A P P LICA-THEMA «Berufsbildner müssen in alle Lernenden viel investieren» Interview Raphael Briner Bilder Kuster Frey Fotografie Lehrvertragsauflösungen (LVA) haben nie nur einen einzigen Grund. Patrizia Hasler hat im Auftrag des Schweizerischen Baumeisterverbandes eine Studie erstellt, die sich mit dem Thema befasst. Im Interview erklärt sie, mit welchen Jugendlichen es die Bauberufe zu tun haben und was Berufsbildner tun können, damit ihre Schützlinge zum Erfolg kommen. «Applica»: Frau Hasler, aus welchen Gründen kommt es zu LVA? Patrizia Hasler: LVA sind wahrscheinlicher, wenn die Berufswahl falsch war und die Ausbildungsbedingungen für den Lernenden nicht optimal sind. Ein dritter Faktor sind persönliche Gründe. Es spielen immer mehrere Faktoren eine Rolle. Was kann präventiv gemacht werden? Wichtig ist die Aus- und Weiterbildung der Berufsbildner, aber auch der Praxisausbildner. Oft ist der offizielle Berufsbildner gar nicht auf der Baustelle. Darum müssen wir alle sensibilisieren, die mit Jugendlichen zu tun haben. Wir müssen ihnen aufzeigen, wie diese ticken. Patrizia Hasler hat untersucht, aus welchen Gründen es zu Lehrvertragsauflösungen kommt und entwickelt Instrumente dagegen. (Bild: zVg) Wie ticken sie? Sie sind emotional. Sie haben einen selektiven Leistungswillen: Heute haben sie ‹Bock›, morgen nicht. Typisch ist eine gewisse Kurzsichtigkeit, weshalb Jugendliche aktuelle Situationen überbewerten. Kurz: Das Ego ist sehr wichtig. Was sagen die Berufsbildner zu solchen Informationen? Viele haben ein Aha-Erlebnis. Wichtig ist aber zu wissen, dass trotz allgemeingültiger Faktoren nicht alle Jugendlichen gleich ticken. Sie kommen aus einer von sieben sie prägenden Lebenswelten. Aus welchen Welten kommen die Jugendlichen im Bauhauptgewerbe? In der Regel sind sie einer der folgenden Welten zuzuordnen: materialistische He- 20 A P P L I C A 20_AT_2827_Hasler.indd 20 donisten beziehungsweise Genussmenschen, Konservativ-Bürgerliche und Prekäre. Bei den Malern und Gipsern dürfte es gleich sein. Die schwierigste Kategorie sind die Hedonisten. Bei ihnen steht der Konsum im Vordergrund. Das sind meist Jugendliche mit tiefem Bildungsniveau. In der Familie haben sie quasi Götterstatus. Sie haben daher eine sehr fordernde Haltung, die bei der Bewerbung jedoch nur schwer zu erkennen ist. Und die anderen beiden Welten? Aus der konservativ-bürgerlichen Welt kommen unsere ‹Schoggi-Jugendlichen›. Sie stellen Selbstdisziplin vor Selbstentfaltung, sind sparsam. Oft kommen sie aus einer Familie, die mit dem Handwerk sehr verbunden ist. Diese Jugendlichen erfahren viel Rückhalt in der Familie und wachsen behütet auf. Machen sie auch Probleme? Ja, auch das sind keine Selbstläufer. Ich habe mit den Berufsbildnern einer grossen Baufirma die Fälle von LVA angeschaut. Die meisten Fälle betrafen Jugendliche aus der konservativ-bürgerlichen Welt. Die Berufsbildner sind aus allen Wolken gefallen. «Wichtig ist die Ausund Weiterbildung aller, die mit Jugendlichen zu tun haben» 8 / 2 0 1 5 19.08.2015 13:40:43 A PPL I CA -T HEM A Was ist in diesen Fällen falsch gelaufen? Diese Lernenden muss man auch fordern und fördern, obwohl sie pflegeleicht sind. Aber für das System sind sie kein Problem. Sie wechseln einfach den Betrieb mit der Unterstützung der Familie. Und welches ist die dritte Welt? Aus der prekären Welt kommen die Benachteiligten der gesellschaftlich tiefen, bildungsfernen Schichten. Das sind oft Schweizer, die materiell wirklich wenig haben und häufig ein bisschen ‹verschupft› sind. Die Eltern sind meist Sozialhilfeempfänger oder IV-Bezüger. Wenn die Situation zu Beginn erkannt wird und nicht bereits so prekär ist, dass sie beinahe auf der Strasse leben, kann man diese Jugendlichen gut integrieren. Wie integriert man sie? Sie brauchen sehr viel Zeit, bis sie Fuss fassen. Sie haben schon sehr viel erlebt und gemerkt, dass sie trotz Anstrengung nicht auf einen grünen Zweig kommen. Die Ausbildner müssen sie loben, ihnen Aufmerksamkeit schenken, Erfolgserlebnisse auf tiefem Niveau ermöglichen. Man muss ihnen klare Strukturen und damit Halt geben. Oft sind es schwache Schüler und Schülerinnen. Da muss man genau hinschauen, weshalb sie schwach sind. Worauf muss geachtet werden? Ob jemand mehr leisten könnte oder eben nicht. Wenn das Umfeld genügend stabil ist und es Möglichkeiten gibt, die Ressourcen dieser Jugendlichen zu mobilisieren, dann besteht eine Chance. Sie können zum Beispiel in einer Vorlehre, in der sie drei Tage die Woche arbeiten und an zwei Tagen die Schule besuchen, gewisse Defizite aufarbeiten. Sie sind dort auch nicht dem Druck der konsumorientierten Kollegen ausgesetzt, die sie in der normalen Berufsfachschule ausgrenzen würden, weil sie nicht das neuste Smartphone haben. Wie merkt ein Lehrmeister bei der Rekrutierung, mit wem er es zu tun hat? Grundsätzlich gibt es in der Rekrutierung und in der Ausbildung kein Wenn-dannSchema. Das ist ein dynamischer Prozess, in dem es die Berufsbildner teilweise mit einer Art Blackbox zu tun haben. Ich habe zwei Instrumente generiert, um zu erkennen, mit wem es ein Berufsbildner im Lehrbetrieb zu tun hat. «Mit gezielten Fragen kann im Rekrutierungsgespräch bereits vieles geklärt werden» Welche Instrumente sind das? Ich habe weitere Fragen für das Rekrutierungsgespräch formuliert. Es geht um die Berufswahl, um den Umgang mit Geld, um Konfliktlösungsstrategien und die soziale Einbettung. Der Berufsbildner fragt, wer den Jugendlichen bei der Berufswahl unterstützt hat, wie er mit Geld umgeht, wie er reagiert, wenn er am Morgen den Bus verpasst hat oder wohin er geht, wenn er persönliche Probleme hat. Welches ist das zweite Instrument? Ich habe einen Mathematiktest für die Berufsschulen zusammenstellen las- Zur Person Patrizia Hasler ist seit August 2014 Projektleiterin Berufsbildungspolitik beim Schweizerischen Baumeisterverband. Das ist eine Querschnittfunktion über die Bereiche Grundbildung, höhere Berufsbildung und Berufswerbung. Vor dieser Festanstellung hat sie im Mandat die Studie «Lehrvertragsauflösungen im Bauhauptgewerbe» verfasst. Hasler hat ursprünglich das Sekundarlehramt absolviert. 20 Jahre unterrichtete sie in der Sekundarschule und der Berufsschule. Parallel dazu erwarb sie einen Master of Science in Berufsbildung am Eidgenössischen Hochschulinstitut für Berufsbildung. Derzeit arbeitet sie an ihrer Dissertation. Schlussbericht zur Studie: www.baumeister.ch ➝ Berufsbildung ➝ Grundbildung ➝ Lehrvertragsauflösungen A P P L I C A 20_AT_2827_Hasler.indd 21 8 / 2 0 1 5 21 19.08.2015 13:40:52 A P P LICA-THEMA sen. Dieser zeigt, ob einer das kann, was er mathematisch für das erste Lehrjahr braucht. Er kann auch zeigen, dass einer die BMS machen sollte. Es geht nicht nur um die schwachen Lernenden, sondern auch um die starken. Wenn diese Schwierigkeiten machen, weil sie unterfordert sind, und die Lehre abbrechen, verlieren wir ebenfalls Humankapital. Ausbildung sind, genauso gut in der EBAAusbildung sein und umgekehrt. Darum muss man genau wissen, warum man jemanden abstuft. Wenn einer abgestuft wird, bei dem mehrere Faktoren problematisch sind – falsche Berufswahl, schlechtes soziales Umfeld und so weiter –, dann wird er vermutlich auch in der EBA den Lehrvertrag auflösen. Worauf ist sonst noch zu achten? Gerade bei schwachen Schülern ist es wichtig, das soziale Umfeld einzubezie- Was kann man dagegen tun? Wer abstuft, braucht ein genaues Konzept. Er darf nicht einfach abstufen und dann mal schauen, wie es läuft. Die Tendenz in der Berufsbildung ist, dass alle ein Papier haben müssen. Das ist nicht nachhaltig. Wir müssen die Jugendlichen so ausbilden, dass sie arbeitsmarktfähig sind. Wenn einer das QV knapp schafft, aber unzuverlässig ist, sich nicht einordnen kann, immer zu spät kommt, dann wird er über kurz oder lang auf dem Arbeitsmarkt nicht bestehen können. Darum kann es sinnvoll sein, den Lehrvertrag aufzulösen anstatt abzustufen. «Der Berufsbildner muss genau wissen, weshalb er jemanden in das EBA abstuft» Viele, die in der EFZ-Ausbildung sind, könnten ebensogut in der EBA-Ausbildung sein – und umgekehrt. hen. Daraus können viele Erkenntnisse gewonnen werden, worauf während der Lehre zu achten ist. Betriebe sollten die Eltern in den Rekrutierungsprozess aktiv einbeziehen. Wenn einer den niedrigsten schulischen Abschluss hat und über kein tragfähiges soziales Netz verfügt, dann gehört er vielleicht nicht in eine EFZ-Lehre, sondern er sollte zuerst eine EBALehre erfolgreich abschliessen. Ist das EBA quasi Allheilmittel für Jugendliche, die Probleme haben? Die Anforderungen für EBA und für EFZ überschneiden sich zu einem grossen Teil. Es könnten viele, die in der EFZ- 22 A P P L I C A 20_AT_2827_Hasler.indd 22 Welchen Sinn hat das? So kann der Jugendliche sich eine Lehrstelle suchen, die besser zu ihm passt. Das ist dann eine verzögerte Berufswahl. Gerade Schwächere haben oft gar keine Berufswahl getroffen, sondern einfach genommen, was sie bekommen haben. Wie wirkt eine Abstufung nachhaltig? Erfolgreiche Berufsbildner müssen, unabhängig davon, ob sie EFZ- oder EBALernende betreuen, aufmerksam sein 8 / 2 0 1 5 19.08.2015 13:40:52 A PPL I CA -T HEM A Lernende müssen wissen, dass Leistung sich lohnt, dann sind sie motiviert. und sich auf die Lernenden einlassen. Vertrauen ist das A und O. Der Aufbau von Vertrauen fängt damit an, dass der Ausbildner oder die Ausbildnerin dem Jugendlichen am Morgen die Hand gibt, ihm in die Augen schaut und fragt, wie es ihm geht. Jugendliche aus instabilen Familienverhältnissen brauchen gemäss Studien ein Jahr, um Vertrauen aufzubauen. Beziehungsaufbau ist ein kontinuierlicher Prozess. lichen eine Standortbestimmung durchzuführen. So fühlt sich der Jugendliche ernst genommen, was sich positiv auf die Motivation auswirkt. Ist das in der Alltagshektik möglich? Natürlich ist eine ständige Betreuung weder möglich noch sinnvoll. Wichtig ist, Zeitfenster zu schaffen. Ein gutes Mittel dafür ist die Lerndokumentation. Der Berufsbildner macht mit dem Lernenden ab, dass er sich zum Beispiel jeden FreiWas braucht es zusätzlich? tag zwischen 16 und 17 Uhr mit ihm zuWenn ich die Berufsbildner frage, was sammensetzt, um diese anzuschauen. sie von einem Jugendlichen erwarten, Dann ist das ein fixer Termin und der Jusagen sie meist, er müsse motiviert gendliche kann sich darauf verlassen, sein. Motivation ist aber kein konstan- dass er seine Anliegen vorbringen kann und im Mittelpunkt steht. «Motivation entsteht immer wieder durch positive Erfahrungen» tes Merkmal eines Menschen. Sie wird immer neu generiert durch positive Erfahrungen, die der Lernende bei guten Ausbildungsbedingungen machen kann. Welche Erfahrungen sind positiv? Wenn Jugendliche Wertschätzung für ihre Anstrengungen erfahren und sich nicht nur als billige Arbeitskräfte vorkommen. Sie müssen sich im Team wohlfühlen und zudem auch mal Fehler machen dürfen. Der Berufsbildner muss sich ab und zu Zeit nehmen, um mit dem Jugend- Wer ist ein idealer Berufsbildner? Er braucht in erster Linie eine hohe Selbst- und Sozialkompetenz. Fachkompetenz kommt vor allem bei der Zielgruppe EBA erst an zweiter Stelle. Er braucht Empathie, Freude an Jugendlichen. Diese sind anstrengend, brauchen die Auseinandersetzung – das ist nicht immer lustig. Und es braucht Berufsstolz, der weitergegeben wird. ‹Nicht Fässer abfüllen, sondern Flammen entzünden›, dieses Sprichwort bringt es auf den Punkt. Es gibt Lernende, die schulisch schwach sind, aber im Praktischen ihre Stärken haben. Wie geht man damit um? Bei schulischen Problemen muss man genau hinschauen. Hat einer wirklich eine Lernbehinderung? Das haben nur die wenigsten. Meist liegt Potenzial brach, das aus bestimmten Gründen nicht abgerufen wird. Was sind dies für Gründe? Diese Gründe sind vielfältig. Es gibt Jugendliche, die einfach faul sind. Sie sind genial darin, die Lehrer zu täuschen und sind so neun Jahre in der Volksschule durchgerutscht. Arbeiten machen sie nur mit Copy-and-Paste oder sie holen Kollegen, die ihnen diese schreiben. Und sie sind sehr gut darin, sich rauszureden. Ihre Haltung ist: Wieso soll ich mich anstrengen, wenn ich ja auch ohne Einsatz zum Ziel komme? Washalb haben sie diese Haltung? Im Grunde genommen ist das eine Überlebensstrategie, die sie sich in der Grundschule aneignen mussten. Sie haben weder zuhause noch in der Schule die nötige Unterstützung erhalten, die sie gebraucht hätten, um den Schulstoff erfolgreich zu bewältigen. Somit haben sie schon früh in der Kindheit die Erfahrung gemacht, dass sich Leistung nicht lohnt. Wie geht man mit solchen Lernenden um? Sie brauchen eine gewisse Strenge, klare Rahmenbedingungen, müssen aber gelobt werden, wenn sie etwas gut gemacht haben. Mit dem Konsumverhalten kompensieren sie ihr geringes Selbstwertgefühl. Sie verbergen es hinter ihrem gestylten Äusseren. Der Berufsbildner muss mit dem Lernenden klare ZieA P P L I C A 20_AT_2827_Hasler.indd 23 8 / 2 0 1 5 23 19.08.2015 13:40:52 A P P LICA-THEMA le definieren, die er dann überprüft. So entsteht Beziehung, was indirekt dem Jugendlichen Halt gibt. Dies erfordert Engagement und Durchhaltewillen beiderseits, aber der Berufsbildner hat die Aufgabe, den Lernenden zu führen – nicht erst, wenn schon viel Geschirr zerschlagen ist. Dann ist es meistens zu spät. Welche anderen Typen von Lernenden mit schulischen Problemen gibt es? Selbstverständlich gibt es die, welche wirklich intellektuell schwach sind. Sie gehören in das EBA. Wenn das soziale Umfeld des Lernenden stimmt – er kann immer zuhause in einem Bett schlafen, die finanziellen Verhältnisse stimmen einigermassen – und er im Betrieb integriert ist, wird er den Abschluss schaffen. Kurz: Die schulische Leistung allein ist nie Grund für eine LVA. Wir haben die Gefässe, um das aufzufangen. Wenn der Berufsbildner die Lernende für eine gute Leistung lobt, kann das zu einer markanten Steigerung des Engagements führen. Das EBA bewährt sich also, wenn man sorgfältig einteilt? Grundsätzlich ja. Sie ist aber kein Selbstläufer. Man kann nicht sagen, wenn diese Faktoren gegeben sind, dann EBA. Es werden oft Leute in die EBA-Ausbildung gesteckt, die nicht dorthin gehören. Es bräuchte wenig, damit sie in einer EFZAusbildung den Knopf auftun würden. Was bringt in solchen Fällen Erfolg in Form eines EFZ-Abschlusses? Diese Leute müssen erfahren, dass Leistung sich lohnt. Jugendliche, die aus der prekären oder der materialis- 24 A P P L I C A 20_AT_2827_Hasler.indd 24 tisch-hedonistischen Welt kommen, haben diese Erfahrung aus unterschiedlichen Gründen nie gemacht. Das ist eine Benachteiligung, die zu den anderen ungünstigen Umständen hinzukommt. Sie sind mehrfach benachteiligt. «Wir unterschätzen oft die brachliegenden Ressourcen der Jugendlichen» Wie merken diese Jugendlichen, dass Leistung sich lohnt? Wenn sie eine Arbeit gut gemacht haben und der Berufsbildner sie dafür lobt. Das kann zu einer markanten Verbesserung des Engagements und der Noten in der Berufsfachschule führen, da sie plötzlich Interesse für die Materie zeigen und zu lernen beginnen. Jugendliche sind noch sehr abhängig von den Rückmeldungen Erwachsener, da sie ja erst daran sind, ihr Selbstkonzept aufzubauen. Wir unterschätzen oft die brach liegenden Ressourcen. Das gilt aber nicht nur für EFZsondern auch für EBA-Lernende. Muss man also im EBA in die Leute genau gleich viel investieren wie im EFZ? Das ist das Fazit. Das habe ich aufzeigen wollen. Die Schaffung des EBA allein löst die Probleme der Lehrvertragsauflösungen oder der Ausbildungslosig■ keit von Jugendlichen nicht. 8 / 2 0 1 5 19.08.2015 13:40:53 A PPL I CA -T HEM A A P P L I C A 20_AT_2827_Hasler.indd 25 8 / 2 0 1 5 25 19.08.2015 13:40:53
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