P s y c h o s c o p e 16/17 8 / 2 0 0 4 Psychologie und Management Marcel Lucien Goldschmid hat sich schon seit je von der Psychologie angezogen gefühlt. Bei seiner Leidenschaft für dieses Fach spielen zwei grosse Namen eine Rolle: Jung und Piaget. Nach Lehrtätigkeiten an der UCLA und an den Universitäten Berkeley, Kalifornien, und McGill in Montreal lehrt er heute Management-Psychologie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne. Nach der Matura ging Marcel Lucien Goldschmid für ein Jahr nach London und arbeitete dort im schweizerischen Tourismusbüro. Er begann psychologische Bücher zu lesen, vor allem Jung. Zurück in der Schweiz begann Lucien Goldschmid sein Studium an der Universität Zürich. Anschliessend ging er nach Genf und besuchte die Vorlesungen von Jean Piaget. Bei diesem Lehrer erhielten die Studierenden des zweiten und dritten Jahres die Möglichkeit, im «Feld» zu lernen, wie man forscht. «Wir machten in den Schulen Experimente mit den Kindern und mussten unser Experimentiermaterial selber entwickeln, wobei uns die Assistenten von Piaget unterstützten», erzählt Professor Goldschmid und fügt hinzu: «Für diese Zeit war so etwas sehr aussergewöhnlich!» Die erhobenen Daten wurden von den Assistenten und Professoren im Umfeld von Piaget ausgewertet, was zu Publikationen führte. Fragt man Marcel Lucien Goldschmid, ob Piaget streng gewesen sei, so lautet seine Antwort: «Er war hart und fordernd. Man musste gute Arbeit leisten. Wenn er aber sah, dass man gut arbeite- te, so konnte er dies auch anerkennen.» Und weiter: «Piaget war so freundlich, mir ein Empfehlungsschreiben für die USA mitzugeben, und dies erwies sich als wahrer Türöffner!» Aufenthalt in den USA Zu jener Zeit stellte Marcel Lucien Goldschmid fest, dass die psychologische Fachliteratur hauptsächlich aus den USA stammte. «Ich begriff schnell, dass die USA im Forschungsbereich einen grossen Vorsprung und einen sehr breiten Horizont hatten.» PsychologInnenTop-Jobs Marcel Lucien G o l d s c h m i d, Honorarprofessor für Management-Psychologie an der EPFL Er ging also nach Amerika und schrieb sich für ein Jahr an der Universität von Kansas als «Austauschstudent» ein, wo er auch ein Stipendium erhielt. Der Aufenthalt gefiel ihm ungemein, weshalb er sich 1962 entschloss, gleich mit der Dissertation fortzufahren. Der Psychologe schickte seine Bewerbungsunterlagen an mehrere Universitäten und erhielt zahlreiche Angebote. Er entschied sich für die Universität von Kalifornien in Berkeley, die weltweit über eine der besten psychologischen Fakultäten verfügt. «Es war wie ein Traum. An einer solchen Universität angenommen zu werden, ist sehr schwierig: Man braucht gute Referenzen und hervorragende Noten.» Marcel Lucien Goldschmid hat immer viel gearbeitet, um zu den Besten zu gehören und sein Stipendium behalten zu können. Während der vier Jahre des Doktorats gönnte er sich keine Ferien, arbeitete jedes Wochenende und fuhr nie in die Schweiz zurück. «Wir hatten einen anderen Rhythmus. Wir begannen um acht Uhr und arbeiteten meistens bis neunzehn Uhr.» Unter den Dissertanden herrschte viel Konkurrenz. In diesem Zusammenhang erinnert sich Professor Goldschmid an eine Anekdote: «Es war am ersten Tag: Wir waren im Hörsaal, und man sagte uns: Schauen Sie nach links, schauen Sie nach rechts, denn diese Mitstudierenden werden nächstes Jahr vermutlich nicht mehr dabei sein!» Von den 400 Studierenden, die den sehr selektiven Anforderungen genügt und sich für das Dissertationsprogramm beworben hatten, wurden nur 50 aufgenommen, und von diesen schafften es nur 20 bis zum Abschluss. Da man an der Universität Berkeley wusste, dass Marcel Lucien Goldschmid bei Piaget studiert hatte, beauftragte man ihn mit der Vorbereitung der Besuche des grossen Meisters aus Genf in den Jahren 1962 und 1963. «Es kamen viele Studierende, um ihn zu hören, er war der Star. Er kam gerne in die USA, da er merkte, dass man sich da für seine Forschungen und Theorien interessierte.» 1965 schloss Marcel Lucien Goldschmid sein Doktoratsstudium brillant ab und erhielt den Doktortitel in Klinischer Psychologie. Mit dem Doktorat in der Tasche fuhr er nach Los Angeles und arbeitete von 1965 bis 1967 als Professor an der dortigen Uni, der UCLA. Ein neues Land Bis zu diesem Zeitpunkt verfügte er über ein Studentenvisum, aber mit seinem neuen Status als Professor bewilligten ihm die amerikanischen Behörden dieses nicht mehr. Wollte Marcel Lucien Goldschmid auf amerikanischem Boden bleiben, so hätte er die Green Card beantragen müssen, was bedeutet hätte, für den Kriegsdienst in Vietnam eingezogen zu werden. Dies war für ihn aber undenkbar. Und da er noch keine Lust hatte, in die Schweiz zurückzukehren, schaute er sich um, wo sonst er seine in den USA erworbenen Kenntnisse einsetzen könnte. So kam es, dass er in Kanada fündig wurde. «Ich hatte Glück, denn ich hatte nie die geringste Schwierigkeit, eine Stelle zu finden. Ich entschied mich für die Universität McGill in Foto: zVg F SF PS P- - aa kk t t u ue le l l l Montreal. Sie verfügte über die beste Psychologie-Abteilung in Kanada.» Professor Goldschmid blieb fünf Jahre dort, von 1967 bis 1972. Auf der Grundlage der Theorien von Piaget entwickelte er neue Konzepte zur Entwicklung des Kindes und veröffentlichte einige Werke. «Zugleich begann ich mich für Hochschuldidaktik zu interessieren.» Zwei Jahre nachdem Professor Goldschmid an der McGill-Universität begonnen hatte, beschloss man die Einrichtung eines universitären Unterrichtszentrums, dessen Leitung ihm übertragen wurde. «Ich konnte ein richtiges Forschungszentrum aufbauen, Professoren, Assistentinnen und Assistenten anstellen. Wir setzten auf dem Campus etwas in Bewegung, entwickelten universitäre Lernstrategien, um den Unterricht zu verbessern. Das Ganze nahm ein ziemliches Ausmass an.» Zurück in der Schweiz Als sich 1972 mit der Geburt eines Kindes die Familie vergrösserte, ging es zurück in die Schweiz. «Ich war nicht überzeugt, dass die Erziehung unseres Kindes in Kanada ebenso gut gewesen wäre wie in der Schweiz. Zudem war da auch die Klimafrage: sehr kalte Winter und sehr heisse Sommer.» Im Übrigen hatte der Psychologe von verschiedenen schweizerischen Universitäten Angebote erhalten, da seine Laufbahn Interesse weckte. Ab 1973 lehrte Marcel Lucien Goldschmid an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne EPFL Psychologie. «Alle waren erstaunt. Ich war einer der ersten, die an der EPFL ein geisteswissenschaftliches Fach lehrten.» Der damalige Präsident der EPFL, Maurice Cosandey, hatte eine sehr breite Vorstellung, was eine universitäre Ausbildung umfassen müsse. Marcel Lucien Goldschmid dazu: «Er fand es normal, dass Professoren sich didaktisch ausbilden liessen. Maurice Cosandey schuf 1973 den Lehrstuhl für Pädagogik und Didaktik und ernannte mich zu dessen Leiter, was eine Ehre für mich war.» Professor Goldschmid organisierte danach auch Seminare für universitäre Pädagogik an anderen Schweizer Universitäten und war Mitbegründer und Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Bildungsforschung (SGBF). Während der ersten drei Jahre lehrte er Persönlichkeitspsychologie zugleich an der EPFL und an der Universität von Lausanne, organisierte wegen des unterschiedlich zusammengesetzten Publikums die Vorlesung allerdings anders. Die Zukunft der Studierenden Für Professor Goldschmid hat es im Bereich der Psychologie viele Fortschritte gegeben, aber in Bezug auf den Berufsstatus von PsychologInnen gebe es noch viel zu tun. «In den USA ist der psychologische Beruf völlig anerkannt, da er in vielen Bereichen zum Tragen kommt, sei es in der Justiz, in Krankenhäusern, in Gefängnissen, Schulen oder auch nach Katastrophen. In der Schweiz müssen wir auch so weit kommen!» Er wünscht sich ferner, dass Arbeitspsychologie, Unternehmenspsychologie, Management- oder Human-Resources-Psychologie sich stärker entwickeln, denn: «Die Studierenden haben Mühe, Praktikumsplätze oder Stellen in der Klinischen Psychologie zu finden, während es im Management viel mehr Gelegenheiten gibt.» Professor Goldschmid ist auch der Meinung, die Ausbildung müsse überdacht werden, indem man Möglichkeiten zu praktischen Erfahrungen einführt. «Für das Lizenziat müssten Praktika obligatorisch werden, und die Fakultäten sollten die Studierenden in diese Richtung unterstützen.» Auf diese Weise würden die Studierenden nach dem Abschluss leichter eine Stelle finden. «Ich hoffe, dass die FSP diese Forderung und auch die Arbeitspsychologie unterstützt, denn die Arbeit ist für die Menschen zentral. Alle Studien belegen, dass man mehr Zeit bei der Arbeit verbringt als mit anderen Dingen.» Management-Psychologie 2001 verliess Professor Goldschmid den Lehrstuhl für Pädagogik und kümmert sich seither um die Weiterbildung. «Ich biete nun bereits im sechsten Jahr eine Weiterbildung in ManagementPsychologie an. Ferner arbeite ich auch als Berater, Ausbildner und Coach in Firmen.» Die Weiterbildung in ManagementPsychologie gliedert sich in drei Teile: operatives Management, strategisches Management und Change-Management – insgesamt 18 Module. In seinen Vorlesungen behandelt Professor Goldschmid mehrere Aspekte wie etwa ergebnisorientierte Kommunikation, Konfliktbewältigung oder Entwicklung von Kreativität, was ein sehr wichtiger Aspekt für Unternehmen sei. «Wenn Sie heute nicht innovativ sind, verschwindet Ihre Firma.» Und weiter: «Ich glaube, es gibt Dutzende von Bereichen im Werdegang eines Unternehmens, in denen eine Psychologin oder ein Psychologe eine wesentliche Rolle spielen könnte, um sowohl die Mitarbeitenden, die Kader als auch die Firma selber in ihrem Gedeihen und in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Die Angestellten profitieren, denn sie sind Teil eines bereichernden Umfeldes, in dem sie sich entfalten können.» Marcel Lucien Goldschmids Vorlesungen an der EPFL sind für Kadermitglieder bestimmt. «In der Regel sind diese in Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen nicht besonders gut ausgebildet. Meistens wird man Kadermitglied aufgrund technischer und nicht wegen sozialer Kompetenzen», betont Professor Goldschmid. Es ist aber genau diese menschlich-soziale Dimension, die im Mittelpunkt seines Unterrichts steht. Fragt man Professor Goldschmid schliesslich nach seinen Hobbys oder Leidenschaften, so lautet die Antwort: «Leider habe ich nicht viel Zeit, aber ich mache ein wenig Sport», um sofort hinzuzufügen: «Ich lese viel, vor allem Fachliteratur zu Psychologie und Management. Ich will die Welt der Psychologie mit der Welt der Unternehmen verbinden, denn da gibt es noch viel zu entdecken.» Und ganz ohne Zweifel wird Professor Goldschmid zu diesen Entdeckungen noch einiges beitragen. Vadim Frosio
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