Zeit zu gehen - Eric F. Bone

Zeit zu gehen
Eric F. Bone
Eine weihnachtlich-gruselige Kurzgeschichte
Impressum
Eric Franzbonenkamp
Windfeln 8
42659 Solingen
Facebook: https://www.facebook.com/Autor.Eric.Bone/
Er war schon sehr lange nicht mehr spazieren gegangen. Um genau zu sein seit drei Jahren nicht mehr.
Seine Enkelin war damals zwölf Jahre alt geworden
und hatte ihm gesagt, dass große Mädchen nicht
mehr mit ihrem Opa spazieren gehen würden. Danach hatte er irgendwie den Spaß daran verloren.
Seinen Sohn und dessen Frau hatte er davor bereits
nur noch selten gesehen. Sie hatten sich von ihm abgewandt und hielten ihn seit einiger Zeit schon für
einen kauzigen alten Mann. Dabei war er in Wirklichkeit einfach nur einsam. Vermutlich wartete zumindestens seine Schwiegertochter sehnlichst darauf,
dass er ihnen endlich das schöne alte Haus hier am
Waldrand vererben würde. Das war so, seit seine
Frau vor etwa sieben Jahren gestorben war. Das Alter
schien sich seitdem wie ein drohender Schatten über
alles zu legen und erschwerte ihm zunehmend das
Leben. Sein einziger Lichtblick war Lilly. Seine Enkeltochter kam zwar nur noch selten zu Besuch, aber
immer wenn er sie sah wurde sein Herz ganz leicht.
Sie erinnerte ihn so sehr an Joana, seine verstorbene
Frau. Als er sie vor über sechzig Jahren kennengelernt hatte, waren sie in ihrem Alter gewesen. Er war
gerade sechzehn, sie fünfzehn und seit diesem Tag
waren sie ein Leben lang unzertrennlich gewesen.
Bis zu der furchtbaren Diagnose vor sieben Jahren.
Heute morgen war er früh aufgewacht. Es war ein
Tag vor Heiligabend, und er freute sich schon sehr
auf den Besuch von Lilly in zwei Tagen. Er hatte aus
dem Fenster gesehen und die Gegend um sein Haus
unter einem weissen Deckmantel aus puderzuckerartigem Schnee vorgefunden. Sofort hatte ihn das Verlangen gepackt, einen langen, ausgedehnten Spazier-
gang durch den Wald zu machen. Und da war er nun,
saß auf der Bank, auf der er so oft schon mit Joana
gesessen hatte. Hier hatten sie sich oft heimlich getroffen, hier hatte er ihr den Heiratsantrag gemacht
und hier waren sie so viele Male so glücklich gewesen. Er vermisste sie sehr. Seit der Krebs sie ihm genommen hatte schlief er kaum eine Nacht wirklich
durch.
Bei der Erinnerung stahlen sich einige Tränen in seine Augenwinkel. Er vergaß vollkommen die Zeit,
während er in vergangenen Jahrzehnten herumwanderte, und als er endlich wieder in die Wirklichkeit
zurückfand, hatte es bereits angefangen stark zu
schneien.
Er entschied sich, dass es zeit war nach Hause zurück
zu kehren, aber die Kälte war ihm in die Knochen gezogen und so brauchte er eine Ewigkeit, bis er überhaupt wieder auf seinen Füßen stand. Danach kam er
nur langsam voran, während das Wetter immer
schlechter wurde. Irgendwann artete es zu einem regelrechten Schneesturm aus, sodass er kaum mehr
die Hand vor Augen sehen konnte. Er stolperte mehr
vorwärts als dass er wirklich ging, und einige Male
hätte er beinahe einen Baum übersehen und wäre dagegen gelaufen.
Irgendwann war da eine Wurzel, die er nicht sah. Er
fiel vornüber um dann festzustellen, dass sich dahinter ein Abhang befand, den er herunterpurzelte und
hart unten aufschlug. Ein lautes Krachen seiner alten
Knochen und der darauf folgende Schmerz verrieten
ihm, dass er sich zumindest den Fuß und eine Rippe
gebrochen hatte. Er lag eine ganze Weile einfach so
da, bis seine Sinne anfingen zu verschwimmen. Er
rief schon lange nicht mehr um Hilfe, da der Sturm
seine Worte ohnehin fortriss, bevor irgendwer sie hätte hören können, und mit Tränen in den Augen dachte
er an Übermorgen, an Lilly und daran, dass er sie
vermutlich nicht mehr wiedersehen würde. Er könnte
ihr nicht den Gutschein für die Reiterferien schenken,
den sie sich so wünschte und er würde sie mit Sicherheit nicht mehr lachen sehen.
Ihm wurde gerade endgültig schwarz vor Augen, als
jemand ihn am Arm packte und auf die Füße zog. Er
versuchte der Person ins Gesicht zu sehen, aber sein
Blick war zu getrübt um etwas zu erkennen. Alles
was er sah waren ein schwarzer Mantel, den die Gestalt über einem feinen Anzug zu tragen schien. In
der einen Hand hielt der Fremde einen Gehstock, den
er ihm nun reichte, damit er sich darauf stützen konnte. Beruhigend sprach der Fremde auf ihn ein, während er ihn stützte und langsam den Weg entlang
führte.
Nur das Gesicht seines Retters blieb ihm verborgen.
Einige Male glaubte er, jemanden darin zu erkennen,
aber der Eindruck verblasste so schnell, wie er gekommen war. Der Fremde führte ihn hinaus aus dem
Wald und fuhr ihn mit seinem Wagen ins Krankenhaus, wo sein Knöchel und die gebrochene Rippe behandelt wurden und er nach einigen Stunden wieder
nach Hause konnte. Der Fuß war glücklicherweise
nur verstaucht gewesen. Vor dem Krankenhaus wartete erneut sein Retter auf ihn und brachte ihn nach
Hause, als würden sie sich bereits seit vielen Jahren
kennen. Zum Dank lud der alte Mann ihn zum
Abendessen ein und fragte abschließend nach dem
Namen des Fremden.
»Wir kennen uns doch bereits seit sieben Jahren!«,
war die Antwort. Dann versicherte er ihm, dass er
zum Fest da sein würde und verabschiedete sich. Als
seine Enkelin Mittags am Weihnachtstag zu ihm
kam, war fast alles wie immer. Der Knöchel behinderte ihn ein wenig, aber es war trotzdem eine wunderbare Feier. Nur sein Retter hielt sich vornehm zurück, aß nichts und trank nichts und reagierte auch
nicht auf seine Enkelin. Es war, als würde für die beiden der jeweils andere nicht existieren. Am Abend
wurde Lilly von ihrem Vater abgeholt. Sein Sohn
grüßte ihn nur knapp und verschwand sodann durch
die Tür nach draußen. Kurz darauf konnte der alte
Mann noch einmal das brummen des schweren Mercedes hören, das nach und nach in der Ferne verstummte. Nun wieder allein mit dem Fremden setzte
er sich in seinen Sessel und bot dem Besucher einige
Kekse an, die dieser dankend ablehnte. Dann stand er
auf, nahm seinen Mantel vom Reck in der Diele,
schaute noch einmal zur Tür herein und sagte dann:
"Nun ist es aber wirklich Zeit zu gehen!"