Das flexible Interview Kreative Forschungsmethode - Modernes, dialogisches Unterrichten Die Website als Reader Stefan Meyer, Dozent HfH 21.12.2015 Vorbemerkung Der vorliegende Reader enthält Grundlagentexte und Aufsätze. Vertiefende Texte wie der Menon-Dialog über die Verdoppelung der Quadratfläche oder die rund 30 vorbereiteten flexiblen Interviews und fachdidaktischen Essays wurden nicht aufgenommen, da sie allein 260 A4-Seiten einnehmen. Diese Dokumente sind verlinkt und können direkt heruntergeladen werden. – In der Regel werden Neuerungen zuerst auf der Website eingebracht. 1 Inhalt 1 Einleitung......................................................................................................................................... 4 2 ABC des flexiblen Interviews ........................................................................................................... 5 3 Über dieses Tool .............................................................................................................................. 7 4 Gutes Interviewen - Bausteine ........................................................................................................ 8 4.1 Aufbau FI: Allgemeiner Rat ...................................................................................................... 9 4.2 Aufbau FI: Beziehung herstellen .............................................................................................. 9 4.3 Aufbau FI: Denkprozesse aufdecken ...................................................................................... 10 4.4 Aufbau FI: Beschreiben, wie das Denken vor sich geht ......................................................... 11 4.5 Aufbau FI: Kompetenz beurteilen .......................................................................................... 12 4.6 Flexible Interviews erweitern den Handlungsspielraum von Lehrpersonen ......................... 12 5 Die Methode des flexiblen Interviews im Rollenspiel üben .......................................................... 13 6 Erfahrungen und Kenntnisse vertiefen ......................................................................................... 14 7 Geometrie des FI: Erfahrungen vertiefen ..................................................................................... 18 8 Das flexible Interview und die Forschung ..................................................................................... 18 8.1 Klassische flexible Interviews ................................................................................................. 20 8.2 Mathematisches Denken erforschen und fördern ................................................................. 21 8.3 Das Zehnersystem verstehen ................................................................................................. 23 8.4 Bruchzahlen verstehen........................................................................................................... 24 9 Das flexible Interview und das Unterrichten................................................................................. 26 9.1 FI und das Unterrichten - Einleitung ...................................................................................... 29 9.2 FI mit einzelnen Schülerinnen und Schülern .......................................................................... 31 9.3 FI mit Gruppen ....................................................................................................................... 32 9.3.1 Einleitung I: Das flexible Interview – ein Hilfsmittel der dialogischen Pädagogik............... 32 9.3.2 Einleitung II.......................................................................................................................... 35 9.3.3 Beispiel: Wertvolles Alltagsritual zur Förderung der Kommunikation, der Sozialisation und der Gesundheit: der Znünikreis.................................................................................................... 36 9.3.4 Beispiel: Zwei unterschiedliche Schreibstunden ................................................................. 38 9.3.5 Beispiel: «Lernen wie es euch gefällt» Dialogische Öffnung des Mathematikunterrichts in einer ersten Primarklasse............................................................................................................. 41 Dialogisches Lernen: Lernen, wie es euch gefällt..................................................................... 41 9.3.6 Beispiel: Pommes Chips...................................................................................................... 41 9.3.7 Gruppendiskussion und Bruchrechnen ............................................................................... 45 9.4 Theoretische Überlegungen zur Integration der Methode im Unterricht ............................. 49 2 9.4.1 Theorie: Unterrichtsmethoden, welche die Integration des flexiblen Interviews fördern... ...................................................................................................................................................... 49 9.4.2 Theorie: Merkpunkte zur Anwendung des flexiblen Interviews mit Gruppen ................... 50 9.4.3 Theorie: Gruppenentwicklung und das flexible Interview .................................................. 51 9.4.4 Nemo und Pädagogik .......................................................................................................... 55 9.4.5 Theorie: Von der Dampfkugel zum Raketenantrieb ........................................................... 57 9.6 Spiele - Fenster zum Denken, Handeln und Empfinden......................................................... 58 10 FI Blog .......................................................................................................................................... 59 Literatur ............................................................................................................................................ 60 Links.................................................................................................................................................. 65 3 1 Einleitung Die Methode wurde von Jean Piaget und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zur Erforschung der Entwicklung des Erkennens und Verstehens entwickelt. Die Ursprünge reichen zurück bis zur "Hebammenkunst" bei Platon und dem klinischen Interview der Psychiatrie. Sie ist weltweit im Einsatz in der Grundlagenforschung der Kognitionspsychologie und der Lernforschung (Clement, 2000). Die Methode besteht aus dem kreativen und kritischen Einsatz der Beobachtung, der Befragung, des Experiments und des Tests. Interview soll ein Medium der dynamisch-dialektischen Psychologie sein (siehe Abbildung 1). Abbildung 1: Forschungsmethodische Bausteine des flexiblen Interviews Abbildung 1 illustriert die Vielfalt und die Dynamik des flexiblen Interviews. Die Psychologin oder die Pädagogin können je nach Situation, Aufgabe, Interaktion und der Operationen die Wahl der Methoden bestimmen. In der Genfer Schule wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass die Flexibilität der Methode in der Psychologie, der 4 Sozialpsychologie und der Pädagogik eine Notwendigkeit ist. Diese These wurde von behavioristischen oder positivistischen Forschungstraditionen immer wieder bestritten (Piaget, 1976). Diese Website bietet allgemeine Informationen und Übungen an. Sie enthält vertiefende Aufsätze zur pädagogisch-psychologischen Arbeit, insbesondere zur Erforschung und Förderung des logisch-mathematischen Denkens. Sie lädt zu systemischen Perspektivenwechseln in der Psychologie und der Pädagogik ein (Bronfenbrenner, 1993). Personen sind Subjekte ihrer Forschungen und ihrer Lernprozesse. Ausgehend von Proust erlaubt die Methode, dass man in sich selber lesen kann (orig. „(...) le moyen de lire en eux-mêmes“ (Proust, 1990, p.338). Das flexible Interview (FI) öffnet den Unterricht für alle, es unterstützt die Prozess- und die Handlungsorientierung, es optimiert die Einsicht der Lehrpersonen in Denkwege der Kinder, und es macht neue Dimensionen der sozialen Beziehungen und der Rollen verständlich. Die Methode erweist sich bei schweren Lern-, Verhaltens- und Befindlichkeitsstörungen als Türöffner und kreative Starthilfe für Projekte und Förderprogramme. Wirkungsstudien belegen die Erfolge seit mehreren Jahrzenten, so auch beim Konzept der 'cognitive acceleration'. Dieser Ansatz integriert Piaget und Wygotski (siehe auch Kognitive Akzeleration). Ich danke Gianfranco Arrigo, Nicola Cuomo, Jean-Jacques Ducret, Herbert P. Ginsburg, Alexander Grob, Priska Hagmann, Alice Imola, Michel Perraudeau, Leslie Smith, Stuart Twiss, Erich Ch. Wittmann, Gerald Wittmann sowie den Schulischen Heilpädagoginnen und den Schulpsychologen für die Anregungen und die Unterstützung. Möge die Zusammenarbeit dazu beitragen, dass das flexible Interview als Kulturgut Psychologie und Pädagogik bereichert. Ebenso danke ich der Fondation Jean Piaget für die Fotografien. 2 ABC des flexiblen Interviews Der Begriff des flexiblen Interviews ist im englischsprachigen Raum geläufig. Er ist gleichbedeutend mit dem Begriff der revidierten klinischen oder der kritischen Methode. Die Methode wird der qualitativen Sozialforschung zugeordnet. 5 Die kritische Methode der Genfer Schule ist die Grundlage für entwicklungspsychologische und für erkenntnistheoretische Forschungen. In der Pädagogik kann mit ihr das dialogische Lernen gefördert und dynamisiert werden. Mit der kritischen Methode können aber auch schulische Lehr- und Lernprozesse erforscht werden (Bang, 1966; Ducret, 2004). Abb. 2: Amazonas Der Einfluss des FI in der Schule kann verglichen werden mit einem Bild des Amazonas, das D'Ambrosio (2004, siehe Abb. 2) im Zusammenhang mit der Ethnomathematik vorgestellt hat. Der Lauf der Dinge der Schule wird durch Zuflüsse verändert. Das bedeutet für das ABC des FI, dass die kritische Methode Psychologen wie Pädagoginnen in den Bildungsprozess integrieren möchte, vergleichbar mit einem Fluss, in den Seitenarme einmünden. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass das FI Vorgänger in der Antike hat, wie z.B. den Menon-Dialog. Darin beschrieb Platon in der sogenannten geometrischen Episode, wie Sokrates mit einem Sklaven über die Verdoppelung der Quadratfläche sprach, ohne dass er ihn dabei belehrte. In Planton's Akademie war dieser Dialog ein Lehr- und Übungsstück der sogenannten Hebammenkunst (Merkelbach, 1988). Auch in der fernöstlichen Weisheitsliteratur findet man Texte, die das Lernen dem Belehren vorziehen, wie z.B. im Shobogenzo. Charakteristisch an allen Beispielen ist, dass Erkenntnis durch Dialog sowie durch Betrachtung von Erfahrung erzeugt wird. Es geht nicht um Rechthaben, sondern um Einsicht (Merkelbach, 1988). Piaget's (1976) Theorie 6 der Intelligenz betont die Evolution, die Wechselwirkung mit der Umwelt und das Denken und Tun des Subjekts. Intelligenz ist nicht eine Summe von Variablen, sondern ein permanentes, schöpferisches Konstruieren. Das flexible Interview, Sokrates' Hebammenkunst und Wygotski's (1986) Methoden gehören zu jenen Techniken und Auffassungen, welche nach Wittgenstein (1980) als Sprachspiele (language-game) bezeichnet werden können. Das ABC des FI bietet eine Einführung in die Technik, es differenziert den Aspekt der CoKonstruktion und es gibt Hinweise auf dialogische Bildungsprozesse. 3 Über dieses Tool Dieses Tool ist in Fortbildungen von Schulpsychologinnen und Schulpsychologen, Primarlehrpersonen sowie schulischen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen seit über 15 Jahren eingesetzt und differenziert worden. Als Methode ist das FI erkenntnistheoretisch, diagnostisch und praktisch wegweisend (Fetz, 1978). Im Anschluss an die Grundlagenforschungen der Genfer Schule wurde das FI zur Erforschung von Verständnisprozessen in den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen angewendet. Gleichzeitig stieg die Bedeutung des FI in der fachdidaktischen Forschung und Entwicklung (Morgado & Parrat-Dayan, 2002). Die Erfahrungen belegten, dass die Methode polyvalent ist. Montada (1998) brachte dies auf den Punkt, als er 1982 in der ersten Ausgabe der "Entwicklungspsychologie" schrieb: Im Lichte dieser Überlegungen ist Piagets klinische Methode der Befragung von Kindern zu Phänomenen und Problemen, die von ihm als eine Methode der Diagnose des Strukturniveaus seiner Probanden verstanden wird, in Wahrheit bereits die ideale Methode des Unterrichtens: Probleme werden gestellt, aber keine Lösungen durchgesetzt und auf oberflächlichem Niveau automatisiert. (S. 559) Wittmann (1982) leistete Pionierarbeit, als er die Methode im deutschsprachigen Raum in die Ausbildung der Lehrpersonen in der Fachdidaktik der Mathematik aufnahm und als Standard etablierte. 7 Das Tool erläutert methodische Bausteine und lädt zu einem exemplarischen Rollenspiel ein, in dem Sie konkrete Erfahrungen mit dieser Methode machen können. Übungen sind in dreierlei Hinsicht notwendig sind. Einerseits bewegen sich Forschungsübungen im individualpsychologischen Bereich. Dabei sollen Denkwege und deren Entwicklung rekonstruiert werden. Andererseits müssen Forschungen gruppale bzw. interaktionistische Fragen erörtern, insofern sie die Bedeutung der Kommunikation, der Rolle und der Kooperation einsichtig machen wollen (Steinbring, 2009). Die dritte Hinsicht geht davon aus, dass pädagogisch-didaktisches Wirken immer in Wechselwirkung zwischen dem Individuellen, dem Gruppalen und der Aufgabe in der jeweiligen Fachdisziplin aufgefasst werden sollte. Man muss sich Zeit geben für das Lernen aus Erfahrung, um die Wirkung dieser Methode in der Praxis entfalten zu können. Aktuelle Projekte arbeiteten mit Zeitbudget zwischen 612 Monaten. Workshops dienen der Einführung. Die Vertiefung erreicht man am besten über berufsbegleitende Fortbildungen, in denen sich Gruppen während eines Jahres im Rhythmus von 14 Tagen für 2.5 Stunden treffen (vgl. Steinberg et al., 2004). Abb. 3: Das flexible Interview als Unterrichts– und Forschungsmethode 4 Gutes Interviewen - Bausteine Zur Einführung in die Methode haben wir die Hinweise und den didaktischen Aufbau von Ginsburg (1987) verwendet. Auf den verlinkten Seiten werden fünf Dimensionen erläutert. Sie sind verankert im Erkennen, im Ethos und im Handeln (Empirie). Zur Vertiefung wird auf Inhelder, Sinclair & Bovet (1974), auf Wittmann (1982) und auf Inhelder & de Caprona (1992) verwiesen. Tipp: Halten Sie sich nicht kleinschrittig an diese Empfehlungen, versuchen Sie von Anfang an differenzierend und schöpferisch zu 8 arbeiten. Die wirkungsvollste Einführung besteht darin, dass man ein flexibles Interview vorbereitet, durchführt und auswertet - inhaltlich - methodisch - methodologisch. 4.1 Aufbau FI: Allgemeiner Rat Beginnen Sie Ihr flexibles Interview langsam und auf einem allseitig angenehmen Niveau. Behelfen Sie sich für anfängliche Fragen mit existierenden Tests. [z.B. Anamnesebögen] Erinnen Sie sich in der Nachbereitung an eigene Probleme oder Gefühle in der Testsituation [z.B. im Umgang mit dem Werkzeug, an die Beziehung zum Kind]. Machen Sie nur kurze Interviews und konzentrieren Sie sich auf eine begrenzte Menge von Material. Abb. 4: Pierre Gréco während eines Interviews Flexibles Interview mit zwei Knaben - ein Beispiel 4.2 Aufbau FI: Beziehung herstellen Die Situation sollte ruhig und frei von Ablenkungen sein. Sie sollten der/die einzige anwesende Erwachsene sein. Verbringen Sie vor dem Interview etwas Zeit mit dem Kind. 9 Beruhigen Sie das Kind vor Beginn des Interviews mit einem auflockernden Gespräch oder beschäftigen Sie es mit Aktivitäten wie Zeichnen. [Es soll sich entspannen und öffnen können.] Wenn das Kind nicht zu Ihnen reden möchte, holen Sie ein anderes Kind und lassen Sie die beiden als Team arbeiten. [Hängt von Setting und Auftrag ab.] Erklären Sie auf ehrliche Art und Weise den Zweck des Interviews. Das Kind sollte dabei folgendes verstehen können: "Ich möchte gern verstehen, wie Du Mathematikaufgaben löst. So kann ich vielleicht [Deine Stärken und Schwächen oder auch] den Grund Deiner Probleme herausfinden und Dir helfen, in Zukunft besser zu lernen." Zeigen Sie sich warmherzig und unterstützend. Belohnen Sie Anstrengungen. Kritisieren Sie falsche Antworten nicht. [Stellen Sie keine Suggestivfragen, vermeiden Sie Belehrungen.] 4.3 Aufbau FI: Denkprozesse aufdecken Beginnen Sie damit, das Verhalten des Kindes im Klassenraum zu beobachten. Erfragen Sie, welcher Lehrstoff im Klassenraum momentan behandelt wird. Bitten Sie das Kind, sich an den gegenwärtig in der Klasse gelehrten Stoff zu ersinnen und einige Probleme davon zu lösen. "Welche Art von Addition bearbeitet Ihr im Moment?" "Was hat Dir Dein Lehrer heute in Mathe gezeigt?" Fordern Sie das Kind dazu auf, Ihnen die Gebiete zu nennen, in denen es Schwierigkeiten hat. "Mit was hast Du im Moment Probleme?" "Wieso glaubst Du, dass Du damit Mühe hast?" [Hefte, Bücher, Prüfungsblätter, Situationen des Unterrichts z.B. als Diskussionsgrundlage.] Stellen Sie die Aufgaben so offen wie möglich. "Wie gehst Du mit diesem Problem um? [Was machst Du, wenn Du merkst, dass Du wieder auf Schwierigkeiten stösst? Was denkst Du, fühlst Du dann?]" 10 Erfragen Sie Informationen, welche die Strategien, mit denen das Kind Probleme löst, zu erfassen versuchen. "Wie hast Du das gemacht? Auf welchem Weg hast Du diese Antwort bekommen? Kannst Du mir mehr darüber erzählen?" Nicken, lächeln, pausieren Sie oder sagen Sie "uhmm", wenn Sie das Kind zu weiteren Mitteilungen bewegen möchten. [Lassen Sie das Kind entscheiden, worüber es weiterreden will oder ob es das Thema wechseln möchte.] Wiederholen Sie die letzte Aussage des Kindes, damit es diese evtl. noch genauer darlegt. Folgen Sie den Denkprozessen des Kindes bis zur letzten Antwort, damit Sie sicher sind, seine Strategien verstanden zu haben. Legen Sie dem Kind keine Worte in den Mund. [Keine Suggestivfragen.] [Stellen Sie die Fragen entsprechend dem sprachlichen Niveau des Kindes.] 4.4 Aufbau FI: Beschreiben, wie das Denken vor sich geht Machen Sie sich eine Vorstellung davon, wie das Kind bestimmte Probleme löst. Bereiten Sie dann einige Aufgaben vor, um Ihre Hypothesen zu testen. Versuchen Sie, solche Aufgaben zu stellen, die das Kind mit verschiedenen Strategien lösen kann. Die Aufgaben sollten von einem allgemeinen Niveau ("Was tust Du mit diesen Zahlen?") zu einem spezifischen ("Kannst Du diese im Kopf addieren?") fortschreiten. [Das Kind soll eine Rangliste mit leichten, mittleren und schwierigen Aufgaben machen.] Die Aufgaben sollten anfangs leicht sein, dann stetig schwieriger werden. [Sie sollten verschiedene Prozeduren, Strategien und Sachgebiete ansprechen. Das Kind soll die Reihenfolge der Aufgabenlösungen selber herstellen.] 11 4.5 Aufbau FI: Kompetenz beurteilen Verstärken Sie Bemühungen des Kindes und zeigen Sie Interesse für seine Arbeit. Kritisieren und drängen Sie nicht, wenn das Kind Mühe hat. Machen Sie eine Pause oder wechseln Sie die Aufgaben, wenn das Kind ermüdet. Benützen Sie ein sprachliches Niveau, das der Verständnisfähigkeit des Kindes entspricht. Variieren Sie die Wortwahl, wenn das Kind die Frage nicht versteht. "Kannst Du subtrahieren? Kannst Du abziehen?" Wenn das Kind dem Lehrer nachredet oder einen Text auswendig nacherzählt, bitten Sie es, die Antwort in seinen Worten zu wiederholen. "Kannst Du das mit Deinen eigenen Worten sagen?" Fordern Sie die Antwort des Kindes heraus, um den Grad seiner Überzeugung zu bestimmen. "Wie kann das wahr sein? Johnny tut es nicht auf diese Art." 4.6 Flexible Interviews erweitern den Handlungsspielraum von Lehrpersonen Konventionelle Testmethoden oder das Beobachten allein führen auch die Pädagogik rasch an Grenzen der Erkenntnis. Flexible Interviews in Gruppen schaffen offene, operative und erkenntnisorientierte Unterrichtssituationen. Die Methode erzeugt Einsichten bei den Lernenden und den Lehrenden, Einsichten in das Thema und Einsichten in die Methode selber. Wer mit Kindern arbeitet oder spielt, kann diese Prozesse ohne Umschweife erfahren. Diese Webseite enthält theoretische und praktische Beispiele zu diesem Thema. Spiele eignen sich ganz besonders, um den Nutzen der Methode für die Pädagogik und die Fachdidaktik zu erkunden und zu exemplifizieren. Nachdenken über Bildung wird der pragmatischen Erkenntnistheorie zugeordnet (Rorty, 1987). „Unter Umständen sagt man einfach etwas – man leistet keinen Forschungsbeitrag, sondern man partizipiert an einem Gespräch“ (ebd., S. 402). Ein flexibles Interview zu machen, ist operative Partizipation: "Vamos caminando", man 12 macht sich auf den Weg mit dieser Hebammenkunst. So entwickeln sich Pädagoginnen und Pädagogen auch zu bildenden Philosophen. Die Verhältnisse ähneln dem MenonDialog. Bildende Philosophie wäre der Dialog zwischen Sokrates und Menon. Das wäre die theoretische Konversation. Das Pädagogische ist dann die echte Auseinandersetzung mit einer Geometrieaufgabe zwischen Sokrates und dem Knaben. Der operative Dialog würde in einem Text literarisch rekonstituiert. Nach Derrida (2014) symbolisieren die Texte Sokrates in Platon und Platon in Sokrates angesichts einer philosophischen Aufgabe. Bildung erscheint als einzigartiger, existenzieller Akt zwischen Personen und einer Sache. 5 Die Methode des flexiblen Interviews im Rollenspiel üben Das zu spielende Ereignis: Eine Person hat soeben eine Rechenprobe absolviert. (Man wähle dazu niveauorientiert einzelne Aufgaben aus und lasse sie während kurzer Zeit lösen. Es spielt keine Rolle, ob sie fertig oder richtig sind). Die Person berichtet einem schulischen Heilpädagogen über die kurze Rechenprobe. Sie wählt eine Aufgabe aus, über die sie gern genauer reden möchte. Der schulische Heilpädagoge wendet die Technik des flexiblen Interviews an. Dadurch will er eine Vorstellung darüber gewinnen, was die Person aus der Rechenaufgabe gemacht hat und wie es ihr dabei ergangen ist. Eine Beobachterin nimmt auf, wie sich die Gesprächssituation entwickelt. Es lohnt sich, wenn man die Szene videographiert. Die zu spielende Situation: Arbeitstisch, Stühle, Schreibmaterial, Rechenaufgabe Rollenaufteilung : Die Gruppe bestimmt, wer Interpret oder Interpretin der Person und des schulischen Heilpädagogen ist und wer die Beobachtungsaufgabe löst. Das Rollenspiel: Die Gruppe gewöhnt sich in ein paar Minuten an die Rollen. Danach beginnt die Inszenierung. Evaluation : In der Spielgruppe (freiwillig) Die Schauspieler und der Beobachter tauschen aus, was sie erlebt, gefühlt und gedacht haben. 13 In der Lerngruppe Austausch der Rollenerfahrungen nach den obigen Kriterien, diesmal spartenweise. Zuerst berichten die Rechner, dann die schulischen Heilpädagogen, zuletzt die Beobachterinnen. U.U. kann man auf die Schlüsselszenen der Kurzfilme zurückgreifen. 6 Erfahrungen und Kenntnisse vertiefen Der Wert und die Wirkung des flexiblen Interviews entfalten sich aufgrund von Erfahrungen und Lernprozessen. Die Methode wurde von den Anfängen ums Jahr 1926 an kritisch hinterfragt und differenziert. Nach Bliss (2010) war der Forschungsalltag in Genf wie folgt organisiert. Die Forscherinnen und Forscher (auch Studierende vom ersten Semester an) besuchten jeden Nachmittag! von 13.30-15.30 Uhr Schulen, um Kinder zu interviewen und mit ihnen zusammenarbeiten zu können. Der Donnerstagnachmittag war davon ausgenommen. Dieser direkte Zugang zum Testen innerhalb der Schule und die fortlaufende Überprüfung sowie Verfeinerung der Forschung wurden ergänzt durch den Austausch an der Universität. Piaget und Inhelder trafen alle Forschenden immer montags von acht bis neun Uhr. Dort wurden die Forschungserfahrungen gestaffelt ausgewertet. Danach wurden Forschungsprojekte besprochen. Das flexible Interview wird weltweit in der Grundlagenforschung der Kognitionspsychologie, in der Erkenntnistheorie und der Lernforschung verwendet. Drei Verwendungszwecke können skizziert werden. Der erste nimmt das flexible Interview als Forschungsmethode im Bereich der genetischen Erkenntnistheorie (siehe Exkurs). Der zweite bedient sich des flexiblen Interviews in der dynamischen Diagnostik. Der dritte setzt das flexible Interview in pädagogischen Situationen ein. Dabei werden die fachlichen Kompetenzen der Beteiligten nachhaltig, dialogisch und niveaubewusst differenziert. Lesen Sie dazu eine eindrückliche Umschreibung von Bärbel Inhelder (1963, S. 262), Übersetzung d. Verf. siehe unten S. 15. 14 Zum ersten Verwendungszweck gönnen wir uns einen philosophisch-poetischen Exkurs zur Frage, was denn Erkenntnis sei und wie wir sie erlangen. Es handelt sich um den Aphorismus Nr. 324 aus *Die fröhliche Wissenschaft“ von Nietzsche (2006, S. 213). In media vita. - Nein! Das Leben hat mich nicht enttäuscht! Von Jahr zu Jahr finde ich es vielmehr wahrer, begehrenswerther und geheimnisvoller, - von jenem Tage an, wo der grosse Befreier über mich kam, jener Gedanke, dass das Leben ein Experiment des Erkennenden sein dürfe - und nicht eine Pflicht, nicht ein Verhängnis, nicht eine Betrügerei! - Und die Erkenntnis selber: mag sie für Andere etwas Anderes sein, zum Beispiel ein Ruhebett oder der Weg zu einem Ruhebett, oder eine Unterhaltung, oder ein Müssiggang, - für mich ist sie eine Welt der Gefahren und Siege, in der auch die heroischen Gefühle ihre Tanz- und Tummelplätze haben. "Das Leben ein Mittel der Erkenntnis" - mit diesem Grundsatze im Herzen kann man nicht nur tapfer, sondern sogar fröhlich leben und fröhlich lachen! Und wer verstünde überhaupt gut zu lachen und zu leben, der sich nicht vorerst auf Krieg und Sieg gut verstünde? Studierende der schulischen Heilpädagogik fragen oft, welche Rolle das flexible Interview im Unterricht denn spielen könne? Für Schulpsychologinnen und Schulpsychologen sind die flexiblen Interviews interessante qualitative Verfahren, doch wie passen sie in die von Faktoranalysen scheinbar verifizierten Modelle der Persönlichkeit? – Beginnen wir die Antwort mit dem Titel des Aphorismus 324. „In media vita“. Der Ablativ ist eine adverbiale Bestimmung auf Fragen des Woher, des Wovon, des Wo, des Wann, des Womit und des Wodurch. All das fängt der Titel ein, als das „in der Mitte des Lebens“. Der befreiende Gedanke ist nach Nietzsche: dass das Leben selber ein Experiment des Erkennenden sein darf. Es muss nicht nur Pflicht, Verhängnis und Betrügerei sein. Der grosse Befreier kann Pädagoginnen und Pädagogen zur Mitte des Schullebens führen. Er kann psychologischen Arbeits- und Beratungssituationen Auftrieb und Bedeutsamkeit geben, in dem das Experiment des Erkennenden durch befreiende Methoden gefördert wird. Das flexible Interview ist so ein Werkzeug, in der Psychologie wie in der Pädagogik. Das flexible Interview einzusetzen bedeutet, dass man vorwärts schreitet. Es bedeutet, dass man die Spekulationen verlässt, wie sie in Schulstunden „über das Leben“ angestellt werden. Man wählt eine Methode, um sich „in medias res“ zu begeben (Piaget, 1975). Paradoxerweise wird nun eingewendet, dass man bei Verwendung dieser Methode den Schulstoff (oder den Lehrstoff an den Hochschulen) nicht durchbringt, weil scheinbar zu 15 wenig Zeit zur Verfügung steht, um zum Kern der Lehrstoffe vorzudringen. Dem steht entgegen, dass man dank dieser Methode den Schulstoff und die Lernenden besser kennen lernt. Und welcher Pädagoge, welche Pädagogin, welcher Schulpsychologe und welche Schulpsychologin möchten sich dieser Erkenntnis entziehen? Bärbel Inhelder verfasste eine eindrückliche Umschreibung der Pragmatik des flexiblen Interviews (1963, S. 262). Sie bezieht sich sowohl auf die Forschung, als auch auf die Diagnostik und die Didaktik. Abb. 5: Bärbel Inhelder Foto von Jean Mohr, Genf La méthode clinique exige évidemment une pratique subtile et un ensemble de précautions. II faut éviter autant le danger de suggérer à l'enfant une direction de pensée qui n’est pas la sienne, que celui d'une interprétation naïve qui consisterait à attribuer une valeur totale et égale à tous ses propos. Procéder cliniquement signifie se débarrasser de toute attitude réaliste et interpréter les données en tant que signes relatifs : c’està-dire savoir organiser une expérience, poser des problèmes, conduire la conversation de façon à trancher entre plusieurs hypothèses, chercher à les contrôler tout en observant les faits qui peuvent dépasser ou contredire les cadres préconçus; et finalement rendre l'enfant actif en s'adaptant à chaque cas particulier sans perdre de vue les normes générales, suivre les sinuosités de sa pensée tout en la dirigeant vers les points cruciaux. La technique de la conversation clinique ne s'apprend pas du jour au lendemain; elle exige une longue préparation. C'est là peut-être l'obstacle principal à l'emploi de nos épreuves de diagnostic opératoire.1 1 Inhelder (1963, S. 262): Die klinische Methode erfordert natürlich eine subtile Praxis und eine Reihe von Vorsichtsmaßnahmen. Auf der einen Seite muss man es vermeiden, dem Kind fremde Denkrichtungen einzuflössen. Auf der andern Seite gilt es, naive Interpretationen zu vermeiden, welche darin bestehen, dass 16 Inhelder, Sinclair, Bovet (1974, S.35) präzisierten die Umschreibung: „La méthode clinique – plus significativement appelée „méthode d’exploration critique“ (…).“ Wenn Sie für ein Schulhaus oder für eine regionale Fachgruppe einen Workshop organisieren möchten, so können Sie sich direkt mit den Verantwortlichen der Weiterbildung in Verbindung setzen. Mail: Weiterbildung Für Kurzberatungen, Einführungskurse oder Supervisionen steht ein Abrufkurs aus dem Dienstleistungsangebot der HfH zur Verfügung. Link man all seine Äusserungen mit einem undifferenzierten Gesamturteil versieht. Das klinische Vorgehen bedeutet, dass man sämtliche Einstellungen des Realismus (Präzisierung siehe unten, Anm. d. Verf.) los wird und die Daten als relative Zeichen interpretiert. Es bedeutet, dass man ein Experiment organisieren kann, dass man Probleme stellen kann, dass man ein Gespräch so leiten kann, dass zwischen mehreren Hypothesen unterschieden werden kann, dass man versucht, die Hypothesen zu kontrollieren, indem man gleichzeitig die Tatsachen beobachtet, welche die geplanten Rahmenbedingungen überschreiten oder ihnen widersprechen; schliesslich soll man das Kind zum Aktiv-Sein bringen, indem man sich auf jedes persönlich einstellt, ohne dass man die allgemeinen Regeln aus den Augen verliert. Man soll den Denkwegen des Kindes folgen, indem man sie auf die entscheidenden Punkte lenkt. Die Technik der klinischen Methode erwirbt man nicht von heute auf morgen; sie erfordert eine lange Vorbereitung. Vielleicht liegt darin ein Haupthindernis für den Einsatz unserer operativen Diagnostik. (Übers. v. Verf.) Nach Fetz (1988) wird unter Realismus die Annahme verstanden, dass Konstrukte des menschlichen Geistes mit Formen des Wirklichen selber identifiziert werden. Lassen sich die natürlichen Zahlen noch als abstrakte Wiedergabe der im Realen angetroffenen numerischen Verhältnisse auffassen, so stellt die Algebra eine Disziplin dar, die auf freien Setzungen und Kombinationen beruht. Aber diese frei von unserem Geist konstruierte Wissenschaft führte nicht von der Wirklichkeit weg, sondern liess diese tiefer erfassen. (ebd., S. 72) Die Vermutung des vorherrschenden Realismus kommt besonders im Umgang mit Anschauungsmitteln zum Tragen. Der Realismus geistert in allerhand Diskursen über „Abbildung“ oder über den in Anschauungsmitteln innewohnenden Strukturen herum. Spätestens beim Scheitern der Übermittlung von Inhalten mit Hilfe von Anschauungsmitteln sollte klar werden, dass der Realismus ein erkenntnistheoretisches Hindernis ist. 17 7 Geometrie des FI: Erfahrungen vertiefen Flexible Interviews kann man an beliebigen Gegenständen und mit Personen jeglichen Alters durchzuführen. Erinnern Sie dabei das Dreieck: Interviewende—Forschungsgegenstand—Interviewte. Das ist die Grundstruktur dieser Situation (siehe Abb. 6 unten). Thema Forschungsgegenstand Interviewende Interviewte Flexibles Interview Abbildung 6: Die Geometrie des flexiblen Interviews Am Anfang ist es normal, dass man sich in der einen oder andern Ecke des Dreiecks „verliert“, man bleibt bei sich hängen, man verliert sich in den Gedanken des Andern, oder man ist mit dem Inhalt oder dem Forschungsgegenstand verstrickt. Wollen Sie Ihre Kompetenzen ausbauen und differenzieren, dann sollte auch Fachliteratur verwendet werden. Die Forschungstradition ist komplex und reichhaltig. Entscheiden Sie sich für exemplarische Lernprozesse. So lernen Sie verschiedene Themen, die Differenzierung der Methode und zu guter Letzt den Nutzen des Flexiblen Interviews für den Unterricht kennen. 8 Das flexible Interview und die Forschung "Stets haben wir es mit derselben methodologischen Definition zu tun: Sage mir, wie man dich sucht, und ich sage dir, was du bist" (Bachelard, 1988, S.138). 18 Wie entwickeln sich das Erkennen und das Verständnis von Kindern und Jugendlichen? Welches sind die Obergrenzen der intellektuellen und moralischen Leistungsfähigkeit? Das waren Leitfragen von Piagets Intelligenzforschung. Damit waren auch die Inhalte, die Strukturen und die Funktionen intelligenten Verhaltens gemeint (siehe Ginsburg und Opper, 2004). Diese offene Definition von Intelligenz ähnelt in gewisser Weise dem mehrdimensionalen Ansatz von Gardner (....). Was hier beschäftigt, ist weniger die Vielfalt der Definitionen von Intelligenz als vielmehr die Art und Weise, wie geforscht worden ist. Die Methode besteht wie erwähnt aus der flexiblen Verwendung der Beobachtung, der Befragung, des Experiments und des Tests. Ginsburg und Opper (2004, S. 150f.) streichen vier Bausteine der Methode heraus: - Die Fragen des Versuchsleiters beziehen sich auf konkrete und vorliegende Gegenstände oder Ereignisse. - Das Kind kann die Antworten durch Manipulation der Gegenstände zum Ausdruck bringen. - Der Versuchsleiter kann Standpunkte des Kindes mit Gegenargumenten oder Gegenvorschlägen in Frage stellen. - Die Versuchsleiterin kann die Fragen fortlaufend verändern, so wie es die Situation erfordert. Die Methode will bedeutsame Erfahrungen ermöglichen, auf denen man in der psychologischen und der pädagogischen Arbeit aufbauen kann. Die Methode fördert die Prozessorientierung in der Pädagogik und leistet gleichzeitig wesentliche Beiträge für die qualitative Sozialforschung und die qualitative Entwicklungspsychologie (Mey, 2000; Kleining & Witt, 2001; Diriwächter & Valsiner, 2006). In den neuen Intelligence and Development Scales (IDS) wurde das flexible Interview im Untertest Denken Logisch-Mathematisch eingesetzt. Perraudeau (2002) hat den Einsatz der Methode in pädagogischen Settings systematisch dargestellt und weiter entwickelt. Perret-Clermont & Nicolet (2001) sowie PerretClermont, Nicolet & Schubauer-Leoni (2000) haben den Einfluss der Interaktion auf die 19 Entwicklung der Intelligenz eingehend erforscht. Diese Themen werden im Abschnitt FI & unterrichten erörtert. Mit Blick auf die klassischen und die neueren Forschungsbeiträge wird der Schluss gezogen, dass das flexible Interview eine Methode ist, mit der sowohl Individuen als auch Situationen erforscht werden können, in Anlehnung an ein kritisches, operatives und systemisches Paradigma (Bronfenbrenner, 1993). In diesem Abschnitt werden einzelne flexible Interviews zu spezifischen Themen der Denkentwicklung in der Mathematik vorgestellt. Eine Auswahl an flexiblen Interviews steht frei zur Verfügung. 8.1 Klassische flexible Interviews Die flexiblen Interviews befassen sich mit dem Verständnis verschiedenster Gegenstände wie z.B. Blumensträussen, Tieren, dem Uhrwerk, mit physikalischen und chemischen Sachverhalten, mit Mengen und mit Objekten der Geometrie sowie mit Regeln des sozialen Lebens. Die Genfer Schule hatte sich zum Ziel gesetzt, beschreiben und erklären zu können, wie sich die Einsicht in die immer komplexeren Objekte und Sachverhalte entwickelt. Dabei war klar, dass gesellschaftliche Zwänge und Schablonen das Individuum und dessen Erforschung entfremden können. Es handelt sich auch um die fortlaufende Suche nach Formen des Gleichgewichts und der Gegenseitigkeit (Reziprozität) in der Autonomie und der Mitverantwortung (siehe Piaget, 1976). Die kritische Methode der Genfer Schule ist die Grundlage für entwicklungspsychologische Forschungen und für erkenntnistheoretische Erfahrungen. Sie ist auch ein Medium in der Bildung, welche das Denken, das Operieren mit Gegenständen sowie die Kooperation auf einer dialogischen Grundlage entfalten möchte. Merkelbach (1988, S. 69) umschrieb das Wort "Philosophie" mit "Sehnsucht nach dem Wissen". Platons Texte waren nach Merkelbach (ebd., S. 6) "Übungsbücher für den 20 Gebrauch im Unterricht". Im Menon-Dialog beschrieb Platon in der sogenannten "geometrischen Episode" (ebd., S.6), wie Sokrates mit einem Sklaven über die Verdoppelung der Quadratfläche sprach, ohne dass er ihn dabei belehrte. Dieser Dialog wurde zum Lehrstück und Übungsstück der sogenannten Hebammenkunst. Ein Beispiel dieser Methode ist "Anouchka et l'inclusion des fleurs" (Klasseninklusion). Das Mädchen soll herausfinden, ob es in einem Blumenstrauss (Rosen und Nelken) mehr Rosen oder mehr Blumen hat. Der Film wird von der Fondation Jean Piaget zur Verfügung gestellt. Abb. 7: Blanchet & Valladao (1990): Maschinen und ihre Regulierung verstehen 8.2 Mathematisches Denken erforschen und fördern Im Zuge der Revision des Binet-Simon-Kramer Intelligenztests (Kramer, 1972) entschied die interdisziplinäre Projektgruppe, bestehend aus Fachpersonen aus Wissenschaft und Praxis der Psychologie und Heilpädagogik , ein neues Instrument zu schaffen. Eine Auswahl von Aufgaben des Kramer-Tests wurde in das neue Verfahren aufgenommen. 21 Die neu entwickelten Intelligence and Development Scales (IDS; Grob, Meyer & Hagmannvon Arx, 2009) liefern sowohl einen Intelligenzwert als auch eine Entwicklungsprofilanalyse für die Funktionsbereiche Kognition, Psychomotorik, SozialEmotionale Kompetenz, Mathematik, Sprache und Leistungsmotivation. In diesem Abschnitt werden Hinweise auf die Methodenfrage zum Funktionsbereich Mathematik mit dem Untertest Denken Logisch-Mathematisch gegeben. Die Methodenfrage ist in der Diagnostik des logisch-mathematischen Denkens von zentraler Bedeutung. Als Mitglied der Projektgruppe konzipierte ich die Wahl und die Entwicklung von Aufgaben zum Untertest Denken Logisch-Mathematisch. Es sollte gewährleistet werden, dass der psychologische Test dem Wesen der Mathematik und der Entwicklung des logisch-mathematischen Denkens möglichst nahe kommt. Dies geschieht durch die Kombination von bedeutsamen, offenen Aufgaben auf der einen Seite mit einer dynamischen Methode auf der andern Seite. Im Durchschnitt dauert diese Untersuchung 11 Minuten. Die Forschungen von Montada (1982) und Wittmann (1982) bestärkten die Wahl, das flexible Interview im Untertest Denken Logisch-Mathematisch zum Hauptinstrument zu nehmen. "Im Lichte dieser Überlegungen ist Piagets klinische Methode der Befragung von Kindern zu Phänomenen und Problemen, die von ihm als eine Methode der Diagnose des Strukturniveaus seiner Probanden verstanden wird, in Wahrheit bereits die ideale Methode des Unterrichtens: Probleme werden gestellt, aber keine Lösungen durchgesetzt und auf oberflächlichem Niveau automatisiert" (Montada, 1998, S. 559). Diese These umfasst die Kombination von Aufgaben und Methode im Setting der psychologischen Forschung und Diagnostik, sowie im Setting der Schule. Die Normierung der IDS lieferte für den Untertest sehr gute teststatistische Werte. Wie kann der dynamische, prozesshafte und ökosystemische Charakter der Methode des flexiblen Interviews bei der Erforschung und der Förderung des mathematischen Denkens und Handelns deutlicher zum Tragen gebracht werden? Dieser Frage wird in einem separaten Aufsatz nachgegangen, der eigens für die Klärung des Verwertungszusammenhangs der IDS verfasst worden ist: "Logisch-mathematisches Denken erforschen. Erkenntnistheoretische und pragmatische Erörterungen zum Untertest Denken Logisch-Mathematisch der IDS" (Meyer, 2009b). Der Aufsatz richtet sich an Fachleute, welche die Einsicht in psychodiagnostische, fachdidaktische und psycho22 pädagogische Zusammenhänge vertiefen möchten. Dabei wird von der These ausgegangen, dass psychodiagnostisch erzeugtes Expertenwissen in der Beratung und in der Schule erst zum Tragen kommen kann, wenn die Systempartner ein gemeinsames fachdidaktisch-pädagogisches Referenzschema aufbauen. Solange der folgende Satz nach (schul-) psychologischen oder kinderpsychiatrischen Abklärungen herumgeistert: "Der Befund ist interessant, doch was kann in der Schule damit angefangen werden", solange sind die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Systemen dysfunktional. Pädagogik, Schulpsychologie und Heilpädagogik sollten den Unterricht gemeinsam entwickeln lernen. Literatur Grob, A., Meyer, C.S. & Hagmann-von Arx, P. (2009). Die Intelligence and Development Scales (IDS). Bern: Hans Huber. Meyer, S. (2009b). Logisch-mathematisches Denken erforschen. Erkenntnistheoretische und pragmatische Erörterungen zum Untertest Denken Logisch-Mathematisch der IDS. (Link im Aufbau) 8.3 Das Zehnersystem verstehen Das dezimale Positionssystem fordert die mathematische Bildung heraus. Viele Lernende haben selbst auf der Sekundarstufe 1 beträchtliche Probleme damit (Ruflin, 2008). Die Grundlagenforschung bestätigte, dass z.B. die Einsicht in die Struktur der Zehnerbündelung nicht wie erwartet am Ende der zweiten Primarklasse ausgebildet ist. Drei flexible Interviews stehen zur Verfügung. Mit ihnen kann das Verständnis der Zehnerstruktur operativ und mündlich überprüft werden. Sie zeigen exemplarisch, was die Flexibilität der Methode bedeuten kann. Beim ersten Interview soll die Menge von 48 Bohnen herkömmlich je zu zehnt in Plastikbecher abgefüllt werden. Im Anschluss daran wird geprüft, ob die Person mit dem 23 Begriff des Zehners operiert oder ob sie noch das Einersystem verwendet. Siehe: Bündeln konkreter Mengen Das zweite Interview ist die sogenannte umgruppierte Bohnenaufgabe. Von den vier mit je 10 Bohnen gefüllten Bechern wird einer umgekippt, sodass 3 Becher mit je 10 sowie 18 lose Bohnen auf dem Tisch liegen. Studien zeigten, dass diese Aufgabe höhere Anforderungen (Stichwort: Zahlbegriff, Invarianz, Strukturierung) stellt. Siehe: Umgruppierte Bohnenaufgabe Beim dritten Interview geht es darum, dass Lernende Mengen zwischen 70 und 120 Chips oder Plättchen bekommen und schätzen sollen, wie viele es sind. In einem zweiten Schritt wird untersucht, ob die Kinder noch mit dem Einersystem zählen oder den Begriff des Zehners verwenden. Siehe: 200 Chips strukturieren Z/E Weitere flexible Interviews können im Rahmen von Beratungen oder Weiterbildungen kennen gelernt und erworben werden. 8.4 Bruchzahlen verstehen Sieben flexible Interviews stehen bereit, mit denen die Einsicht in Bruchzahlen im Zusammenhang mit geometrischen Modellen erforscht werden kann. Es handelt sich um vorbereitete offene Aufgaben, welche in Explorationsstudien an rund 200 Kindern (Durchschnittsalter 10;8 Jahre, Standardabweichung 3;5 Jahre) durch Studierende der HfH erprobt worden sind. Zum flexiblen Interview Nr. 1, Bruchzahlen und Zahlenstrahl, liegt eine Auswertung vor, welche als Poster eingesehen werden kann. Die Auswertungen der andern Interviews sind in Bearbeitung. 24 Abbildung 8: Die 7 flexiblen Interviews zum Verständnis der Bruchzahlen Abbildung 8 gibt einen Überblick über die sieben flexiblen Interviews. Es ist ersichtlich, dass die Interviews 1 bis 4 leicht bis mittelschwer sind. Die Interviews 5 bis 7 wurden nur noch von 20 % der Kinder der Stichprobe gelöst. Mit grosser Wahrscheinlichkeit bildet die Fähigkeit zum multiplikativen Denken und Strukturieren der geometrischen Modelle eine Niveaustufe. Die Interviews können vom Kindergarten bis zur Sekundarstufe 1 eingesetzt werden. Link zum Ueberblick mit Angaben zu den Schwierigkeitsgraden. 25 Thema und Testvorlagen: 1 Bruchzahlen und Zahlenstrahl (siehe Poster, englisch) 2 Verdopple eineinhalb auf dem Zahlenstrahl 3 Was ist ein Viertel? Würfelmodell 4 Was ist ein Viertel? Zeichne im Quadrat 5 Quadratfläche von einem halben Meter Seitenlänge berechnen (Symbolisch) 6 Würfelvolumen vergleichen (Enaktiv) 7 Was ist ein Achtel? (Symbolisch am Würfelmodell) 8 Was ist ein Vierundsechzigstel (Symbolisch am Würfelmodell) Der Aufsatz von Heinrich Winter (o.J.) ist eine lesenswerte Einführung ins Thema. Der Artikel von Gerald Wittmann (2006)"Grundvorstellungen zu Bruchzahlen – auch für leistungsschwache Schüler?" bietet wichtige Differenzierungen. Die Erfahrungen mit der Didaktik des Bruchrechnens zeigen, dass es fragwürdig ist zu glauben, man könne Kindern die Einsicht in Bruchzahlen mit didaktischen Hilfsmitteln "spenden". Es braucht den entwicklungspsychologischen Blick genauso wie die Inhaltsanalyse des Anschauungsmaterials und der mathematischen Bezüge. Weiter gilt: je wirkungsvoller der Geometrieunterricht ist, desto entwickelter sind die Zahlentheorien und Operationsverständnisse der Lernenden. Mehr dazu erfahren Sie in Pflichtmodulen oder in Wahlmodulen der HfH. 9 Das flexible Interview und das Unterrichten Flexible Interviews kommen in der dialogischen Förderdiagnostik und in der Prozessbegleitung während des Unterrichts zum Einsatz (siehe Hengartner, 1999; Mast & Ginsburg, 2010). Skepsis ist angebracht gegenüber Projekten, in denen 26 Entwicklungspsychologie derart mit Fachdidaktik verknüpft wird, dass ein starres, kleinschrittiges und niveauorientiertes Programm entsteht (Freudenthal, 1977, 1991; Fuson et al., 2010; Clement & Sarama, 2009). In Anlehnung an Wygotski (1986) steht nicht das aktuelle Niveau im Zentrum des Interesses sondern die maximal möglichen Handlungs- und Denkoperationen. - Die Methode ist etwas Ähnliches wie die Sprachspiele bei Wittgenstein (1980). Die genetisch-systemische Entwicklungspsychologie unterstützt die didaktische Analyse, auf die jeder Unterricht angewiesen bleibt (Klafki, 1996; Gruschka, 2002; Wittmann, 2002). In Anlehnung an Masschelein & Wimmer (1996) gilt, dass Pädagogik durch das flexible Interview theoretisch und pragmatisch genauso dekonstruiert wird, wie die Psychologie im Arbeitsfeld und den Zwischenräumen der pädagogischen Praxis dekonstruiert werden muss. Abb. 9: Lernen und Entwicklung - extreme Pole (Tanner, 1978, zitiert nach Adey & Shayer, 1994, S.5) Die Abbildung 9 zeigt, dass das flexible Interview zu einem breiten Band von Interventionsmöglichkeiten passt. Gleichzeitig wird sichtbar, dass die Bedeutungen der eigentlichen Bildungsprozesse markante Unterschiede aufweisen. Sie reichen vom Lernen als konditionierter Manipulation bis hin zur ko-konstruktiven Entwicklung autonomer Subjekte. An der HfH machten Studierende eine Explorationsstudie mit flexiblen Interviews zum Thema der Bruchzahlen (siehe Bruchzahlen verstehen) machen. In Praxisprojekten werden flexible Interviews als Forschungsmethoden eingesetzt. Christoph Linsi, Schulischer Heilpädagoge, kam in seinem Unterrichtsprojekt zu 27 folgendem Schluss: "Eine gute Ergänzung dazu (gemeint sind standardisierte Tests, Anm. d.Verf.) sind die flexiblen Interviews, die weit vertieftere Informationen über den Stand der mathematischen Denkprozesse der Lernenden liefern als die obengenannten Tests" (2009, S. 60). Grundsätzlich kann jeder Gegenstand der Bildung mit der Methode des flexiblen Interviews untersucht werden. Sie ist ein ausgezeichnetes Instrument, um Lernvoraussetzungen und didaktische Analysen in Echtzeit herzustellen. Sie untersucht auch Meinungen, Irrtümer und Vorurteile bei den Lernenden und den Lehrenden im Sinn der sokratischen Hebammenkunst (Koch, 2012). Die Projektmethode von Frey (2010) fördert die Entwicklung der dialogisch-kooperativen Prozesse im Unterricht mittel- und langfristig. Didaktische Arrangements wie der Klassenrat, mathematische Kolloquien, Schreibkonferenzen, Experimente in den Naturwissenschaften, ein Sitzkreis oder einfach ein Znünikreis bieten ausgezeichnete Möglichkeiten, um die Kompetenzen, die Sozialisation und die Autonomie zu fördern. Das flexible Interview ist in diesem Fall eine Methode der Prozessbegleitung. Der Unterricht wird bedeutsamer und tragfähiger, wenn Schulpsychologinnen und Schulpsychologen und Schulische Heilpädagogen die Regelklassenlehrpersonen bei Bedarf unterstützen (vgl. Mast & Ginsburg, 2010). Das flexible Interview wird zum natürlichen Bestandteil des Unterrichts, es stärkt die Triangulierung zwischen den Lehrenden, den Lernenden und der Lernaufgabe, es fördert das Teamteaching und die Prozessbegleitung. Flexible Interviews sollen den Unterricht autonomer, 'leichter' und gleichzeitig kohärenter machen (Piaget, 1999; Kamii & DeFries, 1993). 28 Abbildung 10: FI und die Handlungsaspekte Mathematik (Lehrplan 21) Die Abbildung 10 skizziert das Schema, in welchem die Handlungsaspekte der mathematischen Bildung (operieren und benennen; mathematisieren und darstellen; erforschen und argumentieren; siehe Lehrplan 21, Schweiz, https://www.lehrplan.ch/ ) mit den methodischen Dimensionen des flexiblen Interviews verknüpft werden. Die Verbindungen lassen sich nach Bedarf kombinieren. Auf der anderen Seite ist das flexible Interview eine kritische Methode (Ducret, 2004), weil sie das Verhalten der Lehrenden und der Prozessbegleiter im Hinblick auf die zentralen Absichten der jeweiligen Interviews sowie der jeweiligen Situation in Frage stellt und der Reflexion über Qualität zugänglich macht. 9.1 FI und das Unterrichten - Einleitung Viele Studien, in denen flexible Interviews eingesetzt werden, finden in Laborsituationen statt. Die so gewonnenen Einsichten sind klinische (Bliss, 2010). Grossen & Bell (2001) belegten, dass isolierte Definitionen von Aufgaben und experimentellen Inszenierungen 29 überwunden werden müssten. Das Sprachspiel der Forscher und das Sprachspiel des Kindes definieren Aufgaben unterschiedlich. Mehrdeutigkeit und Mehrperspektivität spielen sowohl im Labor wie auch im Klassenraum eine fundamentale Rolle. Das Kind mit besonderem Förderbedarf soll nicht länger bloss Objekt sein, das man integrieren sollte. Die Integration der Methode in den Unterricht ist deshalb ein anspruchsvolles, systemisches Projekt. Dies bedeutet, dass der Fokus nicht nur auf der Interaktion und der Kognition innerhalb einer Fachdisziplin liegt, sondern auf dem Unterricht als System, auf den Wechselwirkungen zwischen dem Thema, den Teilsystemen und dem Gesamtsystem. Anders formuliert geht es um den kritisch-konstruktiven Weg vom Klinischen über das Psychologische zum Pädagogischen. Abbildung 11: FI im Unterricht integrieren Abb. 11 illustriert den folgenden Sachverhalt. Wenn Schulpsychologen und Heilpädagogen flexible Interviews in den Unterricht integrieren, kann gewährleistet werden, dass die Diagnostik und die Prozessbegleitung ökologischer oder kohärenter im und zum Kontext der Pädagogik sind. Die Abbildung 11 zeigt die von Bliss (2010) geschilderte Forschungssituation der Genfer Schule. Die Forscher befanden sich zwar in der Schule, aber nicht im Unterricht. Ähnlich ist die Situation, wenn Schulpsychologen oder Heilpädagoginnen im Schulhaus arbeiten, 30 sich aber nicht in die Unterrichtssituation integrieren. Die Integration der Methode soll die pädagogische Arbeit dynamisieren. Die Methode unterstützt Pädagoginnen und Pädagogen im Unterricht wie folgt: - FI sind präparierte und wissenschaftlich erforschte, offene Aufgaben. - FI ermöglichen Lehrpersonen und Schulpsychologen, Unterrichtsprozesse integral zu erforschen und zu entwickeln. - FI fördern Kommunikation, Kooperation und Einsicht für alle Beteiligten. - FI sind Bausteine elaborierten Microteachings mit Breiten- und Tiefenwirkung. Die Methode bewirkt, dass die Schulpsychologie eine integrierte Ressource des Unterrichts und der Schuleinheiten wird. Jetzt arbeitet man gemeinsam an der Inklusion. Die Methode stärkt das Schulsystem, dass es sich besser auf die pädagogische Aufgabe anpassen kann (siehe UNO Behindertenrechtskonvention, Art. 24 Bildung). 9.2 FI mit einzelnen Schülerinnen und Schülern Die flexiblen Interviews in der Schule sind ein Türöffner zu den Denkwegen, den Motivationen und den Handlungsmöglichkeiten von Lernenden. Mit ein wenig Erfahrung kann man sie bei jedem Gegenstand anwenden. Die Moderationstechnik garantiert, dass die Pädagogin operativ bleibt. Das bedeutet, dass die Lernenden alles lesen, erzählen, schlussfolgern, imaginieren, schreiben, zeichnen, spielen, gestalten, zählen, messen und rechnen, was in ihren Möglichkeiten liegt. Für die Lehrpersonen wirkt die Methode wie ein Türöffner und ein Spiegel für dialogisches Unterrichten. Die Motivation der Kinder ist ein Indikator dafür, dass die Pädagogin oder der Schulpsychologe auf gutem Wege sind. Die pädagogischen oder psychologischen Fragestellungen bestimmen den Zweck von Interviews. Dazu einige Beispiele: 31 - Wollen Sie die Lerninteressen (Ressourcen) von Kindern klären, bevor ein Unterrichtsprojekt startet? - Wollen Sie während einer Unterrichtssequenz mit einem Kind einen Lösungsweg (auf-) klären? - Möchten Sie eine dynamische förderdiagnostische Standortbestimmung vornehmen, um eine abgeschlossene Lernsequenz zu überprüfen? Operative Einzelinterviews sollten in der Psychologie und in der Pädagogik ein Standard sein. Anna Rüegg, SHP, hat die Methode bei Reto eingesetzt, der bisher kaum für das Lesen motiviert werden konnte. Dieser Schüler hat eine diagnostizierte LeseRechtschreibschwäche und ein ADHS. Die kommentierte Textcollage "Das Lesen im Dialog erforschen und fördern" vermittelt einen Einblick in die Wirksamkeit des flexiblen Interviews. 9.3 FI mit Gruppen Die folgenden Abschnitte umschreiben den Einsatz von flexiblen Interviews von verschiedenen Seiten. 9.3.1 Einleitung I: Das flexible Interview – ein Hilfsmittel der dialogischen Pädagogik Die Unterscheidung zwischen dem flexiblen Interview als blosser dialogischen Methode und einer dialogischen Pädagogik wurde von Donaldo Macedo (2010) auf sehr prägnante Weise herausgearbeitet. Im folgenden Abschnitt wird ein übersetzter Auszug vorgestellt: (…) Unglücklicherweise verwandeln in den Vereinigten Staaten viele Pädagogen, die angeben sich an Freire zu orientieren, Freire‘s Begriff des Dialoges in eine Methode. Dabei verlieren sie die Tatsache aus den Augen, dass das fundamentale Ziel des 32 dialogischen Unterrichtens darin besteht, dass ein Prozess des Lernens und Wissens geschaffen wird, welcher das Theoretisieren der gemeinsamen Erfahrungen beständig in den dialogischen Prozess einbezieht. Einige Traditionen der kritischen Pädagogik lassen sich auf eine Überdosis an empirischen Zelebrationen ein. Diese enthalten eine reduktionistische Sicht von Identität. Dazu stellte Henry Giroux fest, dass solche Pädagogik Identität und Erfahrung losgelöst von der Problematik der Macht, der Verwaltung und der Geschichte belässt. Indem die Hinterlassenschaft und die Bedeutung ihrer jeweiligen Stimmen und Erfahrungen zu nachsichtig behandelt werden, gelingt es diesen Pädagogen oft nicht, über eine Ansicht von Unterscheidungen hinaus zu kommen. Sie polarisieren mit Gegensätzen und unkritischen Appellen für den erfahrungsbasierten Diskurs. Ich glaube, dass dies der Grund ist, weshalb einige von ihnen romantische pädagogische Weisen beschwören, als wäre das Diskutieren von gelebten Erfahrungen eine Geisteraustreibung, als wäre es ein Prozess des zu Wort Kommens. Gleichzeitig verweigern die Pädagogen, welche Freire‘s Begriff des dialogischen Lehrens fehlinterpretieren, die Verbindung der Erfahrungen mit der Kulturpolitik und der kritischen Demokratie. Dadurch reduziert sich ihre Pädagogik auf einen Narzissmus der Mittelklasse. Das verwandelt das dialogische Unterrichten einerseits in eine Methode, die auf Konversation abstützt und den Teilnehmenden einen gruppentherapeutischen Raum anbietet, in dem sie ihren Kummer abladen können. Andererseits erhält die Lehrperson als Moderator eine sichere pädagogische Zone, in der sie mit ihrer Klassen-Schuld umgehen kann. Nach bell hooks2 ist das ein widerwärtiger Prozess, weil er keinen Dissens verträgt. Freire erinnerte uns kurz und bündig: Was von diesen Pädagogen als dialogisch bezeichnet wird, ist ein Vorgang, welcher die wahre Natur des Dialoges als Prozess des Lernens und Wissens versteckt. … Fasst man Dialog als Prozess des Lernens und Wissens auf, so wird im Voraus eine Vorgabe festgelegt. Diese bezieht epistemologische Neugier über eben jene Elemente des Dialoges immer ein. (Macedo und Freire, 1995, 382). Das heisst, Dialog muss eine stets vorhandene Neugier nach dem Gegenstand des Wissens verlangen. Folglich ist Dialog nie ein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um bessere Einsicht in den Gegenstand des Wissens zu entwickeln. Dialog endet andernfalls als Konversation, die 2 bell hooks, Künstlername von Gloria Watkins, afroamerikanische Literaturwissenschaftlerin und Verfechterin feministischer und antirassistischer Ansätze [Anm. d. Übers.] 33 den individuellen Erfahrungen den Vorrang gibt. Ich konnte in vielen Situationen beobachten, dass das übertriebene Zelebrieren von eigenen Standpunkten und Geschichten die Möglichkeiten in den Schatten stellte, sich mit dem Erkenntnisobjekt auseinander zu setzen. Man verweigerte unmittelbares Scheitern, zum Beispiel mit Texten, welche ein Erkenntnisobjekt enthielten, besonders dann, wenn diese Texte Theorien enthielten. Freire argumentierte entschieden: Neugier gegenüber einem Erkenntnisobjekt und der Wille und die Offenheit sich mit theoretischen Schriften zu beschäftigen und darüber zu diskutieren sind fundamental. Ich plädiere aber nicht für eine übertriebene Zeremonie der Theorie. Wir müssen die Praxis der Theorie wegen nicht verneinen. Wer das tut, reduziert Theorie auf reine Wortgefechte oder intellektuelle Spielereien. Gleichfalls gilt, dass wer die Theorie der Praxis wegen verneint, wie es Brauch ist im Dialog als Konversation, der läuft Gefahr, dass er sich in einer beziehungslosen Praxis verliert. Aus diesem Grund setze ich mich nie für einen theoretischen Führungskult oder für eine Praxis ohne theoretisches Fundament ein. Ich befürworte die Einheit zwischen Theorie und Praxis. Um diese Einheit zu erlangen, benötigt man eine epistemologische Neugier – eine Neugier, welche im Dialog als Konversation oft fehlt. (Macedo und Freire, 1995, 382) Wenn Studierenden beides fehlt, nämlich die notwendige erkenntnistheoretische Neugier und eine gewisse Fröhlichkeit im Umgang mit dem zu studierenden Wissensgegenstand, dann ist es schwierig, Bedingungen zu schaffen, welche die epistemologische Neugier der Studierenden wachsen lassen, um die notwendigen intellektuellen Werkzeuge zu entwickeln, welche sie fähig machen, das Erkenntnisobjekt kennen und verstehen zu lernen. Wenn Studierende unfähig sind, ihre gelebten Erfahrungen in Wissen umzuwandeln und das schon erworbene Wissen als Prozess zu nutzen, um neues Wissen zu enthüllen, dann sind sie nie fähig, an einem Dialog als Prozess des Lernens und Wissens rigoros teilzunehmen. In Wahrheit, wie kann jemand dialogisieren, der im Voraus nichts über das Erkenntnisobjekt gelernt hat und auch keine epistemologische Neugier besitzt? (Macedo, 2011, S. 17 – 19; Übersetzung Stefan Meyer) 34 Literatur Cuomo, N. (1989). "Schwere Behinderungen" in der Schule. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt. Freire, P., Macedo, D. (1995). A Dialogue: Culture, Language, and Race. Harvard Educational Review, 65(3), 377-402. Macedo, D. (2011). Introduction. In P. Freire (Hrsg.), pedagogy of the oppressed (S. 1127). New York: Continuum International Publishing Group. 9.3.2 Einleitung II Flexible Interviews sollte man auch in Gruppen und Schulklassen umsetzen. Wittmann (1982) etablierte die Methode in der Lehrerbildung. Montada (1998, S. 559) sah darin die ideale Methode des Unterrichtens: „Probleme werden gestellt, aber keine Lösungen durchgesetzt und auf oberflächlichem Niveau automatisiert.“ Abb. 12: Jean Piaget beobachtet Kinder Ende der 60er Jahre © Fondation Jean Piaget 2012 35 Diese Erörterung ist so aufgebaut, dass Texte mit Schilderungen von Unterrichtsszenen abwechselnd mit theoretischen Überlegungen vorgestellt werden. Ausgegangen wird von der Erörterung zweier Unterrichtsbeobachtungen. Diese werden anschliessend mit den Möglichkeiten des flexiblen Interviews verknüpft. Es folgen Erörterungen zu flexiblen Interviews mit Gruppen: die Gruppe als Subjekt. Zudem werden in Anlehnung an Ginsburg (1998) methodische Hinweise gegeben. 9.3.3 Beispiel: Wertvolles Alltagsritual zur Förderung der Kommunikation, der Sozialisation und der Gesundheit: der Znünikreis Das Beispiel aus der Praxis zeigt, wie man die Kommunikation und die Sozialisation in Schulklassen auf einfache Weise fördern kann Yvonne Böhi Keller, SHP, Eva Schönenberger-Wyder, SHP, Stefan Meyer, Dozent HfH April, 2012 Vorbemerkung Die Schilderung und die Überlegungen zum Znünikreis entstanden nach einer praktischen Prüfung. Eva Schönenberger und Stefan Meyer beobachteten während zwei Lektionen die Unterrichtsführung von Yvonne Böhi. Dabei waren das überdurchschnittlich hohe Niveau der Kommunikation zwischen den Zweitklässlern und der Lehrperson sowie das positive, kooperative Klima aufgefallen. Während einer Einzelarbeit begaben sich Schüler zur Spitzmaschine, andere machten eine Art Rundgang, während dem sie sich von den arbeitenden Kollegen erklären liessen, woran sie gerade arbeiteten und wie sie die Aufgabe lösten. Während des Znünikreises vor der grossen Pause tauschten die Kinder Gedanken zur vorangegangenen Mathematiklektion aus. Sie thematisierten die Inhalte, die Schwierigkeiten und die Lösungswege. Sie bekräftigten, dass sie in der zweiten Lektion sehr gern in der Mathematik weiter arbeiten würden. Dies führte die Lehrperson in ein Dilemma, da sie für die zweite Lektion ein anderes Thema vorbereitet hatte. Die Schülerinnen und Schüler bestürmten die Lehrperson geradezu. Insgeheim hatten wir Experten gehofft, dass sie trotz der Prüfungssituation ihren Mut zusammen nähme, um 36 die Gunst dieser Stunde weiter zu nutzen. – Die Lehrperson hielt sich an das Programm und die Schüler auch. Neben den Bestnoten für das Lernklima, die Kommunikation und die Kooperation meldeten wir Yvonne Böhi zurück, dass wir noch nie eine derart einfache und schöne Unterrichtatmosphäre erleben konnten. Wir wollten von ihr wissen, was sie unternommen hatte, um eben diese Kultur in der Klasse aufzubauen. Ihre Antwort war verblüffend einfach und überzeugend: „Der Znünikreis.“ Yvonne Böhi Keller stellt dieses Ritual im folgenden Abschnitt vor. Handreichung für Schulbehörde und Schulleitung Die Handreichung regelt die ‚Klassenrunde mit Verpflegung‘ im Kanton St. Gallen unter Absatz 5.4 wie folgt: 2 Eine ausreichende und gesunde Ernährung der Kinder ist eine wichtige Voraussetzung, um ein konstantes Leistungsvermögen bis zum Mittag erbringen zu können. Im Sinne der Gesundheitserziehung wird empfohlen, eine Klassenrunde mit Verpflegung („Znünikreis“) einzuführen und mit den Kindern gemeinsam den Znüni im Schulzimmer zu essen. Damit können Einfluss auf die Pausenverpflegung der Kinder genommen und den Eltern entsprechende Empfehlungen abgegeben werden. Der Vormittag erhält ein zusätzliches Rhythmisierungselement, welches die Gemeinschaftsbildung unterstützt und beispielsweise für organisatorische Absprachen genutzt werden kann. Der Znünikreis in der Praxis Die Kinder erfuhren dieses Alltagsritual schon im Kindergarten. Zehn Minuten vor der grossen Pause setzen sich die Schülerinnen und Schüler der zweiten Klasse mit uns Lehrpersonen in den Kreis vor der Wandtafel. Alle packen ihren Znüni aus und beginnen zu essen. Es entstehen spontane Gespräche zwischen den Kindern und der Lehrperson über persönliche Gedanken und Ideen oder über Erfahrungen aus dem Unterricht. Die Gespräche befassten sich auch mit den Essgewohnheiten. Als Lehrperson stelle ich manchmal beiläufige Fragen zu den vorgängigen Unterrichtssituationen. Die Unbekümmertheit der Kinder lässt die Reflexion des Unterrichts auf eine ideale Weise zu. Die Erinnerung an die Unterrichtserfahrungen liefert wertvollste Hinweise für meine Pädagogik. 37 Reflexion Das Ritual bestimmt auch an der Schule, in der ich (Eva Schönenberger-Wyder) arbeite, den Rhythmus des Morgens. Der Znünikreis stiftet Beziehungen, vermittelt Zugehörigkeit, Identität und Vertrauen. Im Kindergarten werden viele Rituale gelebt. Sie helfen, die Zeit zu strukturieren, dem Leben eine Form und Orientierungshilfen zu geben. Die Integration in eine Gruppe wird erleichtert, Ängste und Unsicherheiten werden überwunden. Die Rituale haben auch in der Primarschule eine positive Wirkung. Krisen können überwunden werden, Verbindungen werden hergestellt, es entstehen neue Sichtweisen und es können neue Ziele gesetzt werden. Die Koppelung des Umgangs mit physiologischen Bedürfnissen und kulturellen Tätigkeiten ist ein äusserst wirksamer Erziehungs- und Bildungsfaktor (Cuomo, 2009). Es kann sein, dass im Lehrkörper da und dort Skepsis gegen den Znünikreis geäussert wird. In diesem Fall lohnt sich eine Einführung mit einer Probezeit. Die Rückmeldungen sind meistens positiv, auch deshalb, weil das Littering im Schulareal zurückgeht. Weitere Unterlagen: Cuomo, N. (2009). Il progetto “Filo di Arianna”. Verfügbar unter: http://www.xfragile.net/scheda.asp?idprod=275&idpadrerif=55 [16.05.2012] 9.3.4 Beispiel: Zwei unterschiedliche Schreibstunden In der einen Klasse führt der Lehrer schrittweise in die Aufgabe ein. Er verteilt Arbeitsblätter mit Stichworten und Erläuterungen zum Aufbau des Aufsatzes. Die Informationen sind auch an der Wandtafel festgehalten: Themenfindung, Einleitung, Hauptteil, Schluss. Gleichzeitig erinnert er an die wichtigsten Rechtschreibregeln, die gerade im Übungsunterricht behandelt worden sind. - Viele Schüler legen gleich los. Innert Kürze sind die Arbeitsblätter mit Schülertexten ausgefüllt. Etliche bleiben ohne Einfälle in den Bänken sitzen. Es beginnen aufwendige Lehrer-Schüler-Interaktionen. Einzelne Schüler schreiten durch die Tischreihen und vergleichen v.a. die Menge der Textproduktionen untereinander: „Ich habe schon fast alle Blätter beschrieben“, hört 38 man sie sagen. Alle gehen zur Lehrperson, um ihre Fortschritte zu melden, um zu fragen ob „das“ richtig sei oder um Schreibblockaden zu deponieren. In der andern Klasse wird die Aufgabe in einem gemeinsamen Klassengespräch erörtert. Die Gedanken und Formulierungen werden auf Zettel notiert und an die Wandtafel geheftet. Fragen zum Thema werden gründlich besprochen. Es entsteht eine umfangreiche Ideen-, Material- und Regelsammlung. Auf A3-Blättern kleben einige Kinder Bilder auf, die sie mündlich oder schriftlich kommentieren. Andere machen Zeichnungen von Elementen ihres Themas. Die Klasse teilt sich natürlich auf in Untergruppen. Diese besprechen die gemeinsamen Themen und Fragen weiter. Sie erstellen Gedankenkarten, Scripts und Textskizzen. Es ergeben sich auch intensive Diskussionen, über Form und Inhalt der Geschichten. Einig Kinder bearbeiten ihr Thema allein. Die Lehrperson unterstützt die Gruppen und die einzelnen Schüler je nach Bedarf bei der Differenzierung der Themen und der Schreibmöglichkeiten. Danach schreibt die Mehrzahl der Schüler motiviert an ihrem Text. Einige Schülerinnen schreiben nach dem gleichen, besprochenen Muster. Andere gehen eigene Schreibwege. In der ruhigen Schreibphase beobachtet man die Kinder bei Besuchen der Kameraden und Kameradinnen. Der Austausch dreht sich immer um die Frage: „Was passiert in deiner Geschichte?“ (Die Rechtschreibung ist noch kein Thema.) 2 Kommentar der Szenen Die erste Szene stellt das Verfassen von Texten als Umsetzung steriler Regeln dar: der Inhalt, die Struktur und die Formen. Schreiben kann, wer die Begabung hat, vorgegebene Schreibnormen am perfektesten nachzuahmen. Unsichere und hilflose Schreibende klammern sich ängstlich an die Regeln oder an die Hilfsmittel und wissen trotzdem nicht, was sie schreiben sollen. Sie vermuten, dass der richtige Text irgendwie in der Lehrperson existiert. Aus diesem Grund kontaktieren sie die Lehrperson während der Schreibphase unablässig. Sie versuchen mit allen Tricks und Methoden, den Text zur Zufriedenheit der Lehrperson hinzukriegen. Die Gespräche der Lehrperson kreisen mehr oder weniger um die Fragen, wie die Aufgabenblätter gelöst werden können, also um das Wie. Eine Schülerin, die wegen einer Behinderung noch nicht alphabetisiert wäre, würde in diesen Momenten als Belastung wahrgenommen. Sie würde u.U. vom Prozess suspendiert oder gar vom Unterricht separiert. 39 In der zweiten Szene sind die Prozesse vernetzter. Die Klasse, die Gruppen oder die Einzelnen erreichen eine hohe Themenzentrierung. Kommunikation, Script- und Textproduktion sind kreativ, verbindlich und dynamisch. Die Dialoge wären der Nährboden, auf dem das Was (der Inhalt) und das Wie (die Darstellung des Inhalts) wachsen. Die Gesprächsführung der Lehrperson ist von der Haltung und der Methodik des flexiblen Interviews „infiziert“ und getragen. Sie begleitet, provoziert und motiviert, so dass die Schüler wissen, was sie wie schreiben möchten. Die Lehrperson wäre eine Art Sokrates, der gar nie etwas geschrieben hat (man denke an dessen Hebammenkunst), während die Schülerinnen und Schüler in der Rolle von Platon sind, welche beseelt von den Inhalten und Gesprächen Texte herstellen. Die Schülerin, die wegen einer Behinderung noch nicht alphabetisiert wäre, würde in einer Gruppe mitwirken. Diese Gruppe wäre begleitet von der Lehrperson oder von einer schulischen Heilpädagogin. Das Mädchen würde mit Spielsachen Szenen aufbauen, welche ihre Geschichte darstellen. Einzelne Kinder würden ihr dabei helfen, weil sie Szenen auch lieber gegenständlich installieren als gleich zu schreiben. Die Szenen würden gefilmt. Das Mädchen mit der Behinderung würde den Film mündlich kommentieren und später sogar eine Tonspur aufnehmen. Andere Kinder aus dieser Arbeitsgruppe würden schöne Texte über die inszenierte Geschichte schreiben. – Die Hebammenkunst wäre die Grundlage und der Motor der Integration (vgl. Cuomo, 1989). 3 Die Szenen weisen darauf hin, dass Schreibkulturen und das Wissen über das Schreiben Produkte von Entwicklungen des Kontextes Unterricht sowie der Gruppe selber sind. Das Umgekehrte gilt auch: Gruppen sind das Produkt von Schreibkulturen (Bartnitzky, 2009; Imola, 2010). Literatur Bartnitzky, H. (2009). Sprachunterricht heute (7. Aufl.). Berlin: Cornelsen Verlag Scriptor GmbH. Imola, A. (2010). Empathie und verstehen. Die Methode von Nicola Cuomo. Verfügbar unter: http://rivistaemozione.scedu.unibo.it [18.03.2012] 40 9.3.5 Beispiel: «Lernen wie es euch gefällt» Dialogische Öffnung des Mathematikunterrichts in einer ersten Primarklasse Das Beispiel zeigt eindrücklich, dass das dialogische Lernen mit Hilfe des flexiblen Interviews dynamisiert und gesichert werden kann. Dialogisches Lernen: Lernen, wie es euch gefällt Eine Lehrerin im Solothurnischen (Schweiz) erprobt mit Schulanfängern das «dialogische Lernen». Die Kinder bestimmen selbst, was sie lernen wollen. Ein Zukunftsmodell für die Volksschule? Siehe http://www.beobachter.ch/arbeit-bildung/schule/artikel/dialogisches-lernen_lernen-wiees-euch-gefaellt/ 9.3.6 Beispiel: Pommes Chips Eine pädagogische Betrachtung In einer Mathematikstunde wird zur Einführung in das Thema Hohlmasse eine Kurzgeschichte erzählt. Nach der Erzählung reagierte ein Schüler spontan mit der Schilderung einer persönlichen Erfahrung, welche jedoch nicht integriert werden konnte. An dieser Szene wird der Unterschied zwischen dem Spenden von Motivation und dem Befragen der Motivation deutlich gemacht. Der dialogische Ansatz erweist sich als einfaches Mittel für die Integration von Erfahrungen in den Mathematikunterricht. Ich danke David Kofmel, SHP, für diese eindrückliche Schulstunde und die kollegialen Reflexionen. Zu Beginn einer Mathematikstunde sass eine Gruppe von Mittelstufenschülern im Kreis. Am Boden lagen allerlei Zettel mit Hohlmassen. Der Lehrer erzählte eine Geschichte. Sie spielte auf einem orientalischen Markt, auf 41 dem Händler Gewürze in unterschiedlichen Gefässen und Masseinheiten verkauft hatten. Dabei war es vorgekommen, dass ein Händler das Messgefäss so verändert hatte, dass er den Kunden zum angeblich gleichen Preis weniger Güter verkaufen konnte. Die Geschichte sollte die Schüler auf die Thematik der Hohlmasse einstimmen. Ein Schüler meldete sich mit einer persönlichen Erfahrung. Er hatte am Kiosk festgestellt, dass ein kleiner Sack Pommes Chips 3.40 Fr. kostete. Im Grossmarkt wäre derselbe Sack für 1.60 Fr. zu haben. Das wäre auch eine Mogelpackung, fügte er entrüstet bei. Der Lehrer ging kurz auf die Schilderung ein und relativierte den Begriff Mogelpackung. Danach fuhr er mit dem Unterricht weiter. Er liess die Zettel mit den Hohlmassen lesen. Danach erledigten die Schüler mit Elan Postenarbeiten. Auf den ersten Blick erscheint die Reaktion des Lehrers völlig adäquat. Preisunterschiede sind keine Mogelpackung, wenn man weiss, wie man etwas bekommt. Der Lehrer relativierte das Gesagte, wie das Pädagogen oder Kursleiter gewöhnlich tun: sie übersehen und übergehen das Hier und Jetzt. Was könnte das bedeuten? Die Geschichte versetzte die Schüler in die Situation des Bazars. Er ist ein literarischer Ort. Die Erzählung der Lehrperson wurde durch die Schüler interpretiert und aktualisiert. Sie wurde in die Erfahrungswelt übersetzt. Der Schüler war das Sprachrohr der Gruppe, die sich zu erinnern begann. Die Erinnerungen zeigten im Ansatz, wie das Thema bei den Kindern verwurzelt ist. Es zeigt auch, wie die Geschichte vom Bazar durch die Erinnerungen, die Sichtweisen und Stimmen der Schüler dekonstruiert wird (Derrida, 1979). Durch die Relativierung versuchte die Lehrperson, an ihrer monologischen Bedeutung der Einführung festzuhalten, ja sie hat sie mit Blick auf die Kohärenz zur Vorbereitung „gegen“ die Lernenden verteidigt. Unterrichtsbeginn – ein kulturelles Programm Der Lehrer-Schülerdialog beschäftigte sich mit dem Begriff ‚Mogelpackung‘. Die Lebenswelt des Schülers, der Inhalt seiner Geschichte und die Intention seiner Erzählung wurden nicht richtig beachtet. Dabei wäre die Pommes-Chips-Geschichte noch viel reichhaltiger gewesen als die Klärung eines moralischen Begriffs. 42 Was bedeutet das Übersehen von Möglichkeiten und Ressourcen in dieser Lerngruppe? Die Antworten könnte man durch die Auseinandersetzung mit den folgenden Vermutungen herausfinden. 1. Zur Didaktik der Situation. Der Lehr- und Lernprozess ist vermutlich so gebaut, dass die Kommunikation über das subjektive Hörverstehen nur oberflächlich zum Zug kommt. 2. Zur pädagogischen Kritik an der entfremdenden Aktivierungstheorie. Die BazarGeschichte soll die Gruppe anregen und einstimmen. Die Spende soll Motivation stiften (Freire, 1977). Der Schüler ist Objekt der Aktivierung. Die Aktivierung ist in der erfahrenen Sequenz ein didaktischer, behavioristischer Trick. 3. Der Schüler ist ein Sprachrohr der Gruppe. Das Sprachrohr verweist auf andere bedeutsame Erfahrungen mit Hohlmassen und mit anderen Massen. Die PommesChips tauchen in ihr als Emergent auf. Darunter versteht man eine verdichtete, latente Botschaft (Ressource) in einer Gruppe (Pichon-Rivière, 2003). 4. Die Beobachtung lässt vermuten, dass die Lernenden und der Lehrende nicht als Subjekte oder als Meister ihrer Erfahrung auftreten können. Das Sinnverständnis und die Bedeutsamkeit werden einem Programm untergeordnet. Diese didaktische Mache verkennt die Bildungsmöglichkeiten, welche als Ressource in der Gruppe vorhanden sind (Pichon-Rivière, 2003). 5. Die Szene als Hinweis auf die Absurdität von Pädagogik als Mache. Unterricht wird nicht gut durch Gutgemeintes. Unterricht als Mache degradiert die Lehrperson und die Lernenden zu Objekten. Das Überhören, das Übersehen und das NichtIntegrieren der Erfahrung des Knaben sind ein Indiz für ein anti-dialogisches Kulturprogramm. Bedeutsamkeit ist Beiwerk statt Motor. Unterrichtsanalyse als Diskurs In der geschilderten Unterrichtssituation komme ich als Beobachter vor. Das erzeugt neue Erfahrungen. Sie sind der Rohstoff in der Lehrerbildung. Ich gehe damit nicht besser wissend und urteilend um. Lieber lade ich zum Dialog über die Meisterschaft im Machen und im Studieren ein. 43 Wir Menschen sehen das, was wir verstehen. Wir denken, was wir verstehen. – Fragen wir auch nach dem, was wir nicht verstehen? Oder dümpelt die Erkenntnis des Pädagogischen monologisch, unaufgeklärt und absurd vor sich her? Kant (1974) mutete den Kulturprogrammen, so auch den Stunden des schulischen Unterrichtens, eine Belästigung zu: Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft. (ebd., S. 11) In diesem Sinn sind erzeugen die Vermutungen über diese Situation Fragen, mit denen das Studium begonnen werden könnte. Beobachter und Beobachtete begegnen sich als Subjekte, welche bedeutsame Fragen behandeln. Die Konversation ist frei und empathisch. Sie bildet nach Paulo Freire eine dialogische Matrix (Freire, 1977). Die Konversationen erschliessen pädagogische und fachdidaktische Möglichkeiten. Die Bazar-Geschichte wäre ein narrativer Ankerpunkt, sie wäre ein Steinwurf ins Wasser des Geistes und der Handlungsmöglichkeiten der Gruppe. Noch liegen die Kärtchen des Lehrers lose am Boden. Würde er ein Kärtchen mit dem Stichwort ‚Pommes Chips‘ danebenlegen, würde das die Erfahrungen der anderen Lernenden hervorlocken. Es würden weitere Geschichten geäussert. Auch diese würden auf Kärtchen notiert. Die Gruppe bekäme die Möglichkeit, die Hohlmasse, die Gewichtsmasse und die Preise mit den Geschichtenkärtchen exemplarisch zu verknüpfen. Die Gruppe und die Lehrperson würden sich gleich von Anfang an als erfahrene Subjekte auf den Weg machen. Die Betrachtung und Imagination dieser Unterrichtssituation ist auch eine Möglichkeit, bildende Philosophie zu machen (Rorty, 1987). Ihre Wurzeln reichen bis zu Sokrates und Menon zurück. Die beiden haben über eine Unterrichtssituation nachgedacht, in der ein Knabe die Verdoppelung der Quadratfläche verstehen lernte (Platon, 1994). Die freundschaftliche Belästigung durch Fragen erzeugt neue Gewissheiten und Kompetenzen, in der Klasse, beim Betrachter und im Studium dieser Situation. 44 Das Studium der didaktischen Mache eröffnet neue Perspektiven auf das Lernen aus Erfahrung (Bion, 1997). Der Unterricht ist nicht bloss ein „Container“, in den man diese oder jene didaktischen Tricks hineingeben kann, Tricks wohlverstanden, welche Inkompetenz und Schuldgefühle erzeugen. Das Lernen aus Erfahrung würde im Unterricht und im Studium sozial gemeistert. Im besten Fall führt das Studium zur Vorfreude auf eine neue Begegnung im Kreis und zur Einladung des Lehrers an seine Schüler: „Bilden wir uns gegenseitig, ich beginne mit einer kleinen Geschichte.“ Stefan Meyer, 28.11.2013 Literatur Bion, W. R. (1997). Lernen durch Erfahrung (2. Auflage). Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Derrida, J. (1979). Die Stimme und das Phänomen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. Freire, P. (1977). erziehung als praxis der freiheit. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag. Kant, I. (1974). Kritik der reinen Vernunft (Bd. 1). Frankfurt a.M.: suhrkamp taschenbuch wissenschaft. Pichon-Rivière, E. (2003). El proceso grupal: del psicoanálisis a la psiocologia social I (2a ed.). Buenos Aires: Nueva Visiòn. Platon. (1994). Menon. Griechisch / Deutsch (M. Kranz, Trans.). Reinbek b. Hamburg: Reclam. Rorty, R. (1987). Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Taschenbuch. 9.3.7 Gruppendiskussion und Bruchrechnen Ein Erfahrungsbericht Lara Stünzi, SHP November, 2015 Als Einstieg in eine Doppellektion habe ich den Kids meiner 6. Primarklasse (immer in 4er Gruppen) 1 4 von diversen Ganzen in ein Couvert gelegt: 45 zuerst nur von verschieden grossen Kreisen Der Auftrag war, die folgende Behauptung zu dementieren oder bestätigen: „Im Couvert 1 sind lauter Teile die 4 bedeuten.“ Zuerst waren die Kinder etwas konsterniert. Doch plötzlich entstand innerhalb der Gruppen eine rege Diskussion darüber, ob die auf dem Tisch liegenden Bruchstücke 1 tatsächlich alle „gleich“ sind, sprich alle 4 sind, obwohl sie so unterschiedlich gross sind. Keine Gruppe war sich einig. Nach fünf Minuten, in denen sich die Kids fast „an die Gurgel“ gesprungen sind, habe ich sie unterbrochen und die Diskussion in der ganzen Klasse weitergeführt. Ich habe mir verschiedene Argumente angehört, diese aber vorerst nicht kommentiert. Ohne Ausführungen meinerseits ging einigen Kindern ein Licht auf...allein durch die 1 Argumente einiger Mitschüler. Es schien verstanden worden zu sein, dass 4 lediglich ein Ausdruck einer Proportion/eines Verhältnisses ist und nicht eine „Grösse“/eine Masszahl. 1 Ein Schüler fügte hinzu, dass 4 auch etwas ganz anderes als ein Teilstück eines Kreises sein kann. Daraufhin haben wir spontan in einem zweiten Schritt die Sammlung auf den Pulten 1 durch andere 4 ergänzt: 1 1 1 1 4 4 4 4 einer Farbstiftschachtel eines Rechteckmodells einer Schnur von 20 Franken 1 Dies sollte die Argumente von vorher unterstreichen und verdeutlichen, dass 4 in ganz verschiedenen Facetten auftreten kann. Seit diesem Tag starte ich die Doppelstunde immer mit einer Behauptung / einem Problem, das die Kinder in immer wechselnden Gruppen ausdiskutieren müssen. 46 Diese 5-10 Minuten sind Gold wert! Die Kinder denken mit, sind aktiv, hinterfragen die Thematik und bauen dadurch das Verständnis für das Thema auf! Toll als Lehrerin das zu beobachten... Hintergründe und Fragen an Lara aus dem Wahlmodul 135 und von Stefan Meyer (kursiv): „Wie wählst du Aufgaben aus? Hast du Kriterien? Die Cognitive Acceleration geht mit Piaget davon aus, dass kognitive Konflikte und das operative Prinzip eine Goldgrube sind.“ Ich wähle vor allem Probleme als Diskussionspunkte aus, die in den Stunden auftreten (wiederkehrende Probleme). Gerade diese Woche habe ich gemerkt, dass das Verständnis dafür fehlt, was der Unterschied zwischen erweitern vs. vervielfachen und kürzen vs. teilen ist. Ich habe den Gruppen den Auftrag gegeben, die 4 Vorgehensweisen zeichnerisch darzustellen. Sie haben fast 20 Minuten in der Gruppe diskutiert, wie sie dies darstellen könnten. Sie waren sich anfangs gar nicht einig, schlussendlich aber schon (zumindest der Grossteil der Klasse) Manchmal „konstruiere“ ich auch ein Problem oder eine Behauptung, um ein neues Unterthema „einzuführen“ oder besser gesagt, die Kinder selber auf die Lösung zu bringen. „Die Gruppendiskussionen beziehen sich auf Wygotski und die Cognitive Acceleration, die Hauptstichworte lauten: Ko-Konstruktion und Zone der nächsten Entwicklung. Diese Zonen werden durch die Steigerung der Komplexität und der Abstraktion angepeilt. Die Regelmässigkeit der Gespräche steigert die Intelligenz. Kinder können vernetzter wahrnehmen, denken und Probleme lösen.“ 47 …und sie lernen auch, Meinungen anderer zu akzeptieren und ihre eigene zu verteidigen! 1x pro Woche etwa 15’ liegt drin, der Lerneffekt ist mindestens zehn Mal so gross, wie wenn die Klassenlehrperson während 15’ einen Monolog hält. „Was empfindest du in jenem Moment, in dem du zum Ganzen „toll“ sagst? Ich meine o das Verhältnis zu den Kindern, o das Verhältnis zu dir als Lehrperson, persönlich o das Verhältnis von dir zum Stoff, zur Didaktik des Stoffes, also auch zu den Tätigkeitsbereichen nach dem Lehrplan (wichtig)“ Toll, da ich endlich Zeit habe, „in die Köpfe der Kinder zu schauen“, die Gedanken zu hören, Gedankengänge zu verstehen. Toll, weil die Kinder mit Gleichaltrigen diskutieren lernen, ihre Meinung über die Mathe vertreten dürfen, anderen etwas erklären können, mit anderen darüber sogar streiten. Toll, dass ich den Kindern so zeigen kann, dass nicht ich und meine Meinung über allem stehen, sondern sie genauso gut über die Thematik reden können. Meine Vorgehensweise ist nicht der einzige richtige Weg! Toll, dass ich endlich begriffen habe, dass Verständnis des Stoffes Vorrang hat vor dem Durcharbeiten des Stoffes. „Noch einige Gedanken um Aspekt der heilpädagogischen Relevanz: was beobachtest du bei den Kindern mit Lernschwierigkeiten?“ Ich habe vor allem aus dem Blickwinkel der KLP gehandelt, da ich in den Stunden keine SHP-Funktion habe. Ich habe aber bemerkt, dass mein Förderkind gern zuhört in den 48 Diskussionen. Es beteiligt sich zwar nicht, fühlt sich aber sehr dazugehörig und als Teil der Gruppe. Ich denke auch, dass ihm die Diskussion zeigt, dass es nicht das einzige ist, welches anfangs gar nicht drauskommt und dass es mehrere Wege gibt, ein mathematisches Problem zu lösen. Der Klasse geht es gut. Das Thema Brüche ist abgeschlossen. Die Bruch-Prüfung lief übrigens sehr gut. Wir haben die Gruppendiskussion natürlich beibehalten. Ich geniesse den Einstieg in die Doppellektion. Manchmal ist es gar nicht so leicht, ein passendes Thema, ein bedeutsames Problem zu finden. „…vielleicht wirst Du eher fündig, wenn die Kinder bei der Problemsuche mithelfen können. - Wie geht es bei dir als Lehrperson weiter? in der Klasse, im Fach, im Team, im Studium – der persönlichen Weiterbildung?“ Wenn ich nächstes Jahr die Rolle der SHP für die ganze Schule „S“ übernehme, möchte ich diese Gruppendiskussion den Klassenlehrpersonen näherbringen. Vielleicht wäre es eine Möglichkeit, dies als SHP in TT-Stunden als Einstieg einzuführen. „Dazu wünsche ich dir alles Gute. Was die Förderkinder betrifft, werde ich meinerseits an Zugängen und an Hilfsmitteln weiter tüfteln, in der Kooperation mit Studierenden und den Entwicklern der Cognitive Acceleration.“ 9.4 Theoretische Überlegungen zur Integration der Methode im Unterricht 9.4.1 Theorie: Unterrichtsmethoden, welche die Integration des flexiblen Interviews fördern... 49 (in Bearbeitung) Freire, P. (1979). Pädagogik der Unterdrückten. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt. Frey, K. (2010). Die Projektmethode. Der Weg zum bildenden Tun (11., neu ausgestattete Aufl.). Weinheim: Beltz Verlag. Ruf, U., Gallin, P. (1990). Sprache und Mathematik in der Schule. Zürich: Verlag Lehrerinnen und Lehrer Schweiz. "Lernen, wie es euch gefällt." Das Beispiel schildert, wie der Unterricht mit Hilfe des flexiblen Interviews im Rahmen einer dialogischen Didaktik geöffnet werden kann: Blog. 9.4.2 Theorie: Merkpunkte zur Anwendung des flexiblen Interviews mit Gruppen (Ginsburg, 1998, übers. d.d. Verf.)3 1. Informiere die Klasse über das Problem, das bearbeitet werden sollte. 2. Leg Deine Erwartungen von Beginn an fest. Die Klasse soll wissen, dass sie zuerst Strategien einteilen soll. Die Antworten auf das Problem würden später folgen. 3. Lass die Schüler wissen, dass Du erwartest, dass sie von Anfang an mitdiskutieren sollen. 4. Lass die Schüler wissen, dass Du an ihre Fähigkeit glaubst, gerade wenn sie herausgefordert sind, vielleicht schwierige Sachen zu tun. 5. Rufe Begriffe und Konzepte in Erinnerung, welche in Bezug zu dieser Stunde stehen. 6. Erinnere die Schüler, dass viele Lösungswege angenommen werden können. 7. Fordere eine Schülerin auf, ihre Strategie mitzuteilen. 8. Gestatte jedem Schüler, dass er seine eigene Strategie verfolgen muss, damit er sein Problem lösen kann. 9. Befürchte die Auseinandersetzung nicht, wenn konzeptuelle Schwierigkeiten auftauchen. Sie stellen den Kern des Problems dar, über den gerade verfügt wird, 3 Ginsburg, H.P., Jacobs, S.F., Lopez, L.S. (1998). The Teacher’s Guide to Flexible Interviewing in the classroom. Boston: Allyn and Bacon. 50 (sie hat mit dem Kern des „Gemeinten“ und mit der Art und Weise der Lösungsmethode zu tun, SM) 10. Sorge dafür, dass sich die Klasse mit den schwierigen Fragen / Aufgaben beschäftigt, indem Du dazu aufrufst und indem du auf ihre Teilnahme eingehst. 11. Wenn ein Student Hilfe benötigt, so stelle nur das Notwendigste zur Verfügung. 12. Wenn der Fortschritt zum Erliegen kommt, so fordere die Studenten auf, über das Erreichte nachzudenken und schlage vor, dass die Klasse nach einem neuen Zugang zum Problem suchen soll. 13. Fasse den Fortschritt der Klasse zusammen. Verweise auf die Tatsache, dass der Bereich der möglichen Antworten begrenzt werden könnte. 14. Wiederhole Schritt 7-13 so oft, wie Du es für richtig hältst. 15. Gib der ganzen Klasse zum Schluss Gelegenheit, ihre Beteiligung zu reflektieren. 16. Gratuliere der Klasse zu Arbeiten, die sie gut gestaltet haben. Literatur Fennema, E., Carpenter, T.P., Franke, M.L., Levi, L., Jacobs, V., Empson, S. (1996). Learning to Use Children's Thinking in Mathematics Instruction: A Longitudinal Study. Journal for Research in Mathematics Education, 27(4), 403-434. Mast, J. V., Ginsburg, H.P. (2009). A Child Study / Lesson Study: Developing Minds to Understand and Teach Children. In N. Lyons (Hrsg.), Handbook of Reflection and Reflective Inquiry: Mapping a Way of Knowing for Professional Reflective Inquiry (S. 257-271). New York: Springer. Prange, K. (1983). Bauformen des Unterrichts. Bad Heilbronn /OBB.: Verlag Julius Klinkhardt. 9.4.3 Theorie: Gruppenentwicklung und das flexible Interview Die sozialpsychologische Sicht auf Gruppen (Bauleo, 1988) fasst eine Gruppe als Subjekt auf, welches sich eigenständig mit dem Meistern einer Aufgabe auseinandersetzt. Das Verhältnis der Gruppe zur Aufgabe wird durch eine Equipe bestehend aus zwei Personen 51 koordiniert und beobachtet. Die Koordination der Gruppe soll eine operative Auseinandersetzung zwischen der Gruppe und der Aufgabe einrichten, moderieren und reflektieren kann. Das didaktische Dreieck (Prange, 1983) beschreibt die Struktur einer koordinierten Gruppe. Dieser Ansatz zeigt, dass die Entwicklung einer Gruppe genauso wie die Entwicklung einer Person vom Kontext abhängig ist (Imola, 2010). Ein nahe liegender Kontextfaktor ist die Didaktik in der Gruppe. Weitere Faktoren gehören zur Organisation und zu den Institutionen, denen die Gruppen angehören Phasen der Gruppenentwicklung Die Überlegungen zu den Phasen der Gruppenentwicklung dienen dem Zweck, dass man den Einsatz des flexiblen Interviews in einer Gruppe realistisch planen und gestalten kann. Diese sozialpsychologische Ansatz trägt dazu bei, dass Störungen des Verhaltens in Gruppen dynamischer und effektiver begriffen und moderiert werden können (Graf & von Salis, 2003). Dies führt weiter dazu, dass man die Heterogenität einer Gruppe als etwas Natürliches annehmen lernt. In der Entwicklung von Gruppen können Verhaltensweisen in Kategorien oder Phasen zusammengefasst werden. Diese werden im diesem Abschnitt genauer beschrieben. Bauleo (1988) verweist auf die Phasen der Gruppenentwicklung: Indiskriminierung, Differenzierung, Synthese. S. 14f. Dieser Aspekt wird oft übersehen. Das hat zur Folge, dass mit Kindern in einer Art und Weise gesprochen wird, welche ihrem geistigen, seelischen und sozialen Entwicklungsstand überhaupt nicht entspricht. Diese Optik betrifft einerseits die Individuen selber, auf der andern Seite steht die Gruppe als Subjekt. Bauleo differenziert zwischen den drei oben erwähnten Phasen einer Gruppenentwicklung: 52 Indiskriminierung Am Anfang herrschen Verwirrung, Monologe, alte Gruppenerfahrungen vor. Die Gruppalität wird im Namen der Individualität abgewertet. Es gibt theoretische Verknüpfungen zu Wilfried Bions Einteilung der Grundannahmen-Gruppe, welche aus der Dynamik von Abhängigkeit, Paarbildung oder Kampf / Flucht bestehen kann. Differenzierung Das ist die eigentliche Gruppenphase: >gruppeneigene Element festigen sich wie: Führung, Veränderungswiderstände, primäre Ängste, Emergenten >Die Gruppe baut sich aus Interaktionsstrukturen auf >Tn. greifen ein aufgrund der Überschneidung von eigener Lebensgeschichte und der aktuellen Gruppenstruktur >Phase läuft auf einer manifesten Ebene (Gruppendiskurs) und einer latenten Ebene (Interaktion der latenten Dynamik) ab. >Emergent drückt die gegenseitige Einflussnahme der manifesten und der latenten Ebene aus. Projekt oder Phase > Die Literatur spricht von Produktions-, Entscheidungs- der Synthese Einsichtsphase > Pichon-Rivière sagt: Die Gruppe erreicht eine maximale Funktionsfähigkeit 53 > Der Koordinator muss nicht mehr deuten > Der Koordinator muss nicht eingreifen >Koordinator meldet Beginn und Ende der Sitzung >Gruppenkonzept d. Koordinators / Funktionieren d. Gruppe verbinden sich >Gruppe kann Verantwortung für Arbeit und Funktionieren selbst übernehmen Je nach der jeweiligen Phase der Gruppenentwicklung wird man ganz unterschiedliche Verhaltens- und Erlebnisweisen bezüglich der Kognitionen, der Emotionen und der Aktionen antreffen. Entscheidend ist nach Imola (2010), dass die Ressourcen der Gruppe immer zuerst angesprochen werden. Wichtig bei dieser theoretischen Ausweitung ist der Aspekt der Gruppenlatenz. Beim Individuum nimmt man an, dass es Bewusstsein und Unbewusstsein ist. In der Theorie der Operativen Gruppen wird davon ausgegangen, dass die Gruppe manifeste (ausgedrückte, formulierte, besprochene) Handlungen vornimmt, dass sie aber auch latente (der Gruppe nicht bewusst wahrnehmbare) Strömungen und Assoziationen erzeugt. Dies gehört auch zu den Grundannahmen von Piaget (1975), der das Denken als unbewussten Prozess Literatur Bauleo, A. (1988). Ideologie, Familie und Gruppe. Hamburg: Argument. Graf, E.O., von Salis, E. (Hrsg.). (2003). Erfahrungen mit Gruppen. Zürich: Seismo. Piaget, J. (1975). Nachahmung, Spiel und Traum. Die Entwicklung der Symbolfunktionen beim Kinde (Bd. 5). Stuttgart: Ernst Klett Verlag. 54 9.4.4 Nemo und Pädagogik Erfahrungen vererben sich nicht - jeder muss sie allein machen. Kurt Tucholsky Nemo, Khan und der Befreiungsversuch Der Nemo-Film ist auch eine Metapher für die Pädagogik. Ist das Lernen etwas Sesshaftes oder gleicht es einer Wanderung? Der Film bietet sich als Modell an, wie man das Lernen aus Erfahrung gestalten und aushalten könnte. Der Film thematisiert in der Geschichte einer Befreiung auch Themen wie die Überwindung von Vorurteilen, Freundschaft, Dialog und Empathie, alles Fundamente der Pädagogik. Hier sind 10 Argumente, welche die Produktivität des Nemo-Ansatzes unterstreichen. Insgesamt betrachtet ist der Film ein systemisches Schema einer empathischen Pädagogik. Die Namen wichtiger Autoren werden in Klammern erwähnt. Sandra Schneider, SHP, hat den Text gegengelesen und ergänzt. Ich danke ihr sehr dafür. Stefan Meyer, 2014 Argumente für eine Pädagogik mit dem NEMO-Ansatz 1 „Stetige Kommunikation und Humor“ Die Geschichte fokussiert auf Lösungen und auf Autonomie (Cuomo, Platon, Sokrates, Freud) 2 „Ressourcen vor Behinderung“ Projekte kommen nur zustande, wenn von den Ressourcen ausgegangen wird. Wer zuerst die „Behinderung“ verbessern möchte, eliminiert die Erfahrung, was das Vertrauen in die Ressourcen bewerkstelligen könnte. Neugier und Mut zu 55 lernen und unabhängig zu leben haben Vorrang vor der Angst (Dewey, Piaget, Cuomo) 3 „Projekte vor Gewohnheiten“ Die alte Pädagogik lässt die Lernenden arbeiten. Sie gibt Arbeitsblätter und schreibt Lernumgebungen vor. Sie behandelt die Fibeln in der Sprache und der Mathematik wie Zwangsjacken. Die Brille der alten Pädagogik sieht in erster Linie Vorurteile. Der Nemo-Ansatz geht offener und freier mit der Realität der Schule um. Das Vertrauen in die Projekte ist das Fundament. (Freire, Frey, Cuomo, Wagenschein) 4 „Versuche, Kreativität zu verstehen.“ Die Kreativität des Andern und von sich selber zu verstehen, ist wichtiger als das Besserwissen. (Freire, Cuomo) 5 „Brillanz ist wichtiger als Moral.“ In der Brillanz kommen Ressourcen, Neugier und Erfahrungen zusammen. Die Moral ist eine Form des Besserwissens. Es ist menschlicher, Ethik gemeinsam herzustellen. Freunde sind wichtiger als Einzelkämpfer. (Piaget, Freud, Sokrates) 6 „Dory denkt wie Martin Buber.“ Sie sagt: “Wenn ich dich ansehe, kann ich es fühlen. Und…und… ich sehe dich an und fühle mich zu Hause.“ Der Nemo-Ansatz ist ein Plädoyer für die Beziehung, die Kommunikation und die Gestaltung von Aufgaben in einer offenen und empathischen Pädagogik. – Diese Schlüsselszene unterstreicht die Stärken des Filmes. 7 „Der NEMO-Ansatz ist eine Perspektive, in ihr konvergieren Weltsichten.“ Lernende und Lehrende nehmen sie ein und denken: erkenne mich, wenn du kannst. Es ist die Interdependenz der Sichtweisen und der Erfahrungen im Zusammenhang mit Aufgaben. (Laing, Bion, Cuomo) 8 „Traditionelle Muster und Stereotypien werden aufgegriffen, ironisch und empathisch hinterfragt und letztendlich gemeistert.“ Am Beispiel des Vaters (Marlin). Er wächst durch die Erfahrungen und die Dialoge über sich und seine Vorurteile hinaus. Er zeigt mütterliche Züge. Er lernt, sein Kind der Schule zu überantworten. Später begibt er sich auf eine Odyssee, auf die Suche nach dem verlorenen Sohn. 9 „Gedanken und Taten der Anderen werden angenommen.“ Das Geben und das Nehmen sind im Gleichgewicht. Die Walfisch-Episode lässt an die Jonas-Geschichte im Alten Testament erinnern. 56 10 „Der NEMO-Ansatz ist ein Rhizom.“ “Schwimmt runter-schwimmt runter.” Das Schwimmen als Zustand und als Strategie, wie es Freudenthal, Deleuze & Guattari empfehlen. Der feste Boden kann zum Symbol der Immobilität werden, in der keine Projekte mehr entstehen, in der nur noch Stereotypien verwaltet werden. Das Sichtbare in der Pädagogik, bei den Lehrenden und den Lernenden ist wie die Spitze eines Eisberges. Die Entwicklungen, die Ressourcen, die Kreativität sind verborgen unter der Oberfläche. Sie sind wie ein Rhizom vernetzt und verwurzelt. (Deleuze & Guattari) Links: Zu den Portraits der Hauptfiguren: http://pixar.wikia.com/Category:Finding_Nemo_Characters Auf Twitter: twitter.com/hashtag/nemoapproach 9.4.5 Theorie: Von der Dampfkugel zum Raketenantrieb Die geschilderten Szenen richteten den Blick auf die Wirkung von Dialogen im Schreibunterricht. Besteht das dialogische Unterrichten nun einfach in der Anwendung von methodischen „Tricks“? Ist das flexible Interview auch so etwas? Was bedeuten erste Versuche mit dem flexiblen Interview? Nehmen wir als analoges Beispiel die Entwicklung von der Dampfkugel des Heron bis zum Raketenantrieb der Moderne. Das flexible Interview mit einzelnen Personen ist vergleichbar mit Herons Dampfkugel im Altertum, der ersten Wärmekraftmaschine, welche nach dem Rückstossprinzip arbeitete. Viele pädagogisch-didaktische Ansätze versprechen z.B. Niveauorientierung. Beim näheren Betrachten sind es einfach punktuelle und isolierte Übungen, in denen man auf die Ressourcen der Lernenden Rücksicht nimmt. Entwicklungspsychologische Befunde sind kein ausreichendes Fundament für den Unterricht. Es geht auch nicht darum, dass man da und dort flexible Interviews in den Unterricht einsetzt und meint, dass man eine dialogische Didaktik realisiere. Diese Verhaltenswiesen entsprächen einer Art „Dampfkugel-Pädagogik“. Diese ironische Klassifizierung erfasst nicht nur die Entwicklungspsychologie, sondern im Prinzip alle hilfswissenschaftlichen Beiträge zu den Didaktiken (Neurodidaktik, Lernpsychologie, Motivation, Kognition usf.). 57 Die physikalischen Prinzipien der Dampfkugel konnten erst in der Moderne systematisch umgesetzt und genutzt werden: im Raketenantrieb. Ich bin überzeugt, dass die Ausrichtungen auf das operative Prinzip, auf den Entwicklungsaspekt des Verstehens von Inhalten, auf die Fachdidaktik sowie auf eine ethisch und demokratisch begriffene Dialogik die Sozialisation des Denkens und Handelns potenzieren. Dies ist vergleichbar mit dem Raketenantrieb, der ein soziales Feld erfassen und vorwärtsbringen kann. Das heisst, dass die Vernetzung des flexiblen Interviews - im Sinn eines Türöffners für die Weltsicht der Lernenden und für die Weltsicht der Lehrenden - mit Grundfragen der Pädagogik entscheidet, ob die Pädagogik systemischer geworden ist. Dialoge sollten Systeme von Lern- und Lehrergruppen dynamisieren. Dann erst wird der Raketenantrieb spürbar. Diese Entwicklung braucht Zeit, wie die Praxisprojekte belegen (Fennema et al. 1996; Mast & Ginsburg, 2009). 9.5 Spiele - Fenster zum Denken, Handeln und Empfinden Piaget (1983) beobachtete, wie Kinder im Murmelspiel und bei der Vorbereitung einer Schneeballschlacht Regeln anwenden und über Regeln diskutieren. Regelverhalten und Regelbewusstsein sind persönliche und soziale Referenzschemata, die sich fortlaufend entwickeln. Spiele beinhalten ästhetische, kognitive, emotionale und soziale Werterfahrungen. Im Spiel kultiviert die Person den Umgang mit andern und mit Sachen, im unguten Fall kann es auch ins Gegenteil umkehren (Kamii, 1985; Dominick & Clark, 1996; Ramani & Siegler, 2008; Ramani, 2012). Die Bedeutsamkeit der Spiele wird mittels der didaktischen Analyse (Klafki, 1996) geklärt. Bei der Integration von Kindern / Personen mit einer Behinderung oder mit Verhaltensstörungen ist es notwendig, die Pädagogik des Spiels sorgfältig vorzubereiten (siehe Stäbe werfen). - Eine Auswahl von Spielen und Erfahrungen wird vorgestellt. Diese Spiele sind Generatoren und Modelle für die Mathematisierung und den kompetenten Umgang mit Zahlen und Operationen. Mathematik erscheint im Licht des Spiels, und das Spiel erscheint im Licht der Mathematik. Flexible Interviews kommen dann zum Zug, wenn es gilt, Spielsituationen zu rekonstruieren und einsichtig zu machen. Unterscheiden Sie zwischen Spielzeiten und Spielritualen auf der einen Seite und der Zeit für 58 mathematische Reflexionen auf der anderen Seite. Vermischungen führen zu Verwirrung und Motivationsverlust. In Unterrichtsversuchen haben sich regelmässige Spielzeiten vor der Mittagspause bewährt. Link zur Gesamtübersicht der Spiele und deren Bedeutung Carrace Elementares Würfelspiel mit selber wählbaren Figuren Bauernkrieg Einfaches Kartenspiel (Jasskarten, Elferspiel, Pokerkarten) Eile mit Weile Brettspiel, Würfelspiel, 4 Personen, Spielbeschreibung Spiel mit N Würfelspiel mit "Schicksalskarten" erfordert arithmetische Operationen Das Halbespiel Würfelspiel mit "Schicksalskarten", Operationen mit Bruchzahlen, Vorlage in Word 2007 Copy of the Halfplay Stäbe werfen Spiel der Apachen, strukturiertes Zählen und Addieren von Zahlenwerten Ballspiel Zahlwörter, Zählkompetenz, Reihen entdecken 10 FI Blog Möchten Sie über Erfahrungen oder Schwierigkeiten im Umgang mit dem flexiblen Interview diskutieren? Ein Blog bietet Möglichkeiten dafür an. 59 Literatur Altrichter, H., Posch, P. (2007). Lehrerinnen und Lehrer erforschen ihren Unterricht (4., überarbeitete und erweiterte Aufl.). Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt. Besonders: S.141f., wo das Thema Tonaufzeichnung und Transkription behandelt wird, sowie S.150f., auf denen ein ABC des Interviews und der Gesprächsführung, sowie deren Fehlerquellen erörtert werden. Adey, P., Shayer, M. (1994). Really Raising Standards: Cognitive Intervention and Academic Achievement. London: Routledge Chapman & Hall. Bachelard, G. (1988). Der neue wissenschaftliche Geist. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. Beck, C., Maier, H. (1993). Das Interview in der mathematikdidaktischen Forschung. Journal für Mathematik-Didaktik, 14(2), 147-179. Berthoud, I., Kilcher, H. (1987). Implications et significations arithmétiques. In J. Piaget, R.,Garcia (Hrsg.), vers une logique des significations (S. 57-71). Genève: Édition Murionde. Bliss, J. (2010). Recollections of Piaget. The Psychologist, 23(5), 444-446. Bronfenbrenner, U. (1993). Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Natürliche und geplante Experimente. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag. Clement, J. (2000). 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Fachartikel "Das Halbespiel - eine ganze Sache" PM 2/2010 Webbasierter Förderplaner WFP 1.0 - Tool für Screening und Planung in förderdiagnostischen Aufgaben Homepage von mathe 2000 Die Grundschulzeitschrift, Nr. 222/223, 2009: Kinder im Gespräch über Mathematik Dietschi, I. (2010). Lernen, wie es euch gefällt. Beobachter, 25/10. Jacobs, V. R., Ambrose, R.C., Clement, L., Brown, D. (2006). Supporting Teacher Learning: Using Teacher-Produced Videotapes of Student Interviews as Discussion Catalysts. Teaching Children Mathematics, 12(6), 276-281. Koichu, B., Harel, G. (2007). Triadic interaction in clinical task-based interviews with mathematics teachers. Educational Studies in Mathematics, 65(3), 349-365.Link Zazkis, R., Hazzan, O. (1999). Interviewing in Mathematics Education Research: Choosing the Questions. 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