Hegels Schwester - Jan Thorbecke Verlag

Alexandra Birkert
Hegels Schwester
Auf den Spuren
einer ungewöhnlichen Frau um 1800
Jan Thorbecke Verlag
Inhalt
We r wa r C h r i s t i a n e H e g e l ?
Erste Annäherung 9
P r o t o ko l l e i n e r S p u r e n s u c h e
17
Kindheit und Jugend (1773–89)
21
Mädchenjahre in Stuttgart zu Zeiten Herzog Carl Eugens
Hegels Studienfreunde
21
50
Christianes große Liebe
57
D e r Tr au m v o n e i n e r S ü d d e u t s c h e n R e p u b l i k :
U n r u h i g e J a h r e i n S t u t t g a rt ( 1 7 8 9 – 1 8 0 0 ) 75
Unruhige Zeiten brechen an
75
Christiane und die Stuttgarter Hofmeisterszene
Der Einmarsch der Franzosen in Stuttgart
Gefährliche Vernetzungen
87
97
100
Hegels Engagement für die württembergischen Jakobiner
und die Folgen 111
Im Dienst des Freiherrn von Berlichingen
( 1 8 0 1 – 1 4 ) 125
Abschied von Stuttgart
125
Beim freien Reichsritter in Jagsthausen (1801–06)
135
Beim württembergischen Kreishauptmann in Schorndorf (1806–09)
Beim Landvogt und Staatsrat in Ludwigsburg (1809–14)
147
143
Christianes Aufgabenfeld
154
Der lange Abschied von Jagsthausen (1814/15)
169
L e t z t e s Wi e d e r s e h e n m i t d e m
B r u d e r i n N ü r n b e r g ( 1 8 1 5 ) 183
Intermezzo in Aalen:
B e i Ve t t e r G ö r i z ( 1 8 1 5 – 2 0 )
201
I n d e r S ta at s i r r e n a n s ta lt
Z w i e fa lt e n ( 1 8 2 0 / 2 1 ) 225
Die Einlieferung
225
Der Aufenthalt beim Irrenmeister
Anstaltsalltag in Zwiefalten
232
242
Christianes Krankheit
250
Wi e d e r i n S t u t t g a rt :
Das letzte Lebensjahrzehnt (1821–31)
Der Neuanfang als Privatlehrerin
265
Hegels unehelicher Sohn Ludwig
280
D a s E n d e i n B a d Te i n a c h ( 1 8 3 2 )
Anhang
309
Editorische Hinweise
Anmerkungen
309
310
Abkürzungsverzeichnis
Quellen und Literatur
325
326
Kommentiertes Personenregister
Bildnachweis
348
338
293
265
We r wa r C h r i s t i a n e H e g e l ?
Erste Annäherung
Im Oktober 1818 übernahm der gebürtige Stuttgarter Georg Wilhelm
Friedrich Hegel an der Berliner Universität den Lehrstuhl für Philosophie. Nun erst – im Alter von fast fünfzig Jahren – legte er den Grundstein
für seinen Weltruhm: mit seinen Vorlesungen über Logik, Rechts- und
Religionsphilosophie, Philosophie der Weltgeschichte und Ästhetik.
Nahezu gleichzeitig wurde seine drei Jahre jüngere und unverheiratet
gebliebene Schwester Christiane Luise in die württembergische »Staatsirrenanstalt Zwiefalten« eingeliefert. Man schrieb Mai 1820. Ein gutes
Jahr später wurde Hegels Schwester als geheilt entlassen. In einem Brief,
den sie kurz vor ihrer Entlassung an den Bruder geschrieben hat, machte
sie ihm – das wissen wir nur aus seinem Antwortschreiben – massive Vorwürfe über das erlittene Unrecht.
Sechs Jahre zuvor, im Herbst 1815, hatten sich die Geschwister zum
letzten Mal gesehen. Christiane hatte ihren Bruder und seine junge Familie für mehrere Monate in Nürnberg besucht, spielte gar mit dem Gedanken, zu ihm zu ziehen. Jahrelang hatten sie nur in lockerem Briefwechsel gestanden. Doch der Besuch in Nürnberg endete unglücklich:
Christiane reiste allem Anschein nach Hals über Kopf ab – gemütskrank,
wie Hegels junge Frau Marie der Nachwelt attestierte, voller Hass gegen
die Schwägerin, wie einer ihrer Vettern meinte. Ihren Bruder Wilhelm
sah Christiane nie wieder.
Es war einmal anders gewesen: Damals, als Hegel in Stuttgart aufwuchs, war der Kontakt der Geschwister sehr eng, vor allem nach dem
frühen Tod der Mutter im Herbst 1783, die ihren Mann mit drei Kindern
zurückließ: dem dreizehnjährigen Wilhelm, der zehnjährigen Christiane
und dem wiederum drei Jahre jüngeren Ludwig. Kaum der Kinderstube
entwachsen, musste Christiane die Rolle der Frau im Hause übernehmen. Der Vater heiratete nicht wieder. Christiane wuchs also zwischen
WER WAR CHRISTIANE HEGEL? ERSTE ANNÄHERUNG
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drei Männern auf, in einem geräumigen Haus im damals schönsten Teil
Stuttgarts, der sogenannten Reichen Vorstadt – dem heutigen Viertel
zwischen Königstraße und Liederhalle. Auch als Wilhelm im Herbst
1788 nach Tübingen zum Studium der Theologie wechselte, blieben die
Geschwister einander verbunden. Christiane besuchte ihren Bruder hin
und wieder in Tübingen, und dort lernte sie auch im Alter von 16 Jahren
ihren ersten Verehrer, den jungen Magister Klett, kennen. Mit Hegels
berühmten Freunden – dem Dichter Friedrich Hölderlin und dem Homburger Dichter, Philosophen und Diplomaten Isaac von Sinclair – stand
sie selbst in freundschaftlichem Kontakt, vermittelte zeitweise sogar
Hölderlins Post an ihren Bruder, als dieser nach Abschluss des Studiums
im Herbst 1793 als Hauslehrer für drei Jahre in die Schweiz gegangen
war. Hegels anschließende Übersiedlung nach Frankfurt am Main zu
Beginn des Jahres 1797, wo er wie Hölderlin wiederum als Hauslehrer
wirkte, schuf zwar erneut eine räumliche Trennung der Geschwister,
doch blieb Hegel in dieser Zeit noch in engerem Kontakt mit der
Schwester und den Stuttgarter Freunden. Auch, weil er sich für die politische Bewegung und Entwicklung in Württemberg interessierte, ja engagierte.
Mit dem Tod des Vaters Anfang 1799, den Christiane eineinhalb Jahre
lang hatte pflegen müssen, und dem sich daran anschließenden Verkauf
des Stuttgarter Hauses änderte sich vieles: Hegel erhielt damit die finanzielle Möglichkeit, der drohenden Einstellung als württembergischer
Pfarrer zu entkommen, die Interimslösung als Hauslehrer in Frankfurt
aufzugeben und die erwünschte Laufbahn eines Privatgelehrten an einer
attraktiven Universität außerhalb Württembergs zu beginnen. Auch war
der freiheitlichen Bewegung in Württemberg mit den Verhaftungen
Anfang Februar 1800, die auch den engsten Freundeskreis der Geschwister Hegel betrafen, ein jähes Ende gesetzt worden. Hegel begab sich
schließlich Anfang 1801 zu seinem ehemaligen Tübinger Studienfreund
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling nach Jena, um sich dort ganz der
Philosophie zuzuwenden. Christiane blieb zurück – ohne Eltern, ohne
Geschwister, ohne Ehemann, ohne eigenes Zuhause.
Sie verließ Stuttgart und wurde Gouvernante im Hause des Joseph
Freiherr von Berlichingen in Jagsthausen, erzog und unterrichtete über
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WER WAR CHRISTIANE HEGEL? ERSTE ANNÄHERUNG
Jahre dessen fünf halbwüchsige Töchter – eine vorübergehend glückliche
und doch auch turbulente Zeit, die sie neben der Götzenburg im neu erbauten Weißen Schloss in Jagsthausen, in Schorndorf und schließlich in
Ludwigsburg, dem Amtssitz des 1810 zum Landvogt und Staatsrat beförderten Freiherrn von Berlichingen, verbrachte. Mitte 1814 bat sie, offenbar körperlich und nervlich erschöpft, um ihre Entlassung. Sie bekam im
Alter von 41 Jahren eine jährliche Rente ausgesetzt, verweilte noch ein
Jahr in Jagsthausen und reiste schließlich im Sommer 1815 zum Bruder
nach Nürnberg.
Im November 1815 ließ sie sich für mehrere Jahre in der neuwürttembergischen Kleinstadt Aalen nieder, wo einer ihrer Vettern, Louis Göriz,
evangelischer Dekan war. Ihre Situation stabilisierte sich, sie konnte wieder als Privatlehrerin unterrichten und eine kleine Wohnung unterhalten.
Doch Anfang 1820 wandte sich Vetter Göriz aus Aalen Hilfe suchend an
Hegel in Berlin – und schließlich fand sich Christiane, die jetzt 47 Jahre
zählte, in der württembergischen »Staatsirrenanstalt Zwiefalten« wieder.
Nach ihrer Entlassung kehrte sie endlich nach zwanzig Jahren wieder in ihre Heimatstadt Stuttgart zurück. Dort verbrachte sie ihr letztes
Lebensjahrzehnt. Mit knapp 59 Jahren nahm sich Christiane Hegel das
Leben: Zur Kur in den Schwarzwald nach Bad Teinach geschickt, ertränkte sie sich Anfang Februar 1832 auf einem Spaziergang in der Nagold. Das geschah nur wenige Wochen nach dem Tod des Bruders.
So lässt sich, in groben Zügen, dieses Frauenleben skizzieren, in
dem es an einschneidenden Erlebnissen wahrhaftig nicht gefehlt hat –
und dessen Details dennoch weitgehend im Dunkeln liegen. Doch warum wissen wir heute nur noch so wenig von der einzigen Schwester des
berühmten Philosophen, deren Schicksal so tragisch endete? Warum
landete sie in der württembergischen »Staatsirrenanstalt«, während ihr
Bruder in Preußen Karriere machte? Warum ertränkte sie sich?
Die Tatsache, dass sich Christiane Hegel nur wenige Wochen nach
dem Tod ihres Bruders das Leben nahm, hat das Bild, das sich die Nachwelt von ihr machte, offenbar entscheidend geprägt. Hegels Tod ist denn
auch der Kontext, in dem Hegels erster Biograph Karl Rosenkranz noch
kurz auf dessen Schwester eingeht – auf eineinhalb von insgesamt fünfhundert Seiten seines für die Hegelforschung immer noch fundamentaWER WAR CHRISTIANE HEGEL? ERSTE ANNÄHERUNG
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len Werkes. Diese »Platzierung« Christiane Hegels in der ersten großen
Hegel-Biographie, die im Auftrag der Familie bereits gut zehn Jahre nach
dem Tod des Philosophen verfasst worden ist, nährte die verhängnisvolle
These vom inneren Zusammenhang des Todes der beiden Geschwister.
Der Hegelforscher und Herausgeber von Hegels Briefwechsel, Johannes
Hoffmeister, sprach gar von einem »Geschwisterkomplex«. Das ließ sich
zudem schlüssig mit Hegels Werk und seinem Interesse für die Figur der
Antigone in Verbindung bringen. Dass in Rosenkranz’ Biographie indessen auch zu lesen ist, dass Christiane schon vor dem Tod des Bruders
mehrere Selbstmordversuche unternommen hatte, ist darüber schnell in
Vergessenheit geraten.
Auch die beiden bisher ausführlichsten Aufsätze zu Hegels Schwester stammen aus der Feder eines ausgewiesenen Hegelspezialisten:
Hans-Christian Lucas, der 1997 verstorbene Mitarbeiter an der historisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke Hegels, hat sie verfasst. Es
ist verständlich, dass sich Lucas’ eigentliches Forschungsinteresse auf
den Philosophen Hegel richtete, weshalb er manche Frage in Bezug auf
Christiane nicht weiter verfolgte.
Rosenkranz, der zehn Jahre nach Hegels und Christianes Tod noch
viele Quellen und Dokumente in Händen hielt, die heute als verschollen
gelten, hat den eigentlichen Auslöser für Christianes »Irr-Weg« in Geisteskrankheit und Selbstmord in einer missglückten Liebesbeziehung gesehen: Sie hatte sich nie verheirathet. Einen ihrer wärmsten Bewerber, Gotthold,
hatte sie aus vielleicht zu peinlichen Rücksichten ablehnen zu müssen geglaubt. Er
war, ohne seine Liebe zu ihr je aufgegeben zu haben, fern von ihr unverheirathet gestorben. Seit dieser Zeit nagte ein tiefer Schmerz an ihrem Leben, der sich bald in
manchen Aufgeregtheiten, Wunderlichkeiten kund gab und zuerst in Nürnberg 1815
[beim Besuch des Bruders] entschiedener ausbrach. Hegel gab sich Mühe, sie zu
größerer Ruhe zu stimmen.
Der Frage nach Christianes unerfüllter großer Liebe ist man bisher
nicht weiter nachgegangen, sie schien für die Hegelforschung ohne Belang. Doch will man ihre Lebensgeschichte schreiben, so kommt man
nicht umhin, nach diesem Unbekannten zu forschen.
Es ist das Verdienst der süddeutschen Schriftsteller Hellmut G. Haasis und Horst Brandstätter, Christiane Hegel aus dem engen Bezugsfeld
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WER WAR CHRISTIANE HEGEL? ERSTE ANNÄHERUNG
des Bruders herausgelöst und in den Kontext der württembergischen Revolutionäre am Ende des 18. Jahrhunderts gestellt zu haben. Beide stützen sich dabei auf den Arzt und Dichter Justinus Kerner, einen zweiten
ganz wichtigen Zeitzeugen. Dieser hat in seinem viel gelesenen »Bilderbuch aus meiner Knabenzeit« im Jahr 1849 ein Bild von Christiane Hegel
skizziert, das aufhorchen lässt. Auch Kerner, der die 13 Jahre ältere
Christiane schon in jungen Jahren persönlich kannte, beschreibt Wunderlichkeiten in ihrem späteren Verhalten, gibt Auskunft über Einzelheiten
einer Psychose, der sich Christiane im Alter ausgesetzt sah: Die Arme aber
verfiel nach und nach in Geisteskrankheit und bekam die fixe Idee: sie sei ein Päckchen, das man auf der Post verschicken wolle, welcher Gedanke des Verschicktwerdens
sie immer in die größte Unruhe und Verzweiflung versetzte. Näherte sich ihr ein fremder Mensch, so fing sie an zu zittern, denn sie befürchtete, der komme sie mit Bindfaden zu umwickeln, zu versiegeln und auf die Post zu tragen. Diese Angst steigerte
sich in ihr bis zur höchsten Schwermuth, in welcher sie einen freiwilligen Tod in den
Fluthen der Nagold fand.
So endet das kurze Kapitel, das die Überschrift Hegels Schwester trägt.
In der Hauptsache aber überliefert Justinus Kerner, der ein Ludwigsburger Vetter von Christianes Freundin Wilhelmine Hauff war, eine Episode
aus ihrem Leben, die – auf den ersten Blick zumindest – eine völlig andere Persönlichkeit zum Vorschein kommen lässt: Die Nichte meiner Mutter, die Gattin des Secretärs Hauff, der dazumal [1800] zu Stuttgart seinen Wohnsitz
hatte, kam in dieser Zeit oft in unser Haus, um ihrem auf dem Asperg gefangenen
Gatten näher zu sein; auch hatte sie eine Freundin […], die gutmüthig und entschlossen genug war, ihr Briefe an ihren Mann auf der Feste zu besorgen. Diese Freundin kleidete sich in Magdkleider, brachte die Briefe in ein Gefäß mit doppeltem Boden, in dem man den Gefangenen, was erlaubt war, gekochtes Obst, Gelée u.s.w.
zusandte, das sie zu Fuß dann auf die Feste trug und gut an Mann brachte. Diese
Person war die Schwester des berühmten Philosophen Hegel …
Der Regierungsratssekretär August Hauff, der Vater des Dichters
Wilhelm Hauff, war in der Nacht zum 2. Februar 1800, wenige Tage nach
seinem 28. Geburtstag, unter dem Vorwurf der revolutionären Konspiration gefangen genommen und auf den Hohenasperg gebracht worden.
Seine frisch vermählte junge Frau Wilhelmine Hedwig geb. Elsässer war
eine der engsten Freundinnen Christiane Hegels. Sie war zum Zeitpunkt
WER WAR CHRISTIANE HEGEL? ERSTE ANNÄHERUNG
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der Verhaftung 26 Jahre alt und im zweiten Monat schwanger mit ihrem
ersten Kind: Hermann Hauff, dem späteren Redakteur des »Cottaschen
Morgenblattes« und Bruder des Dichters Wilhelm Hauff, der zwei Jahre
später, 1802, zur Welt kam. Bei beiden Kindern wurde Christiane Patin.
Wollte Wilhelmine Hauff ihrem besorgten Mann positive Nachrichten
über ihr Befinden in diesen ersten Wochen der Schwangerschaft zukommen lassen und ihn zugleich ermahnen, das Wohl der Familie im Auge
zu behalten? Oder hatten die Briefe, die Hegels Schwester in die Festung
schmuggelte, einen politischen Inhalt? Ist das Leben der »Christiane
Luise Hegel« als »Krankengeschichte einer Sympathisantin« zu verstehen, wie Horst Brandstätter in seinem Buch »Asperg. Ein deutsches Gefängnis« schreibt, das 1978 zur Zeit der Stammheimer RAF-Prozesse erschienen ist? Doch kann er sich im Wesentlichen nur auf die oben zitierte
Passage in Kerners »Bilderbuch« beziehen. Doch wie zuverlässig ist sie?
Weiß man doch aufgrund neuerer Studien, wie sehr Justinus Kerner
schon in Bezug auf seinen eigenen Bruder, den nach Frankreich ausgewanderten württembergischen »Jakobiner« Georg Kerner, ins Fabulieren
geraten ist.
Haasis hat auf Christiane Hegels eigenständige politische und geistige Interessen hingewiesen. Doch fehlen eindeutige Beweise, vieles
muss notgedrungen im Bereich der Spekulation bleiben. Die Anordnung
der wenigen Quellen soll wie schon bei Brandstätter für sich selbst sprechen und die These belegen, dass Christiane Hegels spätere Angst, als
Päckchen verschnürt und verschickt zu werden, auf die politischen Verfolgungen und Verschleppungen um 1800 zurückzuführen ist. Auch die
Landeshistorikerin Barbara Vopelius-Holtzendorff, die sich intensiv mit
Hegels politischer Flugschrift von 1798 beschäftigte und deren Entstehung und Diskussion im Stuttgarter Freundeskreis Hegels und seiner
Schwester vermutet, muss angesichts der defizitären Quellenlage im Hypothetischen bleiben.
Das wenige schriftliche Material, das bisher über Christiane Hegel
bekannt und veröffentlicht worden ist, stammt nahezu ausschließlich
aus den letzten 18 Jahren ihres Lebens. Ein Blick in die Briefausgabe
Hegels bestätigt es: Der uns überlieferte schmale, ja dürftige Briefwechsel der Geschwister setzt, abgesehen von der kurzen Mitteilung an den
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WER WAR CHRISTIANE HEGEL? ERSTE ANNÄHERUNG
Bruder über den Tod des Vaters, erst im April 1814 ein. Christiane ist damals gerade 41 Jahre alt geworden – es ist das Alter, in dem sich Hegel
mit einer zwanzig Jahre jüngeren Frau verheiratet hat und in dem
Christianes Mutter bereits hatte sterben müssen. Es ist der Zeitpunkt,
als Christiane das erste Mal nachweisbar psychisch erkrankte. Es muss
also nicht verwundern, wenn das Bild der Schwester des Philosophen
von vornherein den Stempel der Gemütskranken, ja Geisteskranken
trägt.
Eine Hinterlassenschaft der Christiane Hegel gibt es nicht. Ihre Papiere landeten nach ihrem Selbstmord zunächst bei einem Stuttgarter
Vetter und verloren sich dann in alle Himmelsrichtungen. Einzelnes ist
später hier und da wieder in Auktionskatalogen aufgetaucht und in die
Autographensammlungen von Bibliotheken und Archiven gelangt. Bemerkenswert ist, dass Briefe, die Christiane von ihrem Bruder sowie von
dessen Frau und Kindern erhalten hat, in den Händen von Hegels Witwe
und nach deren Tod 1855 im Besitz des Sohnes Immanuel landeten.
Diese persönlichen Briefe blieben auch dann noch im Familienbesitz, als
Hegels Nachlass von seinen beiden Söhnen der Königlichen Bibliothek
zu Berlin übergeben wurde. Erst 1935 trennte sich Immanuels Enkelin
davon und übergab die Briefe zusammen mit einem umfangreichen Konvolut von Jugendarbeiten und Exzerpten Hegels der Staatsbibliothek
Preußischer Kulturbesitz.1 Festzuhalten bleibt aber auch, dass heute im
Nachlass Hegels alle Originalbriefe Christianes an den Bruder fehlen
und nur drei an die Schwägerin überliefert sind. Daraus folgt: Einige von
Christianes nachweislich geschriebenen Briefen an den Bruder etwa aus
der Zwiefaltener Zeit sind entweder von diesem nicht aufgehoben oder
von der Familie aussortiert und vernichtet worden. Wie man heute ferner
aus dem Briefwechsel der beiden Söhne Hegels weiß, wurden von ihnen
mehrmals – auch aus Platzgründen – umfangreiche Nachlassteile Hegels
ausgesondert und schließlich sogar einer Papiermühle übergeben, bevor
der Rest 1889 der Königlichen Bibliothek überlassen wurde. Wie viel davon Hegels Schwester betraf, lässt sich nicht mehr nachvollziehen, doch
wissen wir, dass Karl Rosenkranz fünfzig Jahre zuvor beispielsweise
noch Gedichte von Christiane Hegel gelesen hat, von denen manche
wahrhaft schön gewesen seien. Wenn Hegels Söhne schon nicht zimperWER WAR CHRISTIANE HEGEL? ERSTE ANNÄHERUNG
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lich mit den Papieren des Philosophen Hegel umgegangen sind, um der
Masse Herr zu werden, wie viel unbekümmerter werden sie sich dann
von den Produkten aus der Feder seiner Schwester getrennt haben? Zu
bedenken bleibt ferner, dass aus Hegels Studenten- und Hauslehrerzeit
viele Dokumente, Briefe und Manuskripte vermisst werden und es somit
auch in seiner Biographie empfindliche wie auffällige Lücken in der
Überlieferung gibt. Nicht in jedem Fall muss dies gleich verdächtig sein,
auch der berühmte Bruder hat wohl nicht alles aufgehoben. Im Übrigen
sind auch die Nachlässe enger Freunde von Christiane Hegel, in denen
Briefe von ihr zu vermuten wären – etwa jene von Isaac von Sinclair oder
Gotthold Stäudlin –, weitgehend verloren gegangen.
Ist es angesichts dieser dürftigen Quellenlage also ein aussichtsloses
Unternehmen, die Lebensgeschichte der Christiane Hegel rekonstruieren zu wollen? Oder gibt es nicht doch Möglichkeiten, sich dieser ungewöhnlichen Frau schrittweise über ihr »Umfeld« zu nähern?
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WER WAR CHRISTIANE HEGEL? ERSTE ANNÄHERUNG