Weiß Das frühromantische Fragment Laboratorium Aufklärung Herausgegeben von Olaf Breidbach, Daniel Fulda, Hartmut Rosa Wissenschaftlicher Beirat Heiner Alwart (Jena), Harald Bluhm (Halle), Ralf Koerrenz (Jena), Klaus Manger (Jena), Stefan Matuschek (Jena), Georg Schmidt (Jena), Hellmut Seemann (Weimar), Udo Sträter (Halle), Heinz Thoma (Halle) Band 27 Johannes Weiß Das frühromantische Fragment Eine Entstehungs- und Wirkungsgeschichte Wilhelm Fink Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Friedrich-Schiller-Universität Jena Eine Veröffentlichung des Forschungszentrums Laboratorium Aufklärung http://www.fzla.uni-jena.de/ Umschlagabbildung: www.pixabay.com Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 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DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DES FRÜHROMANTISCHEN FRAGMENTS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1. Nicolas Chamfort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) La Rochefoucauld als Repräsentant der französischen Moralistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Chamforts Maximes et Pensées, Caractères et Anecdotes (1795) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die frühromantische Chamfort-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . d) Textvergleich: Chamforts Maximen und die frühromantischen Fragmente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2. Gotthold Ephraim Lessing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3. Die Xenien Goethes und Schillers (1796). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 III. DIE FRÜHROMANTISCHEN FRAGMENTSAMMLUNGEN . . . . . . . . . 93 21 26 33 42 1. Friedrich Schlegel (u. a.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 a) Die Lyceums-Fragmente (1797) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 b) Die Athenäums-Fragmente (1798). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 c) Die Ideen-Fragmente (1800) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 2. Novalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 a) Die Blüthenstaub-Fragmente (1798) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 b) Glauben und Liebe/Politische Aphorismen (1798) . . . . . . . . . . . 136 3. Zusammenfassung: Das frühromantische Fragment. . . . . . . . . . . . 143 IV. DIE WIRKUNGSGESCHICHTE DES FRÜHROMANTISCHEN FRAGMENTS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 1. Friedrich Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 a) Menschliches, Allzumenschliches (1878). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 6 INHALT b) Morgenröte (1881) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 c) Die fröhliche Wissenschaft (1882) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 d) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 2. Das 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Walter Benjamin (Einbahnstraße, 1928) . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Theodor W. Adorno (Minima Moralia, 1951) . . . . . . . . . . . . . c) Maurice Blanchot (L’écriture du désastre, 1980) . . . . . . . . . . . . V. 171 171 180 185 SCHLUSS: DAS FRAGMENT ALS SELBST-ÜBERSCHREITUNG DES APHORISMUS ZUM ESSAY . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 VI. LITERATURVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Liste der Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Quellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 VII. PERSONENREGISTER. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 I. EINLEITUNG „und so läßt sich auch eigentlich nicht reden von der Poesie als nur in Poesie.“1 Es erfordert einige interpretatorische Anstrengung, diesen Satz aus Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie nicht im Sinne eines Berufsverbots für Literaturwissenschaftler zu verstehen. Unbekümmert üben sie sich in der Systematisierung und begrifflichen Zergliederung dessen, was sich nicht nur aus Sicht Schlegels der Systematisierung und begrifflichen Zergliederung gerade entzieht. Erst recht muß ein solcher Vorbehalt bei einem Thema wie dem frühromantischen Fragment gelten, dem assoziativen, witzigen, lebendigen Gegenprojekt zu einer starren Buchstabenphilosophie. Wer glaubt, mit dem Instrumentarium einer literaturwissenschaftlichen Studie den Kern dieser poetischen Bruchstücke erfassen zu können, scheint ihren Inhalt nicht verstanden zu haben; und wer Ordnung in das zu bringen versucht, dessen Wesen gerade in der Unordnung besteht, verfälscht es von Grund auf. Die Frühromantiker selbst liefern zum Problem gleich eine mögliche Lösung mit. Ebenfalls im Gespräch über die Poesie dehnt die Figur Lothario den Begriff der Poesie so weit aus, daß sie potentiell jegliche sprachliche Äußerung umfaßt: „Jede Kunst und jede Wissenschaft die durch die Rede wirkt, wenn sie als Kunst um ihrer selbst willen geübt wird, und wenn sie den höchsten Gipfel erreicht, erscheint als Poesie.“2 Das allein läßt sich nur schwer als Rechtfertigung lesen, die frühromantischen Fragmente mit den Mitteln der Literaturwissenschaft zu analysieren, die ja gerade nicht „als Kunst um ihrer selbst willen geübt wird“, sondern an der Klärung einer bestimmten, vorher klar eingegrenzten Fragestellung interessiert ist und im Allgemeinen auch nicht die für die Frühromantiker zentrale selbstreflexive Ausrichtung besitzt. Wenn tatsächlich „alles Poesie“3 wäre und demnach sogar die Buchstabenphilosophie darunter fiele, erübrigte sich die Etablierung einer dagegen ankämpfenden Fragmentpoetik.4 Entscheidend ist in diesem Zusammenhang jedoch die grundsätzliche Annäherung von „Kunst“ und „Wissenschaft“ durch ihre gemeinsame Einbettung in die Universalpoesie. Ähnliche Gedankenfiguren tauchen zahlreich in den Diskussio1 Friedrich Schlegel, Gespräch über die Poesie, KFSA 2, S. 285. Zu den hier verwendeten Abkürzungen vgl. Liste der Siglen (S. 199). 2 Ebd., S. 304. 3 Ebd. 4 Das 116. Athenäums-Fragment hebt den normativen Gehalt der „romantischen Poesie“ hervor, indem es wie in einer Selbstkorrektur dem „Sein“ das „Sollen“ hinzufügt: „[D]enn in einem gewissen Sinn ist oder soll alle Poesie romantisch sein“ (KFSA 2, S. 183). Vgl. zu dieser Doppelung unten S. 158. 8 EINLEITUNG nen Ende des 18. Jahrhunderts auf, oft in Verbindung mit dem Modell einer Poesie und Philosophie, Anschauung und Reflexion vereinigenden „Neuen Mythologie“. Neben Friedrich Schlegels „Rede über die Mythologie“5 ist hier vor allem das sogenannte Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus zu erwähnen, deren potentielle Verfasser Schelling und Hölderlin zudem an weiteren Stellen die Vereinigung von Poesie und Philosophie im Ur-Einen postulieren.6 Später nimmt Nietzsche aus anthropologischem Blickwinkel diesen Impuls auf und macht aus dem „Trieb zur Metaphernbildung“7 ein kreatives Vermögen des Menschen, das nicht nur der Kunstproduktion, sondern auch der wissenschaftlichen Begriffsverwendung zugrunde liege. Eine ähnliche Pointe läßt sich auch schon in Friedrich Schlegels Fragmentpoetik beobachten, die den auf das Finden und Erfinden von verborgenen Ähnlichkeiten gerichteten „Witz“ in den Vordergrund rückt.8 Dieser hat einerseits als Stilmittel seinen Platz in der aphoristisch-zugespitzten Form des Fragments, das durch überraschende Vergleiche die tieferen Gemeinsamkeiten zwischen dem scheinbar völlig Unterschiedlichen offenlegt, andererseits steht er als „Prinzip und Organ der Universalphilosophie“ für eine weiterreichende Kombinatorik, die die „sich ewig mischenden und wieder trennenden Wissenschaften“ (A 220)9 als einzelne Momente einer allumfassenden Universalpoesie miteinander verknüpft. Auch wenn ein solches Ganzheitsideal der Moderne und Postmoderne fremd geworden ist, erweist sich die Bestimmung des Witzes als das Finden von verborgenen Ähnlichkeiten als erstaunlich anschlußfähig, um Gemeinsamkeiten von einerseits wissenschaftlicher 5 In: Friedrich Schlegel, Gespräch über die Poesie, KFSA 2, S. 311–328. 6 Vgl. u. a. den Abschluß des sich mit Kunstphilosophie befassenden 6. Hauptabschnitts von Schellings System des transzendentalen Idealismus: „Wenn es nun aber die Kunst allein ist, welcher das, was der Philosoph nur subjektiv darzustellen vermag, mit allgemeiner Gültigkeit objektiv zu machen gelingen kann, so ist, um noch diesen Schluß daraus zu ziehen, zu erwarten, daß die Philosophie, so wie sie in der Kindheit der Wissenschaft von der Poesie geboren und genährt worden ist, und mit ihr alle diejenigen Wissenschaften, welche durch sie der Vollkommenheit entgegengeführt werden, nach ihrer Vollendung als ebensoviel einzelne Ströme in den allgemeinen Ozean der Poesie zurückfließen, von welchem sie ausgegangen waren. Welches aber das Mittelglied der Rückkehr der Wissenschaft zur Poesie sein werde, ist im allgemeinen nicht schwer zu sagen, da ein solches Mittelglied in der Mythologie existiert hat, ehe diese, wie es jetzt scheint, unauflösliche Trennung geschehen ist“ (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, System des transzendentalen Idealismus, in: ders., Sämmtliche Werke, I. Abtheilung, Band 3, S. 329–634, hier: S. 629). Eine ähnliche Metapher des ‚Zusammenfließens‘ verwendet die Titelfigur in Hölderlins Hyperion, wenn sie die Dichtung als „Anfang und Ende“ der Philosophie bezeichnet: „Wie Minerva aus Jupiters Haupt, entspringt sie aus der Dichtung eines unendlichen göttlichen Seyns. Und so läuft am End‘ auch wieder in ihr das Unvereinbare in der geheimnißvollen Quelle der Dichtung zusammen.“ (Friedrich Hölderlin, Hyperion, S. 81) 7 Friedrich Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, KSA 1, S. 887. 8 Vgl. die Definition des Witzes durch Adelung: „In der engsten, jetzt noch allein üblichen Bedeutung ist der Witz, das Vermögen der Seele, Ähnlichkeiten, und besonders verborgene Ähnlichkeiten, zu entdecken.“ (Adelung, Lemma „Witz“, Band 4, Spalte 1586). Vgl. unten S. 47. 9 Im Folgenden werden nachstehende Abkürzungen für die frühromantischen Fragmentsammlungen verwendet: „L“ für Lyceums-Fragmente, „A“ für Athenäums-Fragmente, „I“ für Ideen-Fragmente, „Bl“ für Blüthenstaub-Fragmente und „GL“ für Glauben und Liebe. Vgl. Liste der Siglen, S. 199. EINLEITUNG 9 und andererseits aphoristisch-fragmentarischer Darstellung zu begründen – und damit die Rechtfertigung, sich in ersterer über letztere zu äußern. Das gilt natürlich insbesondere für eine Studie mit komparatistischem Hintergrund, doch darüber hinaus auch für geisteswissenschaftliche Arbeiten im Allgemeinen. Diese beruhen wesentlich auf dem kreativen Vermögen der Analogiensuche, auch wenn sie in vielen Fällen durch eine hermetische Begriffsprache, alexandrinisch überbordende Fußnotenapparate oder seitenlange Ausführungen zur „Untersuchungsmethode“ ihre Herkunft aus dem höchst Subjektiven mit Erfolg zu kaschieren wissen. So banal sie klingen mag, beschreibt die Formel „Finden von verborgenen Ähnlichkeiten“ doch treffend den Kern dessen, was auch die vorliegende Arbeit erreichen will: ein besseres Verständnis der literarischen Form des Fragments durch einen vergleichenden Blick auf entstehungs- und wirkungsgeschichtlich relevante Werke. Neben „Witz“ ist hierzu auch „Scharfsinn“ als das Vermögen, „verborgene Unterschiede aufzufinden“10, vonnöten, denn unter der gemeinsamen aphoristischen Oberfläche treten oftmals tiefere Differenzen hinsichtlich der Verwendungsweise dieser Form und des weltanschaulichen Hintergrunds hervor. Mit dem „Aphorismus“ ist ein Stichwort gefallen, das die Konstruktion einer eigenständigen Gattung des „Fragments“ vor eine Herausforderung stellt. Die beiden Begriffe werden häufig in einem Atemzug genannt, beispielsweise in den einschlägigen Aufsätzen Franz Mautners11, der ihnen zudem die ebenfalls verwandten Formen der Maxime bzw. maxime und Sentenz bzw. sentence an die Seite stellt. So berechtigt die Annäherung von Aphorismus und Fragment auch sein mag, erscheint eine klare Trennung schon allein deswegen geboten, weil die Frühromantiker selbst den Ausdruck „Fragment“ bewußt zur Bezeichnung ihrer Kurztexte verwenden und in eine im Hintergrund stehende komplexe Programmatik einbinden.12 Teils taucht der Begriff bereits im Titel der Sammlung auf, teils innerhalb der Sammlung 10 Adelung, Lemma „Witz“, Band 4, Spalte 1586. Vgl. Adelung, Lemma „Scharfsinn“, Band 3, Spalte 1364: Scharfsinn sei „die Eigenschaft des Verstandes, die verborgenen Unterschiede der Dinge oder Verschiedenheiten an einem Dinge zu erkennen und zu entdecken.“ 11 Franz H. Mautner, „Der Aphorismus als literarische Gattung“, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 27 (1933), S. 132–175, sowie ders., „Maxim(e)s, Sentences, Fragmente, Aphorismen“, in: Gerhard Neumann (Hrsg.), Der Aphorismus. Zur Geschichte, zu den Formen und Möglichkeiten einer literarischen Gattung, Darmstadt, 1976 (Wege der Forschung 356), S. 399–412. 12 Auch Ernst Behler plädiert dafür, die jeweiligen Benennungen der Texte durch die Autoren als maßgeblich zu betrachten: „Es scheint deshalb angemessener zu sein, die betreffenden Texte unter dem Namen zu verstehen, den ihnen ihre Autoren gegeben haben: Maxime als Maxime, Sentenz als Sentenz, Anekdote als Anekdote, Aphorismus als Aphorismus und Fragment als Fragment.“ (Behler [1985]. S. 125–143). In diesem Zusammenhang ist noch anzumerken, daß Novalis dem Begriff des Fragments den des Aphorismus zur Seite stellt, indem er dem zweiten, zunächst unveröffentlichten Teil der Sammlung Glauben und Liebe den Titel „Politische Aphorismen“ gibt. Gerade diese sind jedoch – zumindest sofern man Harald Frickes Kriterium der „kotextuellen Isolation“ (Fricke [1984], S. 10ff ) folgen will – auf Grund ihrer deutlichen, teils sogar grammatisch sichtbaren Bezugnahmen aufeinander viel weniger aphoristisch geprägt als die übrigen frühromantischen Fragmentsammlungen. 10 EINLEITUNG in selbstreflexivem Gebrauch, teils in brieflichen Äußerungen der Frühromantiker. Eine solche Benennung ist angesichts der insbesondere von Friedrich Schlegel ausführlich thematisierten Dialektik von Bruchstück und Ganzem kaum zufällig und daher entsprechend ernst zu nehmen. Maurice Blanchot etwa sieht die wesentliche Leistung der Frühromantiker darin, die discontinuité und die différence zu einer Formfrage gemacht und dadurch über Nietzsche hinaus bis in die Moderne gewirkt zu haben.13 Ein zentrales Anliegen dieser Arbeit liegt in der Prüfung, ob die neue, fragmentarische Weltsicht der Frühromantik tatsächlich ihre Entsprechung im Gebrauch einer neuen, fragmentarischen Darstellungsform findet oder ob wir es hier lediglich mit einer – programmatisch aufgeladenen – Variante des konventionellen Aphorismus zu tun haben. Eine von der frühromantischen Ästhetik unabhängige phänomenologische Beschreibung soll also die Frage nach der Eigenständigkeit der literarischen Form „Fragment“ beantworten. Zu diesem Zweck werden die eine solche Eigenständigkeit suggerierenden Aussagen der Schlegel und Novalis zunächst wörtlich genommen, um davon ausgehend eine sowohl die Entstehungsbedingungen als auch die Nachwirkungen berücksichtigende Gattungsgeschichte zu rekonstruieren. Der Vergleich mit den Vorläufern kann Aufschluß darüber geben, inwiefern sich die Frühromantiker bei der Begründung ihrer neuen Darstellungsform tatsächlich vom schon Vorhandenen absetzen und etwas Originäres schaffen, während der Blick in die Zukunft auf die Klärung der Frage zielt, ob das Fragment in rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht als selbständige Einheit zu betrachten ist, die eine parallel zur Aphoristik existierende Entwicklungslinie aufweist. Auch bei der Auswahl der zu untersuchenden Texte sind zunächst die Äußerungen der Frühromantiker selbst maßgebend, die ihren fragmentarischen Darstellungsstil mit mehreren Autoren explizit in Verbindung bringen. Dies ist zum einen bei dem französischen Moralisten Nicolas Chamfort (1741–1794) der Fall, dessen nachgelassene Maximes et Pensées, Caractères et Anecdotes (1795) von August Wilhelm Schlegel rezensiert werden und auch sonst Gesprächsthema sind: Friedrich Schlegel bezeichnet seine Lyceums-Fragmente als „kritische Chamfortade“14 und nimmt auch in den Sammlungen selbst auf sein stilistisches Vorbild Bezug. Daher bilden die Maximes et Pensées den ersten Untersuchungsschwerpunkt, eingeleitet von einem kurzen Blick auf die Französische Moralistik am Beispiel eines ihrer Hauptrepräsentanten, François de La Rochefoucauld (1613–1680). Der danach behandelte Autor mag auf den ersten Blick hier deplaziert wirken, denn Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) ist kaum als Aphoristiker in Erscheinung getreten; dennoch beschreibt Friedrich Schlegel dessen Schreibstil als fragmentarisch und betrachtet ihn in mehreren Aufsätzen im Lichte der Fragmentpoetik, gerade auch im Hinblick auf das schon erwähnte Konzept des „Witzes“. Es ist zu klären, worin genau der Einfluß von Lessings „Worten voll Kraft, Geist und 13 Vgl. Blanchot, L’entretien infini, S. 527. 14 Brief Friedrich Schlegels an Novalis vom 26. September 1797, KFSA 24, S. 21. EINLEITUNG 11 Salz“15 besteht und ob dieser Einfluß nicht nur in der Theorie, sondern auch tatsächlich in der Schreibpraxis der Frühromantiker sichtbar wird. Den Abschluß des entstehungsgeschichtlichen Kapitels bildet ein kurzer Überblick über Friedrich Schlegels Rezeption der Xenien Goethes und Schillers. Als selbsternannter „Wiederhersteller der epigrammatischen Gattung“16 bringt Schlegel seine als „Xenien“17 bezeichneten Lyceums-Fragmente mit dem 1796 veröffentlichten Skandalwerk explizit in Verbindung. Insbesondere die kurz darauf von Schlegel verfaßte Rezension liefert einige Hinweise, inwiefern der pointierte Stil der Xenien Wirkung auf die etwa zeitgleich entstehende Gattung des frühromantischen Fragments ausgeübt hat. Man sieht, daß in diesem ersten Teil der Arbeit nur Texte Berücksichtigung finden, auf die die Frühromantiker selbst direkten Bezug im Zusammenhang mit der neuen fragmentarischen Form nehmen und die außerdem stilistische Ähnlichkeiten aufweisen. Daher wird auch auf eine nähere Betrachtung Hamanns und Herders verzichtet, deren Einfluß sich weitgehend auf die Programmatik beschränkt.18 Sowohl Hamanns Brocken aus seiner Londoner Zeit als auch Herders Fragmente Über die neuere deutsche Literatur bestehen zwar aus ‚Bruchstücken‘, doch aus explizit aufeinander Bezug nehmenden, die mit der primär ungeordneten aphoristischfragmentarischen Form wenig zu tun haben.19 Im zweiten Teil stehen die frühromantischen Fragmentsammlungen selbst im Vordergrund. Ausgangspunkt ist wieder die Benennung durch die Autoren: Fragment ist, was von ihnen als solches bezeichnet wird. Dadurch grenzt sich das Textkorpus auf jene fünf bekannten Sammlungen ein, die in dem relativ kurzen Zeitraum von 1797 bis 1800 veröffentlicht worden sind und unübersehbare formale Ähnlichkeiten aufweisen: Die zum Großteil von Friedrich Schlegel verfaßten Lyceums-, Athenäums- und Ideen-Fragmente sowie die weitgehend Novalis’schen Sammlungen Blüthenstaub und Glauben und Liebe. Nicht als Fragmente konzipierte Kurztexte wie beispielsweise die nachgelassenen Aufzeichnungen beider Autoren finden in diesem Zusammenhang nur Berücksichtigung, sofern dies den Blick auf die eigentlichen Fragmentsammlungen erhellt.20 Friedrich Schlegel, Über Lessing, KFSA 2, S. 112. KFSA 18, S. 130. Brief Friedrich Schlegels an Karl Gustav von Brinkman vom September 1797, KFSA 24, S. 19. Vgl. u. a. die sich allesamt auf Ernst Zinns Text „Fragment über Fragmente“ (1959) beziehenden Arbeiten: Behler (1985), S. 126–131; Strack (1997), S. 336–341; Strack (2004), S. 344–347. 19 Vgl. unten S. 34f. 20 Vgl. Strack/Eicheldinger, die die Aufnahme von „Vorstufen und Exzerpte[n] Schlegels und Hardenbergs“ in ihre Textsammlung wie folgt begründen: „Aber nicht nur die Vielfalt der Formen und Inhalte ist für die nähere Bestimmung der romantischen Fragmente von entscheidender Bedeutung, sondern auch deren Rohmaterial. Vielfach sind die künstlich angefertigten Fragmente aus Notizen und Exzerpten hervorgegangen, die Schlegel und Novalis in ihrer Studienheften niedergeschrieben oder aus Briefen eliminiert haben. Aus diesem Grund sind diese Aufzeichnungen bei der Beurteilung der endgültigen Fragmente mitzuberücksichtigen“ (Strack/Eicheldinger, Bd. 1, S. 5). 15 16 17 18 12 EINLEITUNG Wie schon angedeutet zielt die hier vorgelegte Arbeit auf eine phänomenologische Beschreibung der frühromantischen Fragmente aus der Perspektive des Literaturwissenschaftlers und nicht des Philosophen. Natürlich kann die Programmatik nicht völlig außer Acht gelassen werden, da nicht zuletzt auf Grund der selbstreflexiven Ausrichtung vieler Fragmente deren Inhalt und Form nur schwer voneinander zu trennen sind. Allerdings spielt die Auseinandersetzung mit der Fragmentpoetik nur dort eine Rolle, wo sie dem eigentlichen Zweck der Studie dient: einer Textanalyse, die sowohl die Struktur der ganzen Sammlungen als auch die Eigenschaften der einzelnen Beiträge in den Blick nimmt. Beispielsweise stellt sich die Frage, ob die jeweilige Anordnung der Fragmente eher als zufällig oder als komponiert zu betrachten ist; damit zusammenhängend sollen auch thematische Sequenzen oder sonstige Bezugnahmen der Kurztexte untereinander sichtbar gemacht werden. So läßt sich schließlich prüfen, ob die frühromantischen Fragmente denn tatsächlich jenen Idealen der „Lebendigkeit“ und des „Witzes“ entsprechen, die die dahinterstehende Programmatik ihnen unterschiebt. Besondere Aufmerksamkeit verdient außerdem das „symphilosophische“ Zusammenspiel der Schlegel, Novalis’ und Schleiermachers, die alle einen jeweils eigenen Schreibstil in das Gemeinschaftsprojekt der Athenäums-Fragmente einbringen und auch sonst, wie etwa das Beispiel der Blüthenstaub-Bearbeitung durch Friedrich Schlegel zeigt, in einem produktiven Austausch stehen. In der Zusammenfassung am Ende des zweiten Teils rückt dann unter Berücksichtigung der bisher gewonnenen Erkenntnisse die Leitfrage in den Vordergrund, inwiefern vom frühromantischen Fragment als einer eigenständigen, vom Aphorismus emanzipierten Form gesprochen werden kann. Auch was die Zusammenstellung der für die Wirkungsgeschichte des Fragments relevanten Texte angeht, sind zum einen formale Übereinstimmungen, zum andern die Äußerungen der betreffenden Autoren entscheidend. Direkte Rückgriffe auf die Frühromantiker bei der Begründung aphoristischen Schreibens tauchen allerdings nur selten auf, so daß sich die Herausforderung ergibt, einerseits die Auswahlkriterien behutsam zu erweitern, sich aber andererseits nicht im weiten Feld der Aphoristik zu verlieren. An einer Berücksichtigung Friedrich Nietzsches (1844–1900) kommt man in diesem Kontext kaum vorbei, schon allein deswegen, weil er auf Grund seiner enormen Wirkung gleichsam als Kontrastfolie bei der Ermittlung des frühromantischen Einflusses auf die Aphoristik des 20. Jahrhunderts dient. Doch lassen sich auch durchaus inhaltliche Parallelen finden, wie vor allem Ernst Behler im Bereich sprachtheoretischer und ästhetischer Themen nachweist.21 Die Werke der sogenannten mittleren Schaffensperiode, Menschliches, Allzumenschliches (1878), Morgenröte (1881) und Die Fröhliche Wissenschaft (1882) erinnern nicht nur formal an die frühromantischen Fragmentsammlungen, sondern bieten ebenso durch ihre explizit anti-systematische Ausrichtung oder die Bezugnahmen auf die französischen Moralisten Vergleichsmöglichkeiten. 21 Vgl. unten S. 147f. EINLEITUNG 13 Das Verhältnis der Frühromantik zum 20. Jahrhundert wird hier exemplarisch an drei Denkern des Fragmentarischen vorgeführt: Walter Benjamin (1892–1940), Theodor W. Adorno (1903–1969) und Maurice Blanchot (1907–2003). Bei ersterem läßt sich eine ausgeprägte Frühromantik-Rezeption nachweisen, insbesondere in Form seiner Dissertation mit dem Titel Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (1920); darüber hinaus hat er mit der Einbahnstraße (1928) ein aphoristisches Werk vorgelegt, das der fragmentarischen Großstadterfahrung der Moderne Ausdruck verleiht. An Benjamin knüpft wiederum Adorno an, der nicht nur im bekannten auf Hegel anspielenden Satz „Das Ganze ist das Unwahre“22 der Dialektik von Einzelnem und Ganzem nachspürt. In der Aphorismensammlung Minima Moralia (1951) nutzt er den fragmentarischen Schreibstil zu einer breit angelegten Gesellschaftskritik und thematisiert zudem die Formfrage in der einleitenden „Zueignung“. Auch wenn hier keine direkten Erwähnungen der Frühromantiker zu finden sind, stellt Adorno als einer der Hauptrepräsentanten des modernen Fragmentarismus einen wichtigen Bezugspunkt dar. Maurice Blanchots L’écriture du désastre (1980) läßt sich insofern als ein würdiger Abschluß des wirkungsgeschichtlichen Kapitels bezeichnen, als hier neben formalen Übereinstimmungen auch explizite Rückgriffe auf die Schlegel, Novalis und Schleiermacher festzustellen sind. Da Blanchot als Denker des allzerstörenden désastre zugleich an der fragmentarischen Welterfahrung der Moderne teilhat, gibt seine Positionierung gegenüber den Frühromantikern bedeutende Aufschlüsse über die Stellung des frühromantischen Fragments im 20. Jahrhundert. Zuletzt ist zu klären, in welchem Verhältnis die Gattungsbestimmung des frühromantischen Fragments zu den Ergebnissen der entstehungs- und wirkungsgeschichtlichen Untersuchung steht. Dies schließt die Frage mit ein, ob die von den Frühromantikern begründete Darstellungsform zum Ausgangspunkt einer eigenständigen Traditionslinie geworden oder nur eine zeitlich begrenzte Variante des Aphorismus geblieben ist. Forschungsüberblick Um den Stand der Forschung zur Gattung des frühromantischen Fragments angemessen beurteilen zu können, muß auch hier zwischen Form und Inhalt unterschieden werden. Die formale Betrachtung des Fragments findet sich häufig im Zusammenhang mit übergreifenden Darstellungen der Aphoristik, der es teils zugeordnet, teils gegenübergestellt wird. Zugleich hat sich eine sehr reichhaltige Forschung zur frühromantischen Fragmentästhetik entwickelt, zumeist allerdings ohne oder nur mit losem Bezug zur literarischen Gattung des Fragments. Diese in den Blick zu nehmen, aber als eine vom Aphorismus emanzipierte eigenständige 22 Theodor W. Adorno, Minima Moralia (=Gesammelte Schriften Bd. 4), S. 56. 14 EINLEITUNG Form, ist das Ziel der vorliegenden Arbeit, die insofern einen Mittelweg zwischen beiden genannten Richtungen einschlägt. Dennoch erscheinen einige Bemerkungen zur Aphoristik-Forschung angebracht, um die historische Einordnung des frühromantischen Fragments zu erleichtern. Hier ist als erstes die einschlägige Definition Harald Frickes zu nennen, der in seiner 1984 veröffentlichten Monographie23 unter anderem das Kriterium der „kotextuellen Isolation“ stark macht: Auch wenn ein Aphorismus immer Bestandteil einer Sammlung sein muß, so ist er doch von den anderen Aphorismen dieser Sammlung isoliert; er steht also nur für sich selbst und seine Position kann innerhalb des Ganzen beliebig verschoben werden. Im 1997 erschienenen Beitrag zum Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft beschreibt er den Aphorismus auf ähnliche Weise – er sei ein „(1) [n]ichtfiktionaler Text in (2) Prosa in einer Serie gleichartiger Texte, innerhalb dieser Serie aber jeweils (3) von den Nachbartexten isoliert, also in der Reihenfolge ohne Sinnveränderung vertauschbar; zusätzlich (4a) in einem einzelnen Satz oder auch (4b) anderweitig in konziser Weise formuliert oder auch (4c) sprachlich pointiert oder auch (4d) sachlich pointiert.“24 Hier wird bereits deutlich, daß die frühromantischen Fragmente einer auf solche Art definierten Aphoristik nicht ohne Weiteres zugeordnet werden können. Zum einen sind im engeren Sinne nicht alle „in konziser Weise formuliert“ bzw. „pointiert“; vielmehr überschreiten die umfangreicheren unter ihnen die Grenze zum Essayistischen. Auch das Kriterium der kotextuellen Isolation läßt sich hier nicht immer anwenden, wie Fricke selbst am Beispiel des 155. Ideen-Fragments einräumt, das als „Zusammenfassung alles Vorherigen“25 und damit als Aufhebung der aphoristischen Isolation betrachtet werden müsse. Jan-Steffen Mohr ergänzt, daß auch „eine erhebliche Anzahl von Novalis’ ‚Politischen Aphorismen‘ in der Sammlung Glauben und Liebe sich grammatisch auf ihren Kotext bezieht“26 und daher nicht unter Frickes Definition fallen könne. Da diese nicht nur einige der frühromantischen Fragmente, sondern auch andere potentiell als „Aphorismen“ zu bezeichnende Texte von vorneherein ausschließt, lehnt Friedemann Spicker den bei Fricke festzustellenden „Primat der Theorie gegenüber den Phänomenen“27 ab und konzentriert sich selbst auf letztere: In seiner umfangreichen Auseinandersetzung mit dem Aphorismus als „Begriff und Gattung von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1912“28 vereinigt er eine Vielzahl von 23 Harald Fricke, Aphorismus, Stuttgart, 1984 (Sammlung Metzler 208). 24 Harald Fricke, „Aphorismus“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Band 1, hrsg. in Zusammenarbeit mit Harald Fricke u. a. von Klaus Weimar, Berlin/New York, 1997, S. 104– 106, hier: S. 104. 25 Fricke (1984), S. 90. 26 Mohr, S. 28. 27 Spicker, S. 11. 28 Friedemann Spicker, Der Aphorismus. Begriff und Gattung von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1912, Berlin/New York, 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 11). EINLEITUNG 15 Autoren, darunter auch die Schlegel und Novalis. Damit setzt er sich jedoch zugleich dem Vorwurf aus, den Begriff des Aphorismus bis zur Beliebigkeit ausgedehnt zu haben.29 Sein Konzept schließt an das bereits erwähnte Franz Mautners an, der die Zusammengehörigkeit von Aphorismus und verwandten Formen wie Fragment betont.30 Als noch umfangreicher erweist sich Gerhard Neumanns 1976 erschienener Band Ideenparadiese31, der sich allerdings auf „Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe“ beschränkt. Besonders erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung Neumanns, daß auch Friedrich Schlegel vereinzelt den Begriff Aphorismus benutzt und an seine Vorstellung vom „Fragment“ annähert.32 Darüber hinaus liefert er ausführliche Einzelanalysen der Vermischten Bemerkungen bzw. der Blüthenstaub-Fragmente sowie der Ideen-Fragmente und befaßt sich mit frühromantischen Konzepten wie etwa dem „Witz“ als „Erkenntnisorgan“. Damit steht Neumann zugleich innerhalb der zweiten erwähnten Gruppe, die sich mit der Ästhetik des Fragments auseinandersetzt. Auf Grund der Fülle der hier vorhandenen Forschungsliteratur kann im Folgenden nur ein exemplarischer Abriß gegeben werden. Im Hinblick auf das Begriffspaar „Fragment und Totalität“ ist der gleichnamige Sammelband33, herausgegeben im Jahr 1984 von Lucien Dällenbach und Christiaan L. Hart Nibbrig, als einschlägig zu betrachten, insbesondere deren Dreiteilung des Fragments im „Fragmentarischen Vorwort“: Verkürzt gesagt könne ein Fragment erstens ein Teil eines vorhandenen Ganzen sein, „dessen Vollständigkeit nicht in Frage steht“, zweitens Teil eines abwesenden Ganzen, für das es „in stückhafter Präsenz“34 einsteht, drittens nicht Teil eines Ganzen, sondern von diesem absolut getrennt. Die Unterscheidung erweist sich gerade bei der historischen Einordnung als hilfreich: Wie noch genauer auszuführen sein wird, ist das Fragment bei den Frühromantikern immer auf ein nicht unmittelbar präsentes, aber gedachtes Ganzes bezogen, während es bei Nietzsche und im 20. Jahrhundert ohne Bindung zu einem Ganzen für sich selbst steht. Unter den Texten des genannten Sammelbandes läßt sich der Aufsatz Das ‚fragmentarische Universum‘ der Romantik35 von Manfred Frank herausgreifen, der – wie 29 So merkt Mohr zu Recht kritisch an, daß der „stupende[n] Materialfülle“ von Spickers Darstellung „freilich die Trennschärfe, die eben Frickes Kriterien versprechen, abgeht.“ (Mohr, S. 29) 30 Zur Definition von Aphorismus und Fragment vgl. außerdem Dirk Schröder, Fragmentpoetologie im 18. Jahrhundert und bei Friedrich von Hardenberg, Diss. Kiel 1976; Heinz Krüger, Über den Aphorismus als philosophische Form, München, 1988; Werner Helmich, Der moderne französische Aphorismus. Innovation und Gattungsreflexion, Tübingen, 1991. 31 Gerhard Neumann, Ideenparadiese: Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe, München, 1976. 32 Vgl. ebd., S. 579–582. 33 Lucien Dällenbach/Christiaan L. Hart Nibbrig (Hrsg.), Fragment und Totalität, Frankfurt/Main, 1984. 34 Lucien Dällenbach/Christiaan L. Hart Nibbrig: Fragmentarisches Vorwort, in: dies., S. 7–17. Hier: S. 15. 35 Manfred Frank, Das ‚fragmentarische Universum‘ der Romantik, in: Dällenbach/Hart Nibbrig, S. 212–224. 16 EINLEITUNG in vielen seiner anderen Schriften – die philosophischen Grundlagen der Frühromantik auslotet und hier deren „Ethik der hermeneutischen Synthese“36 dem analytischen Denken und dem Totalitätsanspruch der Aufklärung gegenüberstellt. In eine vergleichbare Kategorie fällt der von Winfried Menninghaus im 1987 erschienenen Standardwerk Unendliche Verdopplung 37 erprobte Ansatz, den Begriff der „Selbstreflexion“ zum Kern des frühromantischen Denkens zu machen. Demgemäß zielt die Reflexion bei den Frühromantikern in Abgrenzung zu Descartes und Fichte nicht auf die unmittelbare Ich-Gewißheit; statt dessen bestehe die Identität in der Reflexionsbewegung selbst, was wiederum bis zu Derridas Dekonstruktivismus vorausweise. Sowohl Frank als auch Menninghaus leisten wichtige Beiträge zur Klärung der philosophischen Voraussetzungen der Frühromantik, nehmen dabei aber zumeist nur indirekt auf die literarischen Ausdrucksformen Bezug. Dasselbe gilt für Eberhard Ostermanns38 historischer Einordnung des Fragments als „ästhetische Idee“, mit Schwerpunkt sowohl auf der klassisch-romantischen Tradition in Gestalt Schillers, Goethes und Friedrich Schlegels als auch auf Moderne und Postmoderne, wo das Fragmentarische nicht nur auf den Verlust des Ganzen hindeute, sondern zudem als „rhetorisch-erhabener Effekt“ den „Ereignischarakter des Kunstwerks“39 unterstreichen könne. Neben diesen eher allgemein gehaltenen Untersuchungen zur Fragmentästhetik gibt es einige Beiträge, die sich speziell mit der Philosophie Friedrich Schlegels beschäftigen, wie etwa Franz Norbert Mennemeiers40 Versuch, das Fragment im Lichte des Schlegel’schen Ironiebegriffs zu betrachten. Das „ironische[] Sprachbewußtsein“41 entstehe aus dem Wissen um das „Scheitern des Verstandes und dessen Sprache, letztlich herkömmlicher Sprache überhaupt“42, und könne sich daher nur aus der fragmentarischen Beschränkung heraus auf Universalität richten. Heinz Gockel hingegen bringt Friedrichs Schlegel Theorie des Fragments43 nicht nur mit der Ironie, sondern auch mit diversen anderen Konzepten in Verbindung, etwa dem der intellektuellen Anschauung, des Chaos, des Witzes, des Mystizismus und der Individualität. Textgrundlage sind hier allerdings nicht die veröffentlichten Fragmentsammlungen, sondern die nachgelassenen Notizen der Philosophischen Lehrjahre. Auf die Bedeutung des Verhältnisses von „innen“ und „außen“ bzw. „Ich“ und „Anderes“ weist Waldemar Fromm hin, wenn er im Aufsatz Geheimnis der Ent36 Ebd., S. 219. 37 Winfried Menninghaus, Unendliche Verdopplung, Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion, Frankfurt a. M., 1987. 38 Eberhard Ostermann, Das Fragment. Geschichte einer ästhetischen Idee, München, 1991. 39 Ebd., S. 171. 40 Franz Norbert Mennemeier, Fragment und Ironie beim jungen Friedrich Schlegel. Versuch der Konstruktion einer nicht geschriebenen Theorie, in: Poetica 2 (1968), S. 348–370. 41 Ebd., S. 353. 42 Ebd., S. 366. 43 Heinz Gockel, „Friedrich Schlegels Theorie des Fragments“, in: Ernst Ribbat (Hrsg.), Romantik, Königstein/Ts., 1979, S. 23–37. EINLEITUNG 17 zweyung44 das Modell der „Geselligkeit“ und die von Schelling inspirierte Ästhetik des „inneren Sinns“ in den Mittelpunkt rückt. Das Fragment sei zwar „als Form ein Außen“, doch sein Inneres richte sich durch „Ironie, Witz, Systemlosigkeit und transzendentale Reflexion“45 auf die Zerstörung von Äußerlichkeit. Insgesamt biete es „den Veränderungen der Selbst- und Fremdwahrnehmung um 1800 eine symbolische Form.“46 Einem weiteren zentralen Aspekt der frühromantischen Fragmentästhetik widmet sich Michel Chaouli in seiner The Laboratory of Poetry47 übertitelten Studie über „Chemistry and Poetics in the Work of Friedrich Schlegel“. Wie noch zu betrachten sein wird, nehmen naturwissenschaftliche, im Besonderen chemische Analogien wie etwa das Mischen und Scheiden breiten Raum in Schlegels Fragmenten ein. Chaouli verortet sie in der Chemie des 18. Jahrhunderts und stellt den Zusammenhang zum entsprechenden experimentell-ironischen, kombinatorischen Schreibstil Schlegels her. In einer sprachphilosophischen Erweiterung dieser Betrachtungen zeigt er zudem, daß aus frühromantischer Perspektive sogar das Alphabet als eine chemische Kombinatorik schriftlicher Zeichen aufgefaßt werden kann. Eine andere Richtung schlägt ein Beitrag jüngeren Datums ein: Dieter Burdorf legt im 2011 erschienenen Aufsatz Blätter, Rosen, Gärten48 den Schwerpunkt auf die altphilologischen Studien Friedrich Schlegels von 1794 bis 1798 und leitet daraus eine „Theorie des lyrischen Fragments“ ab. Gestützt auf zahlreiche Quellen, von Notizheften bis zu populären Veröffentlichungen wie dem Aufsatz Über das Studium der griechischen Poesie, vollzieht Burdorf schrittweise nach, wie Schlegel seine Vorstellungen von Fragment und Ganzheit anhand der als „Bruchstücke von Bruchstücken“ überlieferten antiken Dichtung entwickelt und dabei teilweise auf die Fragmentästhetik des Athenäums vorausdeutet. Die Forschung zu der hier zentralen Frage nach der Gattungsbestimmung des Fragments beschränkt sich weitgehend auf knappe Überblicksdarstellungen und Studien zu Teilaspekten dieses Themas. Zu recht immer wieder genannt wird die kompakte Zusammenfassung Ernst Behlers49, der das Fragment sowohl literarisch als auch philosophisch beschreibt. Nachdem er in Hamann, Herder, Lavater und Lessing die geistigen Vorläufer des frühromantischen Fragmentarismus ausgemacht hat, ordnet er die ab dem Jahr 1797 veröffentlichten Fragmentsammlungen in den 44 Waldemar Fromm, „Geheimnis der Entzweyung. Zur Ästhetik des Fragments in der Frühromantik“, in: Euphorion 94 (2000), S. 125–147. 45 Ebd., S. 147. 46 Ebd., S. 146. 47 Michel Chaouli, The Laboratory of Poetry: Chemistry and Poetics in the Work of Friedrich Schlegel, Baltimore 2002 (deutsche Übersetzung von Ingrid Proß-Gill: Michel Chaouli, Das Laboratorium der Poesie. Chemie und Poetik bei Friedrich Schlegel, Paderborn, 2004). 48 Dieter Burdorf, „Blätter, Rosen, Gärten. Zur Theorie des lyrischen Fragments beim jungen Friedrich Schlegel (1794–1798)“, in: Christian Benne/Ulrich Breuer (Hrsg.), Antike – Philologie – Romantik. Friedrich Schlegels altertumswissenschaftliche Manuskripte, Paderborn u. a., 2011, S. 101– 146. 49 Ernst Behler, Das Fragment, in: Klaus Weissenberger (Hrsg.), Prosakunst ohne Erzählen, Tübingen, 1985, S. 125–143. 18 EINLEITUNG Kontext der Aphoristik ein und betont dabei besonders den Einfluß Chamforts. Die darauffolgende Auseinandersetzung mit den programmatischen Konzepten der Frühromantiker wird durch einen Ausblick auf das (post-)moderne fragmentarische Bewußtsein bis hin zu Adorno und Derrida abgerundet. Eine ähnliche Verknüpfung von formaler Analyse und ästhetischer Fundierung zeichnet auch die beiden Aufsätze Friedrich Stracks50 zur romantischen Fragmentkunst bzw. -konzeption aus. Der erste von 1997 setzt bei der „Entwicklung des modernen Fragmentbewußtseins“ an, die von Goethe, Schiller und den Romantikern über Rilke, Rodin und Benn bis in die Gegenwart reiche. Danach folgt jedoch eine konkrete Betrachtung der „Gattung des Kunstfragments“ samt einer an Behler und Zinn51 anknüpfenden Klärung der historischen sowie der philosophischen Voraussetzungen. Dabei geht Strack nicht nur auf die gängigen Konzepte des Transzendentalen und Universalen ein, sondern beschäftigt sich auch mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den „chaotischen“ Fragmenten Friedrich Schlegels und den „organischen“ Hardenbergs.52 Dieses Thema kehrt auch im Aufsatz über die „romantische Fragmentkonzeption“ von 2004 wieder, der sich in vielen Punkten mit dem Vorgängertext überschneidet, aber noch genauer die Gattungsmerkmale des Fragments herausarbeitet. So findet sich hier eine Auseinandersetzung mit dem Einfluß Chamforts, der sich etwa im Gebrauch von „Proportionalvergleichen“ zeige und bisher nur in einer älteren Abhandlung von Alice RühleGerstel53 ausführlicher beschrieben worden ist. Eine noch umfassendere, wenngleich wieder eher programmatisch orientierte Einordnung des Fragments in den europäischen Literaturzusammenhang, etwa auch die englische Romantik, bietet Justus Fetschers Artikel54 im historischen Wörterbuch Ästhetische Grundbegriffe. Bei der Rekonstruktion der historischen Voraussetzungen knüpft Fetscher an die bereits erwähnten Forschungsbeiträge an, wobei er besonderes Gewicht auf die Erhabenheitsästhetik legt. Die literarische Form des frühromantischen Fragments bestimmt er anhand von vier Merkmalen: Es sei 1. „prosaisch“, 2. ein auf Potenzierung und Bewegung zielendes „dynamisches Kondensat“, 3. eine verschiedene Ausdrucksformen in sich aufnehmende „textliche 50 Friedrich Strack: Romantische Fragmentkunst und modernes Fragmentbewußtsein, in: Bernd Bräutigam/Burghard Damerau (Hrsg.), Offene Formen, Frankfurt a. M. u. a., 1997 (Berliner Beiträge zur neueren deutschen Literaturgeschichte 22), S. 322–351; ders., ‚Fermenta cognitionis‘: Zur romantischen Fragmentkonzeption von Friedrich Schlegel und Novalis, in: Volker Kapp u. a. (Hrsg.), Subversive Romantik, Berlin, 2004, S. 343–364. 51 Ernst Zinn, „Fragment über Fragmente“, in: J.A. Schmoll, gen. Eisenwerth (Hrsg.), Das Unvollendete als künstlerische Form, Bern/München, 1959, S. 165–175. Zinn weist bereits früh auf die Bedeutung Herders, Hamanns, Lavaters und Lessings für die Fragmentästhetik hin. 52 Zur Abgrenzung von Schlegel zu Novalis vgl. v. a. Helmut Schanze, „‚Dualismus unsrer Symphilosophie‘. Zum Verhältnis Novalis – Friedrich Schlegel“, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1966), S. 309–335. 53 Alice Rühle-Gerstel, „Friedrich Schlegel und Chamfort“, in: Euphorion, Zeitschrift für Literaturgeschichte 24 (1922), S. 809–860. 54 Fetscher, Justus, „Fragment“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch, hrsg. von Karlheinz Barck u. a. Bd. 2, Stuttgart/Weimar, 2001, S. 551–588. EINLEITUNG 19 Einheit sui generis“ und 4. „gesprächshaft“55. Bezüglich der Wirkungsgeschichte hebt Fetscher nicht nur die bekannten Namen des Fragmentarismus wie Rodin, Nietzsche und Adorno hervor, sondern zieht beispielsweise über die Begriffe der Kritik und Kanonisierung Parallelen bis hin zu Harold Bloom und Thomas Bernhard. Neben solchen Überblicksdarstellungen56 lassen sich noch einzelne Forschungsbeiträge finden, die sich mit dem frühromantischen Fragment unter einem bestimmten Teilaspekt auseinandersetzen, vor allem im Vergleich mit Werken anderer Epochen. Michael Braun vollzieht in seiner 2002 erschienenen Habilitationsschrift Hörreste, Sehreste57 zunächst die erwähnten historischen Voraussetzungen (Lessing, Hamann, Herder) bis zu Friedrich Schlegel und Novalis nach, bevor er das „literarische Fragment bei Büchner, Kafka, Benn und Celan“ in den Mittelpunkt rückt. Wie die Zusammenstellung erahnen läßt, entfernt er sich damit von der an den Aphorismus angelehnten Darstellungsform der Frühromantiker, die gemäß seiner an Dällenbach und Hart Nibbrig angelehnten Unterteilung nur eine von vier möglichen Arten des Fragments repräsentiere: Neben dem „konzeptionellen“ gebe es zudem das „überlieferungsbedingte“, das auf Grund „äußerer oder innerer Hemmnisse“ nicht realisierte „produktionsbedingte“ sowie das „rezeptionsbedingte“ Fragment, das gemäß Umberto Ecos Modell des „offenen Kunstwerks“ erst „im Akt des Lesens und Interpretierens“58 vollendet werde. Näher an der hier interessierenden Frage nach der frühromantischen Fragmentform befindet sich Jan-Steffen Mohrs unter dem Titel Epigramm und Aphorismus im Verbund 59 im Jahr 2007 veröffentlichter Vergleich von barocken Epigrammzyklen Czepkos und Schefflers mit Fragmentsammlungen Friedrich Schlegels und Novalis’. Die Originalität von Mohrs Ansatz liegt darin, daß er das Tertium Comparationis hier nicht in einem autoren- oder gar epochenübergreifenden ‚fragmentarischen Bewußtsein‘ verortet, sondern in der pragmatischen Ausrichtung der Texte. Unter Bezugnahme auf rezeptionsästhetische Modelle wie das des „impliziten Lesers“ bei Wolfgang Iser versucht Mohr zu zeigen, wie der jeweilige Autor den Gebrauch seiner „kleinen Textformen“ an die erwartete Praxis des Lesens angepaßt hat. Die Wahl der frühromantischen Sammlungen Ideen, Blüthenstaub sowie Glauben und Liebe begründet er mit der „programmatischen Rollenzuschreibung an den Leser als ‚erweiterte[n] Autor‘“60; überzeugende Ergebnisse liefert dieser Ansatz vor allem bei der Analyse, wie Novalis’ Blüthenstaub- und Nachlaßfragmente durch die 55 Ebd., S. 565. 56 Vgl. außerdem Lothar Pikulik, „Zu Form und Funktion des Fragments“, in: ders., Frühromantik. Epoche – Werke – Wirkung, München, 2000, S. 123–130. 57 Michael Braun, Hörreste, Sehreste: das literarische Fragment bei Büchner, Kafka, Benn und Celan, Köln u. a., 2002. 58 Ebd., S. 17. 59 Jan-Steffen Mohr, Epigramm und Aphorismus im Verbund. Kompositionen aus kleinen Textformen im 17. und 18. Jahrhundert (Daniel Czepko, Angelus Silesius, Friedrich Schlegel, Novalis), Frankfurt a. M. u. a., 2007. 60 Ebd., S. 49. 20 EINLEITUNG redaktionelle Bearbeitung Friedrich Schlegels bzw. Tiecks an Stringenz und Wirkungskraft hinzugewinnen. Die Frage nach den Vergleichsmöglichkeiten zwischen den doch sehr unterschiedlichen Formen des barocken Epigramms und des frühromantischen Fragments bleibt hingegen weitgehend unbeantwortet. Zuletzt sei auf die von Friedrich Strack und Martina Eicheldinger herausgegebene und kommentierte Edition Fragmente der Frühromantik61 hingewiesen, die allein durch ihre Textauswahl ein neues Licht auf die literarische Fragmentform wirft. Neben sowohl zu Lebzeiten veröffentlichten Sammlungen als auch nachgelassenen Aufzeichnungen Friedrich Schlegels und Novalis’ finden sich dort zahlreiche Kurztexte von Autoren aus dem frühromantischen Umfeld wie beispielsweise Friedrich Karl Forberg, August Ludwig Hülsen und Johann Wilhelm Ritter. Der Titel Fragmente der Frühromantik ist somit in erster Linie zeitlich zu verstehen, denn der literarischen Gattung des frühromantischen Fragments lassen sich die vorgestellten Texte nur bedingt zuordnen, teils wegen ihres Status als Nachlaßfragmente, teils wegen der zumindest angedeuteten systematischen Struktur, teils wegen des besonderen Inhalts, der etwa im Falle Ritters weitgehend aus konkreten naturwissenschaftlichen Betrachtungen besteht. Forbergs Anthropologische Fragmente (1796) hingegen weisen zwar formale und sachliche Parallelen zu den bald darauf veröffentlichten Fragmentsammlungen der Schlegel und Novalis auf,62 doch bleibt hier auf Grund mangelnder Rezeptionszeugnisse die Annahme eines entstehungsgeschichtlichen Zusammenhangs spekulativ. 61 Friedrich Strack/Martina Eicheldinger, Fragmente der Frühromantik, 2 Bände (Band 1: Edition; Band 2: Kommentar), Berlin, 2011. 62 Strack und Eicheldinger nennen selbst einige mögliche Bezugspunkte: Wie Chamfort und die Frühromantiker verwendet Forberg in manchen seiner Fragmente die Dialogform und Proportionalvergleiche; außerdem finden sich wie bei den Lyceums- und Athenäums-Fragmenten „häufig Definitionen und Definitionsketten […], verblüffende Vergleiche und paradoxe Wendungen“ (Strack/Eicheldinger, Bd. 2, S. 399). Dem lassen sich noch einige konkretere Parallelen hinzufügen, etwa zwischen dem 54. Athenäums-Fragment („Man kann nur Philosoph werden, nicht es sein. Sobald man es zu sein glaubt, hört man auf es zu werden.“) und Forbergs 90. Anthropologischem Fragment („Den meisten Philosophen ist ihre Philosophie das Ende ihres Philosophirens.“). Das 13. Anthropologische Fragment erinnert sogar in vielfacher Hinsicht an die Frühromantiker: „Menschen die viele Paradoxen sagen, sind immer gute, zuweilen auch große Köpfe. Wenn sie auch nicht viele Wahrheiten sagen, so öffnen sie doch die Aussicht auf viele Wahrheiten. Sie säen Gedanken: was sie säen, geht unter, aber was daraus entstehet, geht auf, und gedeihet, und trägt Früchte ins Unendliche.“ Hier erkennt man in der Verknüpfung von „gut“, „groß“ und „paradox“ das 48. Lyceums-Fragment („Ironie ist die Form des Paradoxen. Paradox ist alles, was zugleich gut und groß ist.“) wieder, während die Formulierung „Aussicht auf viele Wahrheiten“ dem bei Friedrich Schlegel vorkommenden Begriff „echappées de vue ins Unendliche“ (A 220) ähnelt. Unübersehbar sind zudem die Übereinstimmungen mit Novalis’ mehrfach im Blüthenstaub verwendeter Metapher des Aussäens. Da Forberg trotz nachgewiesener Bekanntschaft mit Novalis (vgl. Manfred Frank: ‚Unendliche Annäherung‘. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt a. M., 1997. S. 33) weder in dessen bzw. in Schlegels Briefen noch in sonstigen ihrer Schriften in nennenswertem Maße Erwähnung findet, erweist sich die Bewertung solcher punktueller, wenngleich hervorstechender, Ähnlichkeiten entsprechend schwierig. II. DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DES FRÜHROMANTISCHEN FRAGMENTS 1. Nicolas Chamfort a) La Rochefoucauld als Repräsentant der französischen Moralistik63 Die historische Einordnung der frühromantischen Fragmentform mit einer Betrachtung der Maximen La Rochefoucaulds zu beginnen, läßt sich auf zweifache Weise begründen: Zum einen stellen sie eine wichtige Wegmarkierung in der Entwicklung der europäischen Aphoristik dar, in deren Kontext auch die Fragmentsammlungen eingebettet sind. La Rochefoucauld gilt als ein Begründer der Französischen Moralistik, in der sich der Aphorismus als eigenständige Ausdrucksform etablierte, ohne beispielsweise von einem medizinischen (Hippokrates) oder historisch-anekdotischen (Erasmus) Zusammenhang abhängig zu sein.64 Auf genau diesem Verständnis des Aphorismus als ungebundene Kunstform bauen die frühromantischen Fragmente auf. Doch noch konkretere Gründe sprechen für eine Berücksichtigung La Rochefoucaulds: Wie bereits angesprochen ist mit Nicolas Chamfort ein weiterer Repräsentant der Französischen Moralistik ein wichtiges Vorbild für den fragmentarischen Schreibstil gewesen. Chamfort wiederum knüpft direkt an La Rochefoucauld an und erwähnt diesen in einzelnen Aphorismen; ohne eine vorbereitende Betrachtung La Rochefoucaulds ist eine angemessene Beurteilung Chamforts nicht möglich.65 Es stellt sich insbesondere die Frage, welche Bedeutung La Rochefoucauld der aphoristischen Form bei der Vermittlung seiner moralistischen Vorstellungen beimißt und warum er gerade die Aphorismensammlung für deren Darstellung wählt. Im Jahr 1665 veröffentlicht François de La Rochefoucauld erstmals seine Réflexions ou sentences et maximes morales, die er in vier weiteren Auflagen stetig erweitert und überarbeitet. Dementsprechend ist die maßgebliche Ausgabe letzter Hand 63 Vgl. den von mir verfaßten und im Sammelband Das Versprechen der Rationalität erschienenen Aufsatz, der Inhalte dieses und des folgenden Unterkapitels mit der Frage nach dem Vernunftkonzept in der Französischen Moralistik und in der Frühromantik verbindet: Johannes Weiß, Aphoristische Rationalitätskritik bei La Rochefoucauld, Chamfort und den Frühromantikern, in: Ulf Bohmann/Benjamin Bunk/Elisabeth Johanna Koehn/Sascha Wegner/Paula Wojcik (Hrsg.), Das Versprechen der Rationalität. Visionen und Revisionen der Aufklärung, Paderborn, 2012, S. 195–215. 64 Zur Gattungsgeschichte der Aphoristik vgl. u. a. den Kurzüberblick im Historischen Wörterbuch der Rhetorik: Harald Fricke, „Aphorismus“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. von Gert Ueding, Bd. 1, Tübingen, 1992, Sp. 773–790. 65 Für direkte Bezugnahmen der Frühromantiker auf La Rochefoucauld gibt es hingegen kaum Hinweise: Zwar erwähnt ihn A. W. Schlegel (Sämmtliche Werke X, S. 300) in seiner Chamfort-Rezension, doch weder in den veröffentlichten Fragmentsammlungen noch in beispielsweise Friedrich Schlegels Nachlaßfragmenten und Briefen kommt La Rochefoucauld vor.
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