Die Website als Reader - Das flexible Interview

Das flexible Interview
Kreative Forschungsmethode - Modernes, dialogisches Unterrichten
Die Website als Reader
Stefan Meyer, Dozent HfH
21.12.2015
Vorbemerkung
Der vorliegende Reader enthält Grundlagentexte und Aufsätze. Vertiefende Texte wie der
Menon-Dialog über die Verdoppelung der Quadratfläche oder die rund 30 vorbereiteten
flexiblen Interviews und fachdidaktischen Essays wurden nicht aufgenommen, da sie
allein 260 A4-Seiten einnehmen. Diese Dokumente sind verlinkt und können direkt
heruntergeladen werden. – In der Regel werden Neuerungen zuerst auf der Website
eingebracht.
1
Inhalt
1 Einleitung......................................................................................................................................... 4
2 ABC des flexiblen Interviews ........................................................................................................... 5
3 Über dieses Tool .............................................................................................................................. 7
4 Gutes Interviewen - Bausteine ........................................................................................................ 8
4.1 Aufbau FI: Allgemeiner Rat ...................................................................................................... 9
4.2 Aufbau FI: Beziehung herstellen .............................................................................................. 9
4.3 Aufbau FI: Denkprozesse aufdecken ...................................................................................... 10
4.4 Aufbau FI: Beschreiben, wie das Denken vor sich geht ......................................................... 11
4.5 Aufbau FI: Kompetenz beurteilen .......................................................................................... 12
4.6 Flexible Interviews erweitern den Handlungsspielraum von Lehrpersonen ......................... 12
5 Die Methode des flexiblen Interviews im Rollenspiel üben .......................................................... 13
6 Erfahrungen und Kenntnisse vertiefen ......................................................................................... 14
7 Geometrie des FI: Erfahrungen vertiefen ..................................................................................... 18
8 Das flexible Interview und die Forschung ..................................................................................... 18
8.1 Klassische flexible Interviews ................................................................................................. 20
8.2 Mathematisches Denken erforschen und fördern ................................................................. 21
8.3 Das Zehnersystem verstehen ................................................................................................. 23
8.4 Bruchzahlen verstehen........................................................................................................... 24
9 Das flexible Interview und das Unterrichten................................................................................. 26
9.1 FI und das Unterrichten - Einleitung ...................................................................................... 29
9.2 FI mit einzelnen Schülerinnen und Schülern .......................................................................... 31
9.3 FI mit Gruppen ....................................................................................................................... 32
9.3.1 Einleitung I: Das flexible Interview – ein Hilfsmittel der dialogischen Pädagogik............... 32
9.3.2 Einleitung II.......................................................................................................................... 35
9.3.3 Beispiel: Wertvolles Alltagsritual zur Förderung der Kommunikation, der Sozialisation und
der Gesundheit: der Znünikreis.................................................................................................... 36
9.3.4 Beispiel: Zwei unterschiedliche Schreibstunden ................................................................. 38
9.3.5 Beispiel: «Lernen wie es euch gefällt» Dialogische Öffnung des Mathematikunterrichts in
einer ersten Primarklasse............................................................................................................. 41
Dialogisches Lernen: Lernen, wie es euch gefällt..................................................................... 41
9.3.6 Beispiel: Pommes Chips...................................................................................................... 41
9.3.7 Gruppendiskussion und Bruchrechnen ............................................................................... 45
9.4 Theoretische Überlegungen zur Integration der Methode im Unterricht ............................. 49
2
9.4.1 Theorie: Unterrichtsmethoden, welche die Integration des flexiblen Interviews fördern...
...................................................................................................................................................... 49
9.4.2 Theorie: Merkpunkte zur Anwendung des flexiblen Interviews mit Gruppen ................... 50
9.4.3 Theorie: Gruppenentwicklung und das flexible Interview .................................................. 51
9.4.4 Nemo und Pädagogik .......................................................................................................... 55
9.4.5 Theorie: Von der Dampfkugel zum Raketenantrieb ........................................................... 57
9.6 Spiele - Fenster zum Denken, Handeln und Empfinden......................................................... 58
10 FI Blog .......................................................................................................................................... 59
Literatur ............................................................................................................................................ 60
Links.................................................................................................................................................. 65
3
1 Einleitung
Die Methode wurde von Jean Piaget und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zur
Erforschung der Entwicklung des Erkennens und Verstehens entwickelt. Die Ursprünge
reichen zurück bis zur "Hebammenkunst" bei Platon und dem klinischen Interview der
Psychiatrie. Sie ist weltweit im Einsatz in der Grundlagenforschung der
Kognitionspsychologie und der Lernforschung (Clement, 2000). Die Methode besteht aus
dem kreativen und kritischen Einsatz der Beobachtung, der Befragung, des Experiments
und des Tests.
Interview soll ein Medium der dynamisch-dialektischen Psychologie sein (siehe Abbildung
1).
Abbildung 1: Forschungsmethodische Bausteine des flexiblen Interviews
Abbildung 1 illustriert die Vielfalt und die Dynamik des flexiblen Interviews. Die
Psychologin oder die Pädagogin können je nach Situation, Aufgabe, Interaktion und der
Operationen die Wahl der Methoden bestimmen. In der Genfer Schule wurde immer
wieder darauf hingewiesen, dass die Flexibilität der Methode in der Psychologie, der
4
Sozialpsychologie und der Pädagogik eine Notwendigkeit ist. Diese These wurde von
behavioristischen oder positivistischen Forschungstraditionen immer wieder bestritten
(Piaget, 1976).
Diese Website bietet allgemeine Informationen und Übungen an. Sie enthält vertiefende
Aufsätze zur pädagogisch-psychologischen Arbeit, insbesondere zur Erforschung und
Förderung des logisch-mathematischen Denkens. Sie lädt zu systemischen
Perspektivenwechseln in der Psychologie und der Pädagogik ein (Bronfenbrenner, 1993).
Personen sind Subjekte ihrer Forschungen und ihrer Lernprozesse. Ausgehend von Proust
erlaubt die Methode, dass man in sich selber lesen kann (orig. „(...) le moyen de lire en
eux-mêmes“ (Proust, 1990, p.338).
Das flexible Interview (FI) öffnet den Unterricht für alle, es unterstützt die Prozess- und
die Handlungsorientierung, es optimiert die Einsicht der Lehrpersonen in Denkwege der
Kinder, und es macht neue Dimensionen der sozialen Beziehungen und der Rollen
verständlich. Die Methode erweist sich bei schweren Lern-, Verhaltens- und
Befindlichkeitsstörungen als Türöffner und kreative Starthilfe für Projekte und
Förderprogramme. Wirkungsstudien belegen die Erfolge seit mehreren Jahrzenten, so
auch beim Konzept der 'cognitive acceleration'. Dieser Ansatz integriert Piaget und
Wygotski (siehe auch Kognitive Akzeleration).
Ich danke Gianfranco Arrigo, Nicola Cuomo, Jean-Jacques Ducret, Herbert P. Ginsburg,
Alexander Grob, Priska Hagmann, Alice Imola, Michel Perraudeau, Leslie Smith, Stuart
Twiss, Erich Ch. Wittmann, Gerald Wittmann sowie den Schulischen Heilpädagoginnen
und den Schulpsychologen für die Anregungen und die Unterstützung. Möge die
Zusammenarbeit dazu beitragen, dass das flexible Interview als Kulturgut Psychologie und
Pädagogik bereichert. Ebenso danke ich der Fondation Jean Piaget für die Fotografien.
2 ABC des flexiblen Interviews
Der Begriff des flexiblen Interviews ist im englischsprachigen Raum geläufig. Er ist
gleichbedeutend mit dem Begriff der revidierten klinischen oder der kritischen Methode.
Die Methode wird der qualitativen Sozialforschung zugeordnet.
5
Die kritische Methode der Genfer Schule ist die Grundlage für
entwicklungspsychologische und für erkenntnistheoretische Forschungen. In der
Pädagogik kann mit ihr das dialogische Lernen gefördert und dynamisiert werden. Mit der
kritischen Methode können aber auch schulische Lehr- und Lernprozesse erforscht
werden (Bang, 1966; Ducret, 2004).
Abb. 2: Amazonas
Der Einfluss des FI in der Schule kann verglichen werden mit einem Bild des Amazonas,
das D'Ambrosio (2004, siehe Abb. 2) im Zusammenhang mit der Ethnomathematik
vorgestellt hat. Der Lauf der Dinge der Schule wird durch Zuflüsse verändert.
Das bedeutet für das ABC des FI, dass die kritische Methode Psychologen wie
Pädagoginnen in den Bildungsprozess integrieren möchte, vergleichbar mit einem Fluss,
in den Seitenarme einmünden.
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass das FI Vorgänger in der Antike hat, wie z.B. den
Menon-Dialog. Darin beschrieb Platon in der sogenannten geometrischen Episode, wie
Sokrates mit einem Sklaven über die Verdoppelung der Quadratfläche sprach, ohne dass
er ihn dabei belehrte. In Planton's Akademie war dieser Dialog ein Lehr- und Übungsstück
der sogenannten Hebammenkunst (Merkelbach, 1988).
Auch in der fernöstlichen Weisheitsliteratur findet man Texte, die das Lernen dem
Belehren vorziehen, wie z.B. im Shobogenzo. Charakteristisch an allen Beispielen ist, dass
Erkenntnis durch Dialog sowie durch Betrachtung von Erfahrung erzeugt wird. Es geht
nicht um Rechthaben, sondern um Einsicht (Merkelbach, 1988). Piaget's (1976) Theorie
6
der Intelligenz betont die Evolution, die Wechselwirkung mit der Umwelt und das Denken
und Tun des Subjekts. Intelligenz ist nicht eine Summe von Variablen, sondern ein
permanentes, schöpferisches Konstruieren.
Das flexible Interview, Sokrates' Hebammenkunst und Wygotski's (1986) Methoden
gehören zu jenen Techniken und Auffassungen, welche nach Wittgenstein (1980) als
Sprachspiele (language-game) bezeichnet werden können.
Das ABC des FI bietet eine Einführung in die Technik, es differenziert den Aspekt der CoKonstruktion und es gibt Hinweise auf dialogische Bildungsprozesse.
3 Über dieses Tool
Dieses Tool ist in Fortbildungen von Schulpsychologinnen und Schulpsychologen,
Primarlehrpersonen sowie schulischen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen seit über 15
Jahren eingesetzt und differenziert worden.
Als Methode ist das FI erkenntnistheoretisch, diagnostisch und praktisch wegweisend
(Fetz, 1978). Im Anschluss an die Grundlagenforschungen der Genfer Schule wurde das FI
zur Erforschung von Verständnisprozessen in den verschiedensten wissenschaftlichen
Disziplinen angewendet. Gleichzeitig stieg die Bedeutung des FI in der fachdidaktischen
Forschung und Entwicklung (Morgado & Parrat-Dayan, 2002).
Die Erfahrungen belegten, dass die Methode polyvalent ist. Montada (1998) brachte dies
auf den Punkt, als er 1982 in der ersten Ausgabe der "Entwicklungspsychologie" schrieb:
Im Lichte dieser Überlegungen ist Piagets klinische Methode der Befragung von Kindern zu
Phänomenen und Problemen, die von ihm als eine Methode der Diagnose des
Strukturniveaus seiner Probanden verstanden wird, in Wahrheit bereits die ideale Methode
des Unterrichtens: Probleme werden gestellt, aber keine Lösungen durchgesetzt und auf
oberflächlichem Niveau automatisiert. (S. 559)
Wittmann (1982) leistete Pionierarbeit, als er die Methode im deutschsprachigen Raum in
die Ausbildung der Lehrpersonen in der Fachdidaktik der Mathematik aufnahm und als
Standard etablierte.
7
Das Tool erläutert methodische Bausteine und lädt zu einem exemplarischen Rollenspiel
ein, in dem Sie konkrete Erfahrungen mit dieser Methode machen können. Übungen sind
in dreierlei Hinsicht notwendig sind. Einerseits bewegen sich Forschungsübungen im
individualpsychologischen Bereich. Dabei sollen Denkwege und deren Entwicklung
rekonstruiert werden. Andererseits müssen Forschungen gruppale bzw.
interaktionistische Fragen erörtern, insofern sie die Bedeutung der Kommunikation, der
Rolle und der Kooperation einsichtig machen wollen (Steinbring, 2009). Die dritte Hinsicht
geht davon aus, dass pädagogisch-didaktisches Wirken immer in Wechselwirkung
zwischen dem Individuellen, dem Gruppalen und der Aufgabe in der jeweiligen
Fachdisziplin aufgefasst werden sollte.
Man muss sich Zeit geben für das Lernen aus Erfahrung, um die Wirkung dieser Methode
in der Praxis entfalten zu können. Aktuelle Projekte arbeiteten mit Zeitbudget zwischen 612 Monaten. Workshops dienen der Einführung. Die Vertiefung erreicht man am besten
über berufsbegleitende Fortbildungen, in denen sich Gruppen während eines Jahres im
Rhythmus von 14 Tagen für 2.5 Stunden treffen (vgl. Steinberg et al., 2004).
Abb. 3: Das flexible Interview als Unterrichts– und
Forschungsmethode
4 Gutes Interviewen - Bausteine
Zur Einführung in die Methode haben wir die Hinweise und den didaktischen Aufbau von
Ginsburg (1987) verwendet. Auf den verlinkten Seiten werden fünf Dimensionen
erläutert. Sie sind verankert im Erkennen, im Ethos und im Handeln (Empirie). Zur
Vertiefung wird auf Inhelder, Sinclair & Bovet (1974), auf Wittmann (1982) und auf
Inhelder & de Caprona (1992) verwiesen. Tipp: Halten Sie sich nicht kleinschrittig an diese
Empfehlungen, versuchen Sie von Anfang an differenzierend und schöpferisch zu
8
arbeiten. Die wirkungsvollste Einführung besteht darin, dass man ein flexibles Interview
vorbereitet, durchführt und auswertet - inhaltlich - methodisch - methodologisch.
4.1 Aufbau FI: Allgemeiner Rat
Beginnen Sie Ihr flexibles Interview langsam und auf einem allseitig angenehmen Niveau.
Behelfen Sie sich für anfängliche Fragen mit existierenden Tests. [z.B. Anamnesebögen]
Erinnen Sie sich in der Nachbereitung an eigene Probleme oder Gefühle in der
Testsituation [z.B. im Umgang mit dem Werkzeug, an die Beziehung zum Kind].
Machen Sie nur kurze Interviews und konzentrieren Sie sich auf eine begrenzte Menge
von Material.
Abb. 4: Pierre Gréco während eines Interviews
Flexibles Interview mit zwei Knaben - ein Beispiel
4.2 Aufbau FI: Beziehung herstellen
Die Situation sollte ruhig und frei von Ablenkungen sein.
Sie sollten der/die einzige anwesende Erwachsene sein.
Verbringen Sie vor dem Interview etwas Zeit mit dem Kind.
9
Beruhigen Sie das Kind vor Beginn des Interviews mit einem auflockernden Gespräch oder
beschäftigen Sie es mit Aktivitäten wie Zeichnen. [Es soll sich entspannen und öffnen
können.]
Wenn das Kind nicht zu Ihnen reden möchte, holen Sie ein anderes Kind und lassen Sie
die beiden als Team arbeiten. [Hängt von Setting und Auftrag ab.]
Erklären Sie auf ehrliche Art und Weise den Zweck des Interviews. Das Kind sollte dabei
folgendes verstehen können: "Ich möchte gern verstehen, wie Du Mathematikaufgaben
löst. So kann ich vielleicht [Deine Stärken und Schwächen oder auch] den Grund Deiner
Probleme herausfinden und Dir helfen, in Zukunft besser zu lernen."
Zeigen Sie sich warmherzig und unterstützend. Belohnen Sie Anstrengungen. Kritisieren
Sie falsche Antworten nicht. [Stellen Sie keine Suggestivfragen, vermeiden Sie
Belehrungen.]
4.3 Aufbau FI: Denkprozesse aufdecken
Beginnen Sie damit, das Verhalten des Kindes im Klassenraum zu beobachten.
Erfragen Sie, welcher Lehrstoff im Klassenraum momentan behandelt wird.
Bitten Sie das Kind, sich an den gegenwärtig in der Klasse gelehrten Stoff zu ersinnen und
einige Probleme davon zu lösen. "Welche Art von Addition bearbeitet Ihr im Moment?"
"Was hat Dir Dein Lehrer heute in Mathe gezeigt?"
Fordern Sie das Kind dazu auf, Ihnen die Gebiete zu nennen, in denen es Schwierigkeiten
hat. "Mit was hast Du im Moment Probleme?" "Wieso glaubst Du, dass Du damit Mühe
hast?" [Hefte, Bücher, Prüfungsblätter, Situationen des Unterrichts z.B. als
Diskussionsgrundlage.]
Stellen Sie die Aufgaben so offen wie möglich. "Wie gehst Du mit diesem Problem um?
[Was machst Du, wenn Du merkst, dass Du wieder auf Schwierigkeiten stösst? Was
denkst Du, fühlst Du dann?]"
10
Erfragen Sie Informationen, welche die Strategien, mit denen das Kind Probleme löst, zu
erfassen versuchen. "Wie hast Du das gemacht? Auf welchem Weg hast Du diese Antwort
bekommen? Kannst Du mir mehr darüber erzählen?"
Nicken, lächeln, pausieren Sie oder sagen Sie "uhmm", wenn Sie das Kind zu weiteren
Mitteilungen bewegen möchten. [Lassen Sie das Kind entscheiden, worüber es
weiterreden will oder ob es das Thema wechseln möchte.]
Wiederholen Sie die letzte Aussage des Kindes, damit es diese evtl. noch genauer darlegt.
Folgen Sie den Denkprozessen des Kindes bis zur letzten Antwort, damit Sie sicher sind,
seine Strategien verstanden zu haben.
Legen Sie dem Kind keine Worte in den Mund. [Keine Suggestivfragen.]
[Stellen Sie die Fragen entsprechend dem sprachlichen Niveau des Kindes.]
4.4 Aufbau FI: Beschreiben, wie das Denken vor sich geht
Machen Sie sich eine Vorstellung davon, wie das Kind bestimmte Probleme löst. Bereiten
Sie dann einige Aufgaben vor, um Ihre Hypothesen zu testen.
Versuchen Sie, solche Aufgaben zu stellen, die das Kind mit verschiedenen Strategien
lösen kann.
Die Aufgaben sollten von einem allgemeinen Niveau ("Was tust Du mit diesen Zahlen?")
zu einem spezifischen ("Kannst Du diese im Kopf addieren?") fortschreiten. [Das Kind soll
eine Rangliste mit leichten, mittleren und schwierigen Aufgaben machen.]
Die Aufgaben sollten anfangs leicht sein, dann stetig schwieriger werden. [Sie sollten
verschiedene Prozeduren, Strategien und Sachgebiete ansprechen. Das Kind soll die
Reihenfolge der Aufgabenlösungen selber herstellen.]
11
4.5 Aufbau FI: Kompetenz beurteilen
Verstärken Sie Bemühungen des Kindes und zeigen Sie Interesse für seine Arbeit.
Kritisieren und drängen Sie nicht, wenn das Kind Mühe hat. Machen Sie eine Pause oder
wechseln Sie die Aufgaben, wenn das Kind ermüdet.
Benützen Sie ein sprachliches Niveau, das der Verständnisfähigkeit des Kindes entspricht.
Variieren Sie die Wortwahl, wenn das Kind die Frage nicht versteht. "Kannst Du
subtrahieren? Kannst Du abziehen?"
Wenn das Kind dem Lehrer nachredet oder einen Text auswendig nacherzählt, bitten Sie
es, die Antwort in seinen Worten zu wiederholen. "Kannst Du das mit Deinen eigenen
Worten sagen?"
Fordern Sie die Antwort des Kindes heraus, um den Grad seiner Überzeugung zu
bestimmen. "Wie kann das wahr sein? Johnny tut es nicht auf diese Art."
4.6 Flexible Interviews erweitern den Handlungsspielraum von Lehrpersonen
Konventionelle Testmethoden oder das Beobachten allein führen auch die Pädagogik
rasch an Grenzen der Erkenntnis. Flexible Interviews in Gruppen schaffen offene,
operative und erkenntnisorientierte Unterrichtssituationen. Die Methode erzeugt
Einsichten bei den Lernenden und den Lehrenden, Einsichten in das Thema und
Einsichten in die Methode selber. Wer mit Kindern arbeitet oder spielt, kann diese
Prozesse ohne Umschweife erfahren. Diese Webseite enthält theoretische und praktische
Beispiele zu diesem Thema. Spiele eignen sich ganz besonders, um den Nutzen der
Methode für die Pädagogik und die Fachdidaktik zu erkunden und zu exemplifizieren.
Nachdenken über Bildung wird der pragmatischen Erkenntnistheorie zugeordnet (Rorty,
1987). „Unter Umständen sagt man einfach etwas – man leistet keinen
Forschungsbeitrag, sondern man partizipiert an einem Gespräch“ (ebd., S. 402). Ein
flexibles Interview zu machen, ist operative Partizipation: "Vamos caminando", man
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macht sich auf den Weg mit dieser Hebammenkunst. So entwickeln sich Pädagoginnen
und Pädagogen auch zu bildenden Philosophen. Die Verhältnisse ähneln dem MenonDialog. Bildende Philosophie wäre der Dialog zwischen Sokrates und Menon. Das wäre die
theoretische Konversation. Das Pädagogische ist dann die echte Auseinandersetzung mit
einer Geometrieaufgabe zwischen Sokrates und dem Knaben. Der operative Dialog würde
in einem Text literarisch rekonstituiert. Nach Derrida (2014) symbolisieren die Texte
Sokrates in Platon und Platon in Sokrates angesichts einer philosophischen Aufgabe.
Bildung erscheint als einzigartiger, existenzieller Akt zwischen Personen und einer Sache.
5 Die Methode des flexiblen Interviews im Rollenspiel üben
Das zu spielende Ereignis: Eine Person hat soeben eine Rechenprobe absolviert. (Man
wähle dazu niveauorientiert einzelne Aufgaben aus und lasse sie während kurzer Zeit
lösen. Es spielt keine Rolle, ob sie fertig oder richtig sind). Die Person berichtet einem
schulischen Heilpädagogen über die kurze Rechenprobe. Sie wählt eine Aufgabe aus, über
die sie gern genauer reden möchte. Der schulische Heilpädagoge wendet die Technik des
flexiblen Interviews an. Dadurch will er eine Vorstellung darüber gewinnen, was die
Person aus der Rechenaufgabe gemacht hat und wie es ihr dabei ergangen ist. Eine
Beobachterin nimmt auf, wie sich die Gesprächssituation entwickelt. Es lohnt sich, wenn
man die Szene videographiert.
Die zu spielende Situation: Arbeitstisch, Stühle, Schreibmaterial, Rechenaufgabe
Rollenaufteilung : Die Gruppe bestimmt, wer Interpret oder Interpretin der Person und
des schulischen Heilpädagogen ist und wer die Beobachtungsaufgabe löst.
Das Rollenspiel: Die Gruppe gewöhnt sich in ein paar Minuten an die Rollen. Danach
beginnt die Inszenierung.
Evaluation : In der Spielgruppe (freiwillig)
Die Schauspieler und der Beobachter tauschen aus, was sie erlebt, gefühlt und gedacht
haben.
13
In der Lerngruppe
Austausch der Rollenerfahrungen nach den obigen Kriterien, diesmal spartenweise.
Zuerst berichten die Rechner, dann die schulischen Heilpädagogen, zuletzt die
Beobachterinnen. U.U. kann man auf die Schlüsselszenen der Kurzfilme zurückgreifen.
6 Erfahrungen und Kenntnisse vertiefen
Der Wert und die Wirkung des flexiblen Interviews entfalten sich aufgrund von
Erfahrungen und Lernprozessen. Die Methode wurde von den Anfängen ums Jahr 1926 an
kritisch hinterfragt und differenziert. Nach Bliss (2010) war der Forschungsalltag in Genf
wie folgt organisiert. Die Forscherinnen und Forscher (auch Studierende vom ersten
Semester an) besuchten jeden Nachmittag! von 13.30-15.30 Uhr Schulen, um Kinder zu
interviewen und mit ihnen zusammenarbeiten zu können. Der Donnerstagnachmittag war
davon ausgenommen. Dieser direkte Zugang zum Testen innerhalb der Schule und die
fortlaufende Überprüfung sowie Verfeinerung der Forschung wurden ergänzt durch den
Austausch an der Universität. Piaget und Inhelder trafen alle Forschenden immer
montags von acht bis neun Uhr. Dort wurden die Forschungserfahrungen gestaffelt
ausgewertet. Danach wurden Forschungsprojekte besprochen.
Das flexible Interview wird weltweit in der Grundlagenforschung der
Kognitionspsychologie, in der Erkenntnistheorie und der Lernforschung verwendet.
Drei Verwendungszwecke können skizziert werden. Der erste nimmt das flexible
Interview als Forschungsmethode im Bereich der genetischen Erkenntnistheorie (siehe
Exkurs). Der zweite bedient sich des flexiblen Interviews in der dynamischen Diagnostik.
Der dritte setzt das flexible Interview in pädagogischen Situationen ein. Dabei werden die
fachlichen Kompetenzen der Beteiligten nachhaltig, dialogisch und niveaubewusst
differenziert. Lesen Sie dazu eine eindrückliche Umschreibung von Bärbel Inhelder (1963,
S. 262), Übersetzung d. Verf. siehe unten S. 15.
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Zum ersten Verwendungszweck gönnen wir uns einen philosophisch-poetischen Exkurs
zur Frage, was denn Erkenntnis sei und wie wir sie erlangen. Es handelt sich um den
Aphorismus Nr. 324 aus *Die fröhliche Wissenschaft“ von Nietzsche (2006, S. 213).
In media vita. - Nein! Das Leben hat mich nicht enttäuscht! Von Jahr zu Jahr finde ich es
vielmehr wahrer, begehrenswerther und geheimnisvoller, - von jenem Tage an, wo der grosse
Befreier über mich kam, jener Gedanke, dass das Leben ein Experiment des Erkennenden sein
dürfe - und nicht eine Pflicht, nicht ein Verhängnis, nicht eine Betrügerei! - Und die
Erkenntnis selber: mag sie für Andere etwas Anderes sein, zum Beispiel ein Ruhebett oder der
Weg zu einem Ruhebett, oder eine Unterhaltung, oder ein Müssiggang, - für mich ist sie eine
Welt der Gefahren und Siege, in der auch die heroischen Gefühle ihre Tanz- und
Tummelplätze haben. "Das Leben ein Mittel der Erkenntnis" - mit diesem Grundsatze im
Herzen kann man nicht nur tapfer, sondern sogar fröhlich leben und fröhlich lachen! Und wer
verstünde überhaupt gut zu lachen und zu leben, der sich nicht vorerst auf Krieg und Sieg gut
verstünde?
Studierende der schulischen Heilpädagogik fragen oft, welche Rolle das flexible Interview
im Unterricht denn spielen könne? Für Schulpsychologinnen und Schulpsychologen sind
die flexiblen Interviews interessante qualitative Verfahren, doch wie passen sie in die von
Faktoranalysen scheinbar verifizierten Modelle der Persönlichkeit? – Beginnen wir die
Antwort mit dem Titel des Aphorismus 324. „In media vita“. Der Ablativ ist eine
adverbiale Bestimmung auf Fragen des Woher, des Wovon, des Wo, des Wann, des
Womit und des Wodurch. All das fängt der Titel ein, als das „in der Mitte des Lebens“. Der
befreiende Gedanke ist nach Nietzsche: dass das Leben selber ein Experiment des
Erkennenden sein darf. Es muss nicht nur Pflicht, Verhängnis und Betrügerei sein. Der
grosse Befreier kann Pädagoginnen und Pädagogen zur Mitte des Schullebens führen. Er
kann psychologischen Arbeits- und Beratungssituationen Auftrieb und Bedeutsamkeit
geben, in dem das Experiment des Erkennenden durch befreiende Methoden gefördert
wird. Das flexible Interview ist so ein Werkzeug, in der Psychologie wie in der Pädagogik.
Das flexible Interview einzusetzen bedeutet, dass man vorwärts schreitet. Es bedeutet,
dass man die Spekulationen verlässt, wie sie in Schulstunden „über das Leben“ angestellt
werden. Man wählt eine Methode, um sich „in medias res“ zu begeben (Piaget, 1975).
Paradoxerweise wird nun eingewendet, dass man bei Verwendung dieser Methode den
Schulstoff (oder den Lehrstoff an den Hochschulen) nicht durchbringt, weil scheinbar zu
15
wenig Zeit zur Verfügung steht, um zum Kern der Lehrstoffe vorzudringen. Dem steht
entgegen, dass man dank dieser Methode den Schulstoff und die Lernenden besser
kennen lernt. Und welcher Pädagoge, welche Pädagogin, welcher Schulpsychologe und
welche Schulpsychologin möchten sich dieser Erkenntnis entziehen?
Bärbel Inhelder verfasste eine eindrückliche Umschreibung der Pragmatik des flexiblen
Interviews (1963, S. 262). Sie bezieht sich sowohl auf die Forschung, als auch auf die
Diagnostik und die Didaktik.
Abb. 5: Bärbel Inhelder
Foto von Jean Mohr, Genf
La méthode clinique exige évidemment une pratique subtile et un ensemble de précautions. II
faut éviter autant le danger de suggérer à l'enfant une direction de pensée qui n’est pas la
sienne, que celui d'une interprétation naïve qui consisterait à attribuer une valeur totale et
égale à tous ses propos. Procéder cliniquement signifie se débarrasser de toute attitude
réaliste et interpréter les données en tant que signes relatifs : c’est­à-dire savoir organiser une
expérience, poser des problèmes, conduire la conversation de façon à trancher entre
plusieurs hypothèses, chercher à les contrôler tout en observant les faits qui peuvent
dépasser ou contredire les cadres préconçus; et finalement rendre l'enfant actif en s'adaptant
à chaque cas particulier sans perdre de vue les normes générales, suivre les sinuosités de sa
pensée tout en la dirigeant vers les points cruciaux. La technique de la conversation clinique
ne s'apprend pas du jour au lendemain; elle exige une longue préparation. C'est là peut-être
l'obstacle principal à l'emploi de nos épreuves de diagnostic opératoire.1
1
Inhelder (1963, S. 262): Die klinische Methode erfordert natürlich eine subtile Praxis und eine Reihe von
Vorsichtsmaßnahmen. Auf der einen Seite muss man es vermeiden, dem Kind fremde Denkrichtungen
einzuflössen. Auf der andern Seite gilt es, naive Interpretationen zu vermeiden, welche darin bestehen, dass
16
Inhelder, Sinclair, Bovet (1974, S.35) präzisierten die Umschreibung: „La méthode clinique
– plus significativement appelée „méthode d’exploration critique“ (…).“
Wenn Sie für ein Schulhaus oder für eine regionale Fachgruppe einen Workshop
organisieren möchten, so können Sie sich direkt mit den Verantwortlichen der
Weiterbildung in Verbindung setzen. Mail: Weiterbildung
Für Kurzberatungen, Einführungskurse oder Supervisionen steht ein Abrufkurs aus dem
Dienstleistungsangebot der HfH zur Verfügung. Link
man all seine Äusserungen mit einem undifferenzierten Gesamturteil versieht. Das klinische Vorgehen
bedeutet, dass man sämtliche Einstellungen des Realismus (Präzisierung siehe unten, Anm. d. Verf.) los wird
und die Daten als relative Zeichen interpretiert. Es bedeutet, dass man ein Experiment organisieren kann,
dass man Probleme stellen kann, dass man ein Gespräch so leiten kann, dass zwischen mehreren
Hypothesen unterschieden werden kann, dass man versucht, die Hypothesen zu kontrollieren, indem man
gleichzeitig die Tatsachen beobachtet, welche die geplanten Rahmenbedingungen überschreiten oder ihnen
widersprechen; schliesslich soll man das Kind zum Aktiv-Sein bringen, indem man sich auf jedes persönlich
einstellt, ohne dass man die allgemeinen Regeln aus den Augen verliert. Man soll den Denkwegen des
Kindes folgen, indem man sie auf die entscheidenden Punkte lenkt. Die Technik der klinischen Methode
erwirbt man nicht von heute auf morgen; sie erfordert eine lange Vorbereitung. Vielleicht liegt darin ein
Haupthindernis für den Einsatz unserer operativen Diagnostik. (Übers. v. Verf.)
Nach Fetz (1988) wird unter Realismus die Annahme verstanden, dass Konstrukte des menschlichen Geistes
mit Formen des Wirklichen selber identifiziert werden.
Lassen sich die natürlichen Zahlen noch als abstrakte Wiedergabe der im Realen angetroffenen
numerischen Verhältnisse auffassen, so stellt die Algebra eine Disziplin dar, die auf freien
Setzungen und Kombinationen beruht. Aber diese frei von unserem Geist konstruierte
Wissenschaft führte nicht von der Wirklichkeit weg, sondern liess diese tiefer erfassen. (ebd., S. 72)
Die Vermutung des vorherrschenden Realismus kommt besonders im Umgang mit Anschauungsmitteln zum
Tragen. Der Realismus geistert in allerhand Diskursen über „Abbildung“ oder über den in
Anschauungsmitteln innewohnenden Strukturen herum. Spätestens beim Scheitern der Übermittlung von
Inhalten
mit
Hilfe
von
Anschauungsmitteln
sollte
klar
werden,
dass
der
Realismus
ein
erkenntnistheoretisches Hindernis ist.
17
7 Geometrie des FI: Erfahrungen vertiefen
Flexible Interviews kann man an beliebigen Gegenständen und mit Personen jeglichen
Alters durchzuführen.
Erinnern Sie dabei das Dreieck: Interviewende—Forschungsgegenstand—Interviewte. Das
ist die Grundstruktur dieser Situation (siehe Abb. 6 unten).
Thema
Forschungsgegenstand
Interviewende
Interviewte
Flexibles Interview
Abbildung 6: Die Geometrie des flexiblen Interviews
Am Anfang ist es normal, dass man sich in der einen oder andern Ecke des Dreiecks
„verliert“, man bleibt bei sich hängen, man verliert sich in den Gedanken des Andern,
oder man ist mit dem Inhalt oder dem Forschungsgegenstand verstrickt.
Wollen Sie Ihre Kompetenzen ausbauen und differenzieren, dann sollte auch Fachliteratur
verwendet werden. Die Forschungstradition ist komplex und reichhaltig.
Entscheiden Sie sich für exemplarische Lernprozesse. So lernen Sie verschiedene Themen,
die Differenzierung der Methode und zu guter Letzt den Nutzen des Flexiblen Interviews
für den Unterricht kennen.
8 Das flexible Interview und die Forschung
"Stets haben wir es mit derselben methodologischen Definition zu tun: Sage mir, wie man
dich sucht, und ich sage dir, was du bist" (Bachelard, 1988, S.138).
18
Wie entwickeln sich das Erkennen und das Verständnis von Kindern und Jugendlichen?
Welches sind die Obergrenzen der intellektuellen und moralischen Leistungsfähigkeit?
Das waren Leitfragen von Piagets Intelligenzforschung. Damit waren auch die Inhalte, die
Strukturen und die Funktionen intelligenten Verhaltens gemeint (siehe Ginsburg und
Opper, 2004). Diese offene Definition von Intelligenz ähnelt in gewisser Weise dem
mehrdimensionalen Ansatz von Gardner (....). Was hier beschäftigt, ist weniger die Vielfalt
der Definitionen von Intelligenz als vielmehr die Art und Weise, wie geforscht worden ist.
Die Methode besteht wie erwähnt aus der flexiblen Verwendung der Beobachtung, der
Befragung, des Experiments und des Tests. Ginsburg und Opper (2004, S. 150f.) streichen
vier Bausteine der Methode heraus:
- Die Fragen des Versuchsleiters beziehen sich auf konkrete und vorliegende Gegenstände
oder Ereignisse.
- Das Kind kann die Antworten durch Manipulation der Gegenstände zum Ausdruck
bringen.
- Der Versuchsleiter kann Standpunkte des Kindes mit Gegenargumenten oder
Gegenvorschlägen in Frage stellen.
- Die Versuchsleiterin kann die Fragen fortlaufend verändern, so wie es die Situation
erfordert.
Die Methode will bedeutsame Erfahrungen ermöglichen, auf denen man in der
psychologischen und der pädagogischen Arbeit aufbauen kann. Die Methode fördert die
Prozessorientierung in der Pädagogik und leistet gleichzeitig wesentliche Beiträge für die
qualitative Sozialforschung und die qualitative Entwicklungspsychologie (Mey, 2000;
Kleining & Witt, 2001; Diriwächter & Valsiner, 2006).
In den neuen Intelligence and Development Scales (IDS) wurde das flexible Interview im
Untertest Denken Logisch-Mathematisch eingesetzt.
Perraudeau (2002) hat den Einsatz der Methode in pädagogischen Settings systematisch
dargestellt und weiter entwickelt. Perret-Clermont & Nicolet (2001) sowie PerretClermont, Nicolet & Schubauer-Leoni (2000) haben den Einfluss der Interaktion auf die
19
Entwicklung der Intelligenz eingehend erforscht. Diese Themen werden im Abschnitt FI &
unterrichten erörtert.
Mit Blick auf die klassischen und die neueren Forschungsbeiträge wird der Schluss
gezogen, dass das flexible Interview eine Methode ist, mit der sowohl Individuen als auch
Situationen erforscht werden können, in Anlehnung an ein kritisches, operatives und
systemisches Paradigma (Bronfenbrenner, 1993).
In diesem Abschnitt werden einzelne flexible Interviews zu spezifischen Themen der
Denkentwicklung in der Mathematik vorgestellt. Eine Auswahl an flexiblen Interviews
steht frei zur Verfügung.
8.1 Klassische flexible Interviews
Die flexiblen Interviews befassen sich mit dem Verständnis verschiedenster Gegenstände
wie z.B. Blumensträussen, Tieren, dem Uhrwerk, mit physikalischen und chemischen
Sachverhalten, mit Mengen und mit Objekten der Geometrie sowie mit Regeln des
sozialen Lebens. Die Genfer Schule hatte sich zum Ziel gesetzt, beschreiben und erklären
zu können, wie sich die Einsicht in die immer komplexeren Objekte und Sachverhalte
entwickelt. Dabei war klar, dass gesellschaftliche Zwänge und Schablonen das Individuum
und dessen Erforschung entfremden können. Es handelt sich auch um die fortlaufende
Suche nach Formen des Gleichgewichts und der Gegenseitigkeit (Reziprozität) in der
Autonomie und der Mitverantwortung (siehe Piaget, 1976).
Die kritische Methode der Genfer Schule ist die Grundlage für
entwicklungspsychologische Forschungen und für erkenntnistheoretische Erfahrungen.
Sie ist auch ein Medium in der Bildung, welche das Denken, das Operieren mit
Gegenständen sowie die Kooperation auf einer dialogischen Grundlage entfalten möchte.
Merkelbach (1988, S. 69) umschrieb das Wort "Philosophie" mit "Sehnsucht nach dem
Wissen". Platons Texte waren nach Merkelbach (ebd., S. 6) "Übungsbücher für den
20
Gebrauch im Unterricht". Im Menon-Dialog beschrieb Platon in der sogenannten
"geometrischen Episode" (ebd., S.6), wie Sokrates mit einem Sklaven über die
Verdoppelung der Quadratfläche sprach, ohne dass er ihn dabei belehrte. Dieser Dialog
wurde zum Lehrstück und Übungsstück der sogenannten Hebammenkunst.
Ein Beispiel dieser Methode ist "Anouchka et l'inclusion des fleurs" (Klasseninklusion). Das
Mädchen soll herausfinden, ob es in einem Blumenstrauss (Rosen und Nelken) mehr
Rosen oder mehr Blumen hat. Der Film wird von der Fondation Jean Piaget zur Verfügung
gestellt.
Abb. 7: Blanchet & Valladao (1990): Maschinen und ihre Regulierung verstehen
8.2 Mathematisches Denken erforschen und fördern
Im Zuge der Revision des Binet-Simon-Kramer Intelligenztests (Kramer, 1972) entschied
die interdisziplinäre Projektgruppe, bestehend aus Fachpersonen aus Wissenschaft und
Praxis der Psychologie und Heilpädagogik , ein neues Instrument zu schaffen. Eine
Auswahl von Aufgaben des Kramer-Tests wurde in das neue Verfahren aufgenommen.
21
Die neu entwickelten Intelligence and Development Scales (IDS; Grob, Meyer & Hagmannvon Arx, 2009) liefern sowohl einen Intelligenzwert als auch eine
Entwicklungsprofilanalyse für die Funktionsbereiche Kognition, Psychomotorik, SozialEmotionale Kompetenz, Mathematik, Sprache und Leistungsmotivation. In diesem
Abschnitt werden Hinweise auf die Methodenfrage zum Funktionsbereich Mathematik
mit dem Untertest Denken Logisch-Mathematisch gegeben.
Die Methodenfrage ist in der Diagnostik des logisch-mathematischen Denkens von
zentraler Bedeutung. Als Mitglied der Projektgruppe konzipierte ich die Wahl und die
Entwicklung von Aufgaben zum Untertest Denken Logisch-Mathematisch. Es sollte
gewährleistet werden, dass der psychologische Test dem Wesen der Mathematik und der
Entwicklung des logisch-mathematischen Denkens möglichst nahe kommt. Dies geschieht
durch die Kombination von bedeutsamen, offenen Aufgaben auf der einen Seite mit einer
dynamischen Methode auf der andern Seite. Im Durchschnitt dauert diese Untersuchung
11 Minuten. Die Forschungen von Montada (1982) und Wittmann (1982) bestärkten die
Wahl, das flexible Interview im Untertest Denken Logisch-Mathematisch zum
Hauptinstrument zu nehmen. "Im Lichte dieser Überlegungen ist Piagets klinische
Methode der Befragung von Kindern zu Phänomenen und Problemen, die von ihm als
eine Methode der Diagnose des Strukturniveaus seiner Probanden verstanden wird, in
Wahrheit bereits die ideale Methode des Unterrichtens: Probleme werden gestellt, aber
keine Lösungen durchgesetzt und auf oberflächlichem Niveau automatisiert" (Montada,
1998, S. 559). Diese These umfasst die Kombination von Aufgaben und Methode im
Setting der psychologischen Forschung und Diagnostik, sowie im Setting der Schule. Die
Normierung der IDS lieferte für den Untertest sehr gute teststatistische Werte.
Wie kann der dynamische, prozesshafte und ökosystemische Charakter der Methode des
flexiblen Interviews bei der Erforschung und der Förderung des mathematischen Denkens
und Handelns deutlicher zum Tragen gebracht werden? Dieser Frage wird in einem
separaten Aufsatz nachgegangen, der eigens für die Klärung des
Verwertungszusammenhangs der IDS verfasst worden ist: "Logisch-mathematisches
Denken erforschen. Erkenntnistheoretische und pragmatische Erörterungen zum
Untertest Denken Logisch-Mathematisch der IDS" (Meyer, 2009b). Der Aufsatz richtet sich
an Fachleute, welche die Einsicht in psychodiagnostische, fachdidaktische und psycho22
pädagogische Zusammenhänge vertiefen möchten. Dabei wird von der These
ausgegangen, dass psychodiagnostisch erzeugtes Expertenwissen in der Beratung und in
der Schule erst zum Tragen kommen kann, wenn die Systempartner ein gemeinsames
fachdidaktisch-pädagogisches Referenzschema aufbauen. Solange der folgende Satz nach
(schul-) psychologischen oder kinderpsychiatrischen Abklärungen herumgeistert: "Der
Befund ist interessant, doch was kann in der Schule damit angefangen werden", solange
sind die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Systemen dysfunktional.
Pädagogik, Schulpsychologie und Heilpädagogik sollten den Unterricht gemeinsam
entwickeln lernen.
Literatur
Grob, A., Meyer, C.S. & Hagmann-von Arx, P. (2009). Die Intelligence and Development
Scales (IDS). Bern: Hans Huber.
Meyer, S. (2009b). Logisch-mathematisches Denken erforschen. Erkenntnistheoretische
und pragmatische Erörterungen zum Untertest Denken Logisch-Mathematisch der IDS.
(Link im Aufbau)
8.3 Das Zehnersystem verstehen
Das dezimale Positionssystem fordert die mathematische Bildung heraus. Viele Lernende
haben selbst auf der Sekundarstufe 1 beträchtliche Probleme damit (Ruflin, 2008). Die
Grundlagenforschung bestätigte, dass z.B. die Einsicht in die Struktur der
Zehnerbündelung nicht wie erwartet am Ende der zweiten Primarklasse ausgebildet ist.
Drei flexible Interviews stehen zur Verfügung. Mit ihnen kann das Verständnis der
Zehnerstruktur operativ und mündlich überprüft werden. Sie zeigen exemplarisch, was
die Flexibilität der Methode bedeuten kann.
Beim ersten Interview soll die Menge von 48 Bohnen herkömmlich je zu zehnt in
Plastikbecher abgefüllt werden. Im Anschluss daran wird geprüft, ob die Person mit dem
23
Begriff des Zehners operiert oder ob sie noch das Einersystem verwendet. Siehe: Bündeln
konkreter Mengen
Das zweite Interview ist die sogenannte umgruppierte Bohnenaufgabe. Von den vier mit
je 10 Bohnen gefüllten Bechern wird einer umgekippt, sodass 3 Becher mit je 10 sowie 18
lose Bohnen auf dem Tisch liegen. Studien zeigten, dass diese Aufgabe höhere
Anforderungen (Stichwort: Zahlbegriff, Invarianz, Strukturierung) stellt. Siehe:
Umgruppierte Bohnenaufgabe
Beim dritten Interview geht es darum, dass Lernende Mengen zwischen 70 und 120 Chips
oder Plättchen bekommen und schätzen sollen, wie viele es sind. In einem zweiten Schritt
wird untersucht, ob die Kinder noch mit dem Einersystem zählen oder den Begriff des
Zehners verwenden.
Siehe: 200 Chips strukturieren Z/E
Weitere flexible Interviews können im Rahmen von Beratungen oder Weiterbildungen
kennen gelernt und erworben werden.
8.4 Bruchzahlen verstehen
Sieben flexible Interviews stehen bereit, mit denen die Einsicht in Bruchzahlen im
Zusammenhang mit geometrischen Modellen erforscht werden kann. Es handelt sich um
vorbereitete offene Aufgaben, welche in Explorationsstudien an rund 200 Kindern
(Durchschnittsalter 10;8 Jahre, Standardabweichung 3;5 Jahre) durch Studierende der HfH
erprobt worden sind. Zum flexiblen Interview Nr. 1, Bruchzahlen und Zahlenstrahl, liegt
eine Auswertung vor, welche als Poster eingesehen werden kann. Die Auswertungen der
andern Interviews sind in Bearbeitung.
24
Abbildung 8:
Die 7 flexiblen Interviews zum Verständnis der Bruchzahlen
Abbildung 8 gibt einen Überblick über die sieben flexiblen Interviews. Es ist ersichtlich,
dass die Interviews 1 bis 4 leicht bis mittelschwer sind. Die Interviews 5 bis 7 wurden nur
noch von 20 % der Kinder der Stichprobe gelöst. Mit grosser Wahrscheinlichkeit bildet die
Fähigkeit zum multiplikativen Denken und Strukturieren der geometrischen Modelle eine
Niveaustufe.
Die Interviews können vom Kindergarten bis zur Sekundarstufe 1 eingesetzt werden. Link
zum Ueberblick mit Angaben zu den Schwierigkeitsgraden.
25
Thema und Testvorlagen:
1 Bruchzahlen und Zahlenstrahl (siehe Poster, englisch)
2 Verdopple eineinhalb auf dem Zahlenstrahl
3 Was ist ein Viertel? Würfelmodell
4 Was ist ein Viertel? Zeichne im Quadrat
5 Quadratfläche von einem halben Meter Seitenlänge berechnen (Symbolisch)
6 Würfelvolumen vergleichen (Enaktiv)
7 Was ist ein Achtel? (Symbolisch am Würfelmodell)
8 Was ist ein Vierundsechzigstel (Symbolisch am Würfelmodell)
Der Aufsatz von Heinrich Winter (o.J.) ist eine lesenswerte Einführung ins Thema. Der
Artikel von Gerald Wittmann (2006)"Grundvorstellungen zu Bruchzahlen – auch für
leistungsschwache Schüler?" bietet wichtige Differenzierungen. Die Erfahrungen mit der
Didaktik des Bruchrechnens zeigen, dass es fragwürdig ist zu glauben, man könne Kindern
die Einsicht in Bruchzahlen mit didaktischen Hilfsmitteln "spenden". Es braucht den
entwicklungspsychologischen Blick genauso wie die Inhaltsanalyse des
Anschauungsmaterials und der mathematischen Bezüge. Weiter gilt: je wirkungsvoller der
Geometrieunterricht ist, desto entwickelter sind die Zahlentheorien und
Operationsverständnisse der Lernenden.
Mehr dazu erfahren Sie in Pflichtmodulen oder in Wahlmodulen der HfH.
9 Das flexible Interview und das Unterrichten
Flexible Interviews kommen in der dialogischen Förderdiagnostik und in der
Prozessbegleitung während des Unterrichts zum Einsatz (siehe Hengartner, 1999; Mast &
Ginsburg, 2010). Skepsis ist angebracht gegenüber Projekten, in denen
26
Entwicklungspsychologie derart mit Fachdidaktik verknüpft wird, dass ein starres,
kleinschrittiges und niveauorientiertes Programm entsteht (Freudenthal, 1977, 1991;
Fuson et al., 2010; Clement & Sarama, 2009). In Anlehnung an Wygotski (1986) steht nicht
das aktuelle Niveau im Zentrum des Interesses sondern die maximal möglichen
Handlungs- und Denkoperationen. - Die Methode ist etwas Ähnliches wie die
Sprachspiele bei Wittgenstein (1980). Die genetisch-systemische Entwicklungspsychologie
unterstützt die didaktische Analyse, auf die jeder Unterricht angewiesen bleibt (Klafki,
1996; Gruschka, 2002; Wittmann, 2002).
In Anlehnung an Masschelein & Wimmer (1996) gilt, dass Pädagogik durch das flexible
Interview theoretisch und pragmatisch genauso dekonstruiert wird, wie die Psychologie
im Arbeitsfeld und den Zwischenräumen der pädagogischen Praxis dekonstruiert werden
muss.
Abb. 9: Lernen und Entwicklung - extreme Pole (Tanner, 1978, zitiert nach Adey & Shayer,
1994, S.5)
Die Abbildung 9 zeigt, dass das flexible Interview zu einem breiten Band von
Interventionsmöglichkeiten passt. Gleichzeitig wird sichtbar, dass die Bedeutungen der
eigentlichen Bildungsprozesse markante Unterschiede aufweisen. Sie reichen vom Lernen
als konditionierter Manipulation bis hin zur ko-konstruktiven Entwicklung autonomer
Subjekte.
An der HfH machten Studierende eine Explorationsstudie mit flexiblen Interviews zum
Thema der Bruchzahlen (siehe Bruchzahlen verstehen) machen.
In Praxisprojekten werden flexible Interviews als Forschungsmethoden eingesetzt.
Christoph Linsi, Schulischer Heilpädagoge, kam in seinem Unterrichtsprojekt zu
27
folgendem Schluss: "Eine gute Ergänzung dazu (gemeint sind standardisierte Tests, Anm.
d.Verf.) sind die flexiblen Interviews, die weit vertieftere Informationen über den Stand
der mathematischen Denkprozesse der Lernenden liefern als die obengenannten Tests"
(2009, S. 60).
Grundsätzlich kann jeder Gegenstand der Bildung mit der Methode des flexiblen
Interviews untersucht werden. Sie ist ein ausgezeichnetes Instrument, um
Lernvoraussetzungen und didaktische Analysen in Echtzeit herzustellen. Sie untersucht
auch Meinungen, Irrtümer und Vorurteile bei den Lernenden und den Lehrenden im Sinn
der sokratischen Hebammenkunst (Koch, 2012).
Die Projektmethode von Frey (2010) fördert die Entwicklung der dialogisch-kooperativen
Prozesse im Unterricht mittel- und langfristig. Didaktische Arrangements wie der
Klassenrat, mathematische Kolloquien, Schreibkonferenzen, Experimente in den
Naturwissenschaften, ein Sitzkreis oder einfach ein Znünikreis bieten ausgezeichnete
Möglichkeiten, um die Kompetenzen, die Sozialisation und die Autonomie zu fördern. Das
flexible Interview ist in diesem Fall eine Methode der Prozessbegleitung.
Der Unterricht wird bedeutsamer und tragfähiger, wenn Schulpsychologinnen und
Schulpsychologen und Schulische Heilpädagogen die Regelklassenlehrpersonen bei Bedarf
unterstützen (vgl. Mast & Ginsburg, 2010). Das flexible Interview wird zum natürlichen
Bestandteil des Unterrichts, es stärkt die Triangulierung zwischen den Lehrenden, den
Lernenden und der Lernaufgabe, es fördert das Teamteaching und die Prozessbegleitung.
Flexible Interviews sollen den Unterricht autonomer, 'leichter' und gleichzeitig kohärenter
machen (Piaget, 1999; Kamii & DeFries, 1993).
28
Abbildung 10: FI und die Handlungsaspekte Mathematik (Lehrplan 21)
Die Abbildung 10 skizziert das Schema, in welchem die Handlungsaspekte der
mathematischen Bildung (operieren und benennen; mathematisieren und darstellen;
erforschen und argumentieren; siehe Lehrplan 21, Schweiz, https://www.lehrplan.ch/ )
mit den methodischen Dimensionen des flexiblen Interviews verknüpft werden. Die
Verbindungen lassen sich nach Bedarf kombinieren.
Auf der anderen Seite ist das flexible Interview eine kritische Methode (Ducret, 2004),
weil sie das Verhalten der Lehrenden und der Prozessbegleiter im Hinblick auf die
zentralen Absichten der jeweiligen Interviews sowie der jeweiligen Situation in Frage
stellt und der Reflexion über Qualität zugänglich macht.
9.1 FI und das Unterrichten - Einleitung
Viele Studien, in denen flexible Interviews eingesetzt werden, finden in Laborsituationen
statt. Die so gewonnenen Einsichten sind klinische (Bliss, 2010). Grossen & Bell (2001)
belegten, dass isolierte Definitionen von Aufgaben und experimentellen Inszenierungen
29
überwunden werden müssten. Das Sprachspiel der Forscher und das Sprachspiel des
Kindes definieren Aufgaben unterschiedlich. Mehrdeutigkeit und Mehrperspektivität
spielen sowohl im Labor wie auch im Klassenraum eine fundamentale Rolle. Das Kind mit
besonderem Förderbedarf soll nicht länger bloss Objekt sein, das man integrieren sollte.
Die Integration der Methode in den Unterricht ist deshalb ein anspruchsvolles,
systemisches Projekt. Dies bedeutet, dass der Fokus nicht nur auf der Interaktion und der
Kognition innerhalb einer Fachdisziplin liegt, sondern auf dem Unterricht als System, auf
den Wechselwirkungen zwischen dem Thema, den Teilsystemen und dem Gesamtsystem.
Anders formuliert geht es um den kritisch-konstruktiven Weg vom Klinischen über das
Psychologische zum Pädagogischen.
Abbildung 11: FI im Unterricht integrieren
Abb. 11 illustriert den folgenden Sachverhalt. Wenn Schulpsychologen und
Heilpädagogen flexible Interviews in den Unterricht integrieren, kann gewährleistet
werden, dass die Diagnostik und die Prozessbegleitung ökologischer oder kohärenter im
und zum Kontext der Pädagogik sind.
Die Abbildung 11 zeigt die von Bliss (2010) geschilderte Forschungssituation der Genfer
Schule. Die Forscher befanden sich zwar in der Schule, aber nicht im Unterricht. Ähnlich
ist die Situation, wenn Schulpsychologen oder Heilpädagoginnen im Schulhaus arbeiten,
30
sich aber nicht in die Unterrichtssituation integrieren. Die Integration der Methode soll
die pädagogische Arbeit dynamisieren.
Die Methode unterstützt Pädagoginnen und Pädagogen im Unterricht wie folgt:
- FI sind präparierte und wissenschaftlich erforschte, offene Aufgaben.
- FI ermöglichen Lehrpersonen und Schulpsychologen, Unterrichtsprozesse integral zu
erforschen und zu entwickeln.
- FI fördern Kommunikation, Kooperation und Einsicht für alle Beteiligten.
- FI sind Bausteine elaborierten Microteachings mit Breiten- und Tiefenwirkung.
Die Methode bewirkt, dass die Schulpsychologie eine integrierte Ressource des
Unterrichts und der Schuleinheiten wird. Jetzt arbeitet man gemeinsam an der Inklusion.
Die Methode stärkt das Schulsystem, dass es sich besser auf die pädagogische Aufgabe
anpassen kann (siehe UNO Behindertenrechtskonvention, Art. 24 Bildung).
9.2 FI mit einzelnen Schülerinnen und Schülern
Die flexiblen Interviews in der Schule sind ein Türöffner zu den Denkwegen, den
Motivationen und den Handlungsmöglichkeiten von Lernenden. Mit ein wenig Erfahrung
kann man sie bei jedem Gegenstand anwenden. Die Moderationstechnik garantiert, dass
die Pädagogin operativ bleibt. Das bedeutet, dass die Lernenden alles lesen, erzählen,
schlussfolgern, imaginieren, schreiben, zeichnen, spielen, gestalten, zählen, messen und
rechnen, was in ihren Möglichkeiten liegt.
Für die Lehrpersonen wirkt die Methode wie ein Türöffner und ein Spiegel für
dialogisches Unterrichten. Die Motivation der Kinder ist ein Indikator dafür, dass die
Pädagogin oder der Schulpsychologe auf gutem Wege sind.
Die pädagogischen oder psychologischen Fragestellungen bestimmen den Zweck von
Interviews. Dazu einige Beispiele:
31
- Wollen Sie die Lerninteressen (Ressourcen) von Kindern klären, bevor ein
Unterrichtsprojekt startet?
- Wollen Sie während einer Unterrichtssequenz mit einem Kind einen Lösungsweg (auf-)
klären?
- Möchten Sie eine dynamische förderdiagnostische Standortbestimmung vornehmen, um
eine abgeschlossene Lernsequenz zu überprüfen?
Operative Einzelinterviews sollten in der Psychologie und in der Pädagogik ein Standard
sein.
Anna Rüegg, SHP, hat die Methode bei Reto eingesetzt, der bisher kaum für das Lesen
motiviert werden konnte. Dieser Schüler hat eine diagnostizierte LeseRechtschreibschwäche und ein ADHS. Die kommentierte Textcollage "Das Lesen im Dialog
erforschen und fördern" vermittelt einen Einblick in die Wirksamkeit des flexiblen
Interviews.
9.3 FI mit Gruppen
Die folgenden Abschnitte umschreiben den Einsatz von flexiblen Interviews von
verschiedenen Seiten.
9.3.1 Einleitung I: Das flexible Interview – ein Hilfsmittel der dialogischen Pädagogik
Die Unterscheidung zwischen dem flexiblen Interview als blosser dialogischen Methode
und einer dialogischen Pädagogik wurde von Donaldo Macedo (2010) auf sehr prägnante
Weise herausgearbeitet. Im folgenden Abschnitt wird ein übersetzter Auszug vorgestellt:
(…)
Unglücklicherweise verwandeln in den Vereinigten Staaten viele Pädagogen, die
angeben sich an Freire zu orientieren, Freire‘s Begriff des Dialoges in eine Methode.
Dabei verlieren sie die Tatsache aus den Augen, dass das fundamentale Ziel des
32
dialogischen Unterrichtens darin besteht, dass ein Prozess des Lernens und Wissens
geschaffen wird, welcher das Theoretisieren der gemeinsamen Erfahrungen beständig
in den dialogischen Prozess einbezieht. Einige Traditionen der kritischen Pädagogik
lassen sich auf eine Überdosis an empirischen Zelebrationen ein. Diese enthalten eine
reduktionistische Sicht von Identität. Dazu stellte Henry Giroux fest, dass solche
Pädagogik Identität und Erfahrung losgelöst von der Problematik der Macht, der
Verwaltung und der Geschichte belässt. Indem die Hinterlassenschaft und die
Bedeutung ihrer jeweiligen Stimmen und Erfahrungen zu nachsichtig behandelt werden,
gelingt es diesen Pädagogen oft nicht, über eine Ansicht von Unterscheidungen hinaus zu
kommen. Sie polarisieren mit Gegensätzen und unkritischen Appellen für den
erfahrungsbasierten Diskurs. Ich glaube, dass dies der Grund ist, weshalb einige von ihnen
romantische pädagogische Weisen beschwören, als wäre das Diskutieren von gelebten
Erfahrungen eine Geisteraustreibung, als wäre es ein Prozess des zu Wort Kommens.
Gleichzeitig verweigern die Pädagogen, welche Freire‘s Begriff des dialogischen Lehrens
fehlinterpretieren, die Verbindung der Erfahrungen mit der Kulturpolitik und der kritischen
Demokratie. Dadurch reduziert sich ihre Pädagogik auf einen Narzissmus der Mittelklasse.
Das verwandelt das dialogische Unterrichten einerseits in eine Methode, die auf Konversation
abstützt und den Teilnehmenden einen gruppentherapeutischen Raum anbietet, in dem sie
ihren Kummer abladen können. Andererseits erhält die Lehrperson als Moderator eine
sichere pädagogische Zone, in der sie mit ihrer Klassen-Schuld umgehen kann. Nach bell
hooks2 ist das ein widerwärtiger Prozess, weil er keinen Dissens verträgt. Freire erinnerte uns
kurz und bündig:
Was von diesen Pädagogen als dialogisch bezeichnet wird, ist ein Vorgang, welcher die
wahre Natur des Dialoges als Prozess des Lernens und Wissens versteckt. … Fasst man
Dialog als Prozess des Lernens und Wissens auf, so wird im Voraus eine Vorgabe
festgelegt. Diese bezieht epistemologische Neugier über eben jene Elemente des
Dialoges immer ein. (Macedo und Freire, 1995, 382).
Das heisst, Dialog muss eine stets vorhandene Neugier nach dem Gegenstand des Wissens
verlangen. Folglich ist Dialog nie ein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um bessere Einsicht in
den Gegenstand des Wissens zu entwickeln. Dialog endet andernfalls als Konversation, die
2
bell hooks, Künstlername von Gloria Watkins, afroamerikanische Literaturwissenschaftlerin und Verfechterin
feministischer und antirassistischer Ansätze [Anm. d. Übers.]
33
den individuellen Erfahrungen den Vorrang gibt. Ich konnte in vielen Situationen beobachten,
dass das übertriebene Zelebrieren von eigenen Standpunkten und Geschichten die
Möglichkeiten in den Schatten stellte, sich mit dem Erkenntnisobjekt auseinander zu setzen.
Man verweigerte unmittelbares Scheitern, zum Beispiel mit Texten, welche ein
Erkenntnisobjekt enthielten, besonders dann, wenn diese Texte Theorien enthielten.
Freire argumentierte entschieden:
Neugier gegenüber einem Erkenntnisobjekt und der Wille und die Offenheit sich
mit theoretischen Schriften zu beschäftigen und darüber zu diskutieren sind
fundamental. Ich plädiere aber nicht für eine übertriebene Zeremonie der
Theorie. Wir müssen die Praxis der Theorie wegen nicht verneinen. Wer das tut,
reduziert Theorie auf reine Wortgefechte oder intellektuelle Spielereien. Gleichfalls
gilt, dass wer die Theorie der Praxis wegen verneint, wie es Brauch ist im Dialog als
Konversation, der läuft Gefahr, dass er sich in einer beziehungslosen Praxis verliert.
Aus diesem Grund setze ich mich nie für einen theoretischen Führungskult oder für
eine Praxis ohne theoretisches Fundament ein. Ich befürworte die Einheit zwischen
Theorie und Praxis. Um diese Einheit zu erlangen, benötigt man eine
epistemologische Neugier – eine Neugier, welche im Dialog als Konversation oft
fehlt. (Macedo und Freire, 1995, 382)
Wenn Studierenden beides fehlt, nämlich die notwendige erkenntnistheoretische Neugier
und eine gewisse Fröhlichkeit im Umgang mit dem zu studierenden Wissensgegenstand,
dann ist es schwierig, Bedingungen zu schaffen, welche die epistemologische Neugier der
Studierenden wachsen lassen, um die notwendigen intellektuellen Werkzeuge zu
entwickeln, welche sie fähig machen, das Erkenntnisobjekt kennen und verstehen zu
lernen. Wenn Studierende unfähig sind, ihre gelebten Erfahrungen in Wissen
umzuwandeln und das schon erworbene Wissen als Prozess zu nutzen, um neues Wissen
zu enthüllen, dann sind sie nie fähig, an einem Dialog als Prozess des Lernens und Wissens
rigoros teilzunehmen. In Wahrheit, wie kann jemand dialogisieren, der im Voraus nichts
über das Erkenntnisobjekt gelernt hat und auch keine epistemologische Neugier besitzt?
(Macedo, 2011, S. 17 – 19; Übersetzung Stefan Meyer)
34
Literatur
Cuomo, N. (1989). "Schwere Behinderungen" in der Schule. Bad Heilbrunn: Julius
Klinkhardt.
Freire, P., Macedo, D. (1995). A Dialogue: Culture, Language, and Race. Harvard
Educational Review, 65(3), 377-402.
Macedo, D. (2011). Introduction. In P. Freire (Hrsg.), pedagogy of the oppressed (S. 1127). New York: Continuum International Publishing Group.
9.3.2 Einleitung II
Flexible Interviews sollte man auch in Gruppen und Schulklassen umsetzen. Wittmann
(1982) etablierte die Methode in der Lehrerbildung. Montada (1998, S. 559) sah darin die
ideale Methode des Unterrichtens: „Probleme werden gestellt, aber keine Lösungen
durchgesetzt und auf oberflächlichem Niveau automatisiert.“
Abb. 12: Jean Piaget beobachtet Kinder Ende der 60er Jahre
© Fondation Jean Piaget 2012
35
Diese Erörterung ist so aufgebaut, dass Texte mit Schilderungen von Unterrichtsszenen
abwechselnd mit theoretischen Überlegungen vorgestellt werden. Ausgegangen wird von
der Erörterung zweier Unterrichtsbeobachtungen. Diese werden anschliessend mit den
Möglichkeiten des flexiblen Interviews verknüpft.
Es folgen Erörterungen zu flexiblen Interviews mit Gruppen: die Gruppe als Subjekt.
Zudem werden in Anlehnung an Ginsburg (1998) methodische Hinweise gegeben.
9.3.3 Beispiel: Wertvolles Alltagsritual zur Förderung der Kommunikation, der
Sozialisation und der Gesundheit: der Znünikreis
Das Beispiel aus der Praxis zeigt, wie man die Kommunikation und die Sozialisation in
Schulklassen auf einfache Weise fördern kann
Yvonne Böhi Keller, SHP, Eva Schönenberger-Wyder, SHP, Stefan Meyer, Dozent HfH
April, 2012
Vorbemerkung
Die Schilderung und die Überlegungen zum Znünikreis entstanden nach einer praktischen
Prüfung. Eva Schönenberger und Stefan Meyer beobachteten während zwei Lektionen die
Unterrichtsführung von Yvonne Böhi. Dabei waren das überdurchschnittlich hohe Niveau
der Kommunikation zwischen den Zweitklässlern und der Lehrperson sowie das positive,
kooperative Klima aufgefallen. Während einer Einzelarbeit begaben sich Schüler zur
Spitzmaschine, andere machten eine Art Rundgang, während dem sie sich von den
arbeitenden Kollegen erklären liessen, woran sie gerade arbeiteten und wie sie die
Aufgabe lösten. Während des Znünikreises vor der grossen Pause tauschten die Kinder
Gedanken zur vorangegangenen Mathematiklektion aus. Sie thematisierten die Inhalte,
die Schwierigkeiten und die Lösungswege. Sie bekräftigten, dass sie in der zweiten Lektion
sehr gern in der Mathematik weiter arbeiten würden. Dies führte die Lehrperson in ein
Dilemma, da sie für die zweite Lektion ein anderes Thema vorbereitet hatte. Die
Schülerinnen und Schüler bestürmten die Lehrperson geradezu. Insgeheim hatten wir
Experten gehofft, dass sie trotz der Prüfungssituation ihren Mut zusammen nähme, um
36
die Gunst dieser Stunde weiter zu nutzen. – Die Lehrperson hielt sich an das Programm
und die Schüler auch.
Neben den Bestnoten für das Lernklima, die Kommunikation und die Kooperation
meldeten wir Yvonne Böhi zurück, dass wir noch nie eine derart einfache und schöne
Unterrichtatmosphäre erleben konnten. Wir wollten von ihr wissen, was sie
unternommen hatte, um eben diese Kultur in der Klasse aufzubauen. Ihre Antwort war
verblüffend einfach und überzeugend: „Der Znünikreis.“ Yvonne Böhi Keller stellt dieses
Ritual im folgenden Abschnitt vor.
Handreichung für Schulbehörde und Schulleitung
Die Handreichung regelt die ‚Klassenrunde mit Verpflegung‘ im Kanton St. Gallen unter
Absatz 5.4 wie folgt: 2
Eine ausreichende und gesunde Ernährung der Kinder ist eine wichtige Voraussetzung,
um ein konstantes Leistungsvermögen bis zum Mittag erbringen zu können. Im Sinne der
Gesundheitserziehung wird empfohlen, eine Klassenrunde mit Verpflegung („Znünikreis“)
einzuführen und mit den Kindern gemeinsam den Znüni im Schulzimmer zu essen. Damit
können Einfluss auf die Pausenverpflegung der Kinder genommen und den Eltern
entsprechende Empfehlungen abgegeben werden. Der Vormittag erhält ein zusätzliches
Rhythmisierungselement, welches die Gemeinschaftsbildung unterstützt und
beispielsweise für organisatorische Absprachen genutzt werden kann.
Der Znünikreis in der Praxis
Die Kinder erfuhren dieses Alltagsritual schon im Kindergarten. Zehn Minuten vor der
grossen Pause setzen sich die Schülerinnen und Schüler der zweiten Klasse mit uns
Lehrpersonen in den Kreis vor der Wandtafel. Alle packen ihren Znüni aus und beginnen
zu essen. Es entstehen spontane Gespräche zwischen den Kindern und der Lehrperson
über persönliche Gedanken und Ideen oder über Erfahrungen aus dem Unterricht. Die
Gespräche befassten sich auch mit den Essgewohnheiten. Als Lehrperson stelle ich
manchmal beiläufige Fragen zu den vorgängigen Unterrichtssituationen. Die
Unbekümmertheit der Kinder lässt die Reflexion des Unterrichts auf eine ideale Weise zu.
Die Erinnerung an die Unterrichtserfahrungen liefert wertvollste Hinweise für meine
Pädagogik.
37
Reflexion
Das Ritual bestimmt auch an der Schule, in der ich (Eva Schönenberger-Wyder) arbeite,
den Rhythmus des Morgens. Der Znünikreis stiftet Beziehungen, vermittelt Zugehörigkeit,
Identität und Vertrauen.
Im Kindergarten werden viele Rituale gelebt. Sie helfen, die Zeit zu strukturieren, dem
Leben eine Form und Orientierungshilfen zu geben. Die Integration in eine Gruppe wird
erleichtert, Ängste und Unsicherheiten werden überwunden. Die Rituale haben auch in
der Primarschule eine positive Wirkung. Krisen können überwunden werden,
Verbindungen werden hergestellt, es entstehen neue Sichtweisen und es können neue
Ziele gesetzt werden. Die Koppelung des Umgangs mit physiologischen Bedürfnissen und
kulturellen Tätigkeiten ist ein äusserst wirksamer Erziehungs- und Bildungsfaktor (Cuomo,
2009).
Es kann sein, dass im Lehrkörper da und dort Skepsis gegen den Znünikreis geäussert
wird. In diesem Fall lohnt sich eine Einführung mit einer Probezeit. Die Rückmeldungen
sind meistens positiv, auch deshalb, weil das Littering im Schulareal zurückgeht.
Weitere Unterlagen:
Cuomo, N. (2009). Il progetto “Filo di Arianna”. Verfügbar unter:
http://www.xfragile.net/scheda.asp?idprod=275&idpadrerif=55 [16.05.2012]
9.3.4 Beispiel: Zwei unterschiedliche Schreibstunden
In der einen Klasse führt der Lehrer schrittweise in die Aufgabe ein. Er verteilt
Arbeitsblätter mit Stichworten und Erläuterungen zum Aufbau des Aufsatzes. Die
Informationen sind auch an der Wandtafel festgehalten: Themenfindung, Einleitung,
Hauptteil, Schluss. Gleichzeitig erinnert er an die wichtigsten Rechtschreibregeln, die
gerade im Übungsunterricht behandelt worden sind. - Viele Schüler legen gleich los.
Innert Kürze sind die Arbeitsblätter mit Schülertexten ausgefüllt. Etliche bleiben ohne
Einfälle in den Bänken sitzen. Es beginnen aufwendige Lehrer-Schüler-Interaktionen.
Einzelne Schüler schreiten durch die Tischreihen und vergleichen v.a. die Menge der
Textproduktionen untereinander: „Ich habe schon fast alle Blätter beschrieben“, hört
38
man sie sagen. Alle gehen zur Lehrperson, um ihre Fortschritte zu melden, um zu fragen
ob „das“ richtig sei oder um Schreibblockaden zu deponieren.
In der andern Klasse wird die Aufgabe in einem gemeinsamen Klassengespräch erörtert.
Die Gedanken und Formulierungen werden auf Zettel notiert und an die Wandtafel
geheftet. Fragen zum Thema werden gründlich besprochen. Es entsteht eine
umfangreiche Ideen-, Material- und Regelsammlung. Auf A3-Blättern kleben einige Kinder
Bilder auf, die sie mündlich oder schriftlich kommentieren. Andere machen Zeichnungen
von Elementen ihres Themas. Die Klasse teilt sich natürlich auf in Untergruppen. Diese
besprechen die gemeinsamen Themen und Fragen weiter. Sie erstellen Gedankenkarten,
Scripts und Textskizzen. Es ergeben sich auch intensive Diskussionen, über Form und
Inhalt der Geschichten. Einig Kinder bearbeiten ihr Thema allein. Die Lehrperson
unterstützt die Gruppen und die einzelnen Schüler je nach Bedarf bei der Differenzierung
der Themen und der Schreibmöglichkeiten. Danach schreibt die Mehrzahl der Schüler
motiviert an ihrem Text. Einige Schülerinnen schreiben nach dem gleichen, besprochenen
Muster. Andere gehen eigene Schreibwege. In der ruhigen Schreibphase beobachtet man
die Kinder bei Besuchen der Kameraden und Kameradinnen. Der Austausch dreht sich
immer um die Frage: „Was passiert in deiner Geschichte?“ (Die Rechtschreibung ist noch
kein Thema.) 2
Kommentar der Szenen
Die erste Szene stellt das Verfassen von Texten als Umsetzung steriler Regeln dar: der
Inhalt, die Struktur und die Formen. Schreiben kann, wer die Begabung hat, vorgegebene
Schreibnormen am perfektesten nachzuahmen. Unsichere und hilflose Schreibende
klammern sich ängstlich an die Regeln oder an die Hilfsmittel und wissen trotzdem nicht,
was sie schreiben sollen. Sie vermuten, dass der richtige Text irgendwie in der Lehrperson
existiert. Aus diesem Grund kontaktieren sie die Lehrperson während der Schreibphase
unablässig. Sie versuchen mit allen Tricks und Methoden, den Text zur Zufriedenheit der
Lehrperson hinzukriegen. Die Gespräche der Lehrperson kreisen mehr oder weniger um
die Fragen, wie die Aufgabenblätter gelöst werden können, also um das Wie. Eine
Schülerin, die wegen einer Behinderung noch nicht alphabetisiert wäre, würde in diesen
Momenten als Belastung wahrgenommen. Sie würde u.U. vom Prozess suspendiert oder
gar vom Unterricht separiert.
39
In der zweiten Szene sind die Prozesse vernetzter. Die Klasse, die Gruppen oder die
Einzelnen erreichen eine hohe Themenzentrierung. Kommunikation, Script- und
Textproduktion sind kreativ, verbindlich und dynamisch. Die Dialoge wären der
Nährboden, auf dem das Was (der Inhalt) und das Wie (die Darstellung des Inhalts)
wachsen. Die Gesprächsführung der Lehrperson ist von der Haltung und der Methodik des
flexiblen Interviews „infiziert“ und getragen. Sie begleitet, provoziert und motiviert, so
dass die Schüler wissen, was sie wie schreiben möchten. Die Lehrperson wäre eine Art
Sokrates, der gar nie etwas geschrieben hat (man denke an dessen Hebammenkunst),
während die Schülerinnen und Schüler in der Rolle von Platon sind, welche beseelt von
den Inhalten und Gesprächen Texte herstellen.
Die Schülerin, die wegen einer Behinderung noch nicht alphabetisiert wäre, würde in
einer Gruppe mitwirken. Diese Gruppe wäre begleitet von der Lehrperson oder von einer
schulischen Heilpädagogin. Das Mädchen würde mit Spielsachen Szenen aufbauen,
welche ihre Geschichte darstellen. Einzelne Kinder würden ihr dabei helfen, weil sie
Szenen auch lieber gegenständlich installieren als gleich zu schreiben. Die Szenen würden
gefilmt. Das Mädchen mit der Behinderung würde den Film mündlich kommentieren und
später sogar eine Tonspur aufnehmen. Andere Kinder aus dieser Arbeitsgruppe würden
schöne Texte über die inszenierte Geschichte schreiben. – Die Hebammenkunst wäre die
Grundlage und der Motor der Integration (vgl. Cuomo, 1989). 3
Die Szenen weisen darauf hin, dass Schreibkulturen und das Wissen über das Schreiben
Produkte von Entwicklungen des Kontextes Unterricht sowie der Gruppe selber sind. Das
Umgekehrte gilt auch: Gruppen sind das Produkt von Schreibkulturen (Bartnitzky, 2009;
Imola, 2010).
Literatur
Bartnitzky, H. (2009). Sprachunterricht heute (7. Aufl.). Berlin: Cornelsen Verlag Scriptor
GmbH.
Imola, A. (2010). Empathie und verstehen. Die Methode von Nicola Cuomo. Verfügbar
unter: http://rivistaemozione.scedu.unibo.it [18.03.2012]
40
9.3.5 Beispiel: «Lernen wie es euch gefällt» Dialogische Öffnung des
Mathematikunterrichts in einer ersten Primarklasse
Das Beispiel zeigt eindrücklich, dass das dialogische Lernen mit Hilfe des flexiblen
Interviews dynamisiert und gesichert werden kann.
Dialogisches Lernen: Lernen, wie es euch gefällt
Eine Lehrerin im Solothurnischen (Schweiz) erprobt mit Schulanfängern das «dialogische
Lernen». Die Kinder bestimmen selbst, was sie lernen wollen. Ein Zukunftsmodell für die
Volksschule?
Siehe
http://www.beobachter.ch/arbeit-bildung/schule/artikel/dialogisches-lernen_lernen-wiees-euch-gefaellt/
9.3.6 Beispiel: Pommes Chips
Eine pädagogische Betrachtung
In einer Mathematikstunde wird zur Einführung in das Thema Hohlmasse eine
Kurzgeschichte erzählt. Nach der Erzählung reagierte ein Schüler spontan mit der
Schilderung einer persönlichen Erfahrung, welche jedoch nicht integriert werden
konnte. An dieser Szene wird der Unterschied zwischen dem Spenden von Motivation
und dem Befragen der Motivation deutlich gemacht. Der dialogische Ansatz erweist sich
als einfaches Mittel für die Integration von Erfahrungen in den Mathematikunterricht. Ich danke David Kofmel, SHP, für diese eindrückliche Schulstunde und die kollegialen
Reflexionen.
Zu Beginn einer Mathematikstunde sass eine Gruppe von Mittelstufenschülern im Kreis.
Am Boden lagen allerlei Zettel mit
Hohlmassen. Der Lehrer erzählte
eine Geschichte. Sie spielte auf
einem orientalischen Markt, auf
41
dem Händler Gewürze in unterschiedlichen Gefässen und Masseinheiten verkauft hatten.
Dabei war es vorgekommen, dass ein Händler das Messgefäss so verändert hatte, dass er
den Kunden zum angeblich gleichen Preis weniger Güter verkaufen konnte.
Die Geschichte sollte die Schüler auf die Thematik der Hohlmasse einstimmen. Ein Schüler
meldete sich mit einer persönlichen Erfahrung. Er hatte am Kiosk festgestellt, dass ein
kleiner Sack Pommes Chips 3.40 Fr. kostete. Im Grossmarkt wäre derselbe Sack für 1.60
Fr. zu haben. Das wäre auch eine Mogelpackung, fügte er entrüstet bei.
Der Lehrer ging kurz auf die Schilderung ein und relativierte den Begriff Mogelpackung.
Danach fuhr er mit dem Unterricht weiter. Er liess die Zettel mit den Hohlmassen lesen.
Danach erledigten die Schüler mit Elan Postenarbeiten.
Auf den ersten Blick erscheint die Reaktion des Lehrers völlig adäquat. Preisunterschiede
sind keine Mogelpackung, wenn man weiss, wie man etwas bekommt. Der Lehrer
relativierte das Gesagte, wie das Pädagogen oder Kursleiter gewöhnlich tun: sie
übersehen und übergehen das Hier und Jetzt. Was könnte das bedeuten?
Die Geschichte versetzte die Schüler in die Situation des Bazars. Er ist ein literarischer Ort.
Die Erzählung der Lehrperson wurde durch die Schüler interpretiert und aktualisiert. Sie
wurde in die Erfahrungswelt übersetzt. Der Schüler war das Sprachrohr der Gruppe, die
sich zu erinnern begann. Die Erinnerungen zeigten im Ansatz, wie das Thema bei den
Kindern verwurzelt ist. Es zeigt auch, wie die Geschichte vom Bazar durch die
Erinnerungen, die Sichtweisen und Stimmen der Schüler dekonstruiert wird (Derrida,
1979). Durch die Relativierung versuchte die Lehrperson, an ihrer monologischen
Bedeutung der Einführung festzuhalten, ja sie hat sie mit Blick auf die Kohärenz zur
Vorbereitung „gegen“ die Lernenden verteidigt.
Unterrichtsbeginn – ein kulturelles Programm
Der Lehrer-Schülerdialog beschäftigte sich mit dem Begriff ‚Mogelpackung‘. Die
Lebenswelt des Schülers, der Inhalt seiner Geschichte und die Intention seiner Erzählung
wurden nicht richtig beachtet. Dabei wäre die Pommes-Chips-Geschichte noch viel
reichhaltiger gewesen als die Klärung eines moralischen Begriffs.
42
Was bedeutet das Übersehen von Möglichkeiten und Ressourcen in dieser Lerngruppe?
Die Antworten könnte man durch die Auseinandersetzung mit den folgenden
Vermutungen herausfinden.
1. Zur Didaktik der Situation. Der Lehr- und Lernprozess ist vermutlich so gebaut,
dass die Kommunikation über das subjektive Hörverstehen nur oberflächlich zum
Zug kommt.
2. Zur pädagogischen Kritik an der entfremdenden Aktivierungstheorie. Die BazarGeschichte soll die Gruppe anregen und einstimmen. Die Spende soll Motivation
stiften (Freire, 1977). Der Schüler ist Objekt der Aktivierung. Die Aktivierung ist in
der erfahrenen Sequenz ein didaktischer, behavioristischer Trick.
3. Der Schüler ist ein Sprachrohr der Gruppe. Das Sprachrohr verweist auf andere
bedeutsame Erfahrungen mit Hohlmassen und mit anderen Massen. Die PommesChips tauchen in ihr als Emergent auf. Darunter versteht man eine verdichtete,
latente Botschaft (Ressource) in einer Gruppe (Pichon-Rivière, 2003).
4. Die Beobachtung lässt vermuten, dass die Lernenden und der Lehrende nicht als
Subjekte oder als Meister ihrer Erfahrung auftreten können. Das Sinnverständnis
und die Bedeutsamkeit werden einem Programm untergeordnet. Diese
didaktische Mache verkennt die Bildungsmöglichkeiten, welche als Ressource in
der Gruppe vorhanden sind (Pichon-Rivière, 2003).
5. Die Szene als Hinweis auf die Absurdität von Pädagogik als Mache. Unterricht wird
nicht gut durch Gutgemeintes. Unterricht als Mache degradiert die Lehrperson
und die Lernenden zu Objekten. Das Überhören, das Übersehen und das NichtIntegrieren der Erfahrung des Knaben sind ein Indiz für ein anti-dialogisches
Kulturprogramm. Bedeutsamkeit ist Beiwerk statt Motor.
Unterrichtsanalyse als Diskurs
In der geschilderten Unterrichtssituation komme ich als Beobachter vor. Das erzeugt neue
Erfahrungen. Sie sind der Rohstoff in der Lehrerbildung. Ich gehe damit nicht besser
wissend und urteilend um. Lieber lade ich zum Dialog über die Meisterschaft im Machen
und im Studieren ein.
43
Wir Menschen sehen das, was wir verstehen. Wir denken, was wir verstehen. – Fragen
wir auch nach dem, was wir nicht verstehen? Oder dümpelt die Erkenntnis des
Pädagogischen monologisch, unaufgeklärt und absurd vor sich her? Kant (1974) mutete
den Kulturprogrammen, so auch den Stunden des schulischen Unterrichtens, eine
Belästigung zu:
Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer
Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn
sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht
beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen
Vernunft. (ebd., S. 11)
In diesem Sinn sind erzeugen die Vermutungen über diese Situation Fragen, mit denen
das Studium begonnen werden könnte. Beobachter und Beobachtete begegnen sich als
Subjekte, welche bedeutsame Fragen behandeln. Die Konversation ist frei und
empathisch. Sie bildet nach Paulo Freire eine dialogische Matrix (Freire, 1977).
Die Konversationen erschliessen pädagogische und fachdidaktische Möglichkeiten. Die
Bazar-Geschichte wäre ein narrativer Ankerpunkt, sie wäre ein Steinwurf ins Wasser des
Geistes und der Handlungsmöglichkeiten der Gruppe. Noch liegen die Kärtchen des
Lehrers lose am Boden. Würde er ein Kärtchen mit dem Stichwort ‚Pommes Chips‘
danebenlegen, würde das die Erfahrungen der anderen Lernenden hervorlocken. Es
würden weitere Geschichten geäussert. Auch diese würden auf Kärtchen notiert. Die
Gruppe bekäme die Möglichkeit, die Hohlmasse, die Gewichtsmasse und die Preise mit
den Geschichtenkärtchen exemplarisch zu verknüpfen. Die Gruppe und die Lehrperson
würden sich gleich von Anfang an als erfahrene Subjekte auf den Weg machen.
Die Betrachtung und Imagination dieser Unterrichtssituation ist auch eine Möglichkeit,
bildende Philosophie zu machen (Rorty, 1987). Ihre Wurzeln reichen bis zu Sokrates und
Menon zurück. Die beiden haben über eine Unterrichtssituation nachgedacht, in der ein
Knabe die Verdoppelung der Quadratfläche verstehen lernte (Platon, 1994). Die
freundschaftliche Belästigung durch Fragen erzeugt neue Gewissheiten und
Kompetenzen, in der Klasse, beim Betrachter und im Studium dieser Situation.
44
Das Studium der didaktischen Mache eröffnet neue Perspektiven auf das Lernen aus
Erfahrung (Bion, 1997). Der Unterricht ist nicht bloss ein „Container“, in den man diese
oder jene didaktischen Tricks hineingeben kann, Tricks wohlverstanden, welche
Inkompetenz und Schuldgefühle erzeugen. Das Lernen aus Erfahrung würde im Unterricht
und im Studium sozial gemeistert. Im besten Fall führt das Studium zur Vorfreude auf eine
neue Begegnung im Kreis und zur Einladung des Lehrers an seine Schüler: „Bilden wir uns
gegenseitig, ich beginne mit einer kleinen Geschichte.“
Stefan Meyer, 28.11.2013
Literatur
Bion, W. R. (1997). Lernen durch Erfahrung (2. Auflage). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Derrida, J. (1979). Die Stimme und das Phänomen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.
Freire, P. (1977). erziehung als praxis der freiheit. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt
Taschenbuch Verlag.
Kant, I. (1974). Kritik der reinen Vernunft (Bd. 1). Frankfurt a.M.: suhrkamp taschenbuch
wissenschaft.
Pichon-Rivière, E. (2003). El proceso grupal: del psicoanálisis a la psiocologia social I (2a
ed.). Buenos Aires: Nueva Visiòn.
Platon. (1994). Menon. Griechisch / Deutsch (M. Kranz, Trans.). Reinbek b. Hamburg:
Reclam.
Rorty, R. (1987). Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie. Frankfurt a.M.:
Suhrkamp Taschenbuch.
9.3.7 Gruppendiskussion und Bruchrechnen
Ein Erfahrungsbericht
Lara Stünzi, SHP
November, 2015
Als Einstieg in eine Doppellektion habe ich den Kids meiner 6. Primarklasse (immer in 4er
Gruppen)
1
4
von diversen Ganzen in ein Couvert gelegt:
45

zuerst nur von verschieden grossen Kreisen
Der Auftrag war, die folgende Behauptung zu dementieren oder bestätigen: „Im Couvert
1
sind lauter Teile die 4 bedeuten.“
Zuerst waren die Kinder etwas konsterniert. Doch plötzlich entstand innerhalb der
Gruppen eine rege Diskussion darüber, ob die auf dem Tisch liegenden Bruchstücke
1
tatsächlich alle „gleich“ sind, sprich alle 4 sind, obwohl sie so unterschiedlich gross sind.
Keine Gruppe war sich einig. Nach fünf Minuten, in denen sich die Kids fast „an die
Gurgel“ gesprungen sind, habe ich sie unterbrochen und die Diskussion in der ganzen
Klasse weitergeführt. Ich habe mir verschiedene Argumente angehört, diese aber vorerst
nicht kommentiert.
Ohne Ausführungen meinerseits ging einigen Kindern ein Licht auf...allein durch die
1
Argumente einiger Mitschüler. Es schien verstanden worden zu sein, dass 4 lediglich ein
Ausdruck einer Proportion/eines Verhältnisses ist und nicht eine „Grösse“/eine Masszahl.
1
Ein Schüler fügte hinzu, dass 4 auch etwas ganz anderes als ein Teilstück eines Kreises sein
kann.
Daraufhin haben wir spontan in einem zweiten Schritt die Sammlung auf den Pulten
1
durch andere 4 ergänzt:

1

1

1

1
4
4
4
4
einer Farbstiftschachtel
eines Rechteckmodells
einer Schnur
von 20 Franken
1
Dies sollte die Argumente von vorher unterstreichen und verdeutlichen, dass 4 in ganz
verschiedenen Facetten auftreten kann.
Seit diesem Tag starte ich die Doppelstunde immer mit einer Behauptung / einem
Problem, das die Kinder in immer wechselnden Gruppen ausdiskutieren müssen.
46
Diese 5-10 Minuten sind Gold wert! Die Kinder denken mit, sind aktiv, hinterfragen die
Thematik und bauen dadurch das Verständnis für das Thema auf! Toll als Lehrerin das zu
beobachten...
Hintergründe und Fragen an Lara aus dem Wahlmodul 135 und von Stefan Meyer (kursiv):
„Wie wählst du Aufgaben aus? Hast du Kriterien? Die Cognitive Acceleration geht mit
Piaget davon aus, dass kognitive Konflikte und das operative Prinzip eine Goldgrube sind.“
Ich wähle vor allem Probleme als Diskussionspunkte aus, die in den Stunden auftreten
(wiederkehrende Probleme). Gerade diese Woche habe ich gemerkt, dass das Verständnis
dafür fehlt, was der Unterschied zwischen erweitern vs. vervielfachen und kürzen vs.
teilen ist. Ich habe den Gruppen den Auftrag gegeben, die 4 Vorgehensweisen
zeichnerisch darzustellen. Sie haben fast 20 Minuten in der Gruppe diskutiert, wie sie dies
darstellen könnten. Sie waren sich anfangs gar nicht einig, schlussendlich aber schon
(zumindest der Grossteil der Klasse)
Manchmal „konstruiere“ ich auch ein Problem oder eine Behauptung, um ein neues
Unterthema „einzuführen“ oder besser gesagt, die Kinder selber auf die Lösung zu
bringen.
„Die Gruppendiskussionen beziehen sich auf Wygotski und die Cognitive Acceleration, die
Hauptstichworte lauten: Ko-Konstruktion und Zone der nächsten Entwicklung. Diese Zonen
werden durch die Steigerung der Komplexität und der Abstraktion angepeilt.
Die Regelmässigkeit der Gespräche steigert die Intelligenz. Kinder können vernetzter
wahrnehmen, denken und Probleme lösen.“
47
…und sie lernen auch, Meinungen anderer zu akzeptieren und ihre eigene zu verteidigen!
1x pro Woche etwa 15’ liegt drin, der Lerneffekt ist mindestens zehn Mal so gross, wie
wenn die Klassenlehrperson während 15’ einen Monolog hält.
„Was empfindest du in jenem Moment, in dem du zum Ganzen „toll“ sagst? Ich meine
o das Verhältnis zu den Kindern,
o das Verhältnis zu dir als Lehrperson, persönlich
o das Verhältnis von dir zum Stoff, zur Didaktik des Stoffes, also auch zu den
Tätigkeitsbereichen nach dem Lehrplan (wichtig)“
Toll, da ich endlich Zeit habe, „in die Köpfe der Kinder zu schauen“, die Gedanken zu
hören, Gedankengänge zu verstehen. Toll, weil die Kinder mit Gleichaltrigen diskutieren
lernen, ihre Meinung über die Mathe vertreten dürfen, anderen etwas erklären können,
mit anderen darüber sogar streiten.
Toll, dass ich den Kindern so zeigen kann, dass nicht ich und meine Meinung über allem
stehen, sondern sie genauso gut über die Thematik reden können. Meine
Vorgehensweise ist nicht der einzige richtige Weg!
Toll, dass ich endlich begriffen habe, dass Verständnis des Stoffes Vorrang hat vor dem
Durcharbeiten des Stoffes.
„Noch einige Gedanken um Aspekt der heilpädagogischen Relevanz: was beobachtest du
bei den Kindern mit Lernschwierigkeiten?“
Ich habe vor allem aus dem Blickwinkel der KLP gehandelt, da ich in den Stunden keine
SHP-Funktion habe. Ich habe aber bemerkt, dass mein Förderkind gern zuhört in den
48
Diskussionen. Es beteiligt sich zwar nicht, fühlt sich aber sehr dazugehörig und als Teil der
Gruppe. Ich denke auch, dass ihm die Diskussion zeigt, dass es nicht das einzige ist,
welches anfangs gar nicht drauskommt und dass es mehrere Wege gibt, ein
mathematisches Problem zu lösen.
Der Klasse geht es gut. Das Thema Brüche ist abgeschlossen. Die Bruch-Prüfung lief
übrigens sehr gut.
Wir haben die Gruppendiskussion natürlich beibehalten. Ich geniesse den Einstieg in die
Doppellektion. Manchmal ist es gar nicht so leicht, ein passendes Thema, ein
bedeutsames Problem zu finden.
„…vielleicht wirst Du eher fündig, wenn die Kinder bei der Problemsuche mithelfen können.
- Wie geht es bei dir als Lehrperson weiter? in der Klasse, im Fach, im Team, im Studium –
der persönlichen Weiterbildung?“
Wenn ich nächstes Jahr die Rolle der SHP für die ganze Schule „S“ übernehme, möchte ich
diese Gruppendiskussion den Klassenlehrpersonen näherbringen. Vielleicht wäre es eine
Möglichkeit, dies als SHP in TT-Stunden als Einstieg einzuführen.
„Dazu wünsche ich dir alles Gute. Was die Förderkinder betrifft, werde ich meinerseits an
Zugängen und an Hilfsmitteln weiter tüfteln, in der Kooperation mit Studierenden und den
Entwicklern der Cognitive Acceleration.“
9.4 Theoretische Überlegungen zur Integration der Methode im Unterricht
9.4.1 Theorie: Unterrichtsmethoden, welche die Integration des flexiblen Interviews
fördern...
49
(in Bearbeitung)
Freire, P. (1979). Pädagogik der Unterdrückten. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt.
Frey, K. (2010). Die Projektmethode. Der Weg zum bildenden Tun (11., neu ausgestattete
Aufl.). Weinheim: Beltz Verlag.
Ruf, U., Gallin, P. (1990). Sprache und Mathematik in der Schule. Zürich: Verlag
Lehrerinnen und Lehrer Schweiz.
"Lernen, wie es euch gefällt." Das Beispiel schildert, wie der Unterricht mit Hilfe des
flexiblen Interviews im Rahmen einer dialogischen Didaktik geöffnet werden kann: Blog.
9.4.2 Theorie: Merkpunkte zur Anwendung des flexiblen Interviews mit Gruppen
(Ginsburg, 1998, übers. d.d. Verf.)3
1.
Informiere die Klasse über das Problem, das bearbeitet werden sollte.
2.
Leg Deine Erwartungen von Beginn an fest. Die Klasse soll wissen, dass sie zuerst
Strategien einteilen soll. Die Antworten auf das Problem würden später folgen.
3.
Lass die Schüler wissen, dass Du erwartest, dass sie von Anfang an mitdiskutieren
sollen.
4.
Lass die Schüler wissen, dass Du an ihre Fähigkeit glaubst, gerade wenn sie
herausgefordert sind, vielleicht schwierige Sachen zu tun.
5.
Rufe Begriffe und Konzepte in Erinnerung, welche in Bezug zu dieser Stunde stehen.
6.
Erinnere die Schüler, dass viele Lösungswege angenommen werden können.
7.
Fordere eine Schülerin auf, ihre Strategie mitzuteilen.
8.
Gestatte jedem Schüler, dass er seine eigene Strategie verfolgen muss, damit er sein
Problem lösen kann.
9.
Befürchte die Auseinandersetzung nicht, wenn konzeptuelle Schwierigkeiten
auftauchen. Sie stellen den Kern des Problems dar, über den gerade verfügt wird,
3
Ginsburg, H.P., Jacobs, S.F., Lopez, L.S. (1998). The Teacher’s Guide to Flexible Interviewing in the
classroom. Boston: Allyn and Bacon.
50
(sie hat mit dem Kern des „Gemeinten“ und mit der Art und Weise der
Lösungsmethode zu tun, SM)
10. Sorge dafür, dass sich die Klasse mit den schwierigen Fragen / Aufgaben beschäftigt,
indem Du dazu aufrufst und indem du auf ihre Teilnahme eingehst.
11. Wenn ein Student Hilfe benötigt, so stelle nur das Notwendigste zur Verfügung.
12. Wenn der Fortschritt zum Erliegen kommt, so fordere die Studenten auf, über das
Erreichte nachzudenken und schlage vor, dass die Klasse nach einem neuen Zugang
zum Problem suchen soll.
13. Fasse den Fortschritt der Klasse zusammen. Verweise auf die Tatsache, dass der
Bereich der möglichen Antworten begrenzt werden könnte.
14. Wiederhole Schritt 7-13 so oft, wie Du es für richtig hältst.
15. Gib der ganzen Klasse zum Schluss Gelegenheit, ihre Beteiligung zu reflektieren.
16. Gratuliere der Klasse zu Arbeiten, die sie gut gestaltet haben.
Literatur
Fennema, E., Carpenter, T.P., Franke, M.L., Levi, L., Jacobs, V., Empson, S. (1996). Learning
to Use Children's Thinking in Mathematics Instruction: A Longitudinal Study.
Journal for Research in Mathematics Education, 27(4), 403-434.
Mast, J. V., Ginsburg, H.P. (2009). A Child Study / Lesson Study: Developing Minds to
Understand and Teach Children. In N. Lyons (Hrsg.), Handbook of Reflection and
Reflective Inquiry: Mapping a Way of Knowing for Professional Reflective Inquiry
(S. 257-271). New York: Springer.
Prange, K. (1983). Bauformen des Unterrichts. Bad Heilbronn /OBB.: Verlag Julius
Klinkhardt.
9.4.3 Theorie: Gruppenentwicklung und das flexible Interview
Die sozialpsychologische Sicht auf Gruppen (Bauleo, 1988) fasst eine Gruppe als Subjekt
auf, welches sich eigenständig mit dem Meistern einer Aufgabe auseinandersetzt. Das
Verhältnis der Gruppe zur Aufgabe wird durch eine Equipe bestehend aus zwei Personen
51
koordiniert und beobachtet. Die Koordination der Gruppe soll eine operative
Auseinandersetzung zwischen der Gruppe und der Aufgabe einrichten, moderieren und
reflektieren kann. Das didaktische Dreieck (Prange, 1983) beschreibt die Struktur einer
koordinierten Gruppe.
Dieser Ansatz zeigt, dass die Entwicklung einer Gruppe genauso wie die Entwicklung einer
Person vom Kontext abhängig ist (Imola, 2010). Ein nahe liegender Kontextfaktor ist die
Didaktik in der Gruppe. Weitere Faktoren gehören zur Organisation und zu den
Institutionen, denen die Gruppen angehören
Phasen der Gruppenentwicklung
Die Überlegungen zu den Phasen der Gruppenentwicklung dienen dem Zweck, dass man
den Einsatz des flexiblen Interviews in einer Gruppe realistisch planen und gestalten kann.
Diese sozialpsychologische Ansatz trägt dazu bei, dass Störungen des Verhaltens in
Gruppen dynamischer und effektiver begriffen und moderiert werden können (Graf & von
Salis, 2003). Dies führt weiter dazu, dass man die Heterogenität einer Gruppe als etwas
Natürliches annehmen lernt. In der Entwicklung von Gruppen können Verhaltensweisen
in Kategorien oder Phasen zusammengefasst werden. Diese werden im diesem Abschnitt
genauer beschrieben.
Bauleo (1988) verweist auf die Phasen der Gruppenentwicklung: Indiskriminierung,
Differenzierung, Synthese. S. 14f. Dieser Aspekt wird oft übersehen. Das hat zur Folge,
dass mit Kindern in einer Art und Weise gesprochen wird, welche ihrem geistigen,
seelischen und sozialen Entwicklungsstand überhaupt nicht entspricht. Diese Optik
betrifft einerseits die Individuen selber, auf der andern Seite steht die Gruppe als
Subjekt. Bauleo differenziert zwischen den drei oben erwähnten Phasen einer
Gruppenentwicklung:
52
Indiskriminierung
Am Anfang herrschen Verwirrung, Monologe, alte
Gruppenerfahrungen vor.
Die Gruppalität wird im Namen der Individualität
abgewertet.
Es gibt theoretische Verknüpfungen zu Wilfried Bions
Einteilung der Grundannahmen-Gruppe, welche aus der
Dynamik von Abhängigkeit, Paarbildung oder Kampf / Flucht
bestehen kann.
Differenzierung
Das ist die eigentliche Gruppenphase:
>gruppeneigene Element festigen sich wie: Führung,
Veränderungswiderstände, primäre Ängste, Emergenten
>Die Gruppe baut sich aus Interaktionsstrukturen auf
>Tn. greifen ein aufgrund der Überschneidung von eigener
Lebensgeschichte und der aktuellen Gruppenstruktur
>Phase läuft auf einer manifesten Ebene (Gruppendiskurs)
und einer latenten Ebene (Interaktion der latenten
Dynamik) ab.
>Emergent drückt die gegenseitige Einflussnahme der
manifesten und der latenten Ebene aus.
Projekt oder Phase
> Die Literatur spricht von Produktions-, Entscheidungs-
der Synthese
Einsichtsphase
> Pichon-Rivière sagt: Die Gruppe erreicht eine maximale
Funktionsfähigkeit
53
> Der Koordinator muss nicht mehr deuten
> Der Koordinator muss nicht eingreifen
>Koordinator meldet Beginn und Ende der Sitzung
>Gruppenkonzept d. Koordinators / Funktionieren d. Gruppe
verbinden sich
>Gruppe kann Verantwortung für Arbeit und Funktionieren
selbst übernehmen
Je nach der jeweiligen Phase der Gruppenentwicklung wird man ganz unterschiedliche
Verhaltens- und Erlebnisweisen bezüglich der Kognitionen, der Emotionen und der
Aktionen antreffen. Entscheidend ist nach Imola (2010), dass die Ressourcen der Gruppe
immer zuerst angesprochen werden.
Wichtig bei dieser theoretischen Ausweitung ist der Aspekt der Gruppenlatenz. Beim
Individuum nimmt man an, dass es Bewusstsein und Unbewusstsein ist. In der Theorie der
Operativen Gruppen wird davon ausgegangen, dass die Gruppe manifeste (ausgedrückte,
formulierte, besprochene) Handlungen vornimmt, dass sie aber auch latente (der Gruppe
nicht bewusst wahrnehmbare) Strömungen und Assoziationen erzeugt. Dies gehört auch
zu den Grundannahmen von Piaget (1975), der das Denken als unbewussten Prozess
Literatur
Bauleo, A. (1988). Ideologie, Familie und Gruppe. Hamburg: Argument.
Graf, E.O., von Salis, E. (Hrsg.). (2003). Erfahrungen mit Gruppen. Zürich: Seismo.
Piaget, J. (1975). Nachahmung, Spiel und Traum. Die Entwicklung der Symbolfunktionen
beim Kinde (Bd. 5). Stuttgart: Ernst Klett Verlag.
54
9.4.4 Nemo und Pädagogik
Erfahrungen vererben sich nicht - jeder muss sie allein machen.
Kurt Tucholsky
Nemo, Khan und der
Befreiungsversuch
Der Nemo-Film ist auch eine Metapher für die Pädagogik. Ist das Lernen etwas Sesshaftes
oder gleicht es einer Wanderung? Der Film bietet sich als Modell an, wie man das Lernen
aus Erfahrung gestalten und aushalten könnte. Der Film thematisiert in der Geschichte
einer Befreiung auch Themen wie die Überwindung von Vorurteilen, Freundschaft, Dialog
und Empathie, alles Fundamente der Pädagogik.
Hier sind 10 Argumente, welche die Produktivität des Nemo-Ansatzes unterstreichen.
Insgesamt betrachtet ist der Film ein systemisches Schema einer empathischen
Pädagogik. Die Namen wichtiger Autoren werden in Klammern erwähnt.
Sandra Schneider, SHP, hat den Text gegengelesen und ergänzt. Ich danke ihr sehr dafür.
Stefan Meyer, 2014
Argumente für eine Pädagogik mit dem NEMO-Ansatz
1 „Stetige Kommunikation und Humor“
Die Geschichte fokussiert auf Lösungen und auf Autonomie (Cuomo, Platon,
Sokrates, Freud)
2 „Ressourcen vor Behinderung“
Projekte kommen nur zustande, wenn von den Ressourcen ausgegangen wird.
Wer zuerst die „Behinderung“ verbessern möchte, eliminiert die Erfahrung, was
das Vertrauen in die Ressourcen bewerkstelligen könnte. Neugier und Mut zu
55
lernen und unabhängig zu leben haben Vorrang vor der Angst (Dewey, Piaget,
Cuomo)
3 „Projekte vor Gewohnheiten“
Die alte Pädagogik lässt die Lernenden arbeiten. Sie gibt Arbeitsblätter und
schreibt Lernumgebungen vor. Sie behandelt die Fibeln in der Sprache und der
Mathematik wie Zwangsjacken. Die Brille der alten Pädagogik sieht in erster Linie
Vorurteile. Der Nemo-Ansatz geht offener und freier mit der Realität der Schule
um. Das Vertrauen in die Projekte ist das Fundament. (Freire, Frey, Cuomo,
Wagenschein)
4 „Versuche, Kreativität zu verstehen.“
Die Kreativität des Andern und von sich selber zu verstehen, ist wichtiger als das
Besserwissen. (Freire, Cuomo)
5 „Brillanz ist wichtiger als Moral.“
In der Brillanz kommen Ressourcen, Neugier und Erfahrungen zusammen. Die
Moral ist eine Form des Besserwissens. Es ist menschlicher, Ethik gemeinsam
herzustellen. Freunde sind wichtiger als Einzelkämpfer. (Piaget, Freud, Sokrates)
6 „Dory denkt wie Martin Buber.“
Sie sagt: “Wenn ich dich ansehe, kann ich es fühlen. Und…und… ich sehe dich an
und fühle mich zu Hause.“ Der Nemo-Ansatz ist ein Plädoyer für die Beziehung, die
Kommunikation und die Gestaltung von Aufgaben in einer offenen und
empathischen Pädagogik. – Diese Schlüsselszene unterstreicht die Stärken des
Filmes.
7 „Der NEMO-Ansatz ist eine Perspektive, in ihr konvergieren Weltsichten.“
Lernende und Lehrende nehmen sie ein und denken: erkenne mich, wenn du
kannst. Es ist die Interdependenz der Sichtweisen und der Erfahrungen im
Zusammenhang mit Aufgaben. (Laing, Bion, Cuomo)
8 „Traditionelle Muster und Stereotypien werden aufgegriffen, ironisch und
empathisch hinterfragt und letztendlich gemeistert.“
Am Beispiel des Vaters (Marlin). Er wächst durch die Erfahrungen und die Dialoge
über sich und seine Vorurteile hinaus. Er zeigt mütterliche Züge. Er lernt, sein Kind
der Schule zu überantworten. Später begibt er sich auf eine Odyssee, auf die
Suche nach dem verlorenen Sohn.
9 „Gedanken und Taten der Anderen werden angenommen.“
Das Geben und das Nehmen sind im Gleichgewicht. Die Walfisch-Episode lässt an
die Jonas-Geschichte im Alten Testament erinnern.
56
10 „Der NEMO-Ansatz ist ein Rhizom.“
“Schwimmt runter-schwimmt runter.” Das Schwimmen als Zustand und als
Strategie, wie es Freudenthal, Deleuze & Guattari empfehlen. Der feste Boden
kann zum Symbol der Immobilität werden, in der keine Projekte mehr entstehen,
in der nur noch Stereotypien verwaltet werden. Das Sichtbare in der Pädagogik,
bei den Lehrenden und den Lernenden ist wie die Spitze eines Eisberges. Die
Entwicklungen, die Ressourcen, die Kreativität sind verborgen unter der
Oberfläche. Sie sind wie ein Rhizom vernetzt und verwurzelt. (Deleuze & Guattari)
Links:
Zu den Portraits der Hauptfiguren:
http://pixar.wikia.com/Category:Finding_Nemo_Characters
Auf Twitter: twitter.com/hashtag/nemoapproach
9.4.5 Theorie: Von der Dampfkugel zum Raketenantrieb
Die geschilderten Szenen richteten den Blick auf die Wirkung von Dialogen im
Schreibunterricht. Besteht das dialogische Unterrichten nun einfach in der Anwendung
von methodischen „Tricks“? Ist das flexible Interview auch so etwas? Was bedeuten erste
Versuche mit dem flexiblen Interview?
Nehmen wir als analoges Beispiel die Entwicklung von der Dampfkugel des Heron bis zum
Raketenantrieb der Moderne. Das flexible Interview mit einzelnen Personen ist
vergleichbar mit Herons Dampfkugel im Altertum, der ersten Wärmekraftmaschine,
welche nach dem Rückstossprinzip arbeitete. Viele pädagogisch-didaktische Ansätze
versprechen z.B. Niveauorientierung. Beim näheren Betrachten sind es einfach punktuelle
und isolierte Übungen, in denen man auf die Ressourcen der Lernenden Rücksicht nimmt.
Entwicklungspsychologische Befunde sind kein ausreichendes Fundament für den
Unterricht. Es geht auch nicht darum, dass man da und dort flexible Interviews in den
Unterricht einsetzt und meint, dass man eine dialogische Didaktik realisiere. Diese
Verhaltenswiesen entsprächen einer Art „Dampfkugel-Pädagogik“. Diese ironische
Klassifizierung erfasst nicht nur die Entwicklungspsychologie, sondern im Prinzip alle
hilfswissenschaftlichen Beiträge zu den Didaktiken (Neurodidaktik, Lernpsychologie,
Motivation, Kognition usf.).
57
Die physikalischen Prinzipien der Dampfkugel konnten erst in der Moderne systematisch
umgesetzt und genutzt werden: im Raketenantrieb. Ich bin überzeugt, dass die
Ausrichtungen auf das operative Prinzip, auf den Entwicklungsaspekt des Verstehens von
Inhalten, auf die Fachdidaktik sowie auf eine ethisch und demokratisch begriffene
Dialogik die Sozialisation des Denkens und Handelns potenzieren. Dies ist vergleichbar mit
dem Raketenantrieb, der ein soziales Feld erfassen und vorwärtsbringen kann. Das heisst,
dass die Vernetzung des flexiblen Interviews - im Sinn eines Türöffners für die Weltsicht
der Lernenden und für die Weltsicht der Lehrenden - mit Grundfragen der Pädagogik
entscheidet, ob die Pädagogik systemischer geworden ist. Dialoge sollten Systeme von
Lern- und Lehrergruppen dynamisieren. Dann erst wird der Raketenantrieb spürbar. Diese
Entwicklung braucht Zeit, wie die Praxisprojekte belegen (Fennema et al. 1996; Mast &
Ginsburg, 2009).
9.5 Spiele - Fenster zum Denken, Handeln und Empfinden
Piaget (1983) beobachtete, wie Kinder im Murmelspiel und bei der Vorbereitung einer
Schneeballschlacht Regeln anwenden und über Regeln diskutieren. Regelverhalten und
Regelbewusstsein sind persönliche und soziale Referenzschemata, die sich fortlaufend
entwickeln. Spiele beinhalten ästhetische, kognitive, emotionale und soziale
Werterfahrungen. Im Spiel kultiviert die Person den Umgang mit andern und mit Sachen,
im unguten Fall kann es auch ins Gegenteil umkehren (Kamii, 1985; Dominick & Clark,
1996; Ramani & Siegler, 2008; Ramani, 2012). Die Bedeutsamkeit der Spiele wird mittels
der didaktischen Analyse (Klafki, 1996) geklärt.
Bei der Integration von Kindern / Personen mit einer Behinderung oder mit
Verhaltensstörungen ist es notwendig, die Pädagogik des Spiels sorgfältig vorzubereiten
(siehe Stäbe werfen). - Eine Auswahl von Spielen und Erfahrungen wird vorgestellt. Diese
Spiele sind Generatoren und Modelle für die Mathematisierung und den kompetenten
Umgang mit Zahlen und Operationen. Mathematik erscheint im Licht des Spiels, und das
Spiel erscheint im Licht der Mathematik. Flexible Interviews kommen dann zum Zug,
wenn es gilt, Spielsituationen zu rekonstruieren und einsichtig zu machen. Unterscheiden
Sie zwischen Spielzeiten und Spielritualen auf der einen Seite und der Zeit für
58
mathematische Reflexionen auf der anderen Seite. Vermischungen führen zu Verwirrung
und Motivationsverlust. In Unterrichtsversuchen haben sich regelmässige Spielzeiten vor
der Mittagspause bewährt. Link zur Gesamtübersicht der Spiele und deren Bedeutung
Carrace Elementares Würfelspiel mit selber wählbaren Figuren
Bauernkrieg Einfaches Kartenspiel (Jasskarten, Elferspiel, Pokerkarten)
Eile mit Weile Brettspiel, Würfelspiel, 4 Personen, Spielbeschreibung
Spiel mit N Würfelspiel mit "Schicksalskarten" erfordert arithmetische Operationen
Das Halbespiel Würfelspiel mit "Schicksalskarten", Operationen mit Bruchzahlen, Vorlage
in Word 2007
Copy of the Halfplay
Stäbe werfen Spiel der Apachen, strukturiertes Zählen und Addieren von Zahlenwerten
Ballspiel Zahlwörter, Zählkompetenz, Reihen entdecken
10 FI Blog
Möchten Sie über Erfahrungen oder Schwierigkeiten im Umgang mit dem flexiblen
Interview diskutieren? Ein Blog bietet Möglichkeiten dafür an.
59
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Links
Archiv für pädagogische Kasuistik
Rivista "L'EMOZIONE DI CONOSCERE E IL DESIDERIO DI ESISTERE" (Nicola Cuomo,
Universität Bologna)
Fondation Jean Piaget (Originaltexte, Artikel, Foto, Video, Diskussionsforen)
NZZ - Folio 11/05 - Das Experiment - Die wundersame Vermehrung des Sirups. R.U.
Schneider schildert Piagets Forschungsmethode
Die Webseite Davidsonfilms.com enthält eine Vielzahl interessanter Videoclips über die
Genfer Methode und über bedeutende Persönlichkeiten der Psychologie und der
Pädagogik. Sie werden vor allem von David Elkind kommentiert.
Fachartikel "Das Halbespiel - eine ganze Sache" PM 2/2010
Webbasierter Förderplaner WFP 1.0 - Tool für Screening und Planung in
förderdiagnostischen Aufgaben
Homepage von mathe 2000
Die Grundschulzeitschrift, Nr. 222/223, 2009: Kinder im Gespräch über Mathematik
Dietschi, I. (2010). Lernen, wie es euch gefällt. Beobachter, 25/10.
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f4 - die kostenfreie Transkriptionssoftware für Audio und Videoaufnahmen
MoviScript Transkriptionssystem für Movies und Videos (für Studierende kostenlos)
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