Frauen und Flucht - DGB Rheinland

frau geht vor
Frauen und Flucht
Integration benötigt die Geschlechterperspektive
DGB-Bundesvorstand | Abteilung Frauen, Gleichstellungs- und Familienpolitik | Dezember 2015
04
2015
Inhalt
Editorial ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------- 3
Flüchtling ist nicht gleich Flüchtling
Daten und Fakten zur Flüchtlingssituation in Deutschland -------------------------------------------------------- 4
Frauen auf der Flucht
Geschlechtsspezifische Fluchtmuster – gestern und heute -------------------------------------------------------- 5
Rechtliche Fortschritte, praktische Risiken
Die besondere Verletzlichkeit geschlechtsspezifischer Asylgesuche ---------------------------------------------- 8
Frauenspezifische Fluchtursachen bewusst machen, weibliche Flüchtlinge unterstützen!
Resolution des DGB-Bundesfrauenausschuss vom 29. September 2015-------------------------------------- 11
Unzumutbare Zustände in Unterkünften
Asylbeschleunigungsgesetz setzt auf Abschreckung ------------------------------------------------------------- 12
Flüchtlingspolitik gerecht und solidarisch gestalten,
gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern
Beschluss des DGB-Bundesvorstandes vom 02. Dezember 2015 in Auszügen ------------------------------ 14
Flüchtlingsfrauen fernab von Europa
Gefahren und Chancen in Fluchtsituationen ---------------------------------------------------------------------- 16
Herausforderungen bei der Arbeitsmarktintegration
Berufliche Integration muss geschlechtsspezifische Besonderheiten berücksichtigen ----------------------- 18
Stark im Beruf
Arbeitsmarktintegration von Migranten/innen -------------------------------------------------------------------- 20
Keine Chancengleichheit in der Ausbildung
Junge Migrantinnen in typischen Frauenberufen------------------------------------------------------------------ 22
Deutscher Frauenrat auf Zukunftskurs
Mitgliederversammlung 2015---------------------------------------------------------------------------------------- 23
Recht auf Bildung für Flüchtlinge und Asylsuchende
GEW verabschiedet Handlungsempfehlungen--------------------------------------------------------------------- 23
Rechte von Frauen stärken
IG BCE unterstützt Projekt der Energiegewerkschaft ZEWU in Simbabwe ------------------------------------ 24
Stärke durch Vielfalt
IG Metall: Christiane Benner wird Zweite Vorsitzende ----------------------------------------------------------- 25
Frauen im Blick
ver.di: Stefanie Nutzenberger wieder in den Bundesvorstand gewählt ---------------------------------------- 26
Fachtagung zeigt Handlungsbedarf auf
Weiblich, qualifiziert sucht: Wirtschaftliche Unabhängigkeit! --------------------------------------------------- 27
2
DGB Frau geht vor
Editorial
Geflüchtete Frauen brauchen
besonderen Schutz
Beim Umgang mit Flüchtlingen darf die Geschlechterperspektive nicht fehlen
Von Anja Weusthoff
Anja Weusthoff leitet die
Abteilung Frauen, Gleichstellungs- und Familien­politik
beim DGB-Bundesvorstand.
www.frauen.dgb.de
Liebe Kolleginnen, liebe Frauen,
die besonders große Zahl der Menschen,
die derzeit in Deutschland Zuflucht suchen,
bestimmt auch den Alltag vieler Kolleginnen
und Kollegen – weil sie in den zuständigen
Behörden, in Schulen, Kitas und anderen
öffentlichen Einrichtungen arbeiten, als
Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter
helfen oder in einer der zahllosen Flüchtlingsinitiativen ehrenamtlich aktiv sind.
In der medialen Berichterstattung ist allzu oft von
„Flüchtlingsströmen“ die Rede, manchmal erfahren
wir aber auch von Einzelnen, welches Schicksal sie
in unser Land getrieben hat. Doch viel zu selten wird
berichtet, mit welchen besonderen Hürden die Flucht
für Frauen verbunden ist und mit welchen Herausforderungen gerade sie im Exil konfrontiert sind. Die
Geschlechterperspektive kommt bei diesem Thema
leider oft zu kurz. Darauf machen die Frauen im DGB
mit ihrer Resolution „Frauenspezifische Fluchtursachen bewusst machen, weibliche Flüchtlinge
unterstützen!“ aufmerksam. Und deshalb machen
wir in dieser Ausgabe von „frau geht vor!“ Flucht
aus geschlechterspezifischer Perspektive zum Thema
und beleuchten ein paar Aspekte genauer.
Dass geschlechtsspezifische Fluchtmuster traurige
Tradition haben, zeigt der Beitrag der Migrationsforscherin Sylvia Hahn. Welche rechtlichen
Fortschritte bei der Anerkennung weiblicher
Fluchtgründe in den letzten Jahrzehnten erkämpft
wurden und woran es in der Entscheidungspraxis
noch immer mangelt, erläutert die Wissenschaftlerin Jana Wessels. Mit der Flüchtlingsforscherin
Ulrike Krause schauen wir über unseren Kontinent
hinaus auf Gefahren und Chancen im Leben der
Frauen, die fernab von Europa auf der Flucht sind
und heimatlos in Lagern leben.
Im Interview mit der Pädagogin und agisra-Mitarbeiterin Shewanesh Sium erfahren wir mehr über
die besondere Schutzbedürftigkeit von Frauen in
den Erstaufnahmelagern, über die oft unzumutbaren Zustände in den Unterkünften und dass die
Hürden des Asylverfahrens vielen Frauen die Kraft
und Energie rauben, mit denen sie unser Land
erreicht haben. Sie plädiert nachdrücklich für die
Umsetzung der EU-Aufnahmerechtlinie in deutsches Recht, die insbesondere Frauen und Kindern
Unterstützung und Sicherheit zusagt.
Und wir blicken auf den Arbeitsmarkt: DGBArbeitsmarktexperte Wilhelm Adamy beschreibt,
welche geschlechtsspezifischen Besonderheiten
bei der beruflichen Integration von geflüchteten
Frauen zu berücksichtigen sind, DGB-Ausbildungsfachmann André Schönewolf warnt davor, aus
ihnen Auszubildende zweiter Klasse zu machen
und DGB-Projektleiter Frank Meissner schildert die
Probleme von Müttern mit Migrationshintergrund
beim Erwerbseinstieg – und was das Programm
„Stark im Beruf“ des Bundesministerium für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ)
dagegen tun will.
Beim Blick in die Gewerkschaften stehen zwei
Gratulationen an: Christiane Benner wurde als
erste Frau zur Zweiten Vorsitzenden der IG-Metall
gewählt, Stefanie Nutzenberger erneut in den
Bundesvorstand der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di). Beide haben die gewerkschaftliche Gleichstellungspolitik auch künftig fest im
Blick und machen deutlich, wo sie ihre Schwerpunkte setzen werden.
Eine Gratulation der DGB-Frauen geht auch an den
Vorstand des Deutschen Frauenrates, an dessen
Spitze unsere Kollegin Hannelore Buls steht. Er hat
Anfang November ein zukunftsweisendes Konzept
für eine Reform der Verbandsarbeit vorgelegt und
wurde von der Mitgliederversammlung belohnt –
mit großer Zustimmung für eine neue Struktur des
Vorstands und eine neue Satzung.
Ausgabe Nr. 4 – Dezember 2015
3
Schwerpunkt
Flüchtling ist nicht gleich Flüchtling
Daten und Fakten zur Flüchtlingssituation in Deutschland
Von Britta Jagusch
Millionen Menschen sind auf der Flucht. Die
weitaus meisten Flüchtlinge retten sich in
sichere Regionen im Inland oder in angrenzende Staaten. Aber auch in Europa suchen
täglich Tausende Asyl, allein im Oktober
wurden in Deutschland 52.730 Erstanträge
beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gestellt.
Auch wenn unter den Flüchtlingen, die nach
Europa und Deutschland kommen, deutlich mehr
Männer als Frauen Asyl beantragen, sind weltweit
mindestens 50 Prozent aller Flüchtlinge Frauen
und Mädchen, so die UNO-Flüchtlingshilfe. Sie
gelangen jedoch meist nicht nach Europa, sondern
verbleiben in der Region oder den Lagern der
Nachbarländer. Die Familien hoffen, dass die
jungen Männer die Reise nach Europa schaffen –
und ihre Angehörigen nachholen können oder aus
der Ferne unterstützen.
Bis Oktober waren in diesem Jahr 70 Prozent
der Asylerstantragsteller jünger als 30 Jahre alt,
über zwei Drittel aller Erstanträge wurden von
Männern gestellt. Sie kommen zum Großteil aus
Syrien (30,3%), Albanien (14,8%) und dem Kosovo
(9,7%). Von Januar bis Oktober 2015 wurden
insgesamt 205.265 Entscheidungen über Asylanträge getroffen. Nur 41,2 Prozent wurden davon
positiv beschieden (Gesamtschutzquote).
Dabei wird in der öffentlichen Diskussion der
Begriff „Flüchtling“ häufig als Sammelbegriff
für Personen genutzt, die sich unter sehr unterschiedlichen aufenthaltsrechtlichen Bedingungen
in Deutschland aufhalten und unterschiedlich
geregelte Rechte auf Zugang zum Arbeitsmarkt, zu
Integrationskursen, bei der sozialen Sicherung oder
für den Familiennachzug besitzen.
Grundsätzlich unterscheidet man:
Asylsuchende, die – auf welchen Wegen auch
immer – nach Deutschland einreisen und eine
Aufnahme zum Schutz vor Kriegen, Bürgerkriegen
4
DGB Frau geht vor
oder Verfolgung beantragen. Sie erhalten in der
Zeit des Asylverfahrens eine sogenannte Aufenthaltsgestattung.
Geduldete Personen haben eine befristete
Aussetzung der Abschiebung aus tatsächlichen,
rechtlichen, humanitären oder persönlichen
Gründen aber keinen Aufenthaltsstatus. Der
Großteil von ihnen hat bereits einen Antrag
auf Asyl gestellt, der aber abgelehnt wurde.
Subsidiär geschützte Personen, erhalten eine
Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen.
Flüchtlinge mit vorübergehender Aufenthaltsgenehmigung, sind zum Beispiel Personen,
die Opfer von Menschenhandel sind und deren
Anwesenheit für ein Strafverfahren erforderlich ist.
Asylberechtigten wird wegen politischer Verfolgung durch einen Staat oder eine staatsähnliche
Organisationen eine Asylberechtigung zuerkannt.
Das Merkmal der politischen Verfolgung knüpft
an die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) an
(Seite 12). Sowie Flüchtlinge nach der Genfer
Flüchtlingskonvention, denen eine „Flüchtlingseigenschaft“ zuerkannt wurde. Voraussetzung
ist eine begründete Furcht vor Verfolgung aus
Gründen, die in der GFK genannt werden. Zu den
Gründen gehört auch eine Verfolgung wegen
des Geschlechts (Seite 10). Darüber hinaus zieht
das Völkerrecht eine klare Trennlinie zwischen
Menschen, die zur Flucht gezwungen sind (Flüchtlinge), und Menschen, die aus eigenem Antrieb ihr
Land verlassen (Migranten).
Mehr Informationen zur rechtlichen und
sozialen Situation von Flüchtlingen in
Deutschland, zur Arbeitsmarktintegration und
Sprachförderung sowie zu gewerkschaftlichen
und betrieblichen Handlungsmöglichkeiten
bietet die DGB-Handreichung „Flucht. Asyl.
Menschenwürde“. www.dgb-bestellservice.de
Britta Jagusch ist Redakteurin
von „frau geht vor“ und
arbeitet als freie Journalistin
in Frankfurt am Main.
Die Gesamtschutzquote
ist der Anteil aller Asylanerkennungen,
Gewährungen von Flüchtlingsschutz
(Subsidiärer Schutz bzw.
Flüchtlingseigenschaft) und
Feststellungen eines
Abschiebeverbotes innerhalb
eines Zeitraums bezogen auf die
Gesamtzahl der diesbezüglichen
Entscheidungen im betreffenden
Zeitraum.
position
Flucht. Asyl. Menschenwürde.
DGB-Handreichung
DGB Bundesvorstand | Migrations- und
Antirassismuspolitik | März 2015
Frauen auf der Flucht
Geschlechtsspezifische Fluchtmuster – gestern und heute
Von Sylvia Hahn
Prof. Dr. Sylvia Hahn ist Vizerektorin
für Internationale Beziehungen
und Kommunikation an der
Universität Salzburg, Österreich.
Zu Ihren wissenschaftlichen
Schwerpunkten zählen die
historische Migrationsforschung
sowie die Stadt- und die
Geschlechtergeschichte.
www.uni-salzburg.at
Flucht ist kein aktuelles Phänomen. Schon
vor Jahrhunderten wurden Menschen
aus politischen, religiösen und anderen
Gründen verfolgt. Wie weit geschlechtsspezifische Fluchtmuster heute noch eine Rolle
spielen und welchen besonderen Gefahren
Frauen ausgesetzt waren und sind, zeigt
der Beitrag von Migrationsforscherin Sylvia
Hahn.
In den letzten Monaten verging kaum ein Tag an
dem in den Medien nicht von den Flüchtlingen
berichtet wurde. Die Bilder in den Medien zeigen
überwiegend Männer jüngeren oder mittleren
Alters. Nur selten wurden Frauen und Kinder
oder ganze Familien ins Bild gerückt. Tatsächlich
waren es zunächst überwiegend junge Männer,
die aus den Kriegsgebieten hier ankamen. Erst
mit etwas Verzögerung erreichten junge Paare mit
Kindern und dann auch ältere und gebrechliche
Menschen das ersehnte Zielgebiet Österreich oder
Deutschland.
Geschlechts- und altersspezifische
Fluchtmuster
Dieses Muster der geschlechts- und altersspezifischen Abfolge bei Flüchtenden ist kein aktuelles
Phänomen – ganz im Gegenteil: Beispiele dafür
lassen sich bei den politisch Verfolgten bereits im
18. und 19. Jahrhundert ebenso ausmachen wie in
den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur und
Verfolgung im 20. Jahrhundert. Auch hier waren es
meist zunächst die männlichen Familienmitglieder,
die das Land verließen und versuchten, ihre Frauen
und Kinder so rasch als möglich nachzuholen.
Ausschlaggebend dafür waren/sind mehrere
Gründe: zum einen sind Männer oft – zum Beispiel
aufgrund ihres politischen Engagements – gefährdeter verhaftet oder zum Militärdienst eingezogen
zu werden; zum anderen waren/sind weltweit die
Löhne für Männer bis heute höher als für Frauen.
Die Chance, dass Männer durch ihre Arbeit im
neuen Zielland die Familie durch Rücksendungen
ernähren oder rasch nachholen können, ist, wie in
den früheren Jahrhunderten, auch heute noch im
gesellschaftlichen Denken fest verankert. Daher
wird von den zurückbleibenden Familien meist
vor allem in ein junges und kräftiges männliches
Familienmitglied als möglichen Familienernährer
„investiert“. Bei „reiner“ Arbeitsmigration hat es
hier bereits eine deutliche Veränderung gegeben.
Aus manchen Regionen sind es mittlerweile
vorrangig die Frauen, die als globale Arbeitsmigrantinnen ihre Familien und Kinder zu Hause
ernähren.
Lebenswege und Schicksale
Die Lebenswege und Schicksale der politisch oder
ethnisch Verfolgten der 1930er und 1940er Jahre
zeigen sehr deutlich, dass es nur wenigen gelang,
gemeinsam im Familienverband zu flüchten. Überlieferte Autobiographien geben einen Eindruck,
wie ungeheuer schwer die Entscheidungen waren,
die auf den Familien lasteten. Wer geht zuerst,
wer bleibt zurück? Sollen die Kinder mit einem
Kindertransport allein in Sicherheit gebracht
werden? Was macht man mit den kranken Eltern?
Es ist kaum nachzuvollziehen, was es heißt, seine
Angehörigen zurückzulassen oder/und sein Kind
allein in ein fremdes Land, dessen Sprache es
nicht beherrscht, schicken zu müssen. Oder: was
wissen wir über die abertausenden von Frauen, die
während des Ersten bzw. Zweiten Weltkrieges und
in den Wochen und Monaten nach dem Ende des
Krieges in den unterschiedlichsten Richtungen quer
durch Europa auf der Flucht waren?
Flüchtende Frauen nur selten in den Medien
Wir kennen die Bilder der Frauen, die sie auf den
Straßen in den Flüchtlingskarawanen zeigen, ihre
Kinder in der einen und einige Bündeln in der
anderen Hand; oder dann in den Flüchtlingslagern,
wo sie sich um Nahrungsmittel anstellen, in den
Holzbaracken auf kleinstem Raum kochen, die
wenige Kleidung in großen Bottichen waschen –
kurz: versuchen, wieder halbwegs einen normalen
Alltag zu gestalten. Diese Bilder oder Berichte über
Ausgabe Nr. 4 – Dezember 2015
5
die Situation von Frauen auf der Flucht bzw. über
ihre Leben nach der Flucht gelangen nur selten in
die Medien und werden kaum thematisiert.
Foto: IdealPhoto30, iStockphoto.com
Geschlechtsspezifische
Rahmenbedingungen
Dabei sollte aber gerade auf die geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Rahmenbedingungen
hingewiesen werden, denen Frauen allgemein
als Migrantinnen und vor allem in derartigen
Ausnahmesituationen ausgesetzt waren und sind.
So war Frauen beispielsweise die Auswanderung
alleine ohne Angehörige aus Europa und in die
USA bis ins 20. Jahrhundert hinein verwehrt. Allein
auswandernde Frauen wurden generell verdächtigt
schwanger oder eine Prostituierte zu sein. Die
Einwanderung in die USA war für Frauen daher mit
betrachtet sind Frauen vor allem in Krisen- und
Konfliktzeiten als Zurückgebliebene oder auf der
Flucht besonderen Gefahren und Repressionen
ausgesetzt. Dass Kriege vielfach über die Körper
der Frauen ausgetragen werden, zieht sich wie ein
roter Faden durch die Geschichte. Verschleppung,
Vergewaltigungen, Versklavungen von Frauen
der Kriegsgegner oder Konfliktpartner finden wir
in allen früheren Jahrhunderten und selbst heute
noch. Tatsächlich war und ist das Leben auf der
Flucht von einem täglichen Kampf ums Überleben
geprägt. Frauen brauchen daher besondere Schutzzonen für sich und die Kinder. Auch sollte mehr als
bisher auf die spezifischen Hygienebedürfnisse von
Frauen, insbesondere für jene mit kleinen Kindern,
eingegangen und diese bereitgestellt werden.
Untersuchungen auch im Intimbereich verbunden.
Selbst Frauen, die nach dem Zweiten Weltkrieg
einen GI oder US-Angehörigen heirateten, mussten
zahlreiche, auch gynäkologische, Untersuchungen
hinter sich bringen, die, wie aus Interviews
hervorgeht, sie teilweise als überaus demütigend empfanden. Von Flüchtlingsfrauen aus den
Ostgebieten wiederum wissen wir, dass an ihnen
gynäkologische Untersuchungen durchgeführt
wurden, da man sie verdächtigte, Wertsachen im
Intimbereich mitzunehmen.
Frauen sind besonderen Gefahren
ausgesetzt
Nicht selten werden Frauen bei Grenzkontrollen
von männlichen Wachorganen unter Druck gesetzt
und zu sexuellen Handlungen genötigt. Insgesamt
6
DGB Frau geht vor
Selten oder gar nicht fragen wir uns, was es für
Frauen auf der Flucht bedeutet, schwanger zu
sein, nicht zu wissen, wann, wo, wie und mit
wem die Niederkunft sein wird. Über die enormen
Strapazen, die für Frauen damit verbunden sind,
berichtete bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts Schriftstellerin und Journalistin Therese
Forster-Huber in Briefen an ihre Freundinnen.
Therese Forster-Huber, Ehefrau und Witwe von
Georg Forster, musste aufgrund des politischen
Engagements ihres Mannes und später auch
aufgrund ihrer eigenen kritischen Haltung dem
politischen System gegenüber bereits Ende des
18. Jahrhunderts von Deutschland in die Schweiz
fliehen. In knapp 20 Jahren lassen sich in aus ihren
Aufzeichnungen zehn Ortswechsel ausmachen. In
dieser Zeitspanne hatte Therese Huber-Forster an
Frauen als Familienernährerinnen
Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass Frauen
nach der Ankunft in den neuen Zielgebieten durch
ihre Tätigkeiten im Kleinhandel oder in fremden
Haushalten, wie Wäschewaschen, putzen,
kochen, bügeln, Kinderaufsicht, etc. wesentlich
zum Haushaltsbudget beitrugen. Bei politischen
Vermittlerin zwischen den Kulturen
Auch in der Ankunftsgesellschaft kommt den
Frauen oft eine wichtige Funktion als Vermittlerinnen zwischen den Kulturen zu. Ein Beispiel aus
dem Alltagsleben: Frauen waren überwiegend für
die Zubereitung des traditionellen und gewohnten
Essens zuständig. Dies war in der neuen Umgebung jedoch nicht immer einfach: die Lebensmittel
waren anders als in der Heimat, vielfach fehlten
einfach die Kochgrundlagen, die man in der
Herkunftsregion hatte.
Flüchtlingen waren es nicht selten die Frauen, die
viel rascher eine Erwerbstätigkeit fanden als ihre
Ehemänner. Dies lag vielfach daran, dass Frauen
eher bereit waren, auch Erwerbstätigkeiten
anzunehmen, die unter ihrer eigenen Qualifikation
lagen. Auch hierfür lassen sich über die Jahrhunderte hinweg zahlreiche Beispiele finden, die
zeigen, dass Frauen im Migrationsgeschehen oft
zur Familienernährerin werden.
Foto: RadekProcyk, iStockphoto.com
verschiedenen Aufenthaltsorten zehn Geburten;
vier Kinder davon überlebten. In ihren Briefen
berichtet sie nicht nur über die permanente
Erschöpfung, sondern auch über die Anforderungen, die die dauernden Umorientierungen und
Neugewöhnungen an fremde Umgebungen und
Menschen mit sich brachten.
Prekärer Beschäftigung vorbeugen
Für die gegenwärtige Situation kann dies auch
bedeuten, dass ehemalige Flüchtlingsfrauen
Den Frauen wurde hier viel Kreativität und
Erfindergeist abverlangt. Gleichzeitig waren sie es, vermehrt auf Erwerbstätigkeiten mit prekären
Einkommensverhältnissen und sozialen Absidie nicht nur Rezepte an die nächste Generation
cherungen angewiesen sind und es hier zu einer
weitergaben sondern auch neue Produkte der
starken Konkurrenzsituation kommen kann. Dies
Ankunftsgesellschaft in die bisherigen Essgegilt es vorzubeugen. Es muss versucht werden,
wohnheiten der Familie allmählich „einschmugdie Qualifikationen von Frauen mit Migrationsgelten“, die Mahlzeiten und damit auch den
hintergrund rascher und flexibler als bisher
Geschmack leicht veränderten.
anzuerkennen, damit sie nicht auf den Schattenarbeitsmarkt angewiesen sind. Hier muss ein
Den Frauen kam daher als Wissensträgerinnen
von traditionellem wie auch von neu erworbenen Weg in Richtung einer breiteren Äquivalenzanerkennung gefunden werden, um diesen Prozess
Kenntnissen innerhalb der Familie bzw. ethnizu beschleunigen. Denn wir wissen bereits aus
schen eine wichtige und entscheidende Rolle zu.
Darüber hinaus tragen Frauen seit jeher durch ihre der Vergangenheit, dass das Leben als Migrantin,
als Flüchtling eine große Herausforderung für
vielfach „inoffiziellen“ Arbeiten wesentlich zum
die Betroffenen wie auch für die Gesellschaft der
Überleben der Familien bei.
neuen Zielgebiete ist.
Ausgabe Nr. 4 – Dezember 2015
7
Schwerpunkt
Rechtliche Fortschritte, praktische Risiken
Die besondere Verletzlichkeit geschlechtsspezifischer Asylgesuche
Janna Wessels
Auch wenn geschlechtsspezifische Fluchtursachen, wie häusliche und sexuelle
Gewalt, Zwangsheirat und Genitalverstümmelung, rechtlich anerkannt sind,
gibt es in der praktischen Umsetzung noch
viele Hürden. In den Asylverfahren fehlt es
an Geschlechtersensibilität und entsprechenden Bedingungen, die den Antragstellerinnen ermöglicht, in einem
geschützten Rahmen ihre Fluchtgründe
glaubwürdig vorzubringen.
Einer iranischen Frau, die kürzlich in den USA
Asyl suchte, drohten in ihrem Heimatland 74 Peitschenhiebe. Sie hatte in kurzen Hosen in einem
See gebadet, was gegen geschlechtsspezifische
Kleidungsregeln verstieß. Ihr Asylgesuch stützte
sie aber zunächst auf ihre Zugehörigkeit zu einer
ethnischen und religiösen Minderheit, denn:
„Man sagt nicht, dass man wegen Hosen sein
Land verlassen hat, weil das kein guter Grund ist
als Flüchtling zu kommen.“
Flüchtlingsrecht zunächst männlich
und politisch orientiert
„Geschlecht“ findet sich hier zunächst nicht als
Fluchtgrund wieder. Die Flüchtlingsdefinition
wurde 1951 vor dem Hintergrund des männlichen
politischen Dissidenten entworfen, der für seine
Opposition vom eigenen Staat verfolgt wurde.
In diesem Sinne war das Konzept des Flüchtlings
stark an öffentlichen Akteuren ausgerichtet:
Verfolgung im privaten Kontext wurde als
jenseits des Geltungsbereichs der GFK begriffen.
Verfolgung aufgrund von Geschlecht, sexueller
Orienteriung oder Geschlechtsidentität gründen
sich aber zumeist auf der Nichteinhaltung streng
definierter Geschlechterrollen und -normen. Es
geht um Fälle wie Zwangsheirat, Genitalverstümmelung, häusliche und sexuelle Gewalt, und die
Täter sind häufig Familienmitglieder oder andere
„private“ Akteure.
Erweiterung um geschlechtsspezifische
Fluchtgründe
Seit den 1980er Jahren wurde deshalb zunehmend kritisiert, dass geschlechtsspezifische
Die Antragstellerin war der Auffassung, dass ihr
Sachverhalte in der Auslegung der Flüchtlingstatsächlicher – geschlechtsspezifischer – Fluchtdefinition nicht ausreichend abgebildet werden.
grund nicht ausreiche, um Flüchtlingsschutz zu
Die Konzeption einiger grundlegender Begriffe
begründen. Obwohl sie nicht der Auslöser ihrer
Flucht waren, erschienen ihr andere Gründe (ihre – etwa Verfolgung oder Fluchtgründe – musste
neu gefasst werden. Der Fluchtgrund „bestimmte
Ethnie und Religion) angemessener oder berechtigter. Obwohl sich das internationale Flüchtlings- soziale Gruppe“ wird heute so ausgelegt, dass
recht in den letzten Jahren stark weiter entwickelt er auch „Frauen“ oder „sexuelle Orientierung“
umfasst. Und Verfolgung im Sinne der GFK liegt
hat, liegt sie in ihrer Annahme zunächst nicht
nun auch dann vor, wenn der Staat nicht willens
ganz falsch. Gemäß Artikel 1A(2) der Genfer
oder in der Lage ist die Betroffenen vor ihren
Flüchtlingskonvention (GFK):
privaten Verfolgern (etwa Ehemännern, Brüdern
„ ... findet der Ausdruck „Flüchtling“ auf jede
oder Vätern) zu schützen.
Person Anwendung, die ... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse,
Auf diese Weise haben geschlechtsspezifische
Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer
Fälle viele der wichtigsten Entwicklungen im
bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer
Flüchtlingsrecht angestoßen und die internatiopolitischen Überzeugung sich außerhalb des
nalen rechtlichen Auslegungsstandards für das
Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit
weltweite Verständnis von den Rechtsbegriffen
sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht
„bestimmte soziale Gruppe“, „Verfolgung“ und
in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser
„staatlichem Schutz“ bestimmt.
Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will.“
8
DGB Frau geht vor
Janna Wessels promoviert zu
Gender im internationalen
Flüchtlingsrecht an der University
of Technology Sydney und Vrije
Universiteit Amsterdam.
www.uts.edu.au
In vielerlei Hinsicht ist die Geschichte von
Geschlecht und Flüchtlingsrecht daher die eines
erfolgreichen feministischen Engagements.
Höhere und höchste Instanzen wie der Europäische Gerichtshof, das Bunderverwaltungsgericht
und auch einige Verwaltungsgerichte haben
die beschriebenen rechtlichen Veränderungen
angestoßen und entsprechende Entscheidungen
hervorgebracht.
Dilemma liegt in der
praktischen Umsetzung
Fraglich ist jedoch, inwiefern sich diese Rechtsprechung bis in die niedrigsten Instanzen
fortsetzt. Denn die qualitiative Analyse von
geschlechtsspezifischen Asylentscheidungen
zeigt, dass in der Entscheidungspraxis – also
in der Rechtsanwendung – noch einige Hürden
fortbestehen. Zum Beispiel werden Antragstellerinnen häufig als „Opfer“ dargestellt. Die
Entscheiderinnen begreifen sie als schwach und
vulnerabel – und deswegen schutzwürdig. Viele
geschlechtsspezifische Fluchtgründe entstehen
aber durch durch eine aktive Normübertretung
der Antragstellerin: etwa, weil sie Sex außerhalb
der Ehe hat, weil sie sich gegen ihre Zwangsverheiratung wehrt oder weil sie arbeiten gehen will.
Daraus entsteht ein feministisch altbekanntes
Dilemma: Warum sollen wir sie schützen wenn
sie sich durch ihr Verhalten selbst in diese Lage
gebracht hat?
Ein anderes Dilemma ergibt sich aus der Exotisierung der Verfolgungshandlungen. Genitalverstümmelung oder Zwangsheirat, die von den
EntscheiderInnen als „exotisch“ und kulturell
fern verstanden werden, treffen im Asylverfahren
deutlich häufiger auf Anerkennung als Fälle von
häuslicher oder sexueller Gewalt, die in den
Aufnahmestaaten ebenso anzutreffen sind: Die
„Normalisierung“ solcher Gewalt führt zu Fragen
wie: Wieso soll sie Asyl für etwas erhalten dem
meine Nachbarin auch regelmäßig ausgesetzt ist?
Hürden im Asylverfahren sind
schwer nachzuweisen
Das Ausmaß dieser qualitativen Hürden in
geschlechtsspezifischen Verfahren ist dabei
allerdings schwer zu beziffern. In veröffentlichten
Urteilen aus den Berufungsverfahren zeigt sich
immer wieder, dass insbesondere die ersten,
administrativen Entscheidungen vom Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge (BAMF) oft wenig
sensibel für geschlechtsspezifische Aspekte sind.
Leider sind die Entscheidungen des BAMF aber
nicht öffentlich. Man weiß also viel zu wenig um
begründete Aussagen über geschlechtsspezifische Asylverfahren machen zu können. Untersuchungen aus Großbritannien und Australien
scheinen allerdings eine mangelnde Geschlechtersensibilität der unteren Verwaltungsinstanzen zu
bestätigen: Überdurchschnittlich häufig werden
in diesen Ländern negative Asylbescheide von
Frauen im gerichtlichen Verfahren aufgehoben
und den Frauen Asyl zuerkannt.
Bewusstseinswandel notwendig
Da geschlechtsspezifische Anliegen im Flüchtlingsrecht offiziell anerkannt sind, kann es nicht
mehr um rechtliche Einbindung gehen. Es genügt
nicht mehr, auf das Gesetz zu verweisen und zu
sagen: „Das ist das Problem“. Tatsächlich greift
die Herausforderung viel tiefer: Einem rechtlichen
Wandel muss immer ein Bewusstseinswandel
folgen. Es geht um sinnvollere, kompliziertere,
substanziellere Analysen im Asylverfahren.
Asylverfahren müssen die besonderen
Bedingungen berücksichtigen
Um das zu erreichen, müssen die Voraussetzungen für die Asylverfahren stimmen: Es
müssen Bedingungen geschaffen werden,
unter denen das Vorbringen der Antragstellerin
angemessen gewürdigt werden kann. Das gilt
selbstverständlich für alle Asylverfahren, aber
bei geschlechtsspezifischen Verfahren ist dies
von ganz besonderer Bedeutung. Denn zentrale
Voraussetzung für die Zuerkennung von Schutz
ist die Glaubwürdigkeit der Antragstellerin, die
aus ihrem Auftreten und der Kohärenz und Plausibilität ihres Vorbringens geschlossen wird. Die
Hürde kann hoch sein, inbesondere für Antragstellerinnen die aus diktatorischen Regimen
kommen, traumatisiert sind. In den allermeisten
Fällen muss außerdem gedolmetscht werden.
Daraus ergeben sich vielfältige Schwierigkeiten:
eine tiefsitzende Angst vor Amtspersonen,
Hemmungen bzw. Scham sich gegenüber „Offiziellen“ zu öffnen, besonders wenn Entscheider
und Dolmetscher Männer sind, oder die Anwesenheit von Familienangehörigen – insbesondere
Kindern – bei der Anhörung, sowie die Gefahr
einer Retraumatisierung durch das Vorbringen der
Erfahrungen.
In vielen Fällen tragen Frauen aus diesen Gründen
(wenn überhaupt) erst in der zweiten oder
dritten Anhörung – oder im Berufungsverfahren
Ausgabe Nr. 4 – Dezember 2015
9
– ihren eigentlichen Fluchtgrund vor, und zwar
dann, wenn sie Vertrauen gefasst oder sich die
Bedingungen verändert haben, wie im eingangs
beschriebenen Fall der Iranerin. Das wiederum
kann den Frauen zum Verhängnis werden, weil
ihnen die Vorspiegelung falscher Tatsachen oder
die nachträgliche Änderung ihres Vorbringens
vorgeworfen wird.
Insgesamt heißt das, dass die Gestaltung des
Asylverfahrens einen realen Einfluss auf das
Ergebnis des Asylantrags haben kann.
Zeitdruck gefährdet Prüfung
geschlechtsspezifischer Fluchtgründe
Für eine ordnungsgemäße Prüfung geschlechtsspezifischer Fluchtgründe kommt der Gestaltung
des Asylverfahrens daher eine zentrale Bedeutung zu. Angesichts der aktuellen Beschleunigungen bzw.Verkürzung der Asylverfahren ist die
Sorge berechtigt, dass dies nicht mehr gewährleistet wird: Die Beamten haben hohen Zeitdruck,
die Verfahren sollen immer schneller und billiger
werden. Daraus ergibt sich für die Zukunft ein
besonderes Risiko, dass geschlechtsspezifische
Fälle nicht angemessen geprüft werden – trotz
der feministischen Erfolge im Flüchtlingsrecht.
Gender in Refugee Law. From the Margins to the Centre.
Geschlechtsspezifische Fragen haben in den letzten Jahrzehnten einen starken Einfluss auf die
Entwicklung des internationalen Flüchtlingsrechts gehabt. Dieses Buch zeichnet die Schritte in
Richtung einer angemessenen Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgung im Flüchtlingsrecht nach. Es dokumentiert die Fortschritte durch intensive Lobbyarbeit auf der ganzen Welt in
den 1990er Jahren, und bewertet, inwieweit Geschlechtsfragen erfolgreich ins Flüchtlingsrecht
integriert wurden. Der Band thematisiert geschlechtsspezifische Verfolgung von Frauen und
Männern, einschließlich derjenigen aufgrund von sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität, und untersucht, wie die Entwicklung einer Anti-Flüchtlings-Agenda in vielen westlichen
Staaten die Verletzlichkeit für Flüchtlinge mit geschlechtsspezifischen Ansprüchen exponentiell
erhöht. Der Band enthält Beiträge von Wissenschaftlerinnen und Interessenvertrerinnen zu
konzeptionellen und dogmatischen Themen an der Kreuzung zwischen Geschlecht und Flüchtlingsrecht, sowie spezifische Fallstudien über große westliche Flüchtlingsaufnahmeländer.
Efrat Arbel, Catherine Dauvergne and Jenni Millbank (Hg.), Gender in Refugee Law. From the
Margins to the Centre, Routledge, Abingdon and New York, 2014, 295 Seiten, ISBN 978-0-41583942-6 (hbk), 978-0-203-77145-7 (ebk)
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DGB Frau geht vor
Frauenspezifische Fluchtursachen bewusst machen,
weibliche Flüchtlinge unterstützen!
Resolution des DGB-Bundesfrauenausschuss vom 29. September 2015
Weltweit sind fast 60 Millionen Menschen auf der Flucht vor Armut, Hunger, Krieg und Unterdrückung. Die steigende Zahl
der Flüchtlinge stellt auch Deutschland vor große Herausforderungen: Bis zu 800.000 Menschen werden in diesem Jahr in
Deutschland Schutz suchen. Die meisten von ihnen sind (junge) Männer.
Auch viele Frauen fliehen trotz größerer Hürden aus ihrer Heimat, die Ursachen dafür sind meist dieselben wie bei Männern.
Doch auch geschlechtsspezifische Gründe treiben Frauen in die Flucht: häusliche Gewalt, Genitalverstümmelung, Zwangsverheiratungen, Ehrenmorde oder Vergewaltigungen im Rahmen von Bürgerkriegen oder anderen Konflikten. Nach der
Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 sind solche Fluchtursachen als Verfolgungsgründe anerkannt. Seit dem Zuwanderungsgesetz von 2005 führt auch in Deutschland solche nichtstaatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung zu einem
Schutzanspruch. Doch da sie in vielen Fällen im Privaten stattfindet (und der Heimatstaat dagegen nichts unternimmt) ist
der Nachweis der Verfolgung nur schwer zu erbringen. Und: Für Frauen ist die Flucht unter menschenunwürdigen Umständen oft noch beschwerlicher als für Männer. Oftmals sind sie von sexuellen Übergriffen und gemeinsam mit ihren Kindern
unterwegs von Gewalt bedroht.
Weil die Flucht von Frauen aufgrund ihres gesellschaftlichen Status von besonderen Belastungen geprägt ist und sie nach
der Ankunft in Deutschland vor besonderen Herausforderungen stehen, ist die Beachtung der Geschlechterperspektive beim
Umgang mit Flüchtlingen von großer Bedeutung und darf – trotz der enormen Anstrengungen von Staat und Zivilgesellschaft für ihre Aufnahme – nicht vernachlässigt werden.
Daher fordern die Frauen im DGB:
-
Frauenspezifische Fluchtursachen müssen bei dem Umgang mit weiblichen Flüchtlingen beachtet werden. Sie sind bei
der Unterbringung, Betreuung und Unterstützung dieser Frauen in besonderem Maße zu berücksichtigen, durch die
Bereitstellung von Rückzugsräumen und Sprachmittlerinnen, die Anwendung von Konzepten der Gewaltprävention,
flächendeckende Angebote zur physischen und psychischen Gesundheitsvorsorge u.v.a.m.
-
Bei der Integration von geflüchteten Frauen ist zu beachten, ob sie in ihrem Heimatland in ihrer Lebensführung Restriktionen unterworfen waren, wie sie die in der deutschen Gesellschaft oft selbstverständlichen Freiräume für sich nutzen
können und auf welche Weise den Frauen eine angstfreie Überwindung „innerer Grenzen“ erleichtert werden kann.
Sprachkurse für Frauen und eine angemessene Kinderbetreuung können dazu einen wichtigen Beitrag leisten.
-
Bei der Bearbeitung von Asylanträgen ist die Geschlechtsperspektive einzubeziehen, im Asylverfahren sind auch Sprachmittlerinnen einzusetzen. Zu prüfen ist, ob bundesweit gültige Kontingente für Flüchtlingsfrauen und ihre Kinder aus
bestimmten Regionen einzurichten sind.
- Auch bei der Integration geflüchteter Frauen in den Arbeitsmarkt muss der Schutz vor prekärer Beschäftigung gewährleistet sein; Ziel ist eine nachhaltige und hochwertige Beschäftigung. Beim Zugang zum Arbeitsmarkt sind frauenspezifische Hürden abzubauen durch spezielle Angebote zur Sprachförderung sowie zur beruflichen Beratung und Bildung.
Die Anerkennung von Abschlüssen ist zu vereinfachen, die Erfassung vorhandener Kompetenzen und Potentiale zu
beschleunigen. Zudem müssen die Beratungs- und Vermittlungsangebote der Arbeitsverwaltungen und Jobcenter für
geflüchtete Frauen ausgebaut und Schnittstellenprobleme beim Übergang von SGB III ins SGB II reduziert werden. Dazu
bedarf es einer Aufstockung der Mittel für Eingliederung und Personal in beiden Rechtskreisen, insbesondere im steuerfinanzierten Hartz-IV-System.
Ausgabe Nr. 4 – Dezember 2015
11
Schwerpunkt
Unzumutbare Zustände in Unterkünften
Asylbeschleunigungsgesetz setzt auf Abschreckung
Fragen an Shewanesh Sium
Weibliche Flüchtlinge sind auch in Deutschland auf besonderen Schutz angewiesen.
Um die Rechte von geflüchteten Frauen
kümmert sich die Informations- und
Beratungsstelle für Migrantinnen und
Flüchtlingsfrauen (agisra e.V.) in Köln.
Mitarbeiterin Shewanesh Sium berichtet
aus der Praxis.
Wie hat die wachsende Zahl der Flüchtlinge
ihre Arbeit verändert? Welches sind die vorherrschenden oder dringendsten Themen momentan?
Schon seit rund eineinhalb Jahren kommen
vermehrt Flüchtlingsfrauen zu uns. Die Beratungsanfragen sind stark gestiegen. Auch haben sich in
den vergangenen Monaten die Beratungsinhalte
verändert. Früher kamen die Frauen meist nach
der Anhörung zu uns. Heute kommen viele Frauen
gleich aus den Erstaufnahmestellen. Sie haben in
der Regel keine Informationen über das Asylverfahren bekommen und sind großer Unsicherheit
ausgesetzt. Sie benötigen sowohl Informationen
über die bevorstehende Anhörung zu ihren Fluchtgründen als auch Unterstützung bei der Bewältigung des Alltags.
Diese Beratung findet bei uns muttersprachlich
statt. Durch mehrmalige Treffen versuchen wir eine
Vertrauensbasis aufzubauen, sodass die Frauen
über ihre Erlebnisse im Herkunftsland oder auf
der Flucht berichten und dies zum Beispiel auch
vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
(BAMF) darstellen können.
Und dann geht es auch um existenziell praktische
Themen, wie die Unterbringung, die Suche nach
einem Arzt, die Regelung des Schulbesuchs oder
die Betreuung kleinerer Kinder. Aber auch der
Schutz vor Gewalt und sexuellem Missbrauch,
vor häuslicher Gewalt und Vergewaltigung sind
dringliche Themen.
12
DGB Frau geht vor
Wird man den besonderen Bedürfnisse von Frauen
z. B. bei der Unterbringung, der Betreuung von
Kindern gerecht? Woran fehlt es?
Leider nicht! Die Situation in den Flüchtlingsunterkünften ist für Frauen oftmals unzumutbar. Viele
von ihnen sind traumatisiert, Opfer von sexueller
Gewalt und werden nun in Sammelunterkünften
mit Männern auf engstem Raum zusammengepfercht. Es gibt Frauen, die sich nachts nicht allein
auf die Toilette trauen und Fälle von versuchten
Vergewaltigungen sind uns bekannt. Da brauchen
wir dringend andere, sichere Orte, am besten
abgeschlossene Wohneinheiten oder abschließbare
Zimmer, separate Sanitär- oder Duschräume und
geschützte Gemeinschaftsräume. Genauso wichtig
ist aber auch geschultes Personal, damit Frauen
nicht erneut Opfer von Gewalt werden. In den
Flüchtlingseinrichtungen müsste es zum Beispiel
Gewaltschutzkonzepte geben, um schon präventiv
wirken und bei geschlechtsspezifischer Gewalt
intervenieren zu können.
Welche Maßnahmen sind zwingend notwendig –
kurzfristig, aber auch langfristig – damit
die Integration von Flüchtlingsfrauen und
Migrantinnen besser gelingen kann?
Auf jeden Fall muss die Unterbringungssituation
entschärft werden! Dann brauchen wir mehr
Sprachkurse, speziell für Frauen und mit Kinderbetreuung. Da gibt es eine große Lücke! Frauen
müssen „empowert“ werden, damit sie selbst ihr
Leben in die Hand nehmen können, eine Arbeit
finden oder weiterqualifiziert werden können, auch
da mangelt es an Möglichkeiten. Die Frauen, die
nach Deutschland kommen, sind meist zu Beginn
noch sehr motiviert und haben Energie. Die vielen
Hürden im Verlauf eines Asylverfahrens, welche
mit dem neuen Asylbeschleunigungsgesetz noch
erhöht worden sind, wie Verlängerung der Arbeitsverbote, längerer Verbleib in den Erstaufnahmeeinrichtungen, etc. und die damit verbundene
Shewanesh Sium ist Diplom
Pädagogin und arbeitet bei der
Informations- und Beratungsstelle
für Migrantinnen und
Flüchtlingsfrauen (agisra e.V.)
in Köln.
www.agisra.org
Belastung im Alltag besonders für alleinerziehende
Frauen, führen dazu, dass die Frauen ihre Kraft
innerhalb von wenigen Monaten verlieren. Auch
für die Kinder bedeutet das neue Asylbeschleunigungsgesetz, dass sie bis zu sechs Monate in
den Erstaufnahmeeinrichtungen nicht unter die
Schulpflicht fallen. Das neue Asylbeschleunigungsgesetz setzt somit wieder auf Abschreckung statt
auf Integration.
Die Arbeitsgemeinschaft gegen
internationale sexuelle und
rassistische Ausbeutung e.V. (agisra
e.V.) ist eine Informations-, Bildungsund Beratungsstelle in Köln, die sich
für die Rechte von Migrantinnen und
Flüchtlingsfrauen einsetzt.
Seit 1993 arbeitet ein transkulturelles
Team zu folgenden Schwerpunkten:
· Beratung, Therapie und
Unterstützung von Migrantinnen,
Flüchtlingsfrauen, Jüdinnen
und schwarze Frauen,
insbesondere Frauen, die sich in
Gewaltverhältnissen befinden.
· Informations- und Bildungsarbeit zu
Rassismus, Sexismus und anderen
Ausbeutungsverhältnissen, denen
Frauen immer wieder ausgesetzt
sind.
· Stärkung und Unterstützung der
Selbstorganisation von Migrantinnen,
schwarzen Frauen, Jüdinnen
und Flüchtlingsfrauen und die
Zusammenarbeit bzw. Vernetzung
mit anderen Gruppen in der
Selbstorganisation.
agisra bietet Beratung in amharischer,
bulgarischer, deutscher, englischer,
koreanischer, persischer, polnischer
und spanischer Sprache sowie in
Tigrinya an.
Was fordern Sie von der Politik, um die Rechte von
geflüchteten Frauen zu stärken?
Zum einen muss die EU-Aufnahmerichtlinie, die
besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen, wie
Frauen und Kindern, Unterstützung und Sicherheit
zusagt, endlich umgesetzt werden. Das gilt für
die Unterbringung und den Schutz vor jeglicher
Form von Gewalt. Ganz problematisch ist die
Situation für Frauen aus angeblich „sicheren
Herkunftsstaaten“, denn sie haben durch das
Asylbeschleunigungsgesetz gar nicht mehr die
Chance, die Erstaufnahmeeinrichtung zu verlassen.
Sie werden nicht entsprechend beraten und
geschlechtsspezifische Fluchtursachen nicht anerkannt. Dabei gibt es in diesen Ländern, wie zum
Beispiel im Kosovo, keinen entsprechenden Schutz
für die Frauen.
Darüber hinaus brauchen wir eine Klarstellung des
Gesetzgebers, was die so genannte Residenzpflicht
angeht. Es kann nicht sein, dass eine Asylbewerberin, die im akuten Ernstfall vor Gewalt flieht,
mit juristischen Sanktionen rechnen muss. Auch
muss die Finanzierung eines Aufenthaltes in einem
Frauenhaus geklärt werden, das kann nicht der
Entscheidung der einzelnen Behörde überlassen
bleiben. Da braucht auch die Polizei mehr Rechtssicherheit, wie sie bei einer konkreten Gefahrenlage handeln kann.
Die Fragen stellte Britta Jagusch.
EU-Aufnahmerichtlinie
Art. 21 EU-Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU bestimmt, dass die Mitgliedstaaten die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen
– wie Minderjährige, unbegleitete Minderjährige, Behinderte, ältere
Menschen, Schwangere, Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern,
Opfer des Menschenhandels, Personen mit schweren körperlichen
Erkrankungen, Personen mit psychischen Störungen und Personen,
die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer,
physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, wie z.B. Opfer der
Verstümmelung weiblicher Genitalien –
zu berücksichtigen haben. So sollen die Mitgliedstaaten Antragstellern mit besonderen Bedürfnissen bei der Aufnahme die erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe, einschließlich erforderlichenfalls
einer geeigneten psychologischen Betreuung gewähren. Zur Gewährleistung dieser Berücksichtigung haben die Mitgliedstaaten nach Art.
22 bei der Aufnahme eines Antragstellers oder einer Antragstellerin zu
beurteilen, ob jener/jene besondere Bedürfnisse hat und welcher Art
diese Bedürfnisse sind.
Die Richtlinie 2013/33/EU trat am 19. Juli 2013 in Kraft. Die Mitgliedstaaten hatten bis 20. Juli 2015 Zeit, diese in nationales Recht
umzusetzen. Dies ist in Deutschland nur unzureichend geschehen,
Deutschland wurde von der EU-Kommission gerügt.
Ausgabe Nr. 4 – Dezember 2015
13
DGB Beschluss
Flüchtlingspolitik gerecht und solidarisch gestalten,
gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern
Beschluss des DGB-Bundesvorstandes vom 02. Dezember 2015 in Auszügen
Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften, stellen sich den Herausforderungen, die mit der wachsenden Zahl geflüchteter Menschen in
Deutschland verbunden sind. Wir sind überzeugt, dass diese Herausforderungen von Bund, Ländern und Kommunen sowie von Wirtschaft,
Gewerkschaften, Kirchen und Religionsgemeinschaften so­wie der gesamten Zivilgesellschaft gemeinsam bewältigt werden können. Für parteipolitische Auseinandersetzun­gen darf die Flüchtlingspolitik nicht missbraucht werden. Wir setzen uns gemeinsam mit den Betriebs-und Perso­nalräten
für ein friedliches und solidarisches Zusammenleben und Arbeiten ein. Wir stellen uns allen Versuchen entgegen, Schutzrechte für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern abzubauen.
In den Medien werden insbesondere nach den Anschlägen in Paris Zusammenhänge zwischen innerer Sicherheit und der Aufnahme von Flüchtlingen aus Bürgerkriegsgebieten hergestellt und sie als Gefahr für die innere Sicher­heit bezeichnet. Dabei fliehen gerade Menschen aus Syrien
und dem Irak vor dem islamistischen Terror. Die Stig­matisierung von Geflüchteten ist Wasser auf die Mühlen der extremen Rechten für die
Verbreitung einer men­schenfeindlichen Ideologie, die zunehmend in weitere Kreise der Gesellschaft ausstrahlt. Geflüchtete dürfen in Deutschland
nicht ähnliches Leid, Anfeindungen und Angriffe erleben, wie im Herkunftsland oder auf der Flucht. Angriffe auf Flüchtlingseinrichtungen, auf
Polizeibeamtinnen und -beamte oder Helferinnen und Helfer dürfen nicht toleriert sondern müssen entschieden strafrechtlich verfolgt werden.
Anschläge auf bewohnte Einrichtungen sind Mordversuche. Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften engagieren sich gegen Rassismus und
Rechts­extremismus und setzen sich für Chancengleichheit ein.
Seit vielen Jahren kritisieren die Gewerkschaften, Verbraucher-, Mieter-und Sozialverbände, dass der falsch an­gelegte Versuch, die öffentlichen
Haushalte allein durch Ausgabenkürzungen zu sanieren, zu immer größeren De­fiziten im Wohnungsbau, in der Bildung, der Gesundheitsversorgung und der Infrastruktur führt. An dieser Situa­tion ist nicht die steigende Zahl von Flüchtlingen schuld, sondern die Defizite treten jetzt nur
deutlicher zutage. Aus diesen Grundpositionen folgt:
1. Die mit der Aufnahme von Flüchtlingen verbundenen Chancen und Herausforderungen müssen deutlich her­ausgestellt werden. Ihre Integration muss als Zukunftsinvestition begriffen werden, die nicht zu Lasten ande­rer Maßnahmen gehen darf. Die Behebung struktureller Defizite in
Wohnungsbau, Bildung, Gesundheit und Infrastruktur hilft allen Bürgerinnen und Bürgern. Die Eingliederung von Flüchtlingen ist kein Grund für
wei­tere Ausnahmen vom Mindestlohn.
Der DGB ist überzeugt, dass bewährte Programme des sozialen und der öffentlich finanzierten Wohnungs­bau massiv ausgebaut werden
müssen, damit ausreichend bezahlbarer Wohnraum geschaffen werden kann. Erforderlich ist auch ein Ausbau der öffentlichen Infrastruktur.
Generell gilt: Die Bekämpfung von Langzeitar­beitslosigkeit, von prekären Beschäftigungsverhältnissen und Altersarmut müssen verstärkt werden.
Die dafür notwendigen finanziellen Mittel erfordern eine Abkehr von dem dogmatischen Festhalten an der „Schwarzen Null“.
2. Die Auswirkungen des Flüchtlingszuzugs wurden lange unterschätzt. Die Bewältigung der massiv angestiege­nen Einreisezahlen erfordert
funktionierende Verwaltungsstrukturen in allen Bereichen des öffentlichen Diens­tes. Das gilt für die Polizei genauso wie für Behörden und Einrichtungen sowie Hilfsorganisationen, die mit der Aufnahme, Versorgung und Integration von Geflüchteten betraut sind. Die bisherigen Leistungen
von Haupt-und Ehrenamtlichen, teilweise bis weit über die Belastungsgrenzen hinweg, verdienen unser aller Res­pekt.
Der DGB fordert eine schnelle und deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den betroffenen Dienststellen und den helfenden
Trägerorganisationen. Neben zusätzlichen unbefristeten Einstellungen und mehr Ausbildung bedarf es einer verstärkten Einstellung von Menschen
mit Migrationshintergrund. Beim Ein­satz von Beschäftigten muss das Prinzip der Freiwilligkeit ohne Zwangsversetzungen bzw. Zwangsabordnung
gelten und eine effektive Einarbeitung und die Einhaltung der Grundsätze zum Gesundheits-und Arbeits­schutz gewährleistet werden.
3. Eine sich ändernde Gesellschaft und Einwanderungsgesellschaft braucht Bildung. Geflüchtete bringen unter­schiedliche Bildungsbiographien,
Kompetenzen und Qualifikationen mit. Nicht nur für ihre Eingliederung ist ein weiterer Ausbau von Bildung, Aus-und Weiterbildung sowie und
14
DGB Frau geht vor
Beschäftigung notwendig. Zusätzlich bedarf es einer erweiterten Förderung, auch für Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien oder in
struk­turschwachen Regionen. Der rechtliche Zugang von Geflüchteten zu Ausbildung und Beschäftigung ist vom jeweiligen Status abhängig.
Der DGB fordert einen gleichrangigen Zugang zu Bildung, Berufsausbildung und zu den Förderinstrumen­ten für alle Jugendlichen unabhängig
vom aufenthaltsrechtlichen Status oder Herkunftsland. Gefordert sind ein möglichst früher Zugang zu Bildung und Beschäftigung. Verwaltungen
und Betriebe sowie die Betriebs­und Personalräte müssen besser über die Zugangsmöglichkeiten und die Förderinstrumente informiert wer­den.
4. Schnellere und faire Asylverfahren für alle Geflüchteten führen zur Klarheit über den weiteren Aufenthalt und sind wesentliche Voraussetzungen für die Eingliederung in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt.
Der DGB ist überzeugt, dass in einem fairen Asylverfahren weiterhin die individuellen Fluchtgründe geprüft werden müssen statt Entscheidungen nur nach den Herkunftsländern zu treffen. Er fordert zudem, die begon­nenen Anstrengungen zur Vereinheitlichung der Registrierungsund Asylentscheidungsabläufe sowie zum Datenaustausch mit Nachdruck zu verstärken.
5. Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften unterstützen Nothilfemaßnahmen und vor allem auch die Ein­gliederung in Ausbildung, Arbeit und
Gesellschaft. Betriebs-und Personalräte leisten dazu einen wesentlichen Beitrag. Auch bestehende tarifliche Vereinbarungen können zur Integration von Flüchtlingen genutzt werden.
Der DGB und die Gewerkschaften setzen sich ein für gute Ausbildung und Arbeit. Sie bekämpfen Un­gleichbehandlung und Ausbeutung
und setzen sich für soziale Rechte und Standards ein. Dazu gehört auch, Flüchtlinge über ihre Rechte als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
zu informieren. Dies enthebt den Staat nicht von der Aufgabe, selbst solche Informationsangebote bereitzustellen und für die Vermittlung solcher
Basisinformationen in den Sprach-und Integrationskursen zu sorgen. Gewerkschaften leisten seit jeher einen aktiven Beitrag zur Integration und
fördern die Gleichstellung aller Menschen unabhängig von der ethnischen Herkunft.
6. Die Europäische Union hat eine gemeinsame Verantwortung für den Schutz von Flüchtlingen, für eine men­schenwürdige Unterbringung und
Versorgung sowie für die ökonomische und gesellschaftliche Eingliederung.
Der DGB fordert ein solidarisches europäisches System zur Aufnahme und Integration von Flüchtlingen. Dazu gehört auch, sichere und legale
Möglichkeiten zu schaffen, in der EU einen Antrag auf Schutzgewäh­rung zu stellen. Die EU-Mitgliedstaaten, die in besonderem Maße Verantwortung übernehmen, müssen eine besondere Unterstützung erhalten, ggf. auch zu Lasten derjenigen, die ihrer Verantwortung nicht in ausrei­
chendem Maße nachkommen.
7. Kriege, Bürgerkriege, Verfolgung und Vertreibung zwingen viele Menschen ihre Heimat zu verlassen. Es braucht konkrete Maßnahmen zur
Beseitigung der Fluchtursachen und Perspektiven für Geflüchtete in den Nachbarländern.
Der DGB fordert die Arbeit des UNHCR auszuweiten, denn es leistet international anerkannte Arbeit zur Prävention und zur Linderung
von Flüchtlingskrisen. Die EU, aber auch Deutschland, können mehr Mittel zur Verfügung stellen, als sie es bisher tun. Die Regierungen der
EU-Mitgliedstaaten sind aufgerufen diplomati­sche Initiativen zu ergreifen, um Kriege und Bürgerkriege zu beenden.
8. Menschen verlassen ihre Heimat auch wegen sozialem Elend und Perspektivlosigkeit. Wenn sie in Deutsch­land keinen Asylrechtsanspruch und
keine dauerhafte Bleibeperspektive haben, müssen sie trotzdem men­schenwürdig behandelt werden. Die Verfahren zur Ausreise, Rückführung
und die Wiederaufnahme in den Herkunftsländern sind menschenrechtskonform zu gestalten. Parallel zum Asylrecht bedarf es legaler Einreis­
möglichkeiten für Erwerbstätige und Arbeitssuchende, orientiert an der langfristigen Arbeitsmarktentwick­lung.
Der DGB ist überzeugt, dass Neuregelungen bei der Erwerbstätigenzuwanderung erforderlich sind. Diese müssen sich an den langfristigen
Entwicklungen und der Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes orientieren. Berücksichtigt werden muss dabei, dass aufgenommene Flüchtlinge
zum inländischen Arbeitsmarkt gehören. Ein neues Einwanderungsrecht muss einfacher gestaltet werden und die Arbeitnehmerrechte sichern.
Ausgabe Nr. 4 – Dezember 2015
15
Schwerpunkt
Flüchtlingsfrauen fernab von Europa
Gefahren und Chancen in Fluchtsituationen
Von Ulrike Krause
Aktuell ist das Flüchtlingsthema in aller
Munde, wobei in deutschen Medien fast
ausschließlich von Flüchtlingen in Europa
berichtet wird. Globale Entwicklungen
und geschlechterspezifische Fluchterfahrungen bleiben indes vernachlässigt. Dies
ist verwunderlich, da rund die Hälfte aller
Fliehenden Frauen sind. Doch vor welchen
Herausforderungen stehen Flüchtlingsfrauen, gerade fernab Europas? Und welche
Chancen kann ihnen die Flucht bieten?
Mit 86 Prozent befindet sich die überwiegende
Mehrheit aller Flüchtlinge in Entwicklungsländern
fernab Europas, wo sie häufig in Flüchtlingslagern
untergebracht werden.1 Die Bedingungen in Lagern
sind oft sehr restriktiv und geprägt von Gefahren.2
In unserem aktuellen Forschungsprojekt „Genderbeziehungen im begrenzten Raum“ untersuchen
wir sexuelle und geschlechterbasierte Gewalt
gegen Frauen in Flüchtlingslagern mit einer
Fallstudie in Uganda. Flüchtlinge, Männer sowie
Frauen, berichteten in vielen Gesprächen von dem
Gewaltausmaß. Die häufigsten Formen waren
Vergewaltigung, häusliche Gewalt, frühe und
Zwangsverheiratung sowie geschlechterspezifische
Diskriminierung. Letzteres bezieht sich u.a. auf
den restriktiven Zugang zu Bildung für Mädchen.
Bei einer Umfrage mit 351 Flüchtlingen gab die
Mehrheit an, dass häusliche Gewalt regelmäßig
oder täglich stattfindet. Ähnliche Bedingungen
zeigen sich auch in anderen Flüchtlingssituationen
weltweit,3 sodass diese Gewalt in Flüchtlingslagern
ein globales Phänomen ist.
Korrupte Strukturen und sexueller
Missbrauch
Und in urbanen Zentren? Wenn Flüchtlinge im
Globalen Süden in Städten leben, erhalten sie
häufig keine systematische Unterstützung von
Hilfsorganisationen. Sie lassen sich selbstständig
nieder, wodurch sie zwar ein selbstbestimmteres Leben führen können, aber auch korrupten
16
DGB Frau geht vor
Strukturen ausgesetzt sind. Vor allem Frauen
arbeiten häufig in informellen Sektoren und sind
sexuellem Missbrauch durch Kolleg/innen und
Arbeitgeber/innen ausgesetzt. Sie müssen als
kommerzielle Sexarbeiterinnen arbeiten, um ihren
Lebensunterhalt zu verdienen, oder sie werden
zu sexuellen Gegenleistungen für Nahrung oder
Unterkunft gezwungen.4
Traumatische Erlebnisse und
die Sorge um Kinder
Unabhängig von ihrem Aufenthaltsort müssen
Frauen auf der Flucht sowie im Flüchtlingskontext
ihre Kinder versorgen. Doch ist der Zugang zu
Ressourcen oft schwierig und fehlen schützende
soziale Strukturen, da Frauen ohne unterstützende
Familienkreise fliehen. Manche Kinder von Flüchtlingsfrauen sind aus Vergewaltigungen entstanden
und positive emotionale Beziehungen aufzubauen,
ist schwierig. Hinzu kommt, dass sie im Konflikt,
auf der Flucht und in Flüchtlingslagern traumatische Erlebnisse erfahren können, die auf sie wirken
und den Aufbau von stabilen Bindungen zu ihren
Kindern und anderen Personen erschweren.5
Dr. Ulrike Krause ist
wissenschaftliche Mitarbeiterin
am Zentrum für Konfliktforschung
der Philipps-Universität Marburg
und arbeitet im Forschungsprojekt
„Genderbeziehungen im begrenzten
Raum“. Seit 2014 ist sie Mitglied
des Organisationskreises des
Netzwerks Flüchtlingsforschung.
www.uni-marburg.de/
konfliktforschung
Dieser Beitrag ist eine überarbeitete
Fassung des ursprünglichen Artikels
auf dem Flüchtlingsforschungs-Blog.
Er ist Teil des Forschungsprojekts
„Genderbeziehungen im begrenzten
Raum“, das am Zentrum für
Konfliktforschung der PhilippsUniversität Marburg durchgeführt
und durch die Deutsche Stiftung
Friedensforschung unterstützt wird.
Dass die Zwangsmigration und das Leben in Lagern
und Städten insbesondere für Flüchtlingsfrauen
und -mädchen vielfältige Gefahren bergen, ist
nicht neu. Auch das Flüchtlingswerk der Vereinten
Nationen (UNHCR) hebt hervor, dass Frauen und
Mädchen schwerwiegenden Herausforderungen
in Flüchtlingssituationen ausgesetzt sind.6 Obwohl www.fluechtlingsforschung.net/
fluchtlingsfrauen
Schutzmaßnahmen umgesetzt werden, was wir
auch in der Feldforschung beobachtet haben, hält
die Gewalt an.
Chancen der Flucht
Nach all dem Wissen über die Gewalt mag der
Perspektivwechsel auf die Chancen der Flucht
seltsam erscheinen. Allerdings zeigt sich einerseits,
dass mit der Flucht ein Ortswechsel verbunden ist,
durch den ursprüngliche Rollen und Funktionen
von Männern und Frauen oftmals nicht mehr in der
herkömmlichen Art ausgeführt werden können,
Netzwerk Flüchtlingsforschung
ist ein multi-disziplinäres
Netzwerk von Wissenschaftlern
und Wissenschaftlerinnen in
Deutschland die zu Zwangsmigration,
Flucht und Asyl forschen sowie
internationaler Wissenschaftler
und Wissenschaftlerinnen die diese
Themen mit Bezug zu Deutschland
untersuchen.
www.fluechtlingsforschung.net
2 Krause, U. (2015), ‚A Continuum
of Violence? Linking Sexual and
Gender-based Violence during
Conflict, Flight and Encampment‘,
Refugee Survey Quarterly, 24 (4),
i.E..
3 Krause, U. (2015), ‚Zwischen Schutz
und Scham? Flüchtlingslager, Gewalt
und Geschlechterverhältnisse‘,
Peripherie, 35 (138/139), 235-59.
4 Crisp, J. et al. (2012), ‚Displacement
in urban areas: new challenges,
new partnerships‘, Disasters, 36
Suppl 1, S23-42; Naggujja, Y. et al.
(2014), From The Frying Pan to the
Fire: Psychosocial Challenges Faced
By Vulnerable Refugee Women and
Girls in Kampala (RLP); KrauseVilmar, J. (2011), ‚The Living Ain´t
Easy. Urban Refugees in Kampala‘,
Research. Rethink. Resolve
(Women´s Refugee Commission).
5 Karunakara, U. et al. (2004),
‚Traumatic events and symptoms
of post-traumatic stress disorder
amongst Sudanese nationals,
refugees and Ugandans in the West
Nile‘, African Health Sciences, 4 (2),
83-93.
6 UNHCR (2008), UNHCR Handbook
for the Protection of Women and
Girls (UNHCR), S. 39
7 Mulumba, D. (2005), ‚Gender
relations, livelihood security
and reproductive health among
women refugees in Uganda. The
case of Sudanese women in Rhino
Camp and Kiryandongo Refugee
Settlements‘, (Wageningen
University).
8 Siddiquee, A./Kagan, C. (2006),
‚The internet, empowerment,
and identity: an exploration of
participation by refugee women in a
Community Internet Project (CIP) in
the United Kingdom (UK)‘, Journal
of Community & Applied Social
Psychology, 16 (3), 189-206.
9 Krause, U. (2014), ‚Analysis of
Empowerment of Refugee Women in
Camps and Settlements‘, Journal of
Internal Displacement, 4 (1), 29-52.
Als ich mich mit Empowermentfragen9 beschäftigte
zeigte sich zwar, dass Flüchtlingsfrauen den strukturell gleichberechtigten Zugang zu Ressourcen
und Dienstleistungen in Lagern positiv erfahren
können. Jedoch können die Abhängigkeiten an
Hilfsstrukturen limitieren, sodass Eigeninitiative,
Eigenverantwortung und Partizipationsmöglichkeiten nötig sind. Zudem wurde deutlich, dass
Männer die bevorzugte Behandlung von Frauen als
vernachlässigend oder gar ausgrenzend erfahren,
was kontraproduktiv ist und zu Gewalt führen
kann. Auch ihre Teilnahme ist wichtig!
Raum für positive Entwicklungen
für Frauen und Männer schaffen
Die Flucht birgt nicht nur Gefahren für Flüchtlingsfrauen, sondern – unter fördernden Bedingungen
– auch Raum für positive Entwicklungen. Hilfsorganisationen bemühen sich seit Jahren, Projekte zum
Schutz und zur Förderung von Frauen umzusetzen,
aber viele spezifische „Frauen“-Projekte grenzen
Männer aus.
Obwohl Frauen und Männer Konflikte, Gewalt,
Flucht und das Leben in Flüchtlingslagern oder
Städten unterschiedlich erfahren, so sind sie doch
miteinander verbunden. Unabhängig davon, ob
es um Gewalt gegen Frauen oder ihr Empowerment geht, letztlich bezieht es sich auf die Rolle
der Frau, die mit der des Mannes verknüpft ist.
Wie diese aufeinander bezogenen Rollen gelebt
werden, wirkt sich wiederum auf die Familien- und
sozialen Systeme und insbesondere die Kinder aus.
Daher können wir die Bedingungen von Frauen
nicht losgelöst von denen der Männer betrachtet.
Weder in der wissenschaftlichen Analyse noch in
Hilfsprojekten.
Europäische Gewerkschaften:
Solidarität mit Flüchtlingen
Auf dem Kongress des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) vom 29. September bis
02. Oktober in Paris diskutierten 700 Delegierte
aus 40 Ländern unter anderem über die Situation
von Flüchtlingen in Europa und verabschiedeten
dazu einstimmig eine Resolution. „Mit ihren
60 Millionen Mitgliedern bleibt die europäische
Gewerkschaftsbewegung ein Bollwerk gegen jede
Form von Intoleranz und wird sich weiterhin für
eine humanitäre Antwort auf diese humanitäre
Krise einsetzen“, heißt es in der Entschließung.
Fotos: EGB
1 UNHCR (2015), Global Trends 2014:
World at War (UNHCR).
sodass die Geschlechterverhältnisse neu verhandelt werden. Das bietet Chancen. Andererseits
erhalten Frauen den gleichen – oder gar bevorzugten – Zugang zu Dienstleistungen durch die
Flüchtlingshilfe, was sie zum Teil als ermächtigend
erfahren. Beispielsweite erfahren Flüchtlingsfrauen
in Uganda7 den gleichgestellten Zugang zu Land
als ermächtigend, da dies ein männliches Privileg in
ihrem Herkunftsland war. Sie können nun unabhängig ihrer Ehemännern und Familien über ihr
Land entscheiden. Zudem empfinden umgesiedelte
Frauen8 den Zugang zu Internet und erweiterten
Netzwerken als ermächtigend.
www.dgb.de/extra/egb-kongress
Die schwedische Bildungsministerin Aida Hadzialic,
einst selbst als Flüchtlingskind nach Schweden gekommen,
zeigte sich auf dem EGB-Kongress in Paris ebenfalls
solidarisch mit Flüchtlingen.
Ausgabe Nr. 4 – Dezember 2015
17
Schwerpunkt
Herausforderungen bei der Arbeitsmarktintegration
Berufliche Integration muss geschlechtsspezifische Besonderheiten berücksichtigen
Von Wilhelm Adamy
Das Bild der aktuellen Flüchtlingssituation
ist überwiegend von männlichen Asylsuchenden geprägt, doch etwa 40 Prozent
aller Flüchtlinge in Deutschland sind
weiblich. Dieser Anteil kann sich mit dem
zu erwartenden Familiennachzug weiter
erhöhen. Bei den notwendigen Schritten
zur Integration in den Arbeitsmarkt muss
daher die spezifische Situation von Frauen
dringend berücksichtigt werden.
Flüchtlingsfrauen machen sich häufig mit Kindern,
auch ohne männliche Begleitung auf den Weg nach
Deutschland, teils geflohen vor sexueller oder häuslicher Gewalt, Zwangsverheiratung und mehr. Meist
sind sie mit anderen kulturellen und gesellschaftlichen Normen aufgewachsen und vielfach – wie die
Männer – von traditionellen Frauen- und Familienbildern geprägt. All dies darf bei den notwendigen
Integrationsbemühungen nicht ausgeblendet
werden.
Erfolgreiche Integrationsmaßnahmen
benötigen die Geschlechterperspektive
Sprachliche und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen
können längerfristig nur dann erfolgreich sein, wenn
sie ganzheitlich die bisherigen Lebenserfahrungen
einbeziehen und Chancen zu gesellschaftlicher Partizipation in selbstbestimmter und gleichberechtigter
Art und Weise eröffnen. Aber auch der Erhalt bzw.
die Wiederherstellung der psychosozialen Gesundheit von Frauen mit traumatischen Erfahrungen
und ihren Kindern darf nicht vergessen werden.
Um geflüchteten Frauen gleiche Chancen zur gesellschaftlichen Integration zu eröffnen wie Männern,
müssen sie im gleichen Umfang unter Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Besonderheiten
gefördert werden. Nicht zuletzt unterstützt ihre
gezielte Förderung auch eine dauerhaft gelingende
Integration ihrer Kinder. Doch bei der Umsetzung
dieser notwendigen Integrationsbemühungen stehen
wir noch vor großen Herausforderungen.
18
DGB Frau geht vor
Fehlende Mittel – insbesondere bei der
Sprachförderung
Die Bundesregierung will zwar eine Willkommenskultur, bleibt aber mit ihren Anstrengungen weit
hinter den Notwendigkeiten hierfür zurück. So stellt
sie beispielsweise keinesfalls die bedarfsgerechte
Mittelausstattung für die Sprachförderung zur
Verfügung. Bereits im September 2014 forderte der
Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit (BA),
dass die Sprachförderung „angesichts der steigenden Zahlen an Flüchtlingen und Asylsuchenden
und Zuwanderern aus EU-Staaten ausgebaut und
verstetigt werden muss“1. In seinen Empfehlungen
vom April 2014 konkretisierte das Mitbestimmungsgremium der BA, dass für das Erlernen der
deutschen Sprach zusätzliche Steuermittel von 300
Millionen Euro im Jahr notwendig seien.2
Obwohl der frühzeitigen Sprachkompetenz eine
Schlüsselrolle bei der beruflichen und sozialen
Integration zukommt, hat der Bund in 2015 keine
bedarfsgerechte Mittelausstattung eröffnet. Einmal
mehr sprang die Arbeitslosenversicherung ein und
finanziert auch die Deutschkurse für Flüchtlinge
über Sozialbeiträge, wenn diese Kurse bis zum 31.
Dezember 2015 beginnen. Mit dieser „Notfallhilfe“
wollte der BA-Verwaltungsrat schnell und direkt
helfen und stellte dafür zusätzliche Beitragsmittel
von bis zu 121 Millionen Euro zur Verfügung. Auch
für die aktiven Hilfen für Flüchtlinge wurden die
Fördermittel in der Arbeitslosenversicherung für
2016 um 350 Millionen Euro erhöht – ohne dass
dadurch Nachteile in der Förderung für andere
Arbeitsuchende entstehen. Damit können die
notwendigen Maßnahmen für Asylbewerber/innen
sowie für Geduldete finanziert werden. Damit nimmt
die Arbeitslosenversicherung ersatzweise eine
wichtige gesamtgesellschaftliche Aufgabe wahr.
Unzureichende Eingliederungshilfen
gefährden frauenspezifische Maßnahmen
Anerkannte Flüchtlinge haben einen uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt und werden
nicht von den Arbeitsagenturen betreut, sondern
Dr. Wilhelm Adamy
ist Abteilungsleiter für
Arbeitsmarktpolitik
beim Deutschen
Gewerkschaftsbund.
[email protected]
www.dgb.de
1 BA-Presseinfo vom 12.09.2014.
2 BA-Presseinfo 17 vom 24.04.2015
haben Anspruch auf Hartz IV und können arbeitsmarktpolitisch von den Jobcentern gefördert
werden. Der Großteil der Flüchtlinge, über deren
Asylantrag positiv entschieden ist, wird im HartzIV-System beraten und vermittelt. Mit einem positiven Entscheid des Asylantrages wechselt somit in
der Regel auch die Zuständigkeit von der Arbeitsagentur hin zum Jobcenter. Flüchtlinge werden
diese bürokratischen Schnittstellen noch viel
weniger nachvollziehen können als andere Arbeitslose. Noch problematischer droht zu werden, dass
die Zahl der anerkannten Flüchtlinge im Hartz-IVSystem deutlich stärker ansteigen dürfte als der
Bund die Eingliederungshilfen in diesem System
erhöht. Lediglich 250 Millionen Euro sollen zusätzlich für die Arbeitsförderung im Hartz-IV-System
aufgestockt werden, deutlich weniger als im
Versicherungssystem. Wie bei der Sprachförderung
stellt der Bund auch für die berufliche Integration
von Flüchtlingen somit weniger Mittel zur Verfügung als notwendig. Damit droht die finanziell
ohnehin schon viel zu kurze Förderdecke weiter zu
schrumpfen. Diese finanziell völlig unzureichende
Mittelausstattung im Hartz-IV-System könnte
schnell frauenspezifische Maßnahmen treffen. Dies
gilt es zu verhindern.
Berufliche, soziale und gesundheitsfördernde Angebote verbinden
Bei der Ausgestaltung frauenspezifischer
Maßnahmen zur beruflichen Integration sollten
folgende Besonderheiten berücksichtigt werden:
Verknüpfung mit sozialflankierenden Leistungen
zur Kinderbetreuung sowie die Verknüpfung mit
flankierenden Angeboten zum Erhalt bzw. zur
Wiederherstellung der psychosozialen Gesundheit
von Frauen mit traumatischen Erfahrungen. Diese
unterschiedlichen Maßnahmen sollten möglichst
aufeinander aufbauen und zu einem stimmigen
Konzept zusammengeführt werden. Einzelne
Maßnahmen und Initiativen von Bund und Ländern
sollten darüber hinaus miteinander verbunden
werden. Um die beruflichen Perspektiven von
Frauen und Müttern zu stärken, empfiehlt es sich
an bestehende Angebote und Programme anzudocken und diese auszubauen und auf die Situation
DGB-Stellungnahme zum
Gesetzentwurf zur Änderung
des Berufsqualifikationsfeststellungsgesetzes (BQFG) und
zum Bericht zum Anerkennungsgesetz
2015 unter www.dgb.de/service/
stellungnahmen
von Flüchtlingsfrauen zu erweitern. Hierzu bieten
sich insbesondere das ESF-Bundesprogramm
„Stark im Beruf – Mütter mit Migrationshintergrund steigen ein“ (Seiten 20-21) an sowie das
Aktionsprogramm „Perspektive Wiedereinstieg“.
Arbeitsmarktpolitsicher Handlungsbedarf
für beide Geschlechter
Zentralen arbeitsmarktpolitischen Handlungsbedarf
gibt es darüber hinaus gleichermaßen für beide
Geschlechter in folgenden Bereichen:
S prachprogramme sollten bedarfsgerecht
ausgebaut und möglichst arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen vorangehen oder zumindest
mit arbeitsmarktpolitischen Instrumenten
verzahnt werden.
nD
ie Kenntnisse und Kompetenzen von
Flüchtlingen sollten frühzeitig festgestellt werden – möglichst noch in den
Erstaufnahmeeinrichtungen.
nD
ie Vorbereitung auf eine Ausbildung oder
Qualifizierung sollte möglichst zügig erfolgen
und die Anschlussfähigkeit an die Sprachförderung geprüft werden.
nB
eim Übergang ins Hartz-IV-System sollte ein
Übergabeprozess und eine einheitliche
Integrationsstrategie abgestimmt werden.
nD
ie Arbeitsvermittlung sollte verbessert und
Lohndumping muss möglichst verhindert
werden. Hierzu zählt auch die konsequente
Prüfung der Beschäftigungsbedingungen.
nZ
wischen Arbeitsagenturen und Jobcentern
sollten die Planungen möglichst eng abgestimmt und die Verwaltungsausschüsse in
allen Arbeitsagenturen beteiligt werden, in
denen DGB-Gewerkschaften ein Drittel der
Sitze haben.
nD
ie Bemühungen zur Förderung und Integration
anderer Arbeitslosengruppen dürfen auch nicht
vorübergehend reduziert werden. Vielmehr
müssen die Weiterbildungsmaßnahmen für
Geringqualifizierte und Langzeitarbeitslose
gleichfalls ausgebaut werden und einer
weiteren Verhärtung der Langzeitarbeitslosigkeit entgegengewirkt werden.
n
DGB-Stellungnahme zur Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse
Das Anerkennungsgesetz für ausländische Berufsabschlüsse ist aus Sicht des DGB ein wichtiger
Fortschritt. Allerdings werde noch nicht das „mögliche Potenzial an Anerkennungsinteressierten“ erreicht, heißt es in der Stellungnahme des Gewerkschaftsbunds.
Ausgabe Nr. 4 – Dezember 2015
19
Schwerpunkt
Stark im Beruf
Arbeitsmarktintegration von Migranten/innen
Von Frank Meissner
Um Menschen eine gute Teilhabe an der
Gesellschaft zu ermöglichen, ist eine
schnelle Integration in den Arbeitsmarkt
wichtig. Das gilt für Flüchtlinge, wie auch
für die schon seit längerem in Deutschland
ansässigen Migranten/innen. Ihre Teilhabe
am Arbeitsmarkt weist jedoch nach wie vor
große Unterschiede auf. Um Müttern mit
Migrationshintergrund den Erwerbseinstieg
zu erleichtern, hat das Bundesministerium
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
das Projekt „Stark im Beruf“ auf den Weg
gebracht.
Gruppen. Während Migranten/innen aus der EU
und vielen Drittstaaten oft höher qualifiziert sind
als der Durschnitt der Bundesbürger, sind bei den
ehemaligen „Gastarbeitern“ überproportional
viele Geringqualifizierte zu finden.
Große Hürden und
alltägliche Diskriminierungen
Migranten/innen sind generell stärker von
(unfreiwilliger) Teilzeit, befristeter Beschäftigung
und Leiharbeit betroffen als Nichtmigranten/
innen. Darüber hinaus sind Sprachkompetenzen,
landesspezifische Kenntnisse und Kontakte
zu Einheimischen wichtige Faktoren, die eine
Die aktuelle Analyse der „Arbeitsmarktintegration Integration in die Arbeitswelt erleichtern. So
von Migranten und Migrantinnen in Deutschland“ ist es zum Beispiel hilfreich zu wissen, wie ein
von Jutta Höhne und Karin Schulze Buschoff vom Bewerbungsverfahren verläuft und worauf es
dabei ankommt. Auch die Nichtanerkennung von
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut
Bildungsabschlüssen und Berufserfahrungen trägt
(WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung zeigt deutlich:
Trotz rechtlicher Verbesserungen kann längst noch dazu bei, dass Migranten/innen in ihren Jobs viel
häufiger überqualifiziert sind als Einheimische.
nicht von einer gleichberechtigten Teilhabe am
Weiter sind Migranten/innen alltäglichen DiskrimiArbeitsmarkt die Rede sein. So ist die Arbeitslonierungen ausgesetzt, die eine gleichberechtigte
sigkeit unter den Erwerbstätigen mit MigrationsTeilhabe erschweren. Die Bertelsmann-Stiftung
hintergrund mit neun Prozent (Frauen) bzw. zehn
hat 2014 festgestellt, dass 60 Prozent der AusbilProzent (Männer) doppelt so hoch wie bei den
dungsbetriebe in Deutschland keine AuszubilBeschäftigten ohne Migrationshintergrund. Im
denden mit Migrationshintergrund eingestellt
Jahr 2013 lebten nach Angaben des Statistischen
haben. Vermeintliche Sprachschwierigkeiten und
Bundesamtes in Deutschland 16,5 Millionen
kulturelle Unterschiede wurden dabei als Gründe
Menschen mit Migrationshintergrund. Ein Drittel
angeführt.
von ihnen ist in Deutschland geboren und zählt
zur zweiten Generation.
Auch Betriebs- und Personalräte
sind gefragt
Abhängig von Staatsbürgerschaft
Insbesondere für Migranten/innen aus der
und Aufenthaltsstatus
Türkei und Drittstaaten besteht also dringender
Ob die Arbeitsmarktintegration gelingt, hängt
Handlungsbedarf. Eine weitere Verbesserung
wesentlich von der Staatsbürgerschaft und dem
des Arbeitsmarktzugangs, Förderung von
Aufenthaltsstatus ab. Aussiedler, EU-Bürger
Anpassungsqualifizierung, Maßnahmen gegen
und Ausländer mit unbeschränkter Erlaubnis zur
Diskriminierung am Arbeitsmarkt und bei
Erwerbstätigkeit haben es leichter einen Job zu
Einstellungsverfahren können dazu beitragen,
finden und eine mittel- und langfristige Perspekdie Situation von Migranten/innen zu verbestive zu entwickeln. Bezogen auf Menschen im
erwerbsfähigen Alter stellen Aussiedler (2,2 Mio.), sern. Auch Betriebs- und Personalräte können in
Betrieben und Verwalten viel zu Verbesserung
Türken/innen (1,6 Mio.) und Menschen aus dem
ihrer Situation beitragen. Eine Sensibilisierung
ehemaligen Jugoslawien (0,9 Mio.) die größten
20
DGB Frau geht vor
Dr. Frank Meissner leitet das
Projekt „Vereinbarkeit von Familie
und Beruf gestalten!“ beim
DGB-Bundesvorstand.
www.familie.dgb.de
Quelle: Jutta Höhne, Karin
Schulze Buschoff (2015): Die
Arbeitsmarktintegration von
Migranten und Migrantinnen
in Deutschland. Ein Überblick
nach Herkunftsländern
und Generationen, in:
WSI-Mitteilungen, Heft 5/2015,
S. 345-354
Zeitumfang zu arbeiten. Bis Ende 2018 sollen
bundesweit knapp 90 Projekte finanziert werden,
die vor Ort Unterstützung anbieten. Im Mittelpunkt stehen hierbei die Beratung und Information von Müttern zu arbeitsmarktrelevanten
Fragen und zur Vereinbarkeit von Familie und
Neues Projekt fördert Mütter mit
Beruf, die Begleitung des (Wieder-)Einstiegs der
Migrationshintergrund
Das Familienministerium hat in einem 2014
Frauen in die Erwerbsarbeit sowie die Vernetzung
gestarteten Projekt vor allem Mütter mit Migratimit regionalen Kooperationspartnern. Das Projekt
onshintergrund in den Fokus genommen. Das ESF- arbeitet eng mit lokalen Institutionen wie Arbeitsfinanzierte Projekt „Stark im Beruf – Mütter mit
agenturen, Kinderbetreuungseinrichtungen, Träger
Migrationshintergrund steigen ein“ zielt darauf
von Integrationskursen, Migrantenselbstorganisaab, den Erwerbseinstieg für Mütter mit Migratitionen, kommunalen Gleichstellungsbeauftragten
und Unternehmen zusammen. Auch der DGB ist
onshintergrund zu erleichtern und den Zugang
im Begleitgremium vertreten und unterstützt das
zu vorhandenen Angeboten zur ArbeitsmarktinProjekt bei der Umsetzung der Maßnahmen.
tegration zu verbessern. Damit sollen Mütter mit
Migrationshintergrund bessere Chancen erhalten,
entsprechend ihren Qualifikationen und höherem
von Interessenvertretungen für die besonderen
Belange von Migranten/innen etwas beim Thema
anonymisierte Bewerbungen sind ein wichtiger
Schritte dahin.
www.starkimberuf.de
Frauen besonders fördern
SPD Frauen legen Integrationskonzept vor
Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin
Malu Dreyer hat gemeinsam mit den vier sozialdemokratischen Bundesministerinnen Manuela
Schwesig, Andrea Nahles, Barbara Hendricks und
Aydan Özouz ein Konzept zur gesellschaftlichen
Integration von Flüchtlingen vorgelegt, das den
Titel „Neustart in Deutschland“ trägt. Das Konzept
berücksichtigt vor allem die besondere Situation
von Frauen.
Ganztagsschulen zur Förderung der Integration von
Schulkindern unterstützt sowie die Gründung einer
„Deutschen Stiftung Ehrenamt“ mit einem Budget
von 30 Millionen Euro pro Jahr. Bildungspolitisch
sprechen sich die Autorinnen für eine Abschaffung
des Kooperationsverbots für Bildung im Grundgesetz aus, so dass der Bund stärker auf Schule und
Hochschule einwirken kann.
Zur Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt soll qualifizierten Zuwander/innen ein
Die Politik habe in der Vergangenheit Fehler
gemacht und zu sehr auf die Integration von männ- schneller Berufseinstieg über unbürokratische
Anerkennung von Qualifikationen ermöglicht
lichen Zuwanderern in den Arbeitsmarkt gesetzt,
werden. Jungen Flüchtlingen soll durch entspreräumten die Politikerinnen ein. Dagegen sei die
Integration von Frauen beispielsweise durch Ange- chende Einstiegsprogramme der Start in die Ausbildung und der Zugang zu Arbeitsgelegenheiten
bote von Sprachkursen vernachlässigt worden.
erleichtert werden. Bundesarbeitsministerin Nahles
Besonderen Wert wird auch auf die Feststellung
will dafür 100.000 Arbeitsgelegenheiten im Umfeld
gelegt, dass die Gleichberechtigung von Männern
der Flüchtlingshilfe schaffen, die mit jährlich 450
und Frauen in Deutschland ein fest verankertes
Verfassungsgebot sei.
Millionen Euro finanziert werden sollen. Auch der
Bau von 350.000 bis 400.000 neuen Wohnungen
sei notwendig, sind sich die SPD-Politikerinnen
Neu geschaffen werden sollen 80.000 neue
einig und rechnen mit einem Gesamt-InvestitionsKita-Plätze und 20.000 zusätzliche Stellen für
Erzieher/innen, ferner wird der Ausbau von
volumen von etwa fünf Milliarden Euro.
Ausgabe Nr. 4 – Dezember 2015
21
Schwerpunkt
Keine Chancengleichheit in der Ausbildung
Junge Migrantinnen in typischen Frauenberufen
Von André Schönewolf
Junge Menschen, die in Deutschland leben,
brauchen eine berufliche Perspektive. Dabei
sollen die gleichen Chancen auf eine gute
Ausbildung für alle gelten. In der Realität
sieht das anders aus, wie der aktuelle DGBAusbildungsreport zeigt, der den Fokus
auf die besondere Situation von Auszubildenden mit Migrationshintergrund legt.
Die Benachteiligung junger Migrant/innen im
deutschen Bildungs- und Beschäftigungssystem
ist hinlänglich bekannt, doch wie sieht es in
der dualen Berufsausbildung aus? Und was
unterscheidet junge Frauen und Männer? Der
DGB-Ausbildungsreport zeigt: Junge Migrant/
innen sind in der Regel unzufriedener mit ihrer
Ausbildung als ihre Kolleg/innen ohne Migrationshintergrund. Auffällig ist, dass junge Migrant/
innen vor allem in solchen Ausbildungsberufen
überproportional vertreten sind, in denen die
Ausbildungsbedingungen besonders schlecht sind.
Dabei zeigt sich, dass es sich hierbei vor allem um
weiblich dominierte Berufe handelt.
Zahnmedizinische Fachangestellte, Friseur/
innen und Einzelhandelskaufleute klagen über
Überstunden, ausbildungsfremde Tätigkeiten
und eine unzureichende Vermittlung der Ausbildungsinhalte durch das Ausbildungspersonal.
Auch liegt beispielsweise die durchschnittliche
Ausbildungsvergütung in männlich dominierten
Berufen im dritten Ausbildungsjahr bei 774 Euro,
bei weiblich dominierten Berufen jedoch nur bei
667 Euro. Hinzu kommt, dass bei jungen Migrant/
innen mehr als jede/r Fünfte angibt, aufgrund von
Herkunft oder Staatsangehörigkeit bereits Opfer
von Diskriminierung geworden zu sein.
Die Ergebnisse des Ausbildungsreports lassen sich
zwar nicht auf die Situation junger Geflüchteter
übertragen, können aber als Warnsignal für die
bevorstehende Integration der Geflüchteten in
den Ausbildungsmarkt gesehen werden. Wer
glaubt, die aufgrund von schlechten Bedingungen
22
DGB Frau geht vor
unbesetzt gebliebenen Ausbildungsstellen nun
mit Geflüchteten besetzen zu können, wird bei
den Gewerkschaften auf den gleichen Widerstand stoßen, den es bereits bei der neuerlichen
Debatte um die Ausnahmen beim Mindestlohn
gab. Das Gleiche gilt für die, von Arbeitgeberverbänden bereits ins Spiel gebrachte, Stärkung
zweijähriger Ausbildungsberufe. Die DGB-Jugend
lehnt Schmalspurausbildungen generell ab, auch
Geflüchtete haben einen Anspruch auf qualitativ
hochwertige Ausbildungsplätze. Es muss verhindert werden, dass Geflüchtete und insbesondere Frauen zu Auszubildenden zweiter Klasse
gemacht werden.
Gerade deshalb ist es wichtig, ihnen eine umfassende, individuelle und geschlechtersensible
Berufsorientierung zu bieten, so dass Frauen und
Männer die Berufe ergreifen, die ihren individuellen Vorstellungen und Fertigkeiten am besten
entsprechen und nicht in den klassischen Rollenvorstellungen verhaften bleiben. Darüber hinaus
bedarf es eines gleichberechtigten Zugangs zu
den ausbildungs- und arbeitsmarktpolitischen
Fördermöglichkeiten. Mit der Assistierten
Ausbildung (AsA) haben die Gewerkschaften im
Rahmen der Allianz für Aus- und Weiterbildung
ein wichtiges und bereits in einzelnen Bundesländern erprobtes Instrument umgesetzt. Sie
ermöglicht eine individuelle und bedarfsbezogene
Begleitung der Auszubildenden in einer betrieblichen Ausbildung.
Nicht zuletzt muss aber auch auf betrieblicher
Ebene ein Klima der Toleranz und Verständigung
befördert werden, um Rassismus und Diskriminierung entgegen zu wirken. Die Gewerkschaften
leisten hier bereits seit vielen Jahren mit unterschiedlichen Formaten ihren Beitrag, sei es über
die „Gelbe Hand“ (www.gelbehand.de) oder die
von der IG Metall initiierte „Respekt“-Kampagne
(www.respekt.tv).
André Schönewolf ist politischer
Referent im DGB Bundesvorstand
und in der Abteilung Jugend
und Jugendpolitik zuständig für
Berufliche Bildung, Jugendarbeitsrecht und Ausbildung.
[email protected]
www.dgb.de
Als „weiblich dominiert“ gilt ein
Beruf, wenn der Frauenanteil unter
den Befragten mindestens 80 Prozent
beträgt.
#Refugees Welcome:
Die Resolution der DGB-Jugend
Wir heißen Geflüchtete Willkommen!
Wir treten dem Rassismus, der
zurzeit in Deutschland und Europa
vermehrt auftritt, entschieden
entgegen! Wir setzen uns ein
für eine Willkommenskultur in
der Gesellschaft, im Bildungs-,
Ausbildungs- und Arbeitsmarkt!
Die Gewerkschaftsjugend positioniert
sich mit einer Resolution zur aktuellen
Flüchtlingssituation. Mit Beschluss des
DGB-Bundesjugendausschusses vom
7. Oktober 2015. www.jugend.dgb.de
Meldungen / Aus den Gewerkschaften
Deutscher Frauenrat auf Zukunftskurs
Mitgliederversammlung 2015
Weitere Informationen unter:
www.frauenrat.de
Die DGB Delegierten unterstützen
die Neustrukturierung des Deutschen
Frauenrats und die Arbeit ihrer
Vorsitzenden Hannelore Buls (2.v.r.).
Seit zwei Jahren arbeitet der Deutsche Frauenrat
gemeinsam mit seinen Mitgliedsverbänden an
einer Neustrukturierung der Verbandsarbeit.
Dementsprechend bestimmte die Organisation
und Politikfähigkeit die Debatte der diesjährigen
Mitgliederversammlung. Mit einem 10-PunkteKonzept soll der Deutsche Frauenrat auf Zukunftskurs gebracht, seine Handlungsfähigkeit verbessert
und die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsverbänden gestärkt werden.
und die inhaltliche Arbeit in Ausschüssen geleistet
werden. Das macht eine Neustrukturierung des
Vorstands notwendig und die verantwortliche
Mitarbeit der Mitgliedsverbände. Das Konzept sei
„in zweifacher Hinsicht ambitioniert“, sagte die
Vorsitzende Hannelore Buls. „Die Vorstellungen
und Wünsche der Mitgliedsverbände müssten
so berücksichtigt werden, „dass Organisation
und Politikfähigkeit des Deutschen Frauenrates
zukunfts- und handlungsfähig sind“. Andererseits
seien Partizipation und professionelle LobbyarSo wurden zehn konkrete Verbandsentwicklungsbeit „nicht umsonst zu haben. Sie erfordern
punkte vereinbart. Unter anderem soll die Lobbyentsprechende Hinterlegung mit finanziellen und
arbeit auf neue Adressat/innen ausgedehnt, stärker personellen Ressourcen“, so Buls. Sie bedankte
sich bei allen Beteiligten für ein Jahr intensiver und
als bisher an Schwerpunkthemen ausgerichtet
konstruktiver Arbeit.
Das Konzept zur Verbandsentwicklung wurde nach
lebhafter Debatte fast einstimmig verabschiedet.
Ebenso beschlossen wurde eine neue Satzung,
die die Arbeit des Deutschen Frauenrates entsprechend neu strukturieren wird.
Foto: DGB
Flüchtlings- und Asylpolitik im Fokus
Darüber hinaus formulierte die Mitgliederversammlung auch politische Aufträge. So fordert der
Deutsche Frauenrat etwa den Schutz des Asyl- und
Bleiberechts und die umgehende und nachhaltige
Verbesserung der Situation geflüchteter Frauen
und Mädchen.
Die Themen Flucht und Asyl sind für
die GEW seit Jahren ein wichtiges
Thema - insbesondere mit Blick
auf das Recht auf Bildung und die
Bildungssituation von (jungen)
Geflüchteten und Asylsuchenden.
Mehr Informationen unter:
www.gew.de/flucht-und-asyl
Tipps für die Praxis,
Unterrichtsmaterialien,
Info-Broschüren, Filme:
www.gew.de/migration/
flucht-und-asyl/
material-fuer-die-praxis
Recht auf Bildung für Flüchtlinge
und Asylsuchende
GEW verabschiedet Handlungsempfehlungen
Bildung ist die zentrale Voraussetzung zur Vermittlung grundlegender Kompetenzen für gesellschaftliche Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben in
wirtschaftlicher Unabhängigkeit. Für Flüchtlinge
und Asylsuchende gilt, was für alle Menschen
gilt: Bildung ist ein Menschenrecht. Damit für alle
Menschen, die nach Deutschland zuwandern, der
Zugang zu Bildungsangeboten passend zu ihrem
Lern- und Bildungsstand und ihren sonstigen
Voraussetzungen gewährleistet werden kann unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus - hat die
GEW Handlungsempfehlungen zur Gewährleistung
von Bildungszugängen und -teilhabe für Flüchtlinge
und Asylsuchende verabschiedet, die auch die
Unterstützung der Bildungseinrichtungen und ihrer
Beschäftigten einschließen.
Ausgabe Nr. 4 – Dezember 2015
23
Aus den Gewerkschaften
Rechte von Frauen stärken
IG BCE unterstützt Projekt der Energiegewerkschaft ZEWU in Simbabwe
Von Cornelia Leunig
Weltweit sind Millionen Menschen auf
der Flucht. Täglich kommen Tausende
in Deutschland an. Sie müssen bei uns
mit offenen Armen empfangen werden.
Ökonomisches Denken darf nicht unsere
Haltung und Entscheidung für humanitäre
Hilfe leiten. Auch in den Herkunftsländern
gibt es viel zu tun. Die IG BCE packt auch
dort an, zum Beispiel in einem Projekt für
Frauen in Simbabwe.
Foto: Christian Burkert
Gewerkschaften stehen für die Humanisierung
der Arbeitswelt. Menschenwürde, Empathie und
Solidarität sind Werte, die ihr Handeln prägen. Wo
immer Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter
agieren, müssen unsere gewerkschaftlichen
Vorstellungen eines menschenwürdigen Lebens
adressiert werden an die Politik, an die Wirtschaft,
an unsere Kolleginnen und Kollegen und über
Grenzen hinaus. Menschen verlassen ihr Land, aus
Angst vor Zerstörung, Gewalt und Terror. Oftmals
traumatisiert und in hohem Maße verunsichert
bitten sie um Asyl. Wir müssen sie in Deutschland
willkommen heißen!
Darüber hinaus ist politisches Handeln wichtig,
um dem Übel auf den Grund zu gehen. Dies ist
ein langwieriger Prozess und heißt auch, Verantwortung für Menschen in Entwicklungsländern
zu übernehmen. Demokratische Systeme müssen
aufgebaut und Wirtschaftssysteme entwickelt
werden. Um weltweit menschenwürdige Arbeitsbedingungen zu schaffen, engagiert sich die
24
DGB Frau geht vor
IG BCE daher auch auf internationaler Ebene, ob
im Bergbau, im Energiesektor oder in anderen
Wirtschaftszweigen. Zum Beispiel als Mitglied der
IndustriALL, einem weltweit agierenden Gewerkschaftsverband, gegründet 2012 mit Sitz in Genf,
in dem rund 50 Millionen Mitglieder in 197 Einzelgewerkschaften organisiert sind.
In einem besonderen Projekt unterstützen die
Frauen der IG BCE Kolleginnen der Zimbabwe
Energy Workers Union (ZEWU) in Simbabwe, einem
der ärmsten Länder Afrikas. Die Diskriminierung
von Frauen erschwere die ohnehin schon problematischen Lebensbedingungen, erläuterte Angeline
Chitambo, Vorsitzende der ZEWU, schon 2013
auf dem Bundeskongress der IG BCE in Hannover
und bat die Kolleginnen um Hilfe. Besonders im
sozialen Sektor und unter Aspekten der Gesundheits- und Bildungssituation, der Wasser- und
Sanitärversorgung sowie des Kinder- und Frauenschutzes, weist Simbabwe große Defizite auf.
Das Projekt „Bildung für Frauen in Afrika“ setzt
genau an diesen Punkten konkret an. Zu einem
ersten Workshop machten sich Ethnologinnen
aus Deutschland auf den Weg nach Bulawayo
in Simbabwe. Eine Woche lang qualifizierten
sie Multiplikatorinnen im Bereich „Arbeits- und
Gesundheitsschutz“. Dabei ging es um mehr
als die Verbesserung der Arbeitsbedingungen.
Gewalt gegen Frauen, Aufklärung und gesundheitliche Versorgung von Kindern standen
ebenso auf dem Programm.
Ziel des Projektes ist es, die Rechte der Frauen
zu stärken! Da die Multiplikatorinnen im
gewerkschaftlichen Rahmen agieren, ermöglicht es
den Frauen, existierende Strukturen und Netzwerke
gezielt für ihre Zwecke nutzbar zu machen und
ihr Wissen und ihre Kompetenz an andere Frauen
weiterzutragen. „Wir haben mit dem Projekt schon
viel erreicht“, sagt Angeline Chitambo, „aber der
Weg ist noch weit und wir brauchen weiterhin
Menschen, die uns unterstützen.“
Cornelia Leunig ist Leiterin der
Abteilung Frauen/Gleichstellung
in der Hauptverwaltung der
Industriegewerkschaft Bergbau,
Chemie, Energie.
[email protected]
www.igbce.de
Angeline Chitambo ist Vorsitzende
der Zimbabwe Energy Workers
Union (ZEWU) in Simbabwe.
www.zewu.co.zw
Von Personen
Stärke durch Vielfalt
IG Metall: Christiane Benner wird Zweite Vorsitzende
Von Christiane Benner
Mit großer Mehrheit haben
die Delegierten auf dem 23.
Ordentlichen Gewerkschaftstag
der IG Metall im Oktober 2015
Christiane Benner zur Zweiten
Vorsitzenden gewählt. Seit
2011 ist die 47-Jährige Mitglied
des Geschäftsführenden
Vorstands der IG Metall mit
den Funktionsbereichen
Zielgruppenarbeit und
Gleichstellung.
christiane.benner@ igmetall.de
www.igmetall.de
Vielfalt ist das Markenzeichen der IG
Metall. Wir beziehen Kraft aus der Unterschiedlichkeit der Menschen in Herkunft,
Geschlecht, Alter oder Beruf. Wir werden
bunter. Wir wachsen am stärksten bei
Angestellten und jungen Menschen. Wir
wachsen bei Kolleginnen und Kollegen
ohne deutschen Pass. Und wir wachsen bei
Frauen, die inzwischen mehr als 400.000
unserer Mitglieder stellen.
Stärke durch Vielfalt - das bedeutet auch sich
mit den Menschen zu solidarisieren, die bei
uns Schutz vor Krieg, Vertreibung und Armut
suchen. Deshalb engagieren sich Metallerinnen
und Metaller landauf, landab für die Integration
und die gerechte Teilhabe von Flüchtlingen. Vor
allem Deutschkurse, Patenschaften und Mentoring stehen dabei im Mittelpunkt. Vom IG Metall
Gewerkschaftstag ging ebenfalls ein starkes Signal
aus: „Refugees welcome!“ Das gilt dann auch
ganz praktisch: Die IG Metall wird in Frankfurt
eine Anlaufstelle eröffnen, die Unterstützung bei
der Anerkennung von Berufsabschlüssen, beim
Schreiben von Lebensläufen und Bewerbungen
anbietet.
Auch frauen- und gleichstellungspolitische Themen
stehen für Vielfalt. Als Zweite Vorsitzende möchte
ich diese Themen weiter in die Mitte der Organisation rücken. Die Vereinbarkeit von Arbeit und
Leben ist dabei der Dreh- und Angelpunkt für die
Freiheitsgrade von Frauen und Männern. Mich hat
die Geschichte eines Paares bewegt, das bei einem
Teppichhersteller in Sachsen arbeitet. Die Kollegin
hat auf unserer Frauenkonferenz berichtet, dass sie
und ihr Mann häufig gezwungen sind, ihr Kind bei
Schichtwechsel auf dem Parkplatz zu übergeben.
Vereinbarkeit sieht anders aus.
Mit einer neuen, lebenslauforientierten Arbeitszeitpolitik wollen wir daher Meilensteine setzen.
Beschäftigte sollen an der Arbeitszeitgestaltung
beteiligt werden und so selbstbestimmter über
ihre Zeit zum „Leben, Lieben, Lachen“ verfügen
können. Wahlfreiheit und Zeitsouveränität
sind deshalb zentrale Stichworte, für die aktive
Betriebsräte kämpfen.
In diesem Zusammenhang hat auch der Tarifvertrag Bildungsteilzeit eine hohe Bedeutung. Er
schafft Freiräume zur Weiterqualifizierung. Gerade
in Zeiten der Digitalisierung, die sich auch stark auf
die Arbeitsplätze weiblicher Beschäftigter auswirkt
und immer wieder neue Qualifikationen erfordert,
ist Bildung das A und O. Und davon sollen alle
profitieren können – egal ob Männer oder Frauen,
Teilzeit- oder Vollzeitbeschäftigte.
Qualifizierung geht immer auch einher mit Entwicklungsmöglichkeiten. Erworbene Fähigkeiten dürfen
nicht verfallen, doch gerade Frauen werden oft
unterhalb ihrer Qualifikationen eingesetzt. Auch
aus diesem Grund hat die gesetzliche Frauenquote
eine so wichtige Signalwirkung. Zudem tragen
mangelnde Entwicklungsmöglichkeiten zur hohen
Entgeltlücke zwischen Männern und Frauen bei.
Mit der Initiative „Faires Entgelt für Frauen“ unterstützen wir Betriebsräte, Entgeltlücken im Betrieb
aufzuspüren und Gleichbehandlung von Männern
und Frauen zu erreichen.
Die IG Metall feiert im nächsten Jahr ihren 125.
Geburtstag. Seit jeher ist sie eines der stärksten
sozialen Netzwerke in Deutschland. Bei uns finden
sich die unterschiedlichsten Menschen hinter
gemeinsamen Zielen zusammen. Stärke durch Vielfalt – dafür werde ich mich auch in den nächsten
Jahren an jedem einzelnen Tag stark machen.
Ausgabe Nr. 4 – Dezember 2015
25
Von Personen
Frauen im Blick
ver.di: Stefanie Nutzenberger wieder in den Bundesvorstand gewählt
Von Stefanie Nutzenberger
ver.di ist die größte Frauenorganisation in
Deutschland. Das macht gleichzeitig stolz
und ist eine Verpflichtung. Ich will dazu
beitragen, dass Frauen- und Gleichstellungspolitik als eine unserer Kernaufgaben
weiter mit Leben gefüllt wird. Wir werden
deswegen, bei allem was wir bewegen,
die Auswirkungen auf die Arbeit und die
Lebensbedingungen von Frauen im Blick
haben. Mit einem Anteil von fast 52 Prozent
weiblicher ver.di-Mitglieder muss das
selbstverständlich sein.
Unser Leitgedanke ist, das Frauen und Männer
eigenständig und sozial abgesichert gut von der
eigenen Arbeit und im Alter leben können müssen.
Das muss für alle Phasen des Lebens gelten. Deshalb
ist mir die Forderung nach existenzsichernden
Einkommen so wichtig. Frauen verdienen im Durchschnitt immer noch weniger als ihre männlichen
Kollegen. Sie sind dadurch überdurchschnittlich
häufig von Armut im Erwerbsleben und späterer
Altersarmut betroffen. Das ist ein gesellschaftlicher
Skandal und das wollen und müssen wir verändern!
Dafür brauchen wir dringend die Aufwertung von
frauentypischen Berufen. Dazu gehen wir bei
ver.di auch neue Wege. In der aktuellen Tarifauseinandersetzung im Sozial- und Erziehungsdienst haben
wir für solch eine Aufwertung gestritten und dafür
aus der Gesellschaft viel Unterstützung erhalten.
Erste Erfolge konnten wir erzielen, aber wir geben
uns damit nicht zufrieden. Der Kampf um Aufwertung braucht einen langen Atem. Dabei will ver.di
auch in anderen frauentypischen Berufen, wie z.B.
der Pflege und im Handel, die Aufwertung voranbringen. Gesellschaftlich müssen wir in Deutschland
deswegen vor allem diskutieren, was uns gute
Dienstleistungsarbeit wert ist, auf die wir alle angewiesen sind. Wieso wird technische Arbeit immer
noch besser bezahlt als die Arbeit mit Menschen,
die Erziehung unserer Kinder oder die Pflege unserer
Angehörigen? In dieser Frage brauchen wir einen
Wertewandel.
26
DGB Frau geht vor
Ein großer, gewerkschaftlicher Erfolg ist die Einführung des allgemeinen Mindestlohns. Er ist auch ein
gleichstellungspolitischer Erfolg, denn der Mindestlohn kommt nachweislich vor allem Frauen zugute.
Erste Schätzungen sagen, dass er die Lohnlücke
zwischen Männern und Frauen, die heute noch bei
ca. 22 Prozent liegt, voraussichtlich um über zwei
Prozent senken wird. Das ist ein spürbarer Schritt in
die richtige Richtung. Aber das reicht nicht aus. Wir
müssen erreichen, dass der Mindestlohn zügig rasch
auf 10 Euro ansteigt. Und wir werden weiter gegen
das erschreckende Ausmaß ungesicherter Beschäftigung kämpfen. Vielen jungen Menschen werden nur
noch befristete Arbeitsverhältnisse und unfreiwillige
Teilzeitarbeit angeboten. Oder gleich nur Minijobs,
in denen sie nicht sozialversichert sind, und die bei
einer Verdienstgrenze von 450 Euro nicht zum Leben
reichen. Davon kann kein Mensch eine gute Zukunft
planen oder gar an die Gründung einer Familie
denken. Und auch hier müssen wir feststellen, dass
vor allem Frauen in Minijobs arbeiten und gleichstellungspolitisch ins Hintertreffen geraten.
Wir setzen uns als ver.di dafür ein, dass diese
prekären Arbeitsverhältnisse zurückgedrängt
werden. Wir brauchen keine Minijobs, sondern
Arbeit, die zum Leben reicht. Wir kämpfen für gute
Einkommen und existenzsichernde Tarifverträge und
werden das Thema Armut und Altersarmut gezielter
in den Fokus rücken.
Und wir wollen das Thema „Zeit zum Leben –
Zeit zum Arbeiten“ bzw. über die Frage „kurze
Vollzeit für alle“ und die damit zusammenhängende
größere Geschlechtergerechtigkeit insgesamt in
ver.di politisch diskutieren. Eine moderne und
gesundheitsförderliche Gestaltung von Arbeitszeit
muss den Bedarfen und Anforderungen der
Beschäftigten in verschiedenen Momenten des
Lebensverlaufs Rechnung tragen.
Dafür werde ich gerne meine Energie in den
nächsten Jahren einsetzen.
Stefanie Nutzenberger wurde
auf dem 4. Ordentlichen
Bundeskongress der ver.di im
September 2015 in Leipzig erneut
in den Bundesvorstand gewählt.
Die gelernte Einzelhandelskauffrau
gehört dem ver.di-Bundesvorstand
seit 2011 an und ist dort zuständig
für den Fachbereich Handel
sowie die Bereiche Frauen- und
Gleichstellungspolitik und
Genderpolitik. Von 2003 bis
2011 war sie stellvertretende
Landesbezirksleiterin im ver.diLandesbezirk Saar.
[email protected]
www.verdi.de
DGB-Projekt
Fachtagung zeigt Handlungsbedarf auf
Weiblich, qualifiziert sucht: Wirtschaftliche Unabhängigkeit!
Von Lena Widmann
www.frauen.dgb.de
Was verdient
die
„Was verdient denn nun die Frau?“. Eine
Antwort war am 9. Oktober 2015, dem
Tag der betrieblichen Entgeltgleichheit, schnell
gefunden: Wirtschaftliche Unabhängigkeit!
Aber … Wie erreichen wir eine geschlechtergerechte Bezahlung? Wie fördern wir die Erwerbsbeteiligung von Frauen? Wie bringen wir Familie
und Beruf unter einen Hut? Das Projekt brachte
auf seiner Fachtagung Verantwortliche aus Politik,
Wissenschaft und Praxis zusammen, darunter
Dr. Ralf Kleindiek, Staatssekretär im Bundesfamilienministerium, die stellvertretende
Vorsitzende des DGB, Elke Hannack, und die
Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin
für Sozialforschung, Prof. Jutta Allmendinger.
Informationen zum Projekt und der
Fachtagung unter:
www.was-verdient-die-frau.de
www.facebook.com/wasverdientdiefrau
www.twitter.com/wasverdientfrau
Politik und Betriebe sind gefragt
DGB-Vize Elke Hannack hob die Bedeutung des
Projektes „Was verdient die Frau? Wirtschaftliche
Unabhängigkeit!“ hervor, „denn ein Drittel der
Frauen kann sich von ihrem Einkommen nicht
unmittelbar selbst finanzieren, ganz zu schweigen
von einem zusätzlichen Kind“. Unflexible Arbeitszeitmodelle, befristete Verträge, Entgeltlücke,
Ehegattensplitting, fehlende Kita-Plätze und vieles
Fotos: Stefanie Kulisch
Lena Widmann ist Koordinatorin
im Kooperationsprojekt „Was
verdient die Frau? Wirtschaftliche
Unabhängigkeit“ des
DGB-Bundesvorstandes
und des BMFSFJ.
[email protected]
„Weiblich, qualifiziert sucht: Wirtschaftliche Unabhängigkeit!“ Was nach einem
Stellengesuch klingt, ist für viele Frauen
Realität – Sie können sich nicht
von ihrem Einkommen unmittelbar
selbst finanzieren. Auf der Fachtagung
des gleichnamigen DGB-Projektes
diskutierten mehr als 150 Vertreter/
innen aus Politik, Gewerkschaften,
Betrieben und Verwaltungen über
Chancen und Hindernisse von Frauen
auf dem Arbeitsmarkt.
mehr ständen jedoch oft im Weg. Hier seien Politik
und Betriebe gefragt: „Sie können Rahmenbedingungen schaffen, die eine eigenständige Existenzsicherung von Frauen (und Männern) möglich
machen.“
Junge Frauen wollen erwerbstätig sein
Folgt man den Aussagen von Prof. Jutta Allmendinger, wollen junge Frauen erwerbstätig sein. Es
stellt sich also nicht mehr die Frage nach Familie
ODER Beruf, heute heißt es Familie UND Beruf!
„Dafür braucht es unbedingt eine Politik, die
gleichberechtigte Lebens- und Arbeitsmodelle
fördert“, so Allmendinger. Arbeitszeiten
müssten zwischen Frauen und Männern
gerechter aufgeteilt, Unternehmenskulturen
moderner werden. Dafür sei es wichtig, die
jetzigen, meist männlichen Entscheidungsträger mit einzubinden und Maßnahmen
gemeinsam umzusetzen.
Wie das gelingen kann, zeigten Frauen aus
der Praxis anhand konkreter Beispiele: Ob
mit Betriebskindergärten die Vereinbarkeit
möglich machen, mit dem eg-Check Diskriminierungsmerkmale in der Bezahlung aufdecken
oder aus dem Minijob erfolgreich aufsteigen
– „so kann’s gehen!“ zur wirtschaftlichen
Unabhängigkeit!
Ausgabe Nr. 4 – Dezember 2015
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DGB-BUNDESVORSTAND | Entgelt bezahlt | Postvertriebsstück A 14573
Spendenaufruf für Flüchtlinge
Gewerkschaften ebnen den Weg in Ausbildung und Arbeit
Flüchtlinge sollen schnell im hiesigen Leben ankommen und auf dem Arbeitsmarkt eine
Chance haben. Daher sammelt der von DGB und Mitgliedsgewerkschaften getragene
Verein „Gewerkschaften helfen“ Spenden. Die Spendengelder sollen Flüchtlingen gezielt
helfen, die vielen Hürden auf dem Weg in einen erlernten oder neuen Beruf zu nehmen:
Spenden für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge
auf dem Weg in die Ausbildung
Die Gewerkschaften wollen minderjährige Flüchtlinge, die ohne Eltern oder Verwandte
nach Deutschland gekommen sind, auf ihrem Weg in Ausbildung unterstützen. Viele von
ihnen sind traumatisiert und brauchen sozialpädagogische oder psychologische Betreuung,
bevor sie überhaupt eine Ausbildung beginnen können. Auch bei der Berufsorientierung ist
Unterstützung notwendig.
Spenden für die Anerkennung von Berufsabschlüssen
Viele Geflüchtete haben keine Dokumente, etwa Zeugnisse oder Diplome, weil sie auf der
Flucht verloren gegangen sind. Um in Deutschland einen Arbeitsplatz zu finden, der ihren
Kenntnissen und Berufserfahrungen entspricht, sind diese Papiere aber notwendig. Sie
(wieder)zu beschaffen oder entsprechende Anerkennungsverfahren und Vorbereitungskurse
zu absolvieren, ist langwierig und auch teuer. Das kann mehr als 5000 Euro kosten. In der
Regel müssen die Antragsteller dies selbst tragen. Wer diese Kosten nicht über das SGB II
erstattet bekommt, dem will der DGB mit Mitteln aus diesem Spendentopf helfen.
Gewerkschaften helfen e.V., Bankverbindung: Nord LB, Kontonummer: 015 201 1490,
Bankleitzahl: 250 500 00, IBAN: DE55 2505 0000 0152 0114 90, Stichwort: „Flüchtlinge“
IMPRESSUM
Herausgeber: Deutscher Gewerkschaftsbund / Bundesvorstand
Abteilung Frauen, Gleichstellungs- und Familienpolitik
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verantwortlich: Elke Hannack, Anja Weusthoff
Redaktion: Britta Jagusch, Frankfurt
Titelbild: RadekProcyk, iStockphoto.com
Satz, Grafik und Druck: PrintNetwork pn GmbH, Berlin
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