Der General lädt aufs Rütli

Samstag, 25. Juli 2015
Neuö Zürcör Zäitung
Nr. 170
SCHWEIZ 13
Der General lädt aufs Rütli
Vor 75 Jahren hat Henri Guisan an einem geheimen Armeerapport den Rückzug ins Alpenreduit verkündet. Von Rudolf Jaun
Nach der Niederlage Frankreichs
Ende Juni 1940 machte sich in
der von Hitler-Deutschland und
Mussolini-Italien umzingelten
Schweiz Hoffnungslosigkeit
breit. Doch General Guisan
belebte mit einer symbolträchtigen Rede den Widerstandsgeist.
Diese Versammlung hochrangiger kommandierender Offiziere auf einer mythenumrankten Wiese gilt bis heute als
Sternstunde des schweizerischen Widerstandswillens. Am 25. Juli 1940 verkündete General Guisan den auf das
Rütli befohlenen Truppenkommandanten, dass die Armee die befestigte
Kampfaufstellung entlang der Linie
Sargans – Walensee – Zürichsee – Limmat – Bözberg – Jura – Gempen aufgeben werde.
Nachdem Frankreich von Hitlers Streitkräften innert weniger Wochen besiegt
worden war, fiel die «grande nation» als
Allianzpartner der Schweiz bei einem
Angriff der Achsenmächte aus. Die Eidgenossenschaft war nun, vom Dritten
Reich und von Mussolinis Italien eingeschlossen, militärisch ganz auf sich
allein gestellt. Anstatt entlang der alten
Verteidigungslinie sollte der Abwehrkampf nun in drei Zonen geführt werden: dem Grenzraum, einer vorgeschobenen Stellung im Mittelland und an
den Zugängen zu einer zentralräumlichen Reduitzone: Genfersee, Greyerz,
Thunersee, Vierwaldstättersee, Glarus
und Sargans.
Symbolischer Akt
Der Rütlirapport und der Entschluss
General Guisans, die Verteidigung der
Alpentransversalen zur Basis seiner
Dissuasionsstrategie zu machen, gehören zu den zentralen Wegmarken der
Geschichte der Schweiz während des
Zweiten Weltkriegs. Seinen gewagten
militärischen Entschluss wollte Guisan
nicht einfach per Meldezettel die Hierarchieleiter hinab befehlen. In einem
symbolischen Akt sollte er den über 500
Truppenkommandanten auf dem Rütli,
der «Wiege der Eidgenossenschaft»,
kommuniziert werden – und zwar als
starkes Zeichen des Widerstandswillens
gegen die faschistische Einkreisung. Insbesondere der Historiker Edgar Bonjour hat in seinem Bericht zur Neutralitätspolitik der Schweiz die RütliRede des Oberbefehlshabers zum Gegenpol der berüchtigten Rede stilisiert,
die Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz genau einen Monat zuvor am Radio
gehalten hatte (NZZ 22. 6. 15).
Orientierung stiften
Seit Jahrzehnten sind der Inhalt der
Rütli-Rede Guisans und die Reduitstrategie Gegenstand historiografischer und
geschichtspolitischer Erörterungen. Die
Tatsache, dass der General der Schweizer Armee im Geheimen die Kommandanten der kombattanten Truppenkörper nach Luzern befahl, sie dort auf ein
Dampfschiff verladen liess, auf dem
Rütli eine knappe halbe Stunde zu
ihnen sprach, einen einseitigen Armeebefehl verteilte und sie dann wieder in
ihre Stellungen schickte, musste damals
wie heute Verwunderung hervorrufen.
Die mit hohen Offizieren besetzte
«Stadt Luzern» war immerhin von Tauchern auf Bomben abgesucht und von
bewaffneten Booten eskortiert worden,
ein Fliegerraid wurde nicht befürchtet.
Die Wochen seit dem Fall Frankreichs
waren derart von Unsicherheit und Desorientierung geprägt gewesen, dass die
Kommunikation des Entschlusses, gegen jeden Aggressor zu kämpfen, eine
von vielen sehnlichst erhoffte Orientierung bot. In ein Kampfdispositiv zu
gehen, bei dem die Entscheidung nicht
mehr entlang von Limmat und Aare
gesucht wurde, sondern in der letzten
der drei Verteidigungszonen, bedurfte
jedoch einer starken Inszenierung.
In der Armeeführung waren die
Meinungen über diesen strategischen
Entschluss geteilt. Viele Offiziere hiel-
Gestärkter Widerstandsgeist: Nach General Guisans Ansprache verlassen die hochrangigen Offiziere die Rütliwiese.
ten ein solches Vorgehen für eine militärische Bankrotterklärung. Ein starker kommunikativer Event war daher
gefragt, damit Guisan das Offizierskorps und die Armee hinter sich bringen konnte.
Der Wortlaut als Rätsel
Zwar wurde der Event im Rahmen der
medialen Inszenierung später gerne
profiliert, es blieb jedoch lange unklar,
was General Guisan auf dem Rütli
sagte. Der genaue Wortlaut ist bis heute
ein Rätsel. Zeitzeugen überlieferten
einige Zitate. Erst 1980 wurde im zur
Vernichtung bestimmten Bestand des
persönlichen Stabes Guisan ein Manuskript gefunden, das zumindest erlaubt, das Argumentationsgerüst der
Rede zu erfassen: Im Zentrum der Mili-
tärstrategie Guisans stand das Kalkül,
durch die militärisch gesicherte Herrschaft über die Alpentransversalen eine
Dissuasionswirkung zu erzielen.
«Le dispositif de l’Armée a dû être modifié. (. . .) J’ai en conséquence ramené le
gros de l’armée dans un réduit national autour du Gotthard pour défendre les passages
des Alpes et y remplir notre mission historique, coûte que coûte. (. . .) Voilà ce que
notre peuple doit comprendre, ce qui fera
hésiter notre adversaire éventuel. Car il sait
bien que si nous étions attaqués, nous détruirions nos tunnels le Gotthard et le Simplon, et pour longtemps. Et ce Gotthard, ils
en ont besoin!»
Das war die grosse strategische
Botschaft an die Kommandanten: die
Alpentransversalen als strategisches
Pfand. Dieses Pfand konnte offen gehalten, geschlossen, verteidigt, aber
auch vernichtet werden. Das gab neben
nichtmilitärischen Konzessionen Handlungsoptionen und Bargaining-Power.
Guisan war sich im Klaren, dass
dies nur Teil einer Gesamtstrategie
sein konnte, insistierte aber darauf,
dass der Kampf geführt werde, wenn
die territoriale und rechtliche Integrität der Schweiz durch Waffengewalt
tangiert würde.
Er wusste, dass auf operativ-taktischer Ebene die Drei-Zonen-Aufstellung der Armee mit der Absicht, den
Entscheidungskampf im Zentralraum
zu führen, nur eine risikoreiche Notlösung darstellte. Schon die befestigte
Armeestellung im Mittelland hatte aus
Mangel an Mobilität, Panzer- und Fliegerabwehrmitteln sowie schwerer Artillerie bezogen werden müssen. Aus
dieser Notlage heraus beschwor Gui-
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Hommage aus der Romandie
Christophe Büchi Zum 75. Jahrestag
des Rütlirapports haben zwei Westschweizer Intellektuelle – die frühere
liberale Nationalrätin und Rechtsprofessorin Suzette Sandoz und der Historiker Pierre Streit – ein 118 Seiten starkes Buch veröffentlicht, das eine Hommage an den Waadtländer General Henri Guisan darstellt. Gleichzeitig sollten
aus den Vorgängen des Sommers 1940
auch Lehren für Gegenwart und Zukunft gezogen werden, was vor allem
Alt-Nationalrätin Sandoz mit der ihr
eigenen Verve zu tun versucht.
Im ersten Teil des Werks macht die
streitbare Liberale wieder einmal das,
was sie seit Jahren besonders gern tut,
nämlich in alle möglichen Fettnäpfchen
der «Political Correctness» treten. Und
einmal mehr tut sie dies mit jener fast
mädchenhaften Unbefangenheit und
Fröhlichkeit, die sie auch als Politikerin
jahrelang gepflegt hat – so dass selbst
hartgesottene Gegner grösste Mühe haben, sie nicht irgendwie doch zu mögen.
Ausgiebig polemisiert sie gegen den
«skandalösen» Bergier-Bericht und all
jene Historiker, die sich permanent als
Mythen-Zertrümmerer gebärdeten. Sie
singt ein Loblied auf den starken Chef,
nimmt Guisan zum Anlass, für nationale
Souveränität zu plädieren und gegen die
in der Euro-Krise versinkende EU vom
Leder zu ziehen. Vieles ist – wie immer
bei Sandoz – klug und bedenkenswert,
manches überzeichnet. Vieles hat man
auch schon gehört und gelesen. Dennoch
fühlt sich der frühere FDP-Präsident
Fulvio Pelli, der das Vorwort des Buchs
beisteuert, einmal mehr genötigt zu betonen, dass es schwerfalle, mit Madame
Sandoz immer einigzugehen, da ihre
Positionen oft extrem seien.
Im zweiten Teil kommt der im Verteidigungsdepartement angestellte Historiker und frühere Berufsoffizier Pierre
Streit zum eigentlichen Thema, dem
Rütlirapport. Er bestreitet nicht, dass
der Entscheid des Generals, praktisch
die gesamte Führungsspitze der Armee
auf der Rütliwiese zu versammeln,
höchst riskant war; er würdigt ihn aber
gleichzeitig als ein zentrales Ereignis,
das entscheidend zur Schweizer Wehrbereitschaft beigetragen hat. Allerdings
weist auch Streit auf die verblüffende
Tatsache hin, dass man nicht weiss, was
Guisan auf dem Rütli genau gesagt hat;
es gibt zwar ein Manuskript, man weiss
aber, dass sich der rhetorisch versierte
Waadtländer nicht daran gehalten hat.
Verblüffender aber noch: Laut Streit
weiss man nicht einmal, ob Guisan auf
Deutsch oder auf Französisch oder in
beiden Sprachen gesprochen hat, man
weiss nicht genau, wie viele Leute zugegen waren, und nicht einmal über das
Wetter besteht Einigkeit: Laut den einen
schien die Sonne, andere haben einen
bewölkten Himmel in Erinnerung.
Interessant ist auch der Hinweis, dass
der Rütlirapport zu Beginn in der Öffentlichkeit keineswegs jene Aufmerksamkeit gefunden hat, die man aus heutiger Sicht erwarten könnte. Für Streit
nicht bestreitbar ist aber die Tatsache,
dass Guisans Rede in grossen Kreisen
der Armeespitze einen positiven Schock
verursachte. Dies belegen auch die Aussagen einiger Zeitzeugen, die im Anhang
des Buchs veröffentlicht wurden.
Pierre Streit, Suzette Sandoz: Rütli, une voie pour
l’avenir 1940–2015. Editions Cabédita, Bière 2015.
120 S., Fr. 29.–.
THEO FREY / FOTOSTIFTUNG SCHWEIZ / KEYSTONE
san auch den Schützenmythos des
Schweizer Männervolkes im Gebirgsgelände:
«Inculquer la notion de la valeur du terrain, à tous les échelons du commandement, jusqu’à la plus petite cellule (. . .). Un
homme sûr de son coup n’aura rien à
craindre d’un parachutiste, ni de la 5e
colonne (. . .).»
»Nur aus einem stärker gesicherten
Raum war dies zu leisten. Statt an der
Limmat wurden nun die Sperrstellen des
Alpenrandes verstärkt. Die Artillerie
wurde in feste Stellungen gelegt, die
Zahl der Festungen mehr als verdoppelt.
Bei einem Gesamtbestand von 450 000
Mann machten die Festungstruppen
aber nur etwas mehr als 2500 Mann aus.
Nur ein Ziel
Der Rütli-Rapport reihte sich überdies
ein in eine Folge von Massnahmen Guisans zur Bewältigung von Spannungen
und Dissonanzen innerhalb der Armee.
Um diese zu beseitigen, ordnete der
General rund ein Jahr später unter
anderem auch einen Studienauftrag an:
Alle Generalstabs- und Instruktionsoffiziere sollten sich darüber Gedanken machen, was nach dem Reduit
komme. Aus diesem Studienauftrag
ging schliesslich die während des Kalten
Kriegs gültige Abwehrkonzeption der
Schweizer Armee hervor.
Am 25. Juli 1940 hatte Guisan jedoch
nur ein Ziel. Er wollte am symbolträchtigsten Ort der Schweizer Geschichte
seine Botschaft verkünden:
«Notre seule sauvegarde est notre
volonté de nous défendre jusqu’au bout.»
Und er schloss mit den Worten: «Je vous
charge de transmettre cette consigne à vos
troupes. J’ai confiance en vous. L’ordre
d’armée sera distribué sur le bateau.»
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Rudolf Jaun ist Titularprofessor für Geschichte der
Neuzeit und Militärgeschichte an der Universität Zürich.
Er hat unter anderem Studien über das schweizerische
Generalstabskorps verfasst. Das Manuskript Guisans ist
abgedruckt bei Oscar Gauye: «Au Rütli, 25 juillet 1940».
Le discours du général Guisan: nouveaux aspects. In:
Studien und Quellen, Vol. 10, Bern 1984.