Ermittlung der Messunsicherheit im klinischen Labor

Ermittlung der Messunsicherheit im klinischen Labor
Joachim Pum*
Hintergrund
Die internationale Norm ISO 15189, wird in
Deutschland als Grundlage zur Akkreditierung von
medizinischen Laboratorien herangezogen. In der
aktuellen Version wird, analog zur internationalen
Norm ISO/IEC 17025 (Allgemeine Anforderungen
an die Kompetenz von Prüf- und Kalibrierlaboratorien), die Ermittlung und Angabe der Messunsicherheit für alle Messverfahren gefordert. Konkret heißt
es in Abschnitt 5.5.1.4 „Messunsicherheit von gemessenen Größenwerten“: „Das Laboratorium
muss die Messunsicherheit für jedes Messverfahren
der Untersuchungsphase, das benutzt wird, um gemessene Größenwerte von Patientenproben anzugeben, festlegen. Das Laboratorium muss die Leistungsanforderungen für die Messunsicherheit jedes
Messverfahrens definieren und die Schätzungen der
Messunsicherheit regelmäßigen überprüfen.“ In
ANMERKUNG 2 dieses Abschnittes heißt es weiter: „Messunsicherheiten können unter Verwendung
von Größenwerten, die durch Messung von Kontrollmaterialien unter intermediären Präzisionsbedingungen […], erhalten wurden, berechnet werden.
Wieso muss die Messunsicherheit überhaupt ermittelt werden?
Ein Messergebnis repräsentiert immer eine Verteilung von Werten, die der bestimmten Messgröße
zugeordnet werden können. Diese Werteverteilung
erfolgt wegen der Vielfältigkeit an Faktoren, die das
Messergebnis beeinflussen können und wird durch
die Messunsicherheit charakterisiert. Diese fasst die
Hauptfaktoren zusammen, die das Ergebnis beeinflussen und definiert ein Intervall, in dem der Wert
der Messgröße mit hoher Wahrscheinlichkeit liegt.
Nehmen wir z.B. einen Cholesterin Wert von 150
mg/dl und eine Messunsicherheit von 5%, ermittelt
mit einem Konfidenzniveau von 95%. Konkret
würde das bedeuten, dass der wahre Cholesterin
*Dr. med. Joachim Pum, MMed (Univ. Pretoria)
LABanalytics GmbH
Anton-Bruckner-Weg 22
07743 Jena
KONTAKT: [email protected]
INTERNET: www.labanalytics.de
Wert mit einer Wahrscheinlichkeit von 95% zwischen 150 - 5% (=150 – 7,5) mg/dl und 150 + 5%
(=150 + 7,5) mg/dl, also zwischen 142,5 und 157,5
mg/dl liegt. Somit stellen Messunsicherheitsschätzungen ein quantitatives Maß an Zuversicht dar, das
ein Labor in der Bestimmung seiner Messungen hat
und sind damit ein integraler Teil eines quantitativen Qualitätssytems im klinischen Labor.
Wie wird die Messunsicherheit im Labor ermittelt?
Die Grundlagen hierzu werden in dem Dokument
„Guide to the Expression of Uncertainty in Measurement“ (GUM), aus dem sich sowohl der EURACHEM/CITAC Leitfaden für chemische und der
Nordtest Technical Report für umweltanalytische
Verfahren, als auch die ISO 15189 und ISO 17025
Normen für klinische, Prüf- und Kalibrierlaboratorien ableiten, sehr ausführlich beschrieben. Diese
Dokumente beschreiben zwar unterschiedliche Verfahren zur Ermittlung der Messunsicherheit, beruhen aber alle letztlich darauf, dass Komponenten
der Messunsicherheit bestimmt oder geschätzt und
anschließend nach dem Fehlerfortpflanzungsgesetz
zur Gesamtmessunsicherheit addiert werden. Die
zwei beschriebenen Ansätze sind die „Bottom-up
Methode“ – hier werden alle Unsicherheitskomponenten einzeln ermittelt – und die „Top-down Methode“, bei der mehrere Unsicherheitskomponenten mittels statistischer Verfahren gemeinsam bestimmt werden. Angesichts der Tatsache, dass bei
bioanalytischen Methoden die Richtigkeit und die
Präzision den mit Abstand größten Beitrag zur Gesamtmessunsicherheit liefern, wird im klinischen
Labor die „Top-down“ Methode angewendet. Zur
Schätzung der Messunsicherheit anhand dieses Modells werden zuerst die Präzisionskomponente und
die Richtigkeitskomponente des Verfahrens ermittelt und danach zu einer Gesamtmessunsicherheit
kombiniert.
Präzisionskomponente der Messunsicherheit
Für die Berechnung der Präzisionskomponente
werden idealerweise Qualitätskontrollwerte der
letzten 6 Monate herangezogen. Der Zeitraum ist
wichtig, damit auch Variationen, die sich aus ver
schiedenen Anwendern, Reagenzien- und Chargenwechseln, Kalibrationen und Gerätewartungen ergeben, in das Ergebnis einfließen können.
Richtigkeitskomponente der Messunsicherheit
Die Richtigkeitskomponente muss mit Hilfe geeigneter Referenzproben, Kontrollproben oder durch
Ringversuche ermittelt werden. Wichtig ist es auch
hier, darauf zu achten, einen ausreichend großen
Zeitraum (z.B. 6 Monate) zu wählen, um verschiedene Einflussgrößen hinreichend berücksichtigen
zu können.
Von der Messunsicherheit zur erweiterten
Messunsicherheit
Die erweiterte Messunsicherheit beschreibt den Bereich, in dem der Messwert mit vorgegebener Sicherheit liegt und errechnet sich durch die Multiplikation der Messunsicherheit mit einem Erweiterungsfaktor. Meistens wird hierfür der Wert 2 (oder
genauer: der Wert 1,96) eingesetzt, um ein Konfidenzniveau von 95% zu erhalten. Die erweiterte
Messunsicherheit beschreibt dann den Bereich, innerhalb welchem sich der wahre Messwert mit einer
Wahrscheinlichkeit von 95% befindet.
Definition der Leistungsanforderungen
Um die Messunsicherheit eines Verfahrens bewerten zu können, müssen bereits im Vorfeld Leistungsanforderungen für das Verfahren definiert
werden. Gemäß GUM ("Guidance to Uncertainty of
Measurement") sollte ein bedeutendes Maß an Unrichtigkeit "eliminiert", "korrigiert" oder "ignoriert"
werden und demzufolge trägt nur die Messpräzision
zur Messunsicherheit bei. Es ist daher durchaus zulässig, die Präzisionsanforderung des Verfahrens
auch für die Messunsicherheit einzusetzen. Alternativ können aber auch die Anforderungen für Präzision und Richtigkeit kombiniert werden um so eine
Gesamtfehleranforderung zu ermitteln, welche
ebenfalls als Grenzwert für die maximal zulässige
Messunsicherheit eingesetzt werden kann.
Empfehlungen
 Die Berechnungen müssen für den jeweiligen
Parameter für alle Qualitätskontrollbereiche ermittelt und in regelmäßigen Abständen über-
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prüft werden. Für die Berechnung der erweiterten Messunsicherheit sollten Werte über mindestens 6 Monate aus der internen Qualitätskontrolle verwendet werden.
 Für neue Tests können vorläufig Präzisions- und
Richtigkeitskomponenten aus der Methodenvalidierung verwendet werden. Sobald eine ausreichende Anzahl an Qualitätskontrolldaten vorhanden ist, soll die Messunsicherheit jedoch neu
berechnet werden.
 Wenn eine ausreichende Anzahl an Qualitätskontrolldaten aus praktischen oder Kostengründen nicht gesammelt werden kann (seltene oder
sehr teure Tests), können auch die Präzisionsund Unrichtigkeitsdaten des Herstellers verwendet werden.
 Da sich die Präzision über Zeit ändern kann,
muss diese regelmäßig kontrolliert werden um
die Notwendigkeit einer erneuten Berechnung
der Messunsicherheit zu ermitteln. Um dies zu
minimieren wird empfohlen, Ergebnisse für die
Messunsicherheit zu runden (z.B. eine Messunsicherheit von ±7,55% kann als Messunsicherheit < ±10% angegeben werden).
Mit Abacus 2.0 von LABanalytics die Messunsicherheit in nur drei Schritten berechnen und bewerten
Abacus 2.0 Abacus ist ein Add-in für Microsoft
Excel®, welches auf ganz unkomplizierte Weise
die Durchführung und Auswertung komplexer statistischer Berechnungen und Methodenvalidierungsprotokolle im klinischen Labor ermöglicht.
Bestehend aus drei Teilen (Methodenvalidierung,
laborrelevante parametrische und nicht-parametrische Statistikfunktionen und Qualitätskontrolle),
lässt sich die Messunsicherheit einfach und schnell
damit berechnen. Hierzu werden die Kontrollergebnisse in Excel eingegeben oder importiert und danach mit wenigen Klicks normgerecht ausgewertet.
Die Leistungsanforderungen können manuell eingegeben, direkt aus der in dem Programm enthaltenen Datenbank eingefügt oder automatisch berechnet werden. Für die notwendigen regelmäßigen
Überprüfungen der Ergebnisse können Berichte
einfach per Knopfdruck mit neuen Daten aktualisiert werden.
2
Schritt 1: Daten in Excel eingeben oder importieren
Schritt 2: Test im Abacus Testmenü auswählen und Spezifikationen in Eingabemaske eingeben
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Schritt 3: Bericht erstellen
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QUELLEN
1. ISO/IEC Guide 98:1995. Guide to the
expression of uncertainty in measurement (GUM). International Organization for Standardization: Geneva,
1995
2. National Institute of Standards and
Technology, Background to Uncertainty of Measurement; www.physics.nist.gov
3. White GH. Basics of estimating measurement uncertainty. Clin Biochem
Rev 2008;29:S53-S60
4. CLSI C51-A. Expression of Measurement Uncertainty in Laboratory Medicine. CLSI, Wayne, PA
5. Requirements for the estimation of
measurement uncertainty. National
Pathology Accreditation Advisory
Council, Australian Government
6. Department of Health and Aging,
2007. www.health.gov.au
7. G.H. White, I. Farrance on behalf of
the AACB Uncertainty of Measurement Working Group. Uncertainty of
Measurement in Quantitative Medical
Testing - A Laboratory Implementation Guide. Clin Biochem Rev
2004;25 Suppl (ii)
8. Kristiansen J. Counterpoint. The
Guide to Expression of Uncertainty in
Measurement Approach for Estimating Uncertainty: An Appraisal. Clin
Chem 2003;49:1822-9
9. Fraser CG. Biological Variation: From principles to practice. 2001; AACC Press, Washington DC
10. Westgard JO. Update on Measurement Uncertainty: New CLSI C51A
Guidance. http://www.westgard.com/clsi-c51;2012
ANHANG
Berechnung der Messunsicherheit / erweiterten Messunsicherheit
1. UNRICHTIGKEIT IST VERNACHLÄSSIGBAR
Dies trifft in mehr als 90% der Fälle zu. Arbiträr kann Unrichtigkeit im klinischen Labor vernachlässigt werden wenn diese < 30% des VK(%) der internen Qualitätskontrollen beträgt.
Die erweiterte Messunsicherheit 𝜇𝑒 wird dann wie folgt berechnet:
𝜇𝑒 = 𝑁(𝛼) × 𝑉𝐾(%)
2
𝑉𝐾(%) :
:
𝑁(𝛼)
2
[1]
Variationskoeffizient der Qualitätskontrollen
[1-(α/2)]-Quantil der Standard Normalverteilung (1,96 bei α = 0,05)
Die Messunsicherheit wird dann als Zielwert ± (𝜇𝑒 × 𝑍𝑖𝑒𝑙𝑤𝑒𝑟𝑡/100) oder als
± 𝜇𝑒 % angegeben.
2. UNRICHTIGKEIT IST NICHT VERNACHLÄSSIGBAR
Dieser Fall tritt nur selten ein. Die Unrichtigkeit beträgt in diesen Fällen > 30% des VK(%) der
internen Qualitätskontrollen.
Die erweiterte Messunsicherheit 𝜇𝑒 wird danach wie folgt berechnet:
𝜇𝑒 = 𝑁(𝛼) × √𝑆𝑄𝐾 2 + (𝑥̅𝑄𝐾 − 𝑍𝑊)2
[2]
2
𝑆𝑄𝐾
:
Standardabweichung der internen Qualitätskontrollen
𝑥̅𝑄𝐾
𝑁(𝛼)
:
:
Mittelwert der internen Qualitätskontrollmessungen
[1-(α/2)]-Quantil der Standard Normalverteilung (1,96 bei α = 0,05)
2
Wenn nur Werte für 𝑉𝐾(%) vorhanden sind, wird die Standardabweichung (𝑆) durch Multiplikation des Variationskoeffizienten (𝑉𝐾(%)) mit dem Mittelwert (𝑥̅ ) und Division durch 100
wie folgt berechnet:
𝑆=
𝑉𝐾(%) × 𝑥̅
100
[3]
Die Messunsicherheit wird dann als Zielwert ± 𝜇𝑒 oder als
± [(𝜇𝑒 /𝑍𝑖𝑒𝑙𝑤𝑒𝑟𝑡) × 100] % angegeben.
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3. BERECHNETE MESSGRÖßEN
Für berechnete Messgrößen (z.B. Anionenspalt, Creatininclearance) wird die kombinierte
Messunsicherheit der einzelnen Komponenten der Berechnung ermittelt und mit 2 multipliziert
um die erweiterte Messunsicherheit zu erhalten. Je nachdem, ob die Berechnung Additionen/Subtraktionen oder Mutliplikationen/Divisionen enthält, müssen hierfür Werte für Standardabweichung (S), bzw. Variationskoeffizient (VK(%)) verwendet werden.
A. BERECHNUNGEN ENTHALTEN ADDITIONEN / SUBTRAKTIONEN
Beispiel:
Anionenspalt
AS = (Na+ + K+) – (Cl- + HCO3-)
Zur Berechnung der erweiterten Messunsicherheit werden die quadrierten Standardabweichungen der internen Qualitätskontrollen für die einzelnen Parameter addiert und mit dem
Erweiterungsfaktor (2) multipliziert:
2
𝜇𝑒 = 𝑁(𝛼) × √(𝑆𝑁𝑎+ )2 + (𝑆𝐾+ )2 + (𝑆𝐶𝑙− )2 + (𝑆𝐻𝐶𝑂3− )
[4]
2
Die Messunsicherheit wird dann als Zielwert ± 𝜇𝑒 oder als
± [(𝜇𝑒 /𝑍𝑖𝑒𝑙𝑤𝑒𝑟𝑡) × 100] % angegeben.
B.
BERECHNUNGEN ENTHALTEN MULTIPLIKATIONEN / DIVISIONEN
Beispiel:
Creatininclearance
ClearanceCrea = (U-Crea/S-Crea) x (Volumen/Sammelzeit)
Für Volumen wird arbiträr VK(%) = 10% angenommen
Für Sammelzeit wird arbiträr VK(%) = 0 angenommen
Zur Berechnung der erweiterten Messunsicherheit werden die Variationskoeffizienten
(VK(%)) der internen Qualitätskontrollen für die einzelnen Parameter addiert und mit dem
Erweiterungsfaktor (2) multipliziert:
𝜇𝑒 = 𝑁(𝛼) × √(𝑉𝐾(%)𝑈−𝐶𝑟𝑒𝑎 )2 + (𝑉𝐾(%)𝑆−𝐶𝑟𝑒𝑎 )2 +(𝑉𝐾(%)𝑉𝑜𝑙𝑢𝑚𝑒𝑛 )2
2
[5]
Die Messunsicherheit wird dann als Zielwert ± (𝜇𝑒 × 𝑍𝑖𝑒𝑙𝑤𝑒𝑟𝑡/100) oder als
± 𝜇𝑒 % angegeben.
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