Russische Impressionen - Reisebilder von Jürgen Bucksch Russland bot mir in vier Jahrzehnten der Besuche sehr unterschiedliche Bilder , die Sie auch in dieser Reihenfolge sehen können: - Uniforme Komsomolzen halten ihre Fahne vor marschierenden Mädchen in Sotchi und kesse Studentinnen erfreuen den Betrachter in den 1970er Jahren (Bild 1 und 2). Die Sowjetunion erscheint stark und mächtig. - In den 1990er Jahre wankt der russische Riese: In St. Peterburg erinnern Spuren des Verfalls an die Zeit, in der Dostojewski „Schuld und Sühne“ geschrieben hat. Wütende Straßenredner schreien ihre Ratlosigkeit heraus wie Boris Jelzin, der beim Verlassen der Präsidentenmaschine anlässlich der Beisetzung des letzten Zaren beinah gestolpert wäre, wenn seine Frau Naina ihn nicht gehalten hätte. Die Pracht der Zarenzeit zeigt sich wieder ohne Scham: Jelzin verneigt sich 1998 vor der Zarenfamilie, neunzehnfacher Salut ertönt, als Nikolas der II. in der Peter-und-Pauls-Kathedrale beigesetzt wird. Er war in der Nacht vom 16. zum 17. Juli 1918 von den Bolschewiken in Jekatarinburg ermordet worden. Es ist kein Staatsbegräbnis, aber die große Bühne. - Unter Wladimir Putin wächst bis zur gegenwärtigen Öl- und Ukraine-Krise der Wohlstand in Russland. Moskau wird zu teuersten Metropole der Welt. Das Warenhaus GUM am Roten Platz in Moskau gegenüber vom Lenin-Mausoleum kann mit der Pariser Galeries Lafayette, dem Londoner Harrods und dem Berliner KaDeWe konkurrieren. - Heute besuche ich Russland wieder und habe gemischte Gedanken: Ausdruck göttlicher Gerechtigkeit sei, so erklärt ein Moskowiter mir, dass die Menschen in Russland als Ausgleich für einzigartige Bodenschätze wie Steinkohle, Eisenerz, Öl, Gas oder Gold immer furchtbare Herrscher wie die Zaren, die Sowjetführer oder Jelzin und Putin ertragen mussten. Jahrzehnte habe ich damit verbracht, deutsche Erzählungen über „den Russen“ zu überhören – allgegenwärtige Feindbilder. Ich besuche das ehemalige Ostpreußen und ertappe mich dabei, von russischer Gastfreundschaft zu schwärmen: Uljana, meine Stadtführerin in Kaliningrad, und ihr Mann Jaroslaw, ein Angestellter der Hafenverwaltung, haben für mich in ihrer bescheidenen Plattenbauwohnung gekocht. Die stundenlangen Kontrollen an der russisch-polinischen Grenze lassen mich mit vierstündiger Verspätung in Kaliningrad eintreffen. Uljana und Jaroslaw servieren wie selbstverständlich weit nach Mitternacht streng und liebevoll Selbstgemachtes in der mit Sowjetkitsch und einem eingeschalteten Großbildschirm dekorierten Eigentumswohnung. Protestieren ist sinnlos. Uljana erzählt, dass Air Berlin sich aus dem russischen Markt zurückgezogen hat. Die Flüge von Düsseldorf nach Moskau sowie von Berlin nach Moskau und nach Kaliningrad sind gestrichen. Der letzte Flug von Berlin nach Moskau habe am 18. Januar 2016 stattgefunden. Sie kann nur noch selten deutschen Gästen ihre Stadt zeigen. Die Vertriebenen reisen – sei es nun touristisch oder humanitär veranlaßt – nur noch selten in die Region, da die längste Besuchszeit den russischen Grenzschranken gilt. Die Rußlanddeutschen zieht es in die Bundesrepublik oder zurück nach Kasachstan oder Sibirien. Noch Russische Impressionen – Denkbilder von [email protected] www.fo-net.de 13.02.2016 Seite 1 Russische Impressionen - Reisebilder von Jürgen Bucksch 7.000 Deutsche sollen in Königsberg leben, doch mehrheitlich haben auch sie schon die Koffer gepackt. In Königsberg, wo Armut, Aids und die Mafia herrschen, sagen sie, da gibt es keine Zukunft. Jaroslaw hatte gehofft, dass Kaliningrad auf dem Gebiet des Exportes einmal das Hongkong Russlands hätte werden sollen. Doch der Streit mit der EU habe das Handelsvolumen halbiert. Auch er schaue sich nach einem neuen Arbeitsplatz um. Trotz dieser Sorgen ist der Tisch reich gedeckt. Ich darf nichts ablehnen. Sie zeigen mir ihre Stadt und erklären auf Deutsch, dass die englischen Bombenangriffe auf die Innenstadt im August 1944 diese weitgehend zerstörten, obwohl sich hier keine Betriebe befunden hätten. Es wurden nur Wohn- und Kulturstätten getroffen. Zerstört wurden sämtliche historischen Gebäude mit ihrer unersetzlichen Ausstattung, der Dom und zwölf weitere Kirchen, das Schloss, die alte und die neue Universität mit vielen Instituten und Kliniken, das Kneiphöfsche Rathaus (das seit 1927 das Stadtgeschichtliche Museum war), das Opernhaus, die Staats- und Universitätsbibliothek, das malerische Speicherviertel, Zeitungsgebäude, die seit 1722 bestehende Buchhandlung Gräfe und Unzer und etwa die Hälfte aller Schulen. Vernichtet wurden die Geburtshäuser von Johann Georg Hamann, E. T. A. Hoffmann, Eduard von Simson und Hermann Goetz und das Haus in der Löbenichtschen Langgasse, in dem Heinrich von Kleist gewohnt hatte und den „Zerbrochenen Krug“ vollendete. Über 5.000 Menschen starben und 200.000 wurden obdachlos. Die Schichauwerft, Kasernen, Rüstungsfirmen, Befestigungsanlagen, der Hauptbahnhof und der Flugplatz bleiben unbeschädigt. 2,4 Millionen Bewohner Ostpreußens flohen 1945, 300.000 Menschen starben während dieser Flucht. 110.000 Bewohner blieben in der Stadt. Uljanas Eltern sind 1945 aus Weißrussland nach Kaliningrad gekommen, Jaroslaws Eltern zogen aus Tschetschenien her. Ihre neue Heimat hat derzeit eine ungewisse Zukunft. Der Kontakt mit dem westlichen Europa wird nur von einigen polnischen Zigaretten- und Dieselschmugglern aufrechterhalten. Ein Foto zeigt einen alten VW-Passat mit einem 100-Liter-Diesel-Tank, der auf einem Holzklotz steht, damit der Tank restlos befüllt werden kann. Vor der Grenze binden Schmuggler Zigarettenpackungen mit Klebebändern um ihre Beine. Ich übersehe bei meiner Weiterreise in den Elchwald am Kurischen Haff ein blaues Grenzwarnschild in russischer und englischer Sprache, werde von einem Armeeposten angehalten und ein Grenzsoldat versucht mich mit Hilfe der Übersetzungsfunktion seines iPhones zu befragen, was scheitert. Nun werde ich für sechs Stunden in einen Armee-Stützpunkt gebracht und von einer eigens angereisten Dolmetscherin ausführlich verhört: Was und wohin ich hier wolle, was ich von Putin und Merkel halte usw. . Das Gespräch wird ausfürlich dokumentiert. Eine sympathische junge Frau führt das Gespräch bestimmt und freundlich. Ich unterschreibe viele kyrillisch beschriebene Formulare, als nehme ich eine Bankkredit auf und erhalte einen Strafzettel über 500 Rubel. Nach sechs Stunden Verhör verlasse ich die Anlage und fahre zurück nach Kaliningrad, um die Strafe zu bezahlen. Beim Grenzübertritt Richtung Polen warte ich erneut mehrere Stunden, obwohl kaum Fahrzeuge die Grenze überfahren wollen, werde wieder eingehend kontrolliert, doch den Beleg, dass ich die Gebühr bezahlt habe, möchte niemand sehen. Vielleicht schläft der russische Bär schon. Russische Impressionen – Denkbilder von [email protected] www.fo-net.de 13.02.2016 Seite 2
© Copyright 2024 ExpyDoc