Erfahrungsbericht FGV Direito Rio Ein Jahr in Rio – das klingt nach

Erfahrungsbericht FGV Direito Rio
Ein Jahr in Rio – das klingt nach großer, weiter Welt, und das ist es auch! Einiges ist anders,
anderes vertraut. Auf beides möchte ich hier eingehen.
Abzuwägendes
Rio ist ein nicht übermäßig nachgefragtes Ziel, schließlich setzt die Hochschule zumindest
Grundkenntnisse im Portugiesischen voraus, die klassischerweise nur wenige Deutsche haben.
Das macht eine erfolgreiche Bewerbung zu einer gut machbaren Sache, auch wenn das
Beschaffen der erforderlichen Dokumente, insbesondere das Empfehlungsschreiben eines
Juraprofessors, durchaus einige Zeit in Anspruch nimmt. Der Bewerbungsaufwand ist
deshalb, würde ich sagen, im Vergleich zum „normalen“ ERASMUS durchaus größer. Hinzu
kommt das große Manko der Fakultätspartnerschaft: an diese ist, obgleich des
Bewerbungsaufwandes, keinerlei Stipendium geknüpft. Unverständlicherweise ist es nicht
einmal möglich, vom International Office einen Flugkostenzuschuss zu erhalten. Erforderlich
ist also eine Bewerbung in Eigeninitiative für die üblichen Stipendienangebote, möchte man
nicht ohne finanzielle Unterstützung ins Ausland gehen.
Dabei sind auch die Lebenshaltungskosten in Rio zu beachten: Die Miete eines Zimmers mag
zwar nicht die Höhe von Zimmern in London oder Paris haben, 500 € im Monat für ein
Zimmer sind aber dennoch nicht ungewöhnlich. Auch die Supermarktpreise sind denen in
Deutschland vergleichbar, für einige Lebensmittel, insbesondere importierte, sowie
Milchprodukte, sind sie teilweise absurd hoch. Es kommt in Brasilien doch noch mehr als in
Deutschland darauf an, in welchem Supermarkt man einzukaufen pflegt – Preisunterschiede
von 20 – 30 % für das selbe Produkt sind nicht ungewöhnlich.
Wohnen
Die FGV liegt an der Grenze zwischen Botafogo und Flamengo. Beide Stadtteile sind auch
zum Wohnen sehr zu empfehlen. Das Nachtleben ist in Botafogo sehr vielseitig, wohingegen
Flamengo ein eher ruhiges Wohnviertel ist, allerdings mit einem schönen Markt am
Sonntagmorgen und vielen Palmenalleen. Beide Viertel sind auch immer noch günstiger als
etwa Copacabana, Ipanema, Leblon, Gávea oder Lagoa, wenngleich teurer als die nördlichen
Viertel des Zentrums und des nördlichen Teils der Stadt. Ich habe zunächst in Copacabana,
dann in Botafogo und kurz in Catete gewohnt und habe Botafogo stets als angenehm
empfunden. Ein Zimmer findet man am besten über das Internet, über die Facebook-Gruppe
„REI Moradias Rio“. Mit ein bisschen Glück und Geduld sollte es gelingen, ein, wenn auch
vermutlich nicht perfektes und ggf. überteuertes, Zimmer zu finden.
FGV
Das Universitätsgebäude selbst ist ein älteres Hochhaus direkt am Strand von Botafogo. Zwar
steht direkt daneben ein noch von Oscar Niemeyer entworfenes, ganz frisch eröffnetes und
sehr stylisches Hochhaus, welches ebenfalls der FGV gehört, dieses wird bislang jedoch
ausschließlich vermietet. Hinein kommt man nur mit einer Chipkarte, unten im Erdgeschoss
befindet sich ein Café einer großen brasilianischen Kette, sowie die Kantine. Das Essen dort
ist sehr ordentlich und im Vergleich zu der guten alten Rempartstraße wohl als „sehr gut“ zu
bezeichnen, schlägt jedoch bei zugrundegelegtem Wechselkurs von eins zu drei (der
mittlerweile wohl besser sein dürfte für deutsche Studierende) mit mindestens etwa vier bis
fünf Euro zu Buche, auch schonmal mit ein bisschen mehr.
Die FGV hat gemischte Gefühle hinterlassen – das Kursangebot ist vielfältig, gerade
wirtschaftsinteressierte Studierende werden auf ihre Kosten kommen. Ich habe jedoch die
Gelegenheit genutzt und in erster Linie Fächer belegt, die in der deutschen Juristenausbildung
zu kurz kommen, d.h. Fächer mit interdisziplinärem Ansatz, mit Fokus auf Politik und
Innovation, sowie Grundlagenfächer wie ein rechtsphilosophisches Kolloquium. Dabei ist die
Beziehung zwischen Dozierenden und Studierenden sehr informell – alle duzen sich, lebhafte
Diskussionen werden eingefordert (wobei sich der Dozierende, manchmal auch unpassend,
häufig auf eine moderierende Funktion beschränkt), wenn eine Frage besteht, reicht eine
kurze
Mail
oder
man
geht
direkt
beim
Büro
des
Dozierenden
vorbei.
Als
Austauschstudierender ist es zudem eigentlich immer möglich, mit den Dozierenden eine
zufriedenstellende Lösung hinsichtlich der Prüfungsleistungen zu vereinbaren. Die
Schwierigkeiten angesichts mangelnder Sprachkenntnisse werden hier von Dozierenden und
Koordination großzügig berücksichtigt, sodass etwa Prüfungen auf Englisch abgelegt,
Präsentationen gehalten und Klausuren in Essays abgeändert werden können. Die Universität
bietet
seit
einigen
Semestern
vermehrt
englischsprachige
Kurse
an,
um
mehr
Austauschstudierende anzulocken. Das Englischniveau der, häufig in den USA ausgebildeten,
Dozierenden ist dabei sehr gut und auch der Kursinhalt war ansprechend. Die Kurse finden in
Schulklassenstärke statt, Wahlfächer auch mal mit nicht mehr als fünf Studierenden.
Üblicherweise muss zur Vorbereitung ein Essay gelesen werden, welches dann den
„Aufhänger“ für die Vorlesung darstellt. „Vorlesung“ kann im Einzelfall aber auch bedeuten,
dass in erster Linie über das vorgestellte Thema diskutiert wird – mit allen Vor- und
Nachteilen, die ausgedehnte Diskussionsrunden haben. Insgesamt war ich mit den
angebotenen Kursen und gerade der Betreuung der Studierenden sehr zufrieden, auch habe ich
die entspannte Atmosphäre und den krassen Gegensatz zum deutschen, sehr auf Formalien
fokussierten Studium sehr genossen.
Schwieriger gestaltete sich der Kontakt mit den Mitstudierenden. Ehrlicherweise muss man
sagen, dass sowohl ich, wie auch meine Kommilitonin aus Freiburg, meine Zeit nicht in erster
Linie mit brasilianischen Mitstudierenden verbracht habe. Das mag an mir bzw. uns gelegen
haben und es mag auch ein Charakteristikum des (kurzen) Auslandsstudiums sein – alles in
allem war es dennoch schwierig, mit den Mitstudierenden über gelegentlichen Smalltalk
hinaus in näheren Kontakt zu kommen. Austauschstudierende waren wir im ersten Semester
des Auslandsjahres nur drei – wir zwei aus Freiburg, sowie ein Mädchen aus den USA, im
zweiten Semester stieg die Zahl dann aber auf neun an, ausschließlich aus europäischen
Ländern. Die FGV ist bemüht, diese Zahl weiter zu erhöhen, dennoch werden es selbstredend
weniger bleiben als an den staatlichen Universitäten, wo es jedes Jahr dutzende bis hunderte
von Austauschstudierenden hinzieht – es sei denn, diese werden, wie recht häufig, mal wieder
bestreikt.
Rio
Über Rio möchte ich hier nicht viele Worte verlieren – es ist meines Wissens nach schlicht
keine andere Stadt im Austauschangebot der Fakultät, in der man innerhalb kürzester Zeit und
das ganze Jahr über an den herrlichen Strand kommt und (meistens) sauberes, blau-grünes
Wasser genießen kann. Auch kulturell ist viel los, wenn auch vielleicht nicht im Stile einer
europäischen Metropole: Ausstellungen und Auftritte berühmter (westlicher) Künstler sind in
Rio nicht die Regel, sondern (leider) eine Besonderheit, gleichwohl gibt es viele Museen, von
denen einige sehr sehenswert sind. Auch Musik spielt in Rio, wie in der ganzen
brasilianischen Kultur, eine große Rolle: wohin man sich auch bewegt in der Stadt, talentierte
Straßenmusiker, spontane Bandauftritte oder auch von Senioren initiierte Sambagruppen sind
überall und zu jeder Tageszeit anzutreffen. Auch Umsonst-Partys spielen eine große Rolle,
speziell natürlich in der Abendplanung. Dies ist angesichts von Clubeintrittspreisen von
regelmäßig 10, manchmal auch 20 Euro oder mehr auch sehr legitim und willkommen. In der
Mehrzahl der Clubs und auf der Mehrzahl der Partys läuft brasilianische Musik in allen
Facetten oder amerikanische Chartsmusik, zuweilen lassen sich aber auch HipHop-, Metaloder Technopartys auftreiben. Insgesamt ist Rio eine sehr lebendige Stadt, ihren Charme zieht
die Stadt jedoch hauptsächlich aus ihrer einzigartigen Lage mit der Verbindung von Fels,
Wald, Bergen, Großstadt, und traumhaften Stränden. Der im Stadtgebiet liegende Wald lädt
so zu kleineren und größeren Wanderungen ein, die sich morgens gut einschieben lassen,
bevor es an den Strand geht.
Gleichwohl muss hier auch kurz über den Aspekt „Sicherheit“ gesprochen werden. Zwar habe
ich mich in den von mir besuchen Regionen der Stadt in fast jeder Situation sicher gefühlt.
Dennoch muss man damit rechnen, vielleicht nicht ohne einen Überfall durch das Jahr zu
kommen. In meinem Freundeskreis war die Quote Überfall/ kein Überfall etwa 50/50, wobei
ich zu den erstgenannte 50 Prozent gehörte. Zwar hat sich die Sicherheitslage in Rio, die sich
innerhalb der letzten 8 – 9 Jahre etwas beruhigt hatte, innerhalb des letzten Jahres wieder
deutlich verschlechtert. Dennoch sollte dies nicht abschrecken. Es ist ein Faktum, dass in
dieser Stadt unvorstellbare Gewalt verübt wird – als Bewohner der „Zona Sul“ bekommt man,
so bitter das klingt und ist, davon nicht sonderlich viel mit. Insofern gilt es, sich mit dem
Risiko anzufreunden und sein Jahr zu genießen – was mir persönlich nicht sonderlich
schwerfiel. Das größte Sicherheitsrisiko sind vermutlich sowieso die Busfahrer, die alles und
jeden über den Haufen fahren, der nicht rechtzeitig zur Seite springt.
Brasilien
Brasilien als Land steckt derzeit in einer nicht unerheblichen Wirtschaftskrise, die politische
Situation ist angespannt und sehr turbulent, und auch ein neuerlicher Korruptionsskandal
ungeheuren Ausmaßes hat das Land tief erschüttert. Dennoch ist und bleibt es ein
außerordentlich spannendes Reiseziel. Auch nach diesem, meinem dritten, längeren
Brasilienaufenthalt kann ich sagen: die unglaubliche Vielfalt des Landes, kulturell und
geographisch, sozial und klimatisch, macht jede Brasilienreise verschieden, und stellt
gleichzeitig natürlich den Reisenden vor Probleme. Brasilien ist in Südamerika sicherlich mit
Chile das teuerste Land, und auch Reisen sind davor nicht gefeit. Mit begrenztem Budget und
begrenzter Zeit (obgleich die Semesterferien von Anfang Dezember bis zum Ende des
Karnevals dauern) kommt man somit nicht umhin, eine Auswahl dessen zu treffen, was man
aber nun wirklich sehen möchte! Weintäler, grüne, blühende Landschaften, hübsche Dörfchen
als augenscheinliches Zeichen italienischer- und deutscher Einwanderung im Süden?
Kulturvielfalt, raue Landschaften mit trockenen Steppen und traumhaften Stränden und das
wohl mit beste Essen Brasiliens im Nordosten? Endlose, grüne Weiten, riesige Ströme
rotbraunen Wassers, pinke Delfine und Tukane im Amazonasgebiet? Eine unvergleichliche
Artenvielfalt, Sumpfgebiete, Grotten voll tiefblauen Wassers und Kayaking im Pantanal?
Alles ist möglich, man muss sich nur entscheiden.
Was bleibt?
Brasilien im Allgemeinen und Rio im Besonderen ist ein sehr empfehlenswerter Ort für ein
Auslandsjahr! Wer sich dem kontrollierten Chaos Südamerikas gewachsen fühlt,
kommunikativ ist und nicht die übliche Chile/Argentinien/Bolivien/Peru-Route einschlagen
möchte, ist hier genau richtig! Stadt und Universität lassen einem viele Freiheiten, die
auszufüllen jedem selbst überlassen ist. Von Beachvolleyball-Gruppen in Copacabana, am
Karneval teilnehmenden Brassbands, Capoeiragruppen, Kulturabenden im Museum für
Moderne Kunst oder Meditation am Strand ist alles möglich, und darüber hinaus natürlich
noch viel mehr. So habe ich mein Jahr in Rio sehr genossen, auch und insbesondere aufgrund
der vielen sehr herzlichen Menschen, die diese Stadt bevölkern und ausmachen. Einen
Aufenthalt dort kann ich dementsprechend nur wärmstens empfehlen!