren in Alaska beginnend, nach und nach erobert. Von Norden nach Süden arbeitete er sich vor und besiedelte innerhalb von nur wenigen tausend Jahren diese riesige Landmasse. Da sich vorher keine anderen menschlichen Wesen dort befanden, waren diese Neuankömmlinge definitiv die Ersten. Sie brauchten also keine Ureinwohner zu bekämpfen und rotteten lediglich, wie in anderen Erdteilen auch geschehen, ein paar große Säugetierarten wie das Wollnashorn und das Riesenfaultier aus. Der erste Versuch von Europäern auf dem amerikanischen Kontinent Fuß zu fassen, die Besiedlung von Vinland Jahr 1.000 nach Christus, wurde von zurückgeschlagen. der Nach durch den sogenannten die dort Wikinger lebenden Entdeckung durch um das Indianern Christoph Kolumbus gab es aber kein Halten mehr. Amerika wurde europäisiert, was nichts anderes bedeutete, als dass den Indianern ihr Land weggenommen wurde. Europäer der Neuzeit respektieren Landansprüche nur, wenn ein Staat darüber wacht und ein Katasteramt das Land vermessen hat. Die Situation ist jetzt heillos verfahren und widersprüchlich. Einerseits regt sich bei uns das schlechte Gewissen und in den letzten Jahrzehnten ist ein Bewusstsein entstanden, dass es nicht rechtens ist, einem anderen Volk einfach das Land wegzunehmen 102 (immerhin ist es ja schon eine Kulturleistung, dass wir die Indigenen nicht mehr als Tiere betrachten, in Bergwerke stecken oder als Sklaven halten). Andererseits sprechen wir immer noch voller Bewunderung vom großen Feldherrn und Staatsmann Gaius Julius Caesar. Aber was ist eine der größten Lebensleistungen von Caesar? Mit fadenscheiniger Begründung begann er einen brutal geführten Angriffskrieg gegen die Gallier und eroberte innerhalb von sieben Jahren das Gebiet zwischen Rhein und Atlantik. In unmittelbarer Nähe des schon erwähnten keltischen Ringwalls von Otzenhausen wurde in den letzten Jahren ein römisches Heerlager aus der Zeit Caesars entdeckt. Ein Sinnbild dafür, was damals geschah. Keltische Siedlungsschwerpunkte wie der bei Otzenhausen wurden aufgegeben oder versanken in der Bedeutungslosigkeit. Die Römer schufen neue Zentren wie Augusta Treverorum, das heutige Trier. Denn auch wenn das eher eigenmächtige Vorgehen Caesars im Machtzentrum Rom äußerst umstritten war, dachte nach der Ermordung Caesars niemand im Traum daran, den „Indigenen“ ihr Land zurückzugeben. Die Gallier wurden vielmehr gründlich romanisiert, das heißt sie durften die römische Lebens- und Wirtschaftsweise annehmen. Eine aus Staatserhaltungssicht kluge Vorgehensweise. Allerdings wurde damit die gallische Kultur zerstört. Wenn wir konsequent denken würden, müssten wir die Vorgehensweise der Römer auf schärfste verurteilen - und wir müssten allen indigenen Völkern ihr Land zurückgeben oder zumindest ein uneingeschränktes Selbst- bestimmungsrecht gewähren. Das fällt uns aber schwer, vor allem, weil sich in den von ihnen bewohnten Gebieten meist allzu verlockende Ressourcen wie Holz, Kohle, Öl, Gold oder sonstige Erze finden lassen. Die wollen wir natürlich nutzen, doch so unverblümt wie Caesar oder die spanischen Konquistadoren möchten wir nun auch wieder nicht vorgehen. So hangelt man sich mit einem gewissen Entgegenkommen gegenüber den Indigenen durch. Ein kleines Reservat hier, ein bisschen staatliche Unterstützung dort, vielleicht sogar ein wenig Autonomie. Die „Drecksarbeit“, die Ausbeutung der Rohstoffe, überlassen wir oftmals internationalen Konzernen. Über die können wir uns dann aufregen. Das sind die Bösen. Damit haben wir eine reine Weste und können uns gut 103 fühlen. Doch wer kauft letztendlich die Produkte der Konzerne? Wir alle, selbst die Indigenen. Die dürfen dann auch mal mit dem Smartphone spielen und ein bisschen Fernsehen gucken. Das ist das große Spiel, das gespielt wird und fast ausnahmslos spielen wir alle mit. Es hat unter anderem dazu geführt, dass die Mehrheit der mehrere hundert Millionen Indigenen (es ist schwer, deren genaue Zahl zu bestimmen, weil die Grenze indigen/nicht indigen fließend ist) einem eher westlich orientierten Lebensstil nachgeht. Daraus ergab sich gegen Ende des letzten Jahrhunderts das Dilemma, dass man Naturvölker nicht mehr von Kulturvölkern unterscheiden konnte. Das Wort Naturvolk wurde zumindest aus der Wissenschaft verbannt. Es beinhaltet ja unterschwellig den Gedanken, dass Naturvölker keine Kultur hätten, was definitiv nicht stimmt. Sie haben einfach nur eine andere Kultur als wir. Deshalb werden heutzutage „die anderen“ in „indigene Völker“ und in „lokale Gemeinschaften“ einsortiert. Bei den indigenen Völkern geht es nicht um ihre Wirtschaftsweise, die durchaus konsumorientiert sein kann, sondern darum, dass sie das von ihnen bewohnte Land als ihr Eigentum ansehen und darüber bestimmen möchten. Bei den Bevölkerungsgruppen, die als lokale Gemeinschaften bezeichnet werden, spielt das keine Rolle. Hier wird gerade die Wirtschaftsweise betrachtet. Wenn eine Gruppe ausschließlich oder überwiegend Subsistenzwirtschaft betreibt, wird sie als lokale Gemeinschaft eingestuft. Subsistenzwirtschaft heißt, es wird nur so viel produziert oder erbeutet (etwa als Jäger, Bauer, Fischer oder Sammler) wie für den eigenen Bedarf benötigt wird. Ein möglicher Überschuss wird gegen anderes getauscht oder auf dem nächsten Markt verkauft. Die Definition der lokalen Gemeinschaften ist leider genauso schwammig, missverständlich und unscharf wie die der indigenen Völker. So ist diese Bedarfswirtschaft auch bei uns nicht mit dem Beginn der industriellen Revolution schlagartig verschwunden. Vor allem auf dem Land finden sich entsprechende Elemente bis heute. Noch in meiner Kindheit hielt jeder Bauer auch zur Eigenversorgung die ganze Palette an Nutzvieh. Darüber hinaus fanden sich bei vielen Nichtbauern Hühner oder ein Schwein zur Selbstversorgung im Stall hinter dem Haus. Die für die Städter katastrophale Notzeit nach dem zweiten Weltkrieg, 104 die zu unzähligen Hungertoten führte, überstand die Landbevölkerung relativ unbeschadet. Nicht nur, weil ihr Land zur Verfügung stand, sondern weil sie über das notwendige Wissen verfügte, wie man dieses mit einfachen Mitteln bewirtschaftet. Brennholz hat man in den nahe gelegenen Wäldern geschlagen. So ist auf dem Land selbst während des extrem kalten Winters 1946/47 kaum jemand verhungert oder erfroren. In den 1960er und 70er Jahren hielten dann die Segnungen der modernen Welt Einzug. Als ich ein kleines Kind war, wurde das Haus, in dem wir wohnten, nur mit Holzöfen beheizt. Die Milch holte ich jeden Tag in der blechernen Milchkanne beim Bauern im Dorf. Die Beschwerden bei Erkältungen wurden mit Heilkräutern gelindert. Dann zogen wir, wie viele andere, ganz stolz in ein Haus mit Zentralheizung, der Arzt verschrieb gegen alles und jedes die passende Pille, auch wenn es sich nur um Husten, Schnupfen oder Halsschmerzen handelte und irgendwann kauften auch wir die Tetrapak-Milch im Supermarkt. Doch nach und nach setzte eine Gegenbewegung ein und der eine oder die andere begann zu zweifeln, ob das der richtige Weg war. Bei mir begann das während der Studienzeit und damit, dass ich aufhörte, unsere Obstbäumchen jedes Jahr mit dem Insektizid Lindan zu besprühen. Sie werden ja nicht gewerblich genutzt und wenn jetzt in einer Zwetsche eine Made ist, ist halt eine Made drin. So wie das in meiner Kindheit auch war. Und gegen Erkältungsbeschwerden gehe ich schon lange wieder mit Kräutern und nicht mit Tabletten an. Das Unbehagen darüber, alles Hergekommene über Bord zu werfen, haben immer mehr Menschen. Dieses gewachsene Bewusstsein für überkommene Werte, auch für den Wert unserer Kulturlandschaft, führte zum Beispiel zur Rettung des Birkenfelder Rotäpfelchens. Das ist eine kleinwüchsige, regionale Apfelsorte, die sich gut lagern lässt. Sie diente früher der Bevölkerung zur Deckung des Eigenbedarfs. 2010 war nur noch eine einzige Streuobstwiese mit dieser alten Sorte im Ort Mackenrodt bekannt. Das Rotäpfelchen war vom Aussterben bedroht. Der Landschaftspflegeverband Birkenfeld nahm sich dieses Kleinods an, aber die Rettung drohte zunächst an der EU zu scheitern. Brüssel wollte mit einer Richtlinie durchsetzen, dass alle Obstarten ein umfangreiches 105 Anmelde- und Prüfverfahren durchlaufen und in Sortenlisten erfasst werden müssen. Das hätte das Aus für viele regionale Sorten bedeutet. Das Rotäpfelchen wurde zu einem Symbol für den letztendlich erfolgreichen Kampf gegen die geplante Richtlinie. Das Vorhaben wurde fallen gelassen und das Rotäpfelchen ist dadurch über den Kreis Birkenfeld hinaus im wahrsten Sinne des Wortes in aller Munde. Die Erhaltung dieser traditionellen Apfelsorte ist mittlerweile gesichert. Wenn auf internationaler Ebene von lokalen Gemeinschaften gesprochen wird, werden gerne deren „traditionelle Lebens- und Wirtschaftsweisen“ erwähnt, die unbedingt erhalten werden sollten. Das hört sich dann meist an, als gäbe es so etwas nur ganz weit weg, irgendwo in Afrika oder Südamerika. Dieses permanente Abgrenzen von traditionellen Völkern und Volksgruppen ist auch eine Form der Diskriminierung. Ganz gleich, ob man die „ursprüngliche Lebensform“ der „Ökosystem-Menschen“ anhimmelt oder auf sie herabschaut. Wir diskriminieren damit die anderen und gleichzeitig uns selbst. In jeder Gesellschaft gibt es Traditionen, Werte und Verhaltensweisen, die erhaltenswert sind. Die gibt es auf anderen Kontinenten, aber genauso bei uns, direkt vor unserer Haustür, mitten unter uns. Die Tatsache, dass wir nach wie vor verschiedene Maßstäbe anlegen, zeigt, dass wir die Kolonialzeit immer noch nicht überwunden haben. Wir sollten aufhören, die Menschheit in Hochentwickelte und Sonstige zu unterteilen und uns dafür lieber Gedanken machen, welche Werte und Traditionen uns wichtig und erhaltenswert erscheinen. Wir sollten dort lernen, wo es etwas zu lernen gibt und das erhalten, was uns erhaltenswert erscheint. Egal, ob in Afrika oder in Mackenrodt. Aus diesen Gedanken heraus habe ich mich dafür eingesetzt, dass die lokale Bevölkerung zur Selbstversorgung Brennholz aus den Pflegezonen des Nationalparks Hunsrück-Hochwald erhält. Weil es eine jahrhundertelange, erhaltenswerte Tradition ist, bei der pfleglich mit dem Wald umgegangen wird. Die konkrete Lösung für den Nationalpark Hunsrück-Hochwald lässt sich folgendermaßen darstellen: 106 Zunächst wurde analysiert, wie viel Brennholz bisher aus der geplanten Gebietskulisse an die Bevölkerung der angrenzenden Gemeinden geliefert wurde. Das waren im Mittel der Jahre 2010, 2011 und 2012 annähernd 8.000 Kubikmeter pro Jahr. Es wird seitens des Landes garantiert, dass diese Menge auch zukünftig zur Verfügung gestellt wird. In der Nähe der Ortschaften, die im oder direkt am Nationalpark liegen, werden Pflegezonen innerhalb des Nationalparks ausgewiesen, Hier werden bis zu 2.000 Kubikmeter Buchenholz geerntet, welches an die lokale Bevölkerung verkauft wird. Außerhalb des Nationalparks werden im Staatswald externe Brennholzzonen ausgewiesen. Hier werden die restlichen 6.000 Kubikmeter eingeschlagen. Das ist die materielle Lösung des Problems. Ganz wichtig ist mir dabei die Tatsache, dass wir im Nationalpark Brennholz für die Bevölkerung vor Ort gewinnen. Es ist der erste Nationalpark in Deutschland, in dem das so gehandhabt wird. Wie soeben geschildert war das eine gezielte und bewusste Entscheidung. Es soll Anlass sein, nachzudenken. Wir müssen Fragen stellen. Ist es richtig, dass wir auf großen Flächen die Holznutzung aufgeben? Eine Holznutzung, die nachhaltig erfolgt. Was ist der Mehrwert eines großen Prozessschutzgebietes? Was haben wir davon? Der „Brennholzwald“ kann diesen Denkprozess anstoßen. Auf mindestens 75 % der Nationalparkfläche ist das Ziel Natur Natur sein lassen. Es soll nach spätestens 30 Jahren erreicht sein. Auf maximal 25 % der Fläche können aber andere Ziele verfolgt werden, unter anderem, die lokale Bevölkerung ortsnah mit Brennholz zu versorgen. Damit ist der Nationalpark in gewisser Weise entgrenzt - und das ist gut so! Denn die Gefahr des Schubladendenkens ist riesengroß. Im Nationalpark arbeiten die „guten Förster“, die die Bäume umarmen und die Rehe streicheln und außerhalb tummeln sich die „bösen Förster“ im Wald. Diejenigen, die Tiere totschießen und Bäume abhacken. Wir sollten es uns alle zur Aufgabe machen, möglichst nicht in diese Denkweise zu verfallen! Ich stelle mir folgendes Szenario vor, welches ich in der Praxis schon häufiger durchgespielt habe. Es führt fast immer zu sehr angeregten, oftmals 107 kontroversen Diskussionen. Ich stehe in einer der Pflegezonen. Ich verweise auf die Naturzone, die hinter mir liegt. Ich erkläre, dass es viele gute Gründe gibt, einen Teil der Natur Natur sein zu lassen. Ich erläutere, dass wir hier in einer Pflegezone stehen, einem Teilgebiet des Nationalparks, in dem die Gewinnung von Brennholz für die lokale Bevölkerung gestattet ist. Die Betonung liegt dabei ganz klar auf dem Wort lokal! Und dann verweise ich auf den Gegenhang, der nicht zum Nationalpark gehört. Hier wird der wertvolle, nachwachsende Rohstoff Holz gewonnen. Auch in diesem Wirtschaftswald wird in Deutschland Rücksicht auf die Natur genommen. So liegen viele Naturschutzgebiete im Wald. Aber auch außerhalb der Naturschutzgebiete werden alte, ökologisch wertvolle Bäume (sogenannte Biotopbäume) geschont und nicht eingeschlagen. Landesforsten Rheinland-Pfalz hat dies mit dem im Staatswald gültigen BAT-Konzept geregelt (BAT steht für Biotopbäume, Altbäume, Totholz). In diesem Konzept steht folgender bedeutsame Satz: „Es handelt sich um ein integratives Gesamtkonzept mit segregativen Elementen“. Das ist eine der Kernaussagen zu der Art und Weise wie wir Wälder bewirtschaften wollen. Doch worum geht es hier? Was bedeutet dieser Satz? Darum geht es im folgenden Kapitel. 108
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