Riskantes Sterben – Das Lebensende als sozialer Prozess Werner Schneider, München, 10.7.2015 (unveröffentlichtes Manuskript, nicht zitierfähig und nicht zur Weitergabe bestimmt, weitere Literaturhinweise beim Verfasser) Sehr geehrte Damen und Herren, ich freue mich sehr über die Einladung zu dem heutigen Fachtag – vielen Dank an die Organisatoren. Der Fachtag widmet sich der Frage: „Soziale Arbeit, ein unverzichtbarer Bestandteil von Hospizarbeit und Palliative Care?“ Ich kann die Frage nicht wirklich beantworten, denn ich bin kein Experte für Soziale Arbeit, und ich komme auch nicht aus der Praxis der Hospizarbeit oder aus dem Bereich Palliative Care. Ich meine aber, die Antwort muss lauten: „Ja!“ Aber vielleicht aus etwas anderen Gründen, als gemeinhin die Expertise aus der Praxis nahelegen würde, die ich aber nicht habe. Ich bin nur ein beobachtender Soziologe, der seit Mitte der 1990er erstaunt mitverfolgt, wie unsere Gesellschaft seither ihren Umgang mit Sterben und Tod – insbesondere mit dem Sterben – radikal verändert. Ich möchte in den folgenden gut 20 Minuten skizzieren, (2) was diesen veränderten, neuen gesellschaftlichen Umgang mit Sterben, mit Sterbenden kennzeichnet, davor (1) aber kurz ausweisen, was aus soziologischer Perspektive gemeint ist, wenn vom Sterben die Rede ist, und schließlich (3) einige ausgewählte Aspekte diskutieren, die mir im Kontext von Hospizarbeit, Palliative Care und Soziale Arbeit als wichtig erscheinen, wenn Sterben als sozialer Prozess gefasst wird. Zu 1.: Der soziologische Blick auf das Lebensende: Sterben als sozialer Prozess Ich beginne mit einem kurzen Zitat des Soziologen Klaus Feldmann: „Orthodoxe Juden erklärten in früheren Zeiten Mitglieder ihrer Gemeinde, die Nicht-Juden geheiratet hatten, für tot und führten ein symbolisches Begräbnis für diese Personen durch.“1 Hier ist exemplarisch das benannt, was man als den sozialen Tod bezeichnet: Ein Mitglied einer Gruppe wird von dieser als irrelevant, als nicht mehr existent, metaphorisch formuliert als ‚gestorben‘ definiert. Das kann in geschlossenen Gruppen sogar dazu führen, dass die Betroffenen dann tatsächlich physisch sterben, obwohl es keine ‚objektive‘ medizinische Krankheitsdiagnose für dieses Sterben gibt. Man spricht dann etwas missverständlich vom ‚psychogenen Tod‘, wobei es um 1 Feldmann, K. (2010): Tod und Gesellschaft. Sozialwissenschaftliche Thanatologie im Überblick. Wiesbaden, S.126. 1 soziale Ausgrenzung geht, die so stark wirkt, dass sie sogar die physische Existenz in Frage stellt. Umgekehrt gilt ebenso: Bei einer infausten Prognose ist ein wichtiger Aspekt, inwieweit mit dem anstehenden physischen Sterben ein soziales Sterben im Sinne einer solchen Ausgrenzung parallel läuft oder der soziale Ausschluss sogar dem physischen Ableben vorausläuft. Man denke dabei an die HIV-positiven Patienten der 1980er Jahre, deren stigmatisierende ‚AIDS-Diagnose‘ damals vor allem das soziale Todesurteil bedeutete. Nicht zufällig hat die Hospizbewegung eine ihrer Wurzeln in der Betreuung jener damals Kranken bzw. aufgrund ihrer Stigmatisierung gesellschaftlich bereits Ausgeschlossenen.2 Allgemeiner gefasst: Sterben ist also offenbar immer schon mehr als ein primär physiologisch bestimmter Vorgang – Sterben ist immer auch und vor allem ein sozialer Prozess. Soziologisch gesehen ist Sterben als ein umfassender Ausgliederungsprozess zu kennzeichnen – wohlgemerkt: Ausgliederung, nicht Ausgrenzung(!). Dieser Ausgliederungsprozess zielt im Kern auf eine grundlegende Um- und Neudefinition der gemeinsam geteilten Wirklichkeit durch alle am Sterbensverlauf Beteiligten. Durch diese Um- und Neudefinition macht sich die betreffende Gemeinschaft deutlich, dass eines ihrer Mitglieder sie unwiederbringlich verlassen wird und die noch Weiterlebenden den sinnhaften Übergang in eine neue Alltagswirklichkeit ohne diesen dann nicht mehr lebenden Anderen vollziehen müssen. Viele Praktiker in der Sterbendenbegleitung schildern, dass die Sorge von Sterbenden häufig genau diesem Aspekt geschuldet ist: Wie soll der Alltag für meine Angehörigen jetzt – in der momentanen Außeralltäglichkeit der lebensbedrohenden Krankheit, des Sterbens – und über meinen Tod hinaus in der dann folgenden alltäglichen Normalität des ‚Ohne mich‘ bewältigbar sein? Hier setzen die umfassenden Angebote von Hospizarbeit und Palliative Care an. Dabei geht es nicht ‚nur’ um einen möglichst schmerzfreien Ablauf der letzten Wochen, Tage oder Stunden. Vielmehr geht es um die Ausgestaltung eines Sterbeprozesses, der beim Patienten jene umfassende Betreuungssicherheit erzeugt, die er und seine Angehörigen in der je aktuellen Lebens- und Krankheitssituation benötigen, und – darüber hinausweisend – die bei den Weiterlebenden den Glauben an die Sinnhaftigkeit ihres Weiterlebens in ihren alltäglichen Bezügen aufrechterhält bzw. gar bestärkt. Festzuhalten ist also: Das Sterben eines Menschen wird immer von der Gesellschaft, in der er lebt, bestimmt, von den jeweiligen Werten, Normen und Leitvorstellungen, die das Handeln orientieren, von den institutionellen Bezügen und Rahmen, in denen das Sterben situiert ist (Klinik, Palliativstation, Hospiz, Zuhause), von den jeweiligen sozialen Beziehungen zwischen dem Sterbenden, den Angehörigen, den ehren- oder hauptamtlichen Sterbearbeiten. Wir sterben also nicht einfach so, sondern wir werden sterben gemacht! 2 Z.B. Heller, A. et al. (Hg.) (2012): Die Geschichte der Hospizbewegung in Deutschland. Ludwigsburg.; vgl. auch Müller, K. (2012): „Ich habe das Recht darauf, so zu sterben wie ich gelebt habe!“ Die Geschichte der Aids(Hospiz-)Bewegung in Deutschland, Ludwigsburg. 2 Zu 2.: Die gesellschaftliche Neu-Ordnung des Lebensendes: Das gute Sterben In den 1950/60ern war Sterben als ein möglichst lange zu vermeidender, aber letztlich unvermeidlicher Betriebsunfall des modernen Gesundheitssystems zu kaschieren. Warum? Weil die große Verheißung der Moderne darin besteht, jegliches Leid, welches in irgendeiner Form bearbeitbar erscheint, aus dem Leben der Menschen auszutreiben. Und dass immer mehr an menschlichen Leiderfahrungen für immer mehr Menschen als bearbeitbar, vermeidbar erschienen und letztlich auch durch gesellschaftliche Institutionen minimiert oder gar vermieden werden konnten, ist eine Erfolgsgeschichte der Moderne. Damit korrespondiert am Lebensende das moderne Versprechen des ‚natürlichen Todes‘ – d.h. jeden Menschen bis an das Ende seiner natürlichen Lebensspanne zu bringen, die sich selbst in ihrer ‚Natürlichkeit‘ immer weiter nach hinten verschieben ließ (durch bessere Lebensbedingungen, Ernährung, Hygiene, der Kühlschrank, medizinische Versorgung). Das erlaubt uns heute zum einen, unser gesamtes, immer länger dauerndes Leben in der Bewusstseinshaltung von ‚potentieller Unsterblichkeit‘ zu leben. Wahrscheinlich haben die wenigstens von uns heute in der Früh ihre Wohnung, ihre Unterkunft verlassen mit der Überlegung, was müsste denn jetzt alles noch gemacht sein, vorsorglich in Ordnung gebracht sein für den Fall, dass man am Abend und nie mehr wieder zurückkehren würde. Hier ist der Zusammenhang zwischen Leben und Sterben zu erkennen: Unsere alltagsweltliche Perspektive als Mitglieder dieser Gesellschaft ist heute wesentlich durch eine individualistische Sichtweise geprägt. Wir wollen, sollen, ja müssen in vielen Bereichen unseres Lebens unser eigener ‚Herr und Meister‘ sein, der für sich all die großen und kleinen Lebensentscheidungen zu treffen hat und dabei das je eigene Leben möglichst ‚gut‘ zu gestalten sucht. Deshalb erscheint es uns so plausibel, das Individuum mit Selbstbestimmung, Autonomie ins Zentrum unseres gesellschaftlichen Denkens zu rücken. Und deshalb korrespondiert die Vorstellung vom langen, selbstbestimmten erfüllten, leidfreien und ‚untersterblichen‘ Leben der Moderne zwangsläufig mit dem mittlerweile ebenfalls als gestaltbar, bearbeitbar gedachten und als frei von Leid gewünschten Sterben. Wir erleben seit den 1980ern eine umfassende gesellschaftliche Neu-Ordnung des Lebensendes als ‚gutes‘ Sterben. Das zukünftige, zu antizipierende eigene Sterben verwandelt sich in dieser NeuOrdnung symbolisch zu einem vom Individuum ‚zu organisierenden letzten Lebensprojekt‘. Dabei spielen abstrakte Werte wie Würde und Selbstbestimmung ebenso eine Rolle wie die konkrete Ausgestaltung von Sterbensprozessen: eine wirksame Schmerztherapie, die Unterstützung von Angehörigen, umfassende Betreuung und Begleitung u.a.m. Dafür müssen Überlegungen angestellt werden, wie man sich das eigene Sterben vorstellt, es müssen Behandlungsoptionen geprüft (z.B. Patientenverfügung), möglichst verlässliche Versorgungs- und Betreuungsnetze geknüpft und der Umfang an gewünschter Begleitung geklärt sein – von Angehörigen über den Hausarzt, Pflegedienst bis hin zum ambulanten Hospizdienst oder ggf. gar der Verfügbarkeit von SAPV. Schließlich, wenn es soweit ist, müssen Entscheidungen getroffen und wirksame Maßnahmen in der Schmerzbehandlung, in der psychosozialen Unterstützung umgesetzt werden usw. – oder es soll alternativ dazu die 3 Möglichkeit zuhanden sein, alledem selbstbestimmt, nach eigenem Willen ein Ende setzen zu können… Und damit gilt für uns alle: Das Lebensende ist vorsorglich zu organisieren – und wir wissen: Man hat nur einen Versuch, nichts kann rückgängig gemacht werden, aus der Erfahrung des eigenen Sterbens kann man nichts lernen, wenn es beim ersten Mal nicht so richtig geklappt hat… All das bedeutet: Sterben geschieht nicht mehr einfach so, sondern: Weil es zur letzten Lebensphase geworden ist, wird Sterben zunehmend riskanter! Für wen genau in welchem Ausmaß diese möglichst gute, riskante Sterben mit welchen Folgen möglich wird oder nicht erreichbar ist – das wissen wir noch gar nicht, weil uns dazu die empirischen Erkenntnisse fehlen und wir noch mittendrin stecken in diesem großen gesellschaftlichen Laborexperiment der Neu-Ordnung des Lebensendes. Das führt mich zur Frage nach sozialer Ungleichheit im Sterben. Denn: Da ist zum einen der Befund der wachsenden Heterogenität der Sozial- und Problemlagen in einer zunehmend pluralisierten Gesellschaft – gilt das auch und gerade am Lebensende?! Ja, ich gehe davon aus, dass nicht nur die Lebenswelten, sondern auch die Sterbewelten der Menschen zunehmend unterschiedlicher, heterogener werden. Zum anderen geht es mir um die Differenz zwischen Versorgung, Betreuung und Begleitung – wer hat worauf Anspruch?; wer kann worüber verfügen? Zu 3.: Zur gesellschaftlichen Bedeutung von Hospizarbeit und Palliative Care – Soziale Ungleichheit im Sterben Soziale Ungleichheit im Sterben Kaum etwas bringt deutlicher die soziale Ungleichheit zu Lebzeiten zum Ausdruck wie die Ausgestaltung des Sterbens als sozialer Ausgliederungsprozess. Mehr noch: Je mehr Sterben gestaltbar, organisierbar, riskanter wird, umso mehr wird Sterben zum ‚Ungleichheitsgenerator’. Denn das Wie des Sterbens in seiner sozialen Organisation richtet sich heute noch immer und immer mehr nach den hierfür relevanten sozialen Merkmalen und gesellschaftlichen Bewertungen. Ich nenne einige wenige Beispiele: Geschlecht: Immer noch leben Frauen länger als Männer mit dem Effekt, dass Männer in der Regel am Lebensende von ihren Frauen gepflegt werden, während Frauen auf fremde Hilfe angewiesen sind und dabei aufgrund ihrer vom Mann abgeleiteten Versorgungsansprüche als Witwen in der Regel vergleichsweise ökonomisch schlechter gestellt sind. Alter: Das Sterben der Alten ist uns in unserer Gesellschaft nichts wert, das Sterben eines Jungen ist uns viel wert. Jeder, der Geld für Hospize sammelt, berichtet, wie unendlich leichter es ist, Geld für ein Kinderhospiz zu erhalten im Vergleich zu Geld für eine Alteneinrichtung. Sozio-ökonomischer Status und ‚Lebensstil’: Arme sterben früher – aber sterben sie auch anders, weniger gut, schlechter? Ich meine: ja! Das Gesundheitssystem in unsere Gesellschaft wirkt in sozialer Hinsicht hoch selektiv: Krankheit/Sterblichkeit ist vor allem über den sozialen Gradienten 4 differenziert! D.h.: Um die Lebenserwartung eines Menschen, sein Krankheitsrisiko bestimmen zu können, ist der soziale Gradient ausschlaggebend, nichts anderes: Beruflicher Status, Einkommen, Bildung… – je weiter oben in der Sozialstruktur unserer Gesellschaft, umso länger und gesünder lebt man.3 Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die sozialen Ungleichheitsverhältnisse in der Schwerstkrankheit am Lebensende, also beim Sterben anders wären, sich plötzlich umkehren oder gar auflösen sollten. Je mehr Palliativmedizin im Gesundheitssystem als Versorgung integriert sein wird, umso stärker wird auch die Palliativmedizin die sozialen Ungleichheiten in unserer Gesellschaft beim Sterben reproduzieren. Die Begriffe Hospiz und Palliativ Ich erspare Ihnen hier eine umfassende Definition und Beschreibung dieser Begriffe. Soziologisch gesehen ist dabei zu beachten: Palliativmedizinische und palliativpflegerische Versorgung markiert auf normativer Ebene als (gleiche) Versorgung (für alle) einen Rechtsanspruch, das für alle gleichermaßen zu gewährleistende, verfügbare Notwendige – hier geht es um Bedarfsdeckung z.B. bei der Schmerzbehandlung. Und man kann natürlich festlegen, dass hierunter auch Seelsorge spirituelle Betreuung sowie psychosoziale Expertise als Soziale Arbeit fällt. (Hospizliche) Begleitung als ein idealerweise für möglichst viele vorzuhaltendes Angebot zur umfassenden alltagspraktischen Unterstützung, Hilfe bei der Alltagsnormalisierung in der existenziellen Krisensituation am Lebensende, kann hingegen kein Rechtsanspruch sein. Hier geht es vielmehr bestenfalls um ein umfassendes freiwilliges Angebot einer solidarischen Zivilgesellschaft. Eine 24h-Stunden-Rufbereitschaft kann als Standard im Rahmen einer Palliativversorgung gesetzt werden. Auf die jederzeit ansprechbaren Nachbarn, die – wenn man Hilfe braucht – umstandslos helfen, weil sie selbst ‚helfensbedürftig‘ sind, wie dies Klaus Dörner ausdrückt, kann man bestenfalls hoffen. Wohl dem, der sie in Reichweite hat – als konkrete Nachbarn hinter der nächsten Wohnungstür oder als ‚Quasi-Nachbarn‘ in Form von Ehrenamtlichen. Ich will damit sagen: Ich bin froh, wenn ich einen Arzt habe, der nicht nur versorgt, sondern umfassend betreut, und vielleicht gerade dann für mich da ist, wenn es medizinisch nichts mehr zu tun gibt. Einen Rechtsanspruch kann ich darauf nicht haben. Und genau in diesem Sinne gilt aus meiner Sicht: Ehrenamtliche Hospizarbeit begleitet, Palliativmedizin/-pflege begleitet nicht! Je mehr in den öffentlichen Debatten ein Hospizbegriff bzw. die Hospizidee zugunsten eines umfassend ‚versorgenden, betreuenden und begleitenden‘ Palliativbegriffs in den Hintergrund tritt, umso mehr verschwindet die kulturell und gesellschaftspolitisch wichtige Differenz zwischen einer als Rechtsanspruch formulierbaren Versorgung und dem, was mit Versorgung nicht identisch sein kann: 3 Vgl. z.B. MPIDR, http://www.demogr.mpg.de/en/education_career/what_is_demography_1908/the_poor_die_younger_3372/ default.htm; oder SZ, http://www.sueddeutsche.de/gesundheit/lebenserwartung-in-deutschland-arme-sterben-frueher1.1684562. 5 die vorbehaltlose Bereitschaft zur Begleitung des hilfebedürftigen Anderen aus einer ‚hospizlichen Haltung‘ – die selbstverständlich auch in der palliativmedizinischen und -pflegerischen Praxis ihren Ort haben kann und – vor allem in Form von Ehrenamtlichkeit als Bestandteil der Zivilgesellschaft. Jetzt braucht es einen kurzen Blick auf das Ehrenamt. 2) Ehrenamt Das Ehrenamt als solches ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Es war ein zusätzliches Amt, welches ehrsame Bürger – in der Regel Männer – in ihrer Gemeinschaft bekleiden und dafür symbolische Gratifikation erhalten: noch mehr Ehrung – sie mehren ihr symbolisches Kapital. Das Ehrenamt integrierte diejenigen, die es ausübten bzw. verstärkte deren Integration – und es suchte diejenigen, denen es sich gewidmet hat (z.B. an den Rändern der Gesellschaft), vor dem gesellschaftlichen Herausfallen zu bewahren. Ab den 1970ern ist zunehmend die Rede vom bürgerschaftlichen, zivilgesellschaftlichen Engagement: Man bekleidet kein Amt mehr, sondern engagiert sich als Bürger/in der Bürgergesellschaft, in der Zivilgesellschaft. Wofür und in welchem Ausmaß ist jeweils selbst zu entscheiden. Das Karitative des Ehrenamts wird normativ durch das Politische ergänzt oder gar ersetzt. Jetzt geht es weniger um Integration, sondern wichtiger wird der Nutzen des Einsatzes für die Gesellschaft und vor allem auch für den Engagierten selbst. Noch deutlicher wird diese Entwicklung mit dem Begriff der Freiwilligenarbeit, der immer mehr in den Vordergrund rückt. Es geht um Freiwilligkeit, die nun im Begriff selbst auftaucht und damit weniger ‚Freiwilligkeit‘ ausweist, sondern die individuelle Entscheidung für Arbeit einfordert (und damit die Entscheidung dagegen potentiell diskreditiert). Und es geht – bezeichnenderweise – um Arbeit! Seit den 1970er Jahren erkennen wir eine Tendenz, dass diese Gesellschaft immer mehr Lebensbereiche, soziale Beziehungswelten und alles andere mit dem Arbeitsbegriff überzieht: Beziehungsarbeit in der Ehe, Erziehungsarbeit in der Eltern-Kind-Beziehung, Sorgearbeit und Trauerarbeit, Arbeit am Selbst (Coaching) usw. – sicherlich kommt bald: Freundschaftsarbeit u.a.m. – wer nicht von ‚Palliative Care‘ sprechen möchte, verwendet ‚Palliativarbeit‘, und Hospizarbeit gibt es ja auch noch… Diese Hegemonie des Arbeitsbegriffs weist darauf hin, dass immer mehr Lebensbereiche – auch das Lebensende – der aktiven gesellschaftlichen Regelung, Normierung, Gestaltung unterzogen werden – und dass (ganz wie im Sinne moderner Erwerbsarbeit) der Einzelne in diesen Bereichen nicht einfach nach Gusto sein kann, was er ist, sondern sich zu aktivieren, zu engagieren, zu organisieren, zu qualifizieren usw. hat. Mit dem Arbeitsbegriff werden diese Bereiche zur gesellschaftlichen Neugestaltung aufbereitet und mit dem zwanglosen Zwang zur individualisierten Arbeitsübernahme im Sinne der potentiellen Aktivierung jedes einzelnen Gesellschaftsmitglieds versehen. Die Gesellschaft verlangt nicht mehr nach Ehrenamtlichen, sondern nach Freiwilligenarbeitern. 6 Aber Achtung: Vor einiger Zeit hat unsere Bundeskanzlerin den Tag des Ehrenamts zum Anlass genommen, eine vorbehaltlose Lobeshymne auf das Ehrenamt zu singen. Soziologisch betrachtet möchte ich den Kollegen Thomas Rauschenbach zitieren, der 1995 skeptisch anmerkte, dass das Ehrenamt nicht(!) „eine jener seltenen genialen Entdeckungen in der Menschheitsgeschichte [sei] (…), von der anscheinend immer nur alle profitieren.“4 Eine neuere sozialwissenschaftliche Studie zeigt: Für gehobene Milieus ist das Freiwilligenengagement per se von besonderem Nutzen, da es die individuelle Ressourcen- und Kapitalienausstattung erhöht und zugleich ihren Anspruch als gesellschaftliche Leitmilieus durch Leistungen, denen Allgemeinwohlförderlichkeit unterstellt wird, legitimiert. Kurzum: Die gesellschaftlich tonangebenden ‚feineren Leute’ des gehobenen Bildungsbürgertums sichern ihre Distanz zu den ‚weniger feinen Leute’ nicht nur, aber auch durch ihr Freiwilligenengagement, das sowohl bei denen, die es erbringen, als auch bei jenen, die es erhalten, hoch selektiv wirkt.5 Ich meine, der Bereich von Hospizarbeit und Palliative Care braucht Soziale Arbeit nicht nur für die Sterbenden und für die Angehörigen, sondern auch weil es hier – z.B. bei der Frage von Freiwilligenarbeitern oder Ehrenamtliche – um soziale, um gesellschaftliche Prozesse handelt. Z.B.: Wie organisiert sich eine Bürgerbewegung in der Praxis, um Ungleichheit – gerade am Lebensende – zu minimieren? Dafür erscheint aus meiner Sicht die Expertise von sozialer Arbeit wichtig. Um es deutlich zu formulieren: Wie jemand stirbt, palliativmedizinisch, -pflegerisch gut versorgt, wenn gewünscht ehrenamtlich begleitet etc., hängt derzeit z.B. von Wohnort, je nach Region, von der institutionellen Umgebung (Krankenhaus, Altenheim, zuhause). Mehr noch: Ich frage mich: Wie viel ökonomisches Kapital braucht man in dieser Gesellschaft heute und in Zukunft, um gut sterben zu können – z.B. auch als Möglichkeit zur Auswahl von Betreuungsoptionen, für Spenden etc.? Wie viel soziales Kapital im Sinne der Verfügbarkeit, des Zuhandenseins von sozialen Beziehungen: je weniger Familie verfügbar, umso wichtiger sind weitere soziale Netzwerke, am besten mit medizinisch-pflegerischen Profis, vielleicht kennt man auch die Koordinatorin eines Hospizvereins, Ehrenamtliche. Wie viel kulturelles Kapital braucht es im Sinne von kulturell spezifischem Wissen darüber, wie unsere sozialen Systeme funktionieren (wo muss ich einen Antrag stellen?; wie muss ich Kontakt aufnehmen mit Profis der Sterbenden-Betreuung in welchem Bereich?; an welchen Informationsangeboten muss ich teilnehmen und z.B. bei Vorträgen hinterher nachfragen bei den Organisatoren, um soziales Kapital aufzubauen? etc.)? Kurz gesagt: Wer arm ist, hat nicht nur kein Geld, sondern auch keine Netzwerke und wenig Vertrauen in Institutionen. Er wird sich schwer tun mit dem guten Sterben. Schluss Ich komme zum Schluss: Ich bin Jahrgang 1960 und damit Angehöriger der sogenannten Baby Boomer, jener in den frühen 1960ern geborenen Kohorten, die deutlich zahlreicher waren als ihre 4 Cit. nach Fischer, R. (2012): Freiwilligenengagement und soziale Ungleichheit. Eine sozialwissenschaftliche Studie. Stuttgart, S.10. 5 Fischer, R. (2012), a.a.O., S.246ff. 7 Vorgänger- und vor allem als alle bisherigen Nachfolger-Kohorten. Ich erwähne dies deshalb, weil wir – diese Jahrgänge – es sind, die als großes Problemszenario herhalten müssen, wenn es um den demographischen Wandel und den bereits jetzt auf uns zukommenden Berg von multimorbiden, pflegebedürftigen Alten geht, den diese Gesellschaft wird stemmen müssen. Wir waren bereits zu Beginn unseres Lebens zu viele – im Kindergarten, in der Schule, bei der Lehrstellen- und Studienplatzsuche. Und wir werden auch am Lebensende, in den Krankenhäusern, Pflegeheimen zu viele sein, ja wir werden uns noch auf den Friedhöfen wechselseitig im Weg liegen, wenn nicht zumindest dort der Wandel der Bestattungskultur, vom großen Sarg zur platzsparenden Urne, für Entlastung sorgt. Neben diesem ‚Zahlenproblem‘ gibt es aber einen zweiten, wichtigeren Aspekt: Ich behaupte, dass die seit 1960 Geborenen die ersten Generationen waren bzw. sind, die ihr ganzes Leben in einer durch und durch modernisiert- modernen individualistischen Gesellschaft verbracht haben, in der durchgehend über den ganzen Lebensweg hinweg die Bedeutung von Individualität, Autonomie, Selbstbestimmung hoch war bzw. immer höher wurde. Dies gilt natürlich nicht nur für meine Generation, sondern auch und mehr noch, radikaler noch für alle nachfolgenden Generationen. Sterben wird immer riskanter – das bedeutet auch: Sterben benötigt immer mehr Vertrauen: in Personen ebenso wie in Institutionen. Dabei gilt: Je integrierter sich Menschen in eine Gesellschaft sehen, umso mehr Vertrauen können sie in die Institutionen und Organisationen, die diese Gesellschaft bietet, entwickeln. Und dies gilt umso mehr, je breiter die institutionell-organisatorische Basis in alle Bevölkerungsgruppen hineinreicht, und je mehr Menschen in diesen Institutionen und Organisationen des ‚Sterben-Machens‘ (meint: der sozialen Organisation des Sterbens) involviert sind, sie aktiv mitgestalten. Der Hospizbereich war bislang ein gesellschaftliches Zukunftslabor – und er wird es bleiben, solange die Hospizbewegung als Bürgerbewegung auch weiterhin ihre Innovationskraft in einer sich ständig wandelnden Gesellschaft von unten, d.h. im Alltag der Menschen findet. Soziale Arbeit sollte, ja muss in diesem gesellschaftlichen Zukunftslabor des Sterbens eine zentrale Rolle spielen! VIELEN DANK! 8
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