Eidgenössisches Departement des Innern EDI Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann EBG Fachbereich Häusliche Gewalt Ausschreibung Forschungsbericht Massnahmen zur Bekämpfung von Stalking: Übersicht zu national und international erfolgreichen Praxismodellen 1 Ausgangslage Am 11. Dezember 2014 wurde das Postulat Feri 14.4204: «Bekämpfung von Stalking in der Schweiz verbessern» eingereicht. Darin wird der Bundesrat beauftragt, «1. in einem Bericht erfolgreiche nationale und internationale Massnahmen im Kampf gegen Stalking zusammenzustellen sowie 2. basierend darauf im Bericht aufzuzeigen, wie eine nationale Strategie zur Eindämmung von Stalking in der Schweiz aussehen müsste und wie diese in Zusammenarbeit mit den Kantonen und weiteren Akteuren umzusetzen wäre.» In seiner Antwort vom 11. Februar 2015 stellt der Bundesrat fest, dass die «Probleme rund um das Thema Stalking vom geltenden Recht nicht oder nur unbefriedigend gelöst werden» und verweist hierzu auf seine Stellungnahme zur Motion Fiala 13.3742. Einen allfälligen gesetzgeberischen Handlungsbedarf werde die laufende Evaluation zu Artikel 28b ZGB aufzeigen. Der Bundesrat ist mit der Postulantin einig, dass es neben gesetzgeberischen Verbesserungen Massnahmen zur Unterstützung für Betroffene und zur Inverantwortungnahme von Tatpersonen brauche. Die Kompetenz zur Prävention und Bekämpfung von Stalking liege jedoch bei den Kantonen, dem Bund komme hier eine untergeordnete Rolle zu. Bevor die Evaluation von Art. 28b ZGB vorliege, sei es verfrüht, Massnahmen vorzuschlagen. Aus diesen Gründen erklärt sich der Bundesrat bereit, eine Übersicht zu international und national erfolgreichen Praxismodellen zu erstellen (Punkt 1 des Postulates), lehnt jedoch die Erarbeitung einer nationalen Strategie gegen Stalking (Punkt 2) ab. Der Nationalrat ist ihm gefolgt und hat das Postulat am 20. März 2015 überwiesen (Punkt 1 angenommen; Punkt 2 abgelehnt). Mit der Erstellung des Bundesratsberichts wurde das Eidgenössische Departement des Innern EDI beauftragt. Die Federführung liegt beim Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann EBG. Der Forschungsbericht, der mit der vorliegenden Ausschreibung in Auftrag gegeben wird, soll als Grundlage für die Erarbeitung des Bundesratsberichts dienen. 2 Ziel und Inhalt des Auftrags Der zu erstellende Forschungsbericht soll einen Überblick geben über erfolgreiche Massnahmen im Kampf gegen Stalking1 im In- und Ausland. Dabei geht es um Massnahmen zur Unterstützung der Opfer (Information, Beratung und Begleitung, polizeiliche und zivilrechtliche Schutzmassnahmen usw.) und zur Inverantwortungnahme der Tatpersonen (Strafverfolgung, Gefährderansprache, Beratung, Lernprogramme usw.). Im Sinne von Best Practice-Beispielen sollen das konkrete Funktionieren, die Bekanntmachung (Aufklärung und Sensibilisierung der Bevölkerung, Information und Weiterbildung von Fachpersonen, usw.), die Wirkungsweise und die Erfolge der wirksamsten Massnahmen dokumentiert werden. Weiter soll der Bericht aufzeigen, welche der dargestellten Massnahmen sich auf die Schweiz übertragen lassen. Die wichtigsten Forschungsfragen sind: 1. Welche Massnahmen im Kampf gegen Stalking (Unterstützung für Betroffene und Mitbetroffene einschliesslich mitbetroffene Kinder und Jugendliche sowie Inverantwortungnahme von Tatpersonen) haben sich in der Schweiz und in vergleichbaren Ländern in der Praxis als erfolgreich erwiesen? 2. Gibt es wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, welche Strategien / Massnahmen(-pakete) im Kampf gegen Stalking besonders erfolgreich sind und weshalb? 3. Inwiefern sind je nach Stalkingform (Beziehungskonstellation, Stalkingmethode, Schweregrad usw.) unterschiedliche Massnahmen erforderlich / erfolgversprechend? 4. Welche in der Schweiz angewendeten Massnahmen sollten breitere Anwendung finden und welche ausländischen Massnahmen / Praxismodelle sind auf die Schweiz übertragbar und empfehlenswert? 2.1 Methode Die Auftragnehmenden wählen für die Beantwortung der verschiedenen Fragestellungen geeignete wissenschaftliche Methoden und erläutern sie in der Offerte. Erwartet werden nebst gezielten Internet- und Literaturrecherchen Dokumentenanalysen, Explorativ-Gespräche mit Expert/-innen, Umfragen zu Massnahmen in den verschiedensprachigen Kantonen und vertiefende Expert/innen-Interviews. Die in- und ausländischen Best-Practices sollen in der nötigen Detailliertheit erfasst und übersichtlich dargestellt werden. 2.2 Eingrenzung Der gesetzgeberische Handlungsbedarf ist nicht Gegenstand dieses Forschungsberichts. Der Bundesrat hat am 7. Oktober 2015 seine Vorschläge zur Verbesserung des Schutzes der Opfer von häuslicher Gewalt und Stalking (Änderungen im Zivil- und Strafrecht) in die Vernehmlassung geschickt. Der Fokus wird auf Massnahmen für Jugendliche und Erwachsene gelegt und nicht auf Kinder im Primarschulalter. 1 Definition, Ausmass und rechtliche Hintergrundinformationen zu Stalking siehe Anhang. Ausschreibung: Forschungsbericht über Massnahmen zur Bekämpfung von Stalking 2/12 Die Untersuchung soll die wichtigsten Stalkingformen und -methoden (insbesondere auch solche, die sich der Sozialen Medien bedienen) sowie die verschiedenen Tatperson-Opferkonstellationen einbeziehen und dabei auch die Geschlechterdimension berücksichtigen. Bei der Suche nach Praxismodellen im Ausland wird der Fokus auf Länder gelegt, die erprobte und erfolgreiche Strategien aufweisen, welche auch für die Schweiz von Bedeutung sein könnten. Dabei sollen auf jeden Fall mindestens deutsch-, französisch- und englischsprachige Länder vertreten sein. Die definitive Auswahl der Länder wird durch die Auftragnehmenden nach einer gezielten Recherche in Absprache mit dem EBG vorgenommen. 2.3 Resultat des Auftrags Die Forschungsergebnisse sind in einem barrierefreien Schlussbericht darzustellen, der den Umfang von 60 Seiten nicht überschreitet. Der Bericht soll die unter Punkt 2 aufgelisteten Fragen beantworten. Einleitend soll die Ausgangslage, die verwendete Definition und kurz die Phänomenologie sowie die Forschungsmethodik erläutert werden. Der Bericht soll eine Zusammenfassung beinhalten, die die wesentlichen Resultate und Empfehlungen darstellt. Der Bericht ist in Deutsch oder Französisch zu verfassen. Er wird vom EBG auf seine Kosten in Französisch oder Deutsch übersetzt werden. Aufgabe der Auftragnehmenden ist es, die Übersetzung zu kontrollieren sowie das Layout des übersetzten Berichts anzupassen. 3 Begleitung Die konzeptuelle und inhaltliche Begleitung des Auftrags erfolgt durch den Fachbereich Häusliche Gewalt FHG des EBG sowie durch eine Begleitgruppe, in der weitere mit der Thematik befasste Bundesstellen (Bundesamt für Justiz BJ / Fachbereiche Zivil- und Straf(prozess)recht, Bundesamt für Polizei Fedpol / Koordinationsstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität KOBIK, Bundesamt für Sozialversicherungen BSV / Bereich Kinder- und Jugendfragen) sowie die Konferenz der Kantonalen Sozialdirektorinnen und -direktoren (SODK), die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD), die Schweizerische Konferenz Häusliche Gewalt SKHG und die Fachstelle StalkingBeratung des Amts für Erwachsenen- und Kindesschutz der Stadt Bern vertreten sind. Die Begleitgruppe wirkt bei der Mandatsvergabe mit und diskutiert den Schlussbericht. Die Mitglieder der Begleitgruppe unterstützen die Auftragnehmenden mit ihrem Fachwissen und ihrem Kontaktnetz. 4 Kosten Das Kostendach für den Forschungsauftrag beträgt CHF 80 000.‒ einschliesslich MwSt. und Spesen. Ausschreibung: Forschungsbericht über Massnahmen zur Bekämpfung von Stalking 3/12 5 Zeitplan Für die Erarbeitung des Berichts stehen 7 Monate zur Verfügung. Etappen Zeitpunkt Ausschreibung des Mandats 10. November 2015 Eingabefrist für die Offerten 4. Januar 2016 Vergabe des Mandats 22. Januar 2016 Kick-off Gespräch EBG-Auftragnehmende Ende Jan./Anfang Feb. 2016 Abgabe Entwurf Schlussbericht 30. August 2016 Diskussion Schlussbericht in der Begleitgruppe 27. September 2016 Abgabe definitiver Schlussbericht 14. Oktober 2016 6 Anforderungen an die Offerte Die unterzeichnete Offerte soll den Umfang von maximal 5 Seiten (exkl. Beilagen) nicht überschreiten. Die unterzeichnete Offerte ist bis spätestens 4. Januar 2016 elektronisch an das EBG einzureichen (siehe Punkt 8 Kontakt). Die Offerteingaben müssen folgende Angaben enthalten: Auftragsverständnis ausgehend von den Forschungsfragen in der Ausschreibung; detaillierte Angaben dazu, wie die vier Fragestellungen angegangen werden sollen; erste Überlegungen zur Auswahl der zu untersuchenden Kantone und Länder sowie zur Wahl der zu befragenden Expertinnen und Experten; Zeitplan mit den wichtigsten Projektetappen; Angaben zu den Qualifikationen und Erfahrungen der Forschenden inkl. Referenzen und sprachliche Kompetenzen; detaillierte Kostenaufstellung mit Aufwand der einzelnen Beteiligten für die verschiedenen Projektetappen; Nachweis der Unabhängigkeit in Bezug auf die mit diesem Forschungsauftrag verbundenen Interessen; von den zeichnungsberechtigten Personen unterschriebenes Formular «Selbstdeklaration BKB Einhaltung der Arbeitsbedingungen, der Arbeitsschutzbestimmungen sowie der Lohngleichheit von Frau und Mann: Erklärung der Anbieterin oder des Anbieters» (Beilage). Ausschreibung: Forschungsbericht über Massnahmen zur Bekämpfung von Stalking 4/12 7 Beurteilungskriterien Die Offerten werden nach folgenden Kriterien beurteilt: Zweckmässigkeit und Qualität des Angebots im Hinblick auf die Beantwortung der Fragestellungen: Auftrags- und Problemverständnis, Nachvollziehbarkeit des Angebots, Angemessenheit der Vorgehensweise Projektorganisation, Kompetenzen und Erfahrung der Forschenden mit vergleichbaren Fragestellungen und mit Untersuchungen in andern Ländern und in den verschiedenen Landesteilen Wirtschaftlichkeit, Preis-/Leistungsverhältnis. 8 Kontakt Die unterzeichnete Offerte ist bis spätestens 4. Januar 2016 elektronisch einzureichen an: Irene Huber lic.phil. Eidg. Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann Fachbereich Häusliche Gewalt Schwarztorstr. 51 3003 Bern [email protected] Tel. 058 462 68 26 9 Beilagen zur Ausschreibung - Zusammenstellung parlamentarische Vorstösse und Bundesratsberichte zu Stalking (EBG, Sept. 2015) Formular «Selbstdeklaration BKB Einhaltung der Arbeitsbedingungen, der Arbeitsschutzbestimmungen sowie der Lohngleichheit von Frau und Mann: Erklärung der Anbieterin oder des Anbieters» Ausschreibung: Forschungsbericht über Massnahmen zur Bekämpfung von Stalking 5/12 10 Literatur/Quellen Amt für Erwachsenen- und Kindesschutz der Stadt Bern (Hg.) (2015): Gefahren im Internet – Cyberstalking. www.bern.ch/stadtverwaltung/sue/afek/mandatcenter/stalking Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2005): Stalking: Grenzenlose Belästigung – Eine Handreichung für die Beratung. http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/MaterialieGleichstellung-Nr._20104.pdf Eidg. Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann EBG (Version 17.2.2015): Häusliche Gewalt ‒ Informationsblatt 7, Stalking: bedroht, belästigt, verfolgt. Abrufbar unter: http://www.ebg.admin.ch/dokumentation/00012/00442/index.html?lang=de Dressing, H., Kuehner, C., & Gass, P. (2005). Lifetime prevalence and impact of stalking in a European population. The British Journal of Psychiatry, 187, 168–172. Guldimann, A., Stieglitz, RD, Meloy, JR, Habermeyer, E. & Ermer, A. (under review). Stalking victimization among Swiss police officers. Journal of Threat Assessment and Management. Hoffmann, J. & Blass, N. (2012). Bedrohliches Verhalten in der akademischen Welt. Eine Studie zur Auftretenshäufigkeit von Stalking, Drohungen, Gewalt und anderem Problemverhalten an einer deutschen Universität. Polizei & Wissenschaft, 2, 38-44. Hoffmann, J., Roshdi, K. & Rudolf von Rohr, H. (Hrsg./2013): Bedrohungsmanagement. Projekte und Erfahrungen aus der Schweiz. Frankfurt/Main: Verlag für Polizeiwissenschaften. Hoffmann, Jens (2006). Stalking. Heidelberg: Springer. 230 S. Meloy J. Reid, Sheridan Lorraine & Hoffmann Jens (Eds) (2008.): Stalking, Threatening, and Attacking Public Figures: A Psychological and Behavioral Analysis. New York: Oxford University Press. Schweizerische Kriminalprävention SKP (Hg.) (2014): Stalking: Grenzen setzen! Informationen für Betroffene. http://www.skppsc.ch/linkupgold/show.php?n=788 Tjaden Patricia & Thoennes Nancy (1998): Stalking in America: Findings from the National Violence Against Women Survey, Washington D.C. van der Aa Suzan, Römkens Renée (2013): The state of the art in stalking legislation –reflections on European developments. In: European Criminal Law Review, EuCLR, 3(2),S. 232-256. Voß, H.-G. W. & J. Hoffmann (2004): Stalking aus Sicht der Opfer und Täter. In: Frauennotruf Wien (Hg.), Du entkommst mir nicht…Psychoterror – Formen, Auswirkungen und gesetzliche Möglichkeiten (S. 18-24). Wien: MA 47. Voß, Hans-Georg W., Hoffmann, Jens & Wondrak, Isabel (2006): Stalking in Deutschland - Zur Psychologie der Betroffenen und Verfolger. Baden-Baden: Nomos. Ausschreibung: Forschungsbericht über Massnahmen zur Bekämpfung von Stalking 6/12 Weisser Ring (Hrsg.) (2010): Stalking. Wissenschaft, Gesetzgebung und Opferhilfe. Baden-Baden, S. 185-202. Wondrak Isabel, Hoffmann Jens & Voss Hans-Georg W. (2005): Traumatische Belastung bei Opfern von Stalking. In: Praxis der Rechtspsychologie 15 (2), S. 222234. Stadtpolizei Zürich. Merkblatt Stalking: Ohne Gewalt leben – Sie haben ein Recht darauf. Abrufbar unter: http://www.kapo.zh.ch/internet/sicherheitsdirektion/kapo/de/praevention/kriminalitaet/ stalking.html#a-content Zimmerlin, Sven (2011): Stalking – Erscheinungsformen, Verbreitung, Rechtsschutz. In: Sicherheit & Recht 1/2011, S. 3-23. 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Wie in der Begründung des Postulats ausgeführt, ist Stalking oft der häuslichen Gewalt zuzuordnen (wo sie v.a. nach Trennungen auftritt), kann jedoch auch im Kontext der Erwerbsarbeit, von Freizeitaktivitäten usw. vorkommen oder sich gegen bekannte Persönlichkeiten oder andere Personen richten, die in keiner Beziehung zur Tatperson stehen. Eine umfassende und auch für die Schweiz relevante Definition von Stalking liefert das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) sowie der erläuternde Bericht dazu. In Artikel 34 der Konvention wird Stalking resp. Nachstellung definiert als «vorsätzliches Verhalten, das aus wiederholten Bedrohungen gegenüber einer anderen Person besteht, die dazu führen, dass diese um ihre Sicherheit fürchtet». Gemäss Erläuterungen kann das bedrohende Verhalten «in der wiederholten Verfolgung einer Person, in unerwünschter Kommunikation mit einer Person oder darin bestehen, dass man eine Person wissen lässt, dass sie beobachtet wird.» (Erläuterung Nr. 182). Als weitere Formen von Stalkingverhalten werden «die Zerstörung des Eigentums einer anderen Person, das Hinterlassen subtiler Kontaktspuren auf persönlichen Gegenständen einer Person, das Abzielen auf ein Haustier der Person, die Schaffung falscher Identitäten oder die Verbreitung falscher Informationen im Internet» aufgeführt (Erläuterung Nr. 183). Die heute oft über elektronische Kommunikationsmittel, soziale Netzwerke und Internet erfolgende Bedrohung von andern Personen wird Cyberstalking genannt. Damit von Nachstellung gesprochen werden kann, muss gemäss IstanbulKonvention das bedrohende Verhalten «vorsätzlich und mit der Absicht ausgeführt worden sein, dem Opfer Furcht einzuflössen» (Erläuterung Nr. 184). Die Wiederholung des bedrohenden Verhaltens ist ein zentrales Merkmal von Stalking. Verhaltensweisen, die – einzeln betrachtet – nicht unbedingt einem strafbaren Verhalten entsprechen, erhalten durch Wiederholung strafrechtlichen Charakter (Erläuterung 185).2 Die Verhaltensweisen richten sich direkt gegen das Opfer, können aber auch auf dessen soziales Umfeld (Familienmitglieder, den Freundesund Kollegenkreis) abzielen (Erläuterung Nr. 185). Es handelt sich bei Stalking oft um einen dynamischen Prozess. Das Vorgehen und die Motive des Stalkers bzw. der Stalkerin ändern sich häufig im Verlaufe der Zeit. Manche wollen nicht Furcht einflössen, sondern dem Opfer ihre Liebe bezeugen. Sie leiden an Realitätsverzerrungen und glauben, dass das Opfer sie ebenfalls liebt (Liebeswahn). Stalkinghandlungen können jeglichem Schweregrad entsprechen, von aufdringlichem Werben oder Drohen über körperliche und sexuelle Übergriffe bis hin zur Tötung. Laut einer amerikanischen Studie (Meloy, 1998) enden 2% aller Stalkingfälle tödlich. 2 Auch das Bundesgericht erwähnt die Wiederholung als massgebendes Merkmal: „Charakteristisch ist stets, dass viele Einzelhandlungen erst durch ihre Wiederholung und ihre Kombination zum stalking werden.» (BGE 129 IV 262 ff.). Ausschreibung: Forschungsbericht über Massnahmen zur Bekämpfung von Stalking 8/12 Unterschiede in der Erscheinungsform des Stalking ergeben sich somit hauptsächlich hinsichtlich der folgenden Dimensionen: Beziehungskonstellationen (aktuelle, ehemalige oder gewünschte/fantasierte Paarbeziehung, aktuelles oder ehemaliges Arbeitsverhältnis, Bekannten- bzw. Freundeskreis, unbekannte Personen, Personen des öffentlichen Lebens usw.) Zielsetzung (Beziehungsaufnahme, Einschüchterung, Verhaltensänderung, Verletzung, Vernichtung des Opfers usw.) Schweregrad (unerwünschte Kontakte, Kontrollverhalten, Identitätsdiebstahl, Verleumdung, Drohung, Sachbeschädigung, körperliche Angriffe usw.) Kommunikationsmittel (physische Präsenz bzw. Annäherungsversuch, Spuren hinterlassen, Briefe, Nachrichten, elektronische Kommunikation, Veröffentlichungen usw.) Tätertypologie (Zurückgewiesene, Rachsüchtige, Beziehungssuchende usw.) Gemeinsamkeiten sind die einseitige Kontaktaufnahme bzw. Annäherungsversuche der Tatperson, die Wiederholung der Bedrohung/Belästigung und die dadurch ausgelöste Angst der Opfer. 11.2 Folgen von Stalking Die Folgen von Stalking bei den Opfern sind – abhängig von der Art, Intensität und Dauer der Belästigung und Bedrohung, aber auch von der Person des Opfers – sehr unterschiedlich. Häufig sind psychische Beeinträchtigungen wie Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Hilflosigkeitsgefühle, Angstzustände und Verminderung des Selbstwertgefühls, aber auch körperliche Verletzungen durch die Tatperson und Suizidversuche können die Folge sein. Soziale Einschränkungen wie Wechsel des Wohn- und Arbeitsorts und soziale Isolation sind ebenfalls häufige Reaktionen auf Stalking (vgl. z.B. Wondrak et al. 2005). 11.3 Verbreitung von Stalking Bei einer grossangelegten Befragung von 16 000 Personen in den USA (Tjaden und Thoennes 1998), gaben 8% der Frauen und 2% der Männer an, mindestens einmal eine Form von Stalking erlebt zu haben, bei der sie ernsthaften Schaden für sich oder ihre Angehörigen fürchteten. In einer Befragung von 22 000 Britinnen und Briten (Walby u. Allen 2004, zitiert nach Hoffman 2006) gaben 19% aller Frauen und 12% der Männer an, einen Vorfall mit mindestens zwei Belästigungen erlebt zu haben, der bei ihnen Angst oder Sorge auslöste. Eine erste ähnliche Befragung von rund 700 Personen in Deutschland (Dressing et al. 2005, zitiert nach Hoffman 2006) ergab, dass knapp 12% schon einmal von Stalking betroffen waren. Hoffman (2006) fasst die Ergebnisse der verschiedenen Studien wie folgt zusammen: «Das Erlebnis einer – wenn überhaupt – höchstens punktuell belastenden Qualität erfährt immerhin etwa jeder 4. Bürger, wobei sicherlich auch hier kritisch hinterfragt werden muss, ob es sich um genuines Stalking handelt. Jeder 8. Bürger wird einmal Opfer eines mittelschweren Falls, der von einer gewissen Dauer bzw. einem Gefühl der Furcht begleitet wird. Etwa jede 20. Person wird zu einem fortwährenden Ziel von Stalking und hat Angst um die eigene Sicherheit oder die vertrauter Menschen aus dem sozialen Nahbereich. Dabei sind die Geschlechter Ausschreibung: Forschungsbericht über Massnahmen zur Bekämpfung von Stalking 9/12 jedoch nicht gleich betroffen. Frauen werden im Durchschnitt etwa zwei- bis viermal häufiger Opfer von Stalking als Männer.» (Hoffman 2006, S. 11). Täter sind in etwa 80% der Fälle Männer (EBG 2015). Auch die Altersgruppen sind unterschiedlich betroffen. Die jüngere Generation hat deutlich häufiger Stalking erlebt als die ältere, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass Stalking tatsächlich zunimmt. Dies wird unter anderem mit gesellschaftlichen Entwicklungen wie mehr Trennungen, neue Kommunikationsformen, Verminderung der sozialen Kontrolle usw. erklärt (vgl. Hoffman 2006). In der Schweiz ist Stalking kaum erforscht. Repräsentative Untersuchungen für die Schweizer Bevölkerung existieren nicht. Im Rahmen einer Online-Befragung von mehr als 500 Schweizer Polizisten gaben 4% der Männer und 10% der Frauen an, schon einmal Opfer von Stalkingverhalten geworden zu sein. Dabei wurde Stalking analog zu Dressing et al. (2005) definiert als mehrfache einseitige Kontaktaufnahmen bzw. Annäherungsversuche, die mindestens zwei Wochen dauern und bei der betroffenen Person Furcht auslösen. Diese Zahlen weisen darauf hin, dass Stalking auch in der Schweiz ein nicht vernachlässigbares Phänomen darstellt (Guldimann et al.). Da Stalking in der Schweiz kein eigenständiger Straftatbestand ist (vgl. unter 12), gibt es dazu auch keine Zahlen aus der Polizeilichen Kriminalstatistik. 12 Rechtliche Situation 12.1 Strafrecht Das Schweizer Strafrecht kennt – anders als etwa das deutsche oder österreichische – keinen speziellen Straftatbestand für Stalking. Einzelne Stalkinghandlungen können als Delikte wie Drohung (Art. 180 StGB), Nötigung (Art. 181), Missbrauch einer Fernmeldeanlage (Art. 179septies), Hausfriedensbruch (Art. 186), Sachbeschädigung (Art. 144), Ehrverletzungen (Art. 173 ff.), Körperverletzungen (Art. 122 f.) und Vergewaltigung (Art. 190) geahndet werden. Nicht erfasst werden somit Handlungen, die die Tatbestandsvoraussetzungen keines dieser Delikte erfüllen, aber als wiederholte Belästigungen oder Bedrohungen bei den Opfern Angst auslösen und zu andern Beeinträchtigungen führen können. 12.2 Zivilrecht Eine Person, die über längere Zeit verfolgt und belästigt wird, kann in einem zivilrechtlichen Verfahren Unterlassungsansprüche geltend machen. Seit am 1. Juli 2007 die zivilrechtliche Gewaltschutznorm in Kraft trat, sieht Art. 28b Abs. 1 Ziff. 1-3 ZGB verschiedene Schutzmassnahmen wie Annäherungs-, Orts- und Kontaktaufnahmeverbot vor. Dazu muss das Opfer einen Antrag beim Gericht stellen und die wesentlichen Beweise für seine Vorwürfe selbst beibringen. Ausserdem muss es sich auf ein langes Verfahren gefasst machen, ausser die Schutzanordnung wird als vorsorgliche oder superprovisorische Massnahme verfügt. Bei verheirateten Personen können die Massnahmen auch im Rahmen des Eheschutzes beantragt werden. Dann wird der Sachverhalt vom Gericht festgestellt. Anwendung und Wirksamkeit von Artikel 28b ZGB wurden vom Bundesamt für Justiz 2015 evaluiert. Über die vorgeschlagenen Massnahmen zur Verbesserung des Schutzes gewaltbetroffener Personen in Zivil- und Strafrecht hat der Bundesrat am 7. Oktober 2015 das Vernehmlassungsverfahren eröffnet. Ausschreibung: Forschungsbericht über Massnahmen zur Bekämpfung von Stalking 10/12 12.3 Kantonale Gesetzesbestimmungen Verschiedene Kantone haben betreffend häusliche Gewalt eigene Gewaltschutzgesetze (GE, NE, OW und ZH) oder polizeirechtliche Bestimmungen erlassen, die je nach Ausprägung auch auf Stalking angewendet werden können. Einzelne Kantone (z.B. AR, SG) haben eine explizite Bestimmung zu Stalking eingeführt, was es der Polizei erleichtert, in diesen Fällen sofort ein Annäherungsund Kontaktverbot zu verfügen. In verschiedenen Kantonen (z.B. Solothurn, Zürich, Bern) verfügen die Polizeidienste über eigentliche Gewaltschutzstellen mit spezialisierten Beamtinnen und Beamten, die besondere Bedrohungslagen v.a. im Bereich häusliche Gewalt und Stalking bearbeiten, Bedrohungsanalysen vornehmen und zusammen mit anderen Stellen im Fallmanagement mitwirken. 12.4 Opferhilfe und Beratung Nach dem Opferhilfegesetz OHG haben Opfer, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden sind, Anspruch auf Unterstützung, d.h. insbesondere Beratung und finanzielle Hilfe (Art. 1 OHG). Die Gewaltberatungs- und Opferhilfestellen in der Schweiz beraten auch Stalkingopfer. Diese Beratung erfordert besondere Fachkenntnisse. Es geht darum, die unterschiedlichen Stalkingsituationen und die davon ausgehenden Bedrohungen richtig einzuschätzen und den Betroffenen Hinweise zu geben, wie sie wieder Kontrolle über die Situation gewinnen und sich gegen die Belästigungen wehren können. Verschiedene Beratungsstellen wie auch Polizeidienste stellen spezielle Tipps, Merkblätter, Broschüren und Informationsmaterialien zu Stalking und zum Umgang mit Stalkern/Stalkerinnen zur Verfügung. Eine spezialisierte Beratungsstelle zu Stalking gibt es seit Kurzem in der Stadt Bern.3 Stalkerinnen und Stalker, die ihr Verhalten ändern möchten, können Angebote der Beratungsstellen für gewaltausübende Personen in Anspruch nehmen. 4 Auch Lernprogramme für gewaltausübende Personen stehen Stalker/-innen offen. 12.5 Internationales Recht Verschiedene internationale Übereinkommen (insbesondere CEDAW und EMRK) verpflichten die Schweiz als Vertragsstaat, Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu bekämpfen. Stalking wird dabei jedoch nicht explizit erwähnt und lediglich am Rand als Form häuslicher Gewalt erfasst. Ausdrücklich von Stalking bzw. von Nachstellung spricht das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention). Wie vorne (unter 11.1) erwähnt, ist die entsprechende Bestimmung weit gefasst und umfasst auch Stalkingformen ausserhalb von aktuellen oder aufgelösten Paarbeziehungen (und auch Stalking gegen Männer). Artikel 34 der Istanbul-Konvention verpflichtet die Vertragsparteien zu gesetzgeberischen und sonstigen Massnahmen um sicherzustellen, dass Nachstellungen unter Strafe gestellt werden. Die Staaten können gemäss Artikel 78 Absatz 3 jedoch auch erklären, dass sie sich das Recht vorbehalten, wirksame, verhältnismässige und abschreckende nichtstrafrechtliche Sanktionen vorzusehen. 3 Fachstelle Stalking-Beratung des Amtes für Erwachsenen- und Kindesschutz (http://www.bern.ch/stadtverwaltung/sue/afek/mandatcenter/stalking) 4 Siehe: http://www.fvgs.ch/beratungsstellen.html Ausschreibung: Forschungsbericht über Massnahmen zur Bekämpfung von Stalking 11/12 Zur Verbesserung des Opferschutzes müssen die Vertragsstaaten sicherstellen, «dass angemessene Kontakt- und Näherungsverbote oder Schutzanordnungen für Opfer aller in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallenden Formen von Gewalt zur Verfügung stehen» (Art. 53 Abs. 1). Die Konvention sieht zudem präventive Massnahmen wie Interventions- und Behandlungsprogramme für Täterinnen und Täter vor (Art. 16). Die Schweiz hat das Übereinkommen am 11. September 2013 unterzeichnet. Die Vernehmlassung zur Ratifikation wurde am 7. Oktober 2015 eröffnet. Ausschreibung: Forschungsbericht über Massnahmen zur Bekämpfung von Stalking 12/12
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