DVR Kolloquium 7.12. 2015 Bonn Risikobereitschaft: Ablenkung und weitere Verhaltenseffekte Prof. Dr. Rüdiger Trimpop, Friedrich-Schiller-Universität Jena, 03641 945131 email: [email protected] Gliederung des Beitrags Risikoverhalten im Betrieb, Alltag, Verkehr Risiko-motivation, -kompensation -kompetenz, -optimierung Risiko im Zusammenhang mit Ablenkung Ansatzpunkte zur Unfallprävention Risiko-und Aufmerksamkeit Jährliche Tote durch Terrorismus: 50.000 davon 90% Muslime in Kleinasien 136 pro Tag Ca. 40.000 sterben in Deutschland an Krankenhausinfektionen. Jährliche Tote durch Ertrinken: 500.000 =1360 pro Tag Jährliche Tote durch Verkehr: 1,25 Millionen= 3424 pro Tag Dennoch: Wegen Medienaufmerksamkeit vermeiden Menschen Weihnachtsmärkte aus Terrorismusangst! Fazit: 10-fach logischer wäre es, eine Schwimmweste mit auf den Weihnachtsmarkt zu nehmen und nicht mit dem Auto und vor allem: Niemals ins Krankenhaus! Wenn Risikoverhalten so negativ ist, warum machen es dann alle, ob körperlich, sozial oder finanziell? Risiken werden von allen Menschen vermieden, toleriert, akzeptiert und gesucht Zum Verständnis und zur Veränderung muss man die Anreize des Risikoverhaltens verstehen! Risiko Wer nichts wagt, der nichts gewinnt! Unternehmerisches Risiko Risikogesellschaft Risikofreudiges Entscheidungsverhalten Das Risiko lohnt sich Risikosportarten Risiko - eine Begriffsbestimmung Risiko (altpersisch: eine Klippe umschiffen) Für Ingenieure: Wahrscheinlichkeit eines negativen Ereignisses und/oder negativer Folgen Für Wirtschaftswissenschaftler: Risiko = berechenbare Wahrscheinlichkeit eines unklaren Ausgangs. Ungewissheit= Keine Informationsgrundlage Für Psychologen: Risikoverhalten bedeutet den Umgang mit Ungewissem - Positiv oder Negativ Risikoverhalten als evolutionärer Vorteil • Die Zukunft verändert sich und ist ungewiss, daher haben Organismen eine erhöhte Überlebenswahrscheinlichkeit, wenn Sie auf Ungewissheit nicht mit Panik reagieren! • Das Erleben von ungewissem, riskantem, wird daher in abnehmendem Schonraum trainiert! • Das Vorbereiten auf das Ungewisse erfordert ein Überschreiten der bekannten Grenzen! • Ohne Risiko gibt es keinen Fortschritt! Kontrollverhalten als evolutionärer Vorteil • Organismen, die ihre Umgebung kontrollieren, haben eine erhöhte Überlebenschance! • Das Gewinnen an Kontrolle, wird daher in abnehmendem Schonraum trainiert! • Vollständige Kontrolle bedeutet vollständigen Wachstums- und Veränderungsstillstand! Risiko Risiko als Balance zwischen..... Herausforderung Chance, Wandel Gefahr, Angst Kontrolle Risiko als Balance zwischen..... Gerettet werden im Krankenhaus vs. Infektionsgefahr Autofahren vs. ÖPNV Geldinvestitionen vs. Spardose Auslandsurlaub vs. „Balkonien“ Prüfungslernen vs. Feiern Silvesterböllern vs. Partyspiele Provozierende Vortragsthesen vs. langweilige Risikooptimierungsmodell (ROM) Risikominimierung ist in der Realität weltfremder Unsinn, aber Gefährdungsminimierung dagegen nicht Risiko ist die Balance aus Chance/Nutzen vs. Gefahr/Schaden Erfolgreiches Risikoverhalten ist: wenn Nutzen > Schaden Risikooptimierung ist die Kunst, dieses Ergebnis zu erzielen! Voraussetzungen zur Risikooptimierung Zur Risikooptimierung müssen die Gefahren und die Chancen und eigene Kompetenzen sowie die Umweltsituation korrekt eingeschätzt und geeignete Entscheidungs- und Handlungsfähigkeiten besessen und angewandt werden! Insbesondere gilt das im Straßenverkehr, denn dort muss ständig abgewogen werden, welches Verkehrsmittel und wann, welches Verhalten welche Geschwindigkeit, welche Rücksicht. Overreliance-Verhaltensanpassung-Wildes Risikohomöostaseprinzip Risikokompensation in Untersuchungsergebnissen • • • • • • • • • Geschwindigkeiten auf breiten Straßen Aufmerksamkeit in Routinesituationen ABS Bremsen versus Normalbremse Helme beim Football Anschnallen im Go-Kart Verkapselte versus freie Drehmaschinen Sicherheitstraining als Schleuderkurs Nahezu bei allen Fahrerassistenzsysteme Etc. Nachgewiesene Zusammenhänge I • Aufmerksamkeit, Ablenkung, Situationsbewusstsein – Einsatz des Spurhalteassistenten bei Müdigkeit zum längeren Fahren (Marberger, 2007) – Längeres Fahren trotz Müdigkeit mit Müdigkeitsassistent, (z.B. Karrer-Gauß, 2012) – Unterschiede im Umfang der Zuwendung zu Sekundäraufgaben in Abhängigkeit von der Art der Fahrassistenz (z.B. Carsten et al., 2012) – Adaptive Cruise Control: Nachweis geringfügig reduzierter Beanspruchung (Review – de Winter et al. (2014) gleichzeitig im Realeinsatz dreifach höhere Wahrscheinlichkeit für die Auseinandersetzung mit nicht fahrbezogenen Sekundäraufgaben (Malta et al., 2012) Nachgewiesene Zusammenhänge II • Verhaltensanpassungen und Veränderung des Risikoverhaltens (Trimpop & Wilde, 1993; Trimpop, 2002, 2014) – Geringere Fahrzeugabstände, Geschwindigkeitserhöhung bei ACC, z.B. Dragutinovic et al. (2005), Hoedemaeker (1999), Vollrath et al. (2011), durch Intelligent Speed Adaptation, z.B. Vlassenroot et al. (2006), Pourtouli et al. (2011), bei Kollisionswarnern (FCW), z.B. Muhrer et al. (2012) – Risikoreicheres Fahren (Höhere Varianz der lateralen Position, höhere Geschwindigkeiten) durch Night Vision Enhancement Systeme, z.B. Tsimhini & Green (2000) – Trimpop et al. (2013) – Fußgängerschutzsysteme – im Falle fehlender Warnungen fahren die Fahrer schneller, bremsen weniger stark und erleben die Situation als weniger risikoreich Sicherheitsgurte haben einen hohen „Nettonutzen“ aber, seit den Airbags schnallen sich weniger Leute an Seit der medikamentösen Behandlung stecken sich wieder mehr Menschen mit HIV-AIDS an. Risikokompetenz Persönliche Risikokompetenz: Erkennen- Bewerten- Bewältigen- Folgen abschätzen Risikokompetenz ist die Fähigkeit, Nutzen/Chancen und Gefahren/Schäden eines Verhaltens sowie dessen Folgen zu erkennen, bewerten und risikooptimal zu bewältigen. Risikokompetenz kann und sollte bei jedem Verhalten und in jedem Alter trainiert werden ! Aufmerksamkeits- und Techniknutzungskompetenz ebenfalls Ablenkung und Risiko Je weniger Aufmerksamkeitskapazität man hat, desto weniger kann man Risiken richtig einschätzen! Je mehr Nebentätigkeiten man ausübt, desto weniger Aufmerksamkeitskapazität hat man! Niemand kann sich gleichzeitig auf mehrere Dinge gleich intensiv konzentrieren! Vieles läuft automatisiert ab, besonders das wohl Geübte wie z.B. Autofahren ! Jede Art zusätzlicher Ablenkung, wie komplexe Bedientechnik, email, Handy, Internet erhöht die Unfallgefahr deutlich durch Aufmerksamkeitsablenkung Fehlerquellen und Unfallursachen Fehlerarten Grab et al. (2006) Chiellino (2010) 20% 24% Fehlerhafte Informationsaufnahme (Ablenkung, falscher Aufmerksamkeitsfokus 37% 40% Fehlerhafte Informationsverarbeitung (falsche Distanz- und Geschwindigkeitsschätzungen, falsche Verhaltenserwartungen) 20% 14% Zielsetzungsfehler (falsche Manöver geplant, Überholen, bewusste Regelverstöße bei 10%) 20% 14% Handlungsfehler (Überreaktion beim Lenkeinschlag, falsche Pedale, Schaltung) 8% 5% Fehlender Informationszugang (Sichtbehinderungen) Ratschlag für die Verkehrsrealität Eines der besten Mittel gegen das Altwerden ist das Dösen am Steuer eines fahrenden Autos. Juan M. Fango, Rennfahrer Fahrfehler und Fahrleistung • Ein fahrrelevanter Fehler pro gefahrenem Kilometer (Young et al. 2013) • Fehler auf allen Ebenen der Informationsverarbeitung (Chiellino, 2010; Vollrath, 2010, Graab et al., 2008) • Fahrleistung des Menschen (z.B. Vollrath, 2012): – Gesamtkilometerleistung: ein Unfall auf 300.000 Kilometer. – D.h.: Ein durchschnittlicher Autofahrer (15.000 km/Jahr) fährt ca. 20 Jahre lang unfallfrei, bevor er statistisch gesehen einen Unfall hat. Vollautonome Fahrzeuge und z.B. Staupiloten können also zu weniger Unfällen führen Automatisierung im Straßenverkehr: neue Themen und offene Fragen • Neue Interaktions- und Kommunikationsprobleme zwischen Mensch und Maschine sind unerörtert (auch Menschen außerhalb von Fahrzeugen) • Akzeptanz insbesondere bzgl. systemgesteuerter Fahrentscheidungen oder sich widersprechender Entscheidungen von Mensch und Maschine - (Bsp. Autonome Entscheidung: Weicht das Fahrzeug der Mutter oder dem Kind aus?) • Veränderungen der Anforderungsstruktur für alle Bediener. Wie sind diese für die Gesamtvariabilität der Fahrer (hinsichtlich Kompetenzen, Erfahrung, Sicherheit, Emotionen) beherrschbar? • Hohe Automatisierungsgrade ohne Erfahrungswerte (Verlust der menschlichen Rückfallebene; regelmäßige Nahkontakte) • Das Aufrechterhalten von Daueraufmerksamkeit ist für Menschen schlecht möglich ist. Insbesondere Ereignislosigkeit (d.h. sehr gut funktionierende Assistenzsysteme) verstärkt diesen Effekt. Automatisierung im Straßenverkehr: neue Themen und offene Fragen • Kompetenzentwicklung und gradueller Kompetenzverlust durch Systemübernahme von Teil- bzw. Gesamtaufgaben • Wissen und (falsches) Systemverständnis und Sicherheitsillusionen – Erhöhung der Risikobereitschaft und Reduzierung des Systemnettonutzens • Emotion und Motivation im Rahmen des assistierten und zunehmend automatisierten Fahrens – bspw. Frustration, Angst und negative Emotionalität durch autonomes Fahrverhalten mit Einfluss auf das menschliche Verhalten Automatisierung im Straßenverkehr: neue Themen und offene Fragen • Überlastung durch weitere sensorische Inputs in Folge der Systemrückmeldungen in kritischen Situationen – z.B. Biondi et al (2014) • Einfluss eines Fahrzeugwechsels auf das Fahrverhalten und die Unfallgefahr (manuelles Fahrzeug bzw. Fahrzeug mit Systemen anderer Hersteller und anderer Systemparameter) • Defekte oder manipulierte Systeme – Verhaltensfolgen durch nicht durchgeführte Reparaturen oder absichtlich veränderte Funktionen • Die einseitige Fokussierung auf die fahrzeugbezogenen technischen Aspekte: – vernachlässigt den Verkehr als dynamisches und komplexes soziotechnisches System mit vielen interagierenden Gruppen – vernachlässigt weitestgehend menschliche Funktionsprinzipien, die Fähigkeitsvariabilität menschlicher Nutzer, motivationale und emotionale Elemente der Fahrzeugnutzung, sowie Verhaltensanpassungen an veränderte Rahmenbedingungen – verortet Anpassungsnotwendigkeit vor allem beim menschlichen Nutzer und versucht, sie reaktiv in die M-M-I zu integrieren • Sie gefährdet damit das Prozessverständnis und die Fahrfähigkeit des Menschen und reduziert das Potential der Systeme Fazit für Autonomie verschiedener Grade • Nichts spricht prinzipiell gegen vollautonome Fahrzeuge als ein Teil des Verkehrs. • Allerdings müssen Design-Ablauf- Entscheidungsalgorithmenfehler bedacht werden. • Es wird IMMER Mischverkehr geben • Teilautonomie wird ebenfalls IMMER bestehen bleiben • Technische Veränderung hat IMMER Verhaltensänderung zur Folge • Folglich muss die Wechselwirkung MenschTechnik unter realistischen Bedingungen erforscht werden! Botschaften zum Mitnehmen! Risikoverhalten ist wichtig und AUCH hilfreich! Technische-organisatorische Veränderungen führen IMMER zu Verhaltensanpassung – erwünscht oder unerwünscht ! Risikooptimierung und -kompetenzentwicklung ist der realistischte Weg, sich in Gefahrensituationen dem optimalen Verhalten anzunähern! Ablenkungen reduzieren die Unfallvermeidungskompetenz des Menschen, können aber bei assistiertem Fahren hilfreich sein, um den Menschen „in the loop“ zu halten. Die Wechselwirkungen zwischen Fahrzeug, Ablenkung und Überforderung durch Technik und Mensch wären dringend intensiver zu erforschen, werden aber systematisch ignoriert. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit ! Risikooptimierte Arbeit und Fahrt! Friedrich-Schiller-Universität Jena Lehrstuhl für Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie Prof. Dr. Rüdiger Trimpop E-Mail: [email protected] Telefon: 03641-945-131
© Copyright 2024 ExpyDoc