Burnout vs. Depression - Daimler und Benz Stiftung

Person und Gesellschaft
19. Berliner Kolloquium
der Daimler und Benz Stiftung
13. Mai 2015
Die gestresste Gesellschaft
Burnout vs. Depression
Volkskrankheit oder Modediagnose?
Person und Gesellschaft
Einführung
Die gestresste Gesellschaft
Burnout vs. Depression
Volkskrankheit oder Modediagnose?
Der Begriff „Burnout“ ist in aller Munde. Nahezu jeder kennt in seinem sozialen
Umfeld eine betroffene Person, die unter einem Burnout leidet oder zumindest
über entsprechende Symp­tome berichtet. Obwohl wir eine vage Vorstellung da­
von besitzen, was einen Burnout charakte­risiert – eine psychische Erkrankung,
die ursächlich mit Stress am Arbeitsplatz in Zusammenhang steht – ist zugleich
kaum jemandem bekannt, dass Burnout kein offiziell anerkanntes Krankheitsbild
ist. Experten bestreiten zwar die Existenz von berufsbezogenen Belastungssymp­
tomen nicht, fordern aber mehr wissenschaft­liche Belege dafür, dass das klini­
sche Bild eines Burnouts sich von jenem der Depression hinreichend unterschei­
det, um eine eigenständige Diagnose zu rechtfertigen.
Dieses gesamtgesellschaftlich hochrelevante Forschungsdefizit gilt es zu über­
winden. Burnout sollte – falls gerechtfertigt – den Status einer anerkannten psy­
chischen Erkrankung erlangen. Dies wäre aus Sicht der Betroffenen wie auch
aus Sicht der Kostenträger ein wesentlicher Fortschritt. So könnten nämlich
nicht nur klar zugeschnittene Therapien besser zugänglich gemacht, sondern
auch Ressentiments gegenüber psychischen Erkrankungen abgebaut werden.
Das Berliner Kolloquium bringt zu dieser aktuellen Kontroverse „Burnout vs.
Depression“ fachübergreifend Experten aus Wissenschaft und Forschung, Poli­
tik, Medizin und Wirtschaft zusammen. Sie treten auf der Tagung gemeinsam
sowie mit der interessierten Öffentlichkeit in die Diskussion ein.
DNA-Proben des Burnout-Projekts
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19. Berliner Kolloquium der Daimler und Benz Stiftung
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Person und Gesellschaft
Barbara Steffens
Settingorientierte Prävention und
vernetzte Versorgung als Grundlagen
einer nachhaltigen Gesundheitspolitik
Welche Rahmenbedingungen unseres Zusammenlebens sind mitverant­
wortlich für die starke Zunahme psychischer Erkrankungen? Welche Wege
führen aus der gestressten Gesellschaft? Welche konkreten Maßnahmen sind
erforderlich?
Ein Schlüssel liegt in einem Mehr an Prävention – und zwar settingorientiert:
in den Schulen und am Arbeitsplatz, wo sich die Stressoren häufen, aber
auch im privaten Umfeld und im Alter. Ebenso sind interdisziplinäre und
sektor­übergreifende Angebote erforderlich. Sie sind deutlich passgenauer
und werden den Bedarfen der betroffenen Menschen viel eher gerecht.
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19. Berliner Kolloquium der Daimler und Benz Stiftung
Die gestresste Gesellschaft. Burnout vs. Depression Volkskrankheit oder Modediagnose?
Barbara Steffens
Ministerin für Gesundheit,
Emanzipation, Pflege und
Alter des Landes NordrheinWestfalen
Seit 2010 Ministerin für Gesundheit,
Emanzipation, Pflege und Alter des Landes
Nordrhein-Westfalen; von 2000 bis 2013
Abgeordnete des Landtags NRW.
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Person und Gesellschaft
Person und Gesellschaft
Dipl.-Psych.
Martin Melchers
Universität Bonn
Abteilung Differentielle und
Biologische Psychologie
Martin Melchers studierte von 2006 bis
2011 Psychologie an der Rheinischen
Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
Parallel dazu arbeitete er an Forschungsprojekten zu inzidentellen Lernprozessen
sowie Lernen über die Lebensspanne mit.
Aktuell ist Melchers wissenschaftlicher
Mitarbeiter und Doktorand in der Abteilung
Differentielle und Biologische Psychologie.
Seine Arbeitsschwerpunkte sind neurobiologische Grundlagen empathischer Fähig­
keiten, Grundlagen sozialer Wahrnehmung,
Intelligenzdiagnostik und die Erforschung
der biologischen Grundlagen des BurnoutSyndroms. In diesem Jahr wird ein von
Melchers mitadaptierter Intelligenztest für
Kinder und Jugendliche erscheinen. Seine
methodische Expertise liegt insbesondere in
der Magnetresonanztomografie.
M. Sc. Thomas Plieger
Universität Bonn
Abteilung Differentielle und
Biologische Psychologie
Thomas Plieger studierte von 2007 bis 2012
Psychologie an der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn. Parallel dazu
arbeitete er an Forschungsprojekten zu genetischen Grundlagen von Persönlichkeitseigenschaften mit. Aktuell ist Plieger wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand
in der Abteilung Differentielle und Biologische Psychologie. Seine Arbeitsschwerpunkte sind neurobiologische Grundlagen akuter
Stressreaktionen, das Antwortverhalten
von Studienteilnehmern beim Ausfüllen
von Fragebögen („response sets“) und die
Erforschung der biologischen Grundlagen
des Burnout-Syndroms. Pliegers Expertise
liegt auf dem Gebiet der Neuropsycho­
endokrinologie und der Molekulargenetik.
Er beherrscht molekulargenetische Techniken praktisch im Labor.
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Martin Melchers und Thomas Plieger
Burnout: Historische
und soziodemografische Aspekte,
aktueller Forschungsstand
Burnout wird vor allem seit den frühen 2000er-Jahren intensiv in den Medien
und der Öffentlichkeit thematisiert. Tatsächlich besteht dieser Begriff in der
Forschung jedoch viel länger. Das Phänomen wurde bereits in den 1950erJahren in Fallstudien beobachtet und im Jahr 1960 auch zum ersten Mal als
„Burnout“ bezeichnet. Trotz sich daran anschließender jahrzehntelanger
Forschungsbemühungen gibt es bis heute weder Einigkeit über die genaue
Definition dieses Syndroms noch ist es eine medizinisch anerkannte Diagnose.
Die aktuelle Forschung versucht daher, auf verschiedenen Ebenen mögliche
Ursachen zu identifizieren und daraus Erklärungsmodelle sowie eine allge­
meingültige Definition von Burnout abzuleiten.
Zunächst wird ein historischer Überblick zur empirischen Burnout-Forschung
gegeben: Im Fokus der wissenschaftlichen Studien standen insbesondere ge­
sellschaftliche, demografische und berufsbezogene Variablen. Darüber hinaus
zeigte sich, dass Faktoren, die dem Individuum immanent sind, in ursäch­
lichen Zusammenhang mit dem Burnout-Syndrom gebracht werden konnten.
Dazu gehören Persönlichkeitseigenschaften, die Qualität der Partnerschafts­
beziehung, Strategien der Stressverarbeitung, Alter und Geschlecht.
Außerdem wird ein Überblick zur aktuellen Forschungslage gegeben. In
diesem Zusammenhang werden auch eigene empirische Daten vorgestellt,
die im Rahmen eines von der Daimler und Benz Stiftung geförderten Pro­
jekts erhoben wurden. Neben an Burnout erkrankten Patienten, die sich zur
Rehabilitation in psychosomatischen Kliniken befanden, wurden deutsch­
landweit Daten von berufstätigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in
den unterschiedlichsten Branchen erhoben. Darauf basierend werden erste
Prädikationsmodelle, die das Burnout-Syndrom von der Depression abgrenzen
können, sowie erste Bildgebungsdaten (Magnetresonanztomografie, MRT)
von Berufstätigen präsentiert, die im MRT-Scanner mit ihrer individuellen
Arbeitsumgebung konfrontiert wurden.
19. Berliner Kolloquium der Daimler und Benz Stiftung
Die gestresste Gesellschaft. Burnout vs. Depression Volkskrankheit oder Modediagnose?
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D i a g n o se u n d b i o l o g i s c h e G r u n d l a g e n
Peter Falkai
Differenzialdiagnose
Burnout vs. Depressionen
Nehmen psychische Erkrankungen in ihrer Prävalenz zu? Diese Frage kann
mit Ausnahme der Demenz für alle anderen Erkrankungen dieser Gruppe ver­
neint werden. Betrachtet man aber die Entität „Burnout“ in der Wahrnehmung
der Krankenkassen und der Bevölkerung, dann handelt es sich um eine Epide­
mie, die einen substanziellen Teil der arbeitenden Bevölkerung erreicht hat.
Das Anliegen dieses Vortrags ist es, den Begriff des Burnout zu definieren.
Dabei ist klarzustellen, dass es sich um ein Risikostadium für die Entwicklung
psychischer Erkrankungen und nicht um die Diagnose einer psychischen Er­
krankung handelt. Darüber hinaus muss festgehalten werden, dass für dieses
Risikostadium keine evidenzbasierten Therapieansätze vorhanden sind. Viel­
mehr müssen im Sinne einer Prävention Maßnahmen ergriffen werden, um die
Entwicklung einer manifesten psychischen Erkrankung nicht zu befördern.
Betrachtet man die gesellschaftliche Dimension des Burnout, so hat es in der
Menschheitsgeschichte durchaus ähnliche Epidemien gegeben – beispielsweise
unter dem Bild der Neurasthenie. Als potenzielle Ursache für die Ausbreitung
der Neurasthenie galten vor fast 100 Jahren der Schienenverkehr und die Ein­
führung moderner Kommunikationsinstrumente. Übertragen auf die heutige
Welt sind es Begriffe wie Globalisierung oder auch Informationsgesellschaft.
Sie charakterisieren die Überforderung des Menschen in seiner Arbeitswelt
und bieten eine Erklärungsgrundlage, um das Phänomen des Burnout zu
bestimmen.
Prof. Dr. Peter Falkai
Ludwig-Maximilians-Universität München, Direktor
der Klinik für Psychiatrie
und Psychotherapie
Peter Falkai studierte Medizin an der
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Von 1987 bis 1993 war er Assistenzarzt an
der Rheinischen Landes- und Hochschulklinik Düsseldorf, Psychiatrische Klinik der
Heinrich-Heine Universität. Parallel dazu
forschte Falkai im Rahmen eines DFGProjekts. Im Jahr 1992 erhielt er seine Anerkennung als Facharzt für Psychiatrie, 1995
erfolgte die Habilitation und 1998 erlangte
er den Zusatztitel für Psychotherapie. Nach
diversen Düsseldorfer Stationen wechselte er 1996 nach Bonn an die Rheinische
Friedrich-Wilhelms-Universität. Dort wirkte
er als Abteilungsdirektor für Medizinische
Psychologie, Professor für Medizinpsychologie und Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie
und Psychotherapie. Von 2002 bis 2006
war Falkai Direktor der Klinik für Psychiatrie
und Psychotherapie in Homburg/Saar,
danach Direktor der Klinik für Psychiatrie
und Psychotherapie der Universitätsmedizin
Göttingen. Seit 2012 arbeitet er als Direktor
der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
der Universität München. Neben weiteren
Mitgliedschaften war Falkai von 2010 bis
2012 Präsident der Deutschen Gesellschaft
für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde.
Molekulargenetische Analysen
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19. Berliner Kolloquium der Daimler und Benz Stiftung
Die gestresste Gesellschaft. Burnout vs. Depression Volkskrankheit oder Modediagnose?
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D i a g n o se u n d b i o l o g i s c h e G r u n d l a g e n
Prof. Dr. Martin Reuter
Universität Bonn
Leiter der Abteilung Differentielle
und Biologische Psychologie
Martin Reuter studierte an der Universität
Gießen Psychologie und im Nebenfach
Medizin. An der Universität Würzburg
promovierte er zum Thema „Cortisol und
Emotion“. Im Jahr 2005 habilitierte Reuter
in Gießen über „Die Rolle des dopaminergen Systems für Nikotinabhängigkeit
und Persönlichkeit“. Am National Institute
on Alcohol Abuse and Alcoholism/National
Institutes of Health in Washington verbrachte er einen Forschungsaufenthalt. 2006
erhielt Reuter einen Ruf auf die Professur
für Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung an die Universität Bonn.
Es folgten sechs weitere Rufe nach Dresden,
Leipzig, Ulm, Bochum, Göttingen und
abermals Bonn (Professur für Differentielle
und Biologische Psychologie). Seit 2009 ist
Reuter einer der Direktoren des Center for
Economics and Neuroscience. Reuter erhielt
wissenschaftliche Preise und Auszeichnungen
für exzellente Lehrveranstaltungen und
herausragende Nachwuchsförderung.
Er fungiert als Gutachter für zahlreiche internationale Zeitschriften sowie nationale und
internationale Forschungsinstitutionen. Von
2001 bis heute hat er über 130 internatio­
nale Publikationen veröffentlicht.
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Martin Reuter
Peter Gass
Genetik und Epigenetik von Burnout
Depression bei Mäusen: Gibt es das
und, wenn ja, was lernen wir daraus
für den Menschen?
Unterscheiden sich Symptome und Ursachen von Burnout und Depression so
stark, dass eine eigenständige Diagnose für Burnout gerechtfertigt ist?
Während für Depression eine starke genetische Grundlage wissenschaftlich
akzeptiert und erste Kandidaten-Gene identifiziert wurden, wurden Erblich­
keit und molekulargenetische Grundlagen von Burnout bisher nicht unter­
sucht. Diese Lücke wird nun geschlossen: Es werden Ergebnisse eines von der
Daimler und Benz Stiftung geförderten Forschungsprojekts dargestellt, in
dem erstmals die genetischen und epigenetischen Grundlagen von Burnout
untersucht wurden. Die gefundenen genetischen Befunde zusammen mit
soziodemografischen Daten und Umweltfaktoren sollen zu einem Modell
integriert werden, das die Vulnerabilität bzw. die Resilienz gegenüber Burnout
vorhersagen kann.
Manche Symptome für eine Depression sind menschenspezifisch, etwa Suizi­
dalität und Schuldgefühle, und daher nicht im Tiermodell darstellbar. Andere
Symptome wie die Reduktion Freude machender Aktivitäten können auch
bei Tieren beobachtet und untersucht werden. Mäuse trinken beispielsweise
gerne Zuckerlösungen und stellen dies ein, wenn sie depressiv werden. Die
Kernsymptome einer Depression – Verzweiflung, Freudlosigkeit und schnel­
le Ermüdbarkeit – lassen sich auch in speziellen Verhaltenstests bei Mäusen
abbilden.
Ausgangspunkt der Studie waren tierexperimentelle Befunde an Mäusen.
Sie konnten zeigen, dass chronischer sozialer Stress die Methylierung eines
Gens der biologischen Stressachse modifiziert, wodurch das Sozialverhalten
der Tiere nachhaltig negativ beeinflusst wird. Interessanterweise waren nicht
alle Tiere gleichermaßen betroffen. Es handelte sich nicht um angeborene,
statische Genmarker, sondern umweltbedingte Modifikationen des Gens, die
Einfluss auf dessen Aktivität haben. Die molekularen Grundlagen, wie Um­
weltfaktoren die Aktivität der Gene beeinflussen, werden in der noch jungen
Disziplin „Epigenetik“ erforscht.
Bereits vor Start des Forschungsprojekts ließ sich aus der Verteilung der Stärke
der Burnout-Belastung in der Bevölkerung ableiten, dass der genetische Anteil
am Burnout – ebenso bei der Depression – durch die Interaktion zahlreicher
Gene bedingt wird. Das Vorhandensein bestimmter Genvarianten stellt folg­
lich nur einen Risikofaktor dar, der erst im Zusammenwirken mit kritischen
Lebensereignissen und Stressoren zu einer Erkrankung führen kann. Auf dem
Berliner Kolloquium werden aktuelle Daten vorgestellt, die neben genetischen
erstmals auch epigenetische Marker für Burnout und Depression aufzeigen.
Diese Datenbasis kann völlig neue Perspektiven zur Differentialdiagnose sowie
für mögliche neuartige Behandlungsstrategien eröffnen.
19. Berliner Kolloquium der Daimler und Benz Stiftung
Um depressionsähnliche Zustände bei Mäusen auszulösen, wurden unter­
schiedliche Modelle entwickelt. Alle basieren auf einer Stressexposition, was
angesichts der vermuteten Pathogenese beim Menschen nicht verwundert. Im
„chronisch milden Stress-Modell“ finden über mehrere Wochen täglich kleine
Umweltveränderungen statt: Veränderungen des Lichtzyklus, des Futters oder
der Käfiganordnung, die das Tier schließlich depressiv werden lassen. Im Mo­
dell des „chronisch sozialen Stresses“ werden männliche Tiere wiederholt mit
dominanten Artgenossen zusammengeführt, sodass sie sozial unterliegen und
depressive Symptome entwickeln.
Die Modelle könnten eine ähnliche soziale Komponente beinhalten wie der
Burnout beim Menschen. Im Modell der „erlernten Hilflosigkeit“, einem eher
kognitiven Modell der Depression, wird getestet, ob ein Versuchstier aktive
oder passive Bewältigungsstrategien in einer als unangenehm empfundenen
Umweltsituation anwendet. Tiermodelle für Depression und für psychiatri­
sche Erkrankungen generell sind hilfreich, weil das Gehirn von Patienten „pre
mortem“ nur indirekt durch Bildgebungsverfahren untersucht werden kann.
Durch Untersuchungen an Nagern wurden auch für die mögliche Therapie von
Stresserkrankungen durch eine stimulierende Umgebung („environmental
enrichment“) und freiwilliges Laufradrennen („Sport“) wichtige biologische
Erkenntnisse gewonnen. Ein weiteres Ziel ist das Finden von Biomarkern für
psychiatrische Erkrankungen, um objektivierbare Zielgrößen für Diagnose,
Schwere und Therapieerfolg zu gewinnen. Sie könnten zur Identifikation neu­
artiger und möglicherweise auch nebenwirkungsärmerer Therapieverfahren
beitragen.
Die gestresste Gesellschaft. Burnout vs. Depression Volkskrankheit oder Modediagnose?
Prof. Dr. Peter Gass
Zentralinstitut für Seelische
Gesundheit Mannheim
Leiter der Arbeitsgruppe
Psychiatrische Tiermodelle
Peter Gass studierte Medizin in Heidelberg,
Chicago und New York. Für seine Promotion
an der Universität Heidelberg untersuchte
er die Expression von Markermolekülen auf
Hirntumoren. Von 1990 bis 1996 arbeitete
er als Neuropathologe an der Universität
Heidelberg und habilitierte sich dort.
Danach forschte Gass zwei Jahre lang am
Deutschen Krebsforschungszentrum in
Heidelberg verhaltensbiologisch an transgenen Mausmodellen für psychiatrische
Störungen. Die Facharztausbildung für
Psychiatrie and Psychotherapie absolvierte
er von 1999 bis 2003 am Zentralinstitut
für Seelische Gesundheit in Mannheim.
Gass etablierte dort die Arbeitsgruppe für
Psychiatrische Tiermodelle, die er seither
leitet. Seit 2004 ist er außerplanmäßiger
Professor und klinischer Oberarzt am Zentralinstitut. In dieser Funktion leitet er eine
offene Station für schizophrene Patienten,
bildet Assistenzärzte aus und unterrichtet
Medizinstudenten. Im Jahr 2011 erhielt
Gass zusammen mit seinem Doktoranden
Johannes Fuss den Hans-Heimann-Preis
der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie
und Psychotherapie, Psychosomatik und
Nervenheilkunde.
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T h e r a p i e , P r äv e n t i o n u n d B e r u f s w e lt
Martin E. Keck
Depression und Burnout
als Stressfolge­erkrankungen:
Ab wann behandeln wir wie?
Es sind große Anstrengungen nötig, um die Erfolge in der Therapie depressi­
ver Erkrankungen, zu denen als Risikozustand auch das Burnout gerechnet
werden kann, zu verbessern. Heute erhalten lediglich zehn Prozent der
Patienten eine wissenschaftlich abgesicherte Behandlung. Es gilt daher nicht
nur die Breite der bereits möglichen Therapieverfahren – wie Medikamente,
evidenzbasierte Psychotherapie, Ergo- und Arbeitstherapie, Sport- und Bewe­
gungstherapie oder Neuropsychologie – auszuschöpfen und hierdurch gegen
die noch immer vorhandene Diskriminierung psychisch Kranker Stellung
zu beziehen. Die adäquate Behandlung von Depression und Burnout setzt
vielmehr eine hohe Interdisziplinarität innerhalb der Medizin voraus. Dazu
gehören Fachgebiete wie Neurologie, Innere Medizin, Psychiatrie, Psycho­
therapie und Psychosomatik.
Von großer gesundheits- und gesellschaftspolitischer Bedeutung ist darüber
hinaus die Verbesserung der diagnostischen und therapeutischen Möglich­
keiten insgesamt. Was heute unter dem Überbegriff „Depression“ durch
Konsenskriterien zusammengefasst wird, ist in der Realität eine Vielzahl von
Erkrankungen mit unterschiedlichen Ursachen. Diese Erkrankungen teilen
lediglich das so bezeichnete Symptombild „Depression“ als gemeinsames und
vermeintlich gleich aussehendes Endstadium.
Erst durch die konsequente Anwendung der heute möglichen Methodik der
personalisierten oder individualisierten Medizin kann es gelingen, die bis­
herige Diagnostik durch präzise und objektivierbare Befunde zu ergänzen.
Mit Hilfe molekularbiologischer Gentests und Messungen der Genaktivität,
labordiagnostischer Biomarker, Schlaf-EEG oder kernspintomografischer
Bild­gebung wird es in zunehmendem Maße möglich sein, Patienten bezüglich
ihrer individuellen krankheitsauslösenden und -aufrechterhaltenden Mecha­
nismen in unterschiedlich zu behandelnde, homogene Untergruppen einzu­
ordnen. Damit lassen sich zusätzlich Risikoprofile definieren, die im Einzelfall
eine deutlich frühere und gezieltere Behandlung oder gar eine Vorbeugung er­
lauben – ohne wie bislang das Vollbild der Krankheitsausprägung abzuwarten.
Prof. Dr. Dr.
Martin E. Keck
Direktor der Klinik und
Chefarzt Max-Planck-Institut
für Psychiatrie München
Martin E. Keck ist Facharzt für Psychiatrie,
Psychosomatik, Psychotherapie und Nerven­
heilkunde sowie Neurowissenschaftler.
Nach seiner internationalen Ausbildung
in München, Basel, London und Zürich
war er von 1996 bis 2005 am Max-PlanckInstitut für Psychiatrie in München tätig.
Im Anschluss war Keck Ärztlicher Direktor
der Schweizer Privatklinik Clienia Schlössli
in Oetwil am See. Im Jahr 2014 erfolgte
seine Berufung als Direktor der Klinik für
Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik
und Neurologie an das Max-Planck-Institut
für Psychiatrie in München (Deutsche
Forschungsanstalt für Psychiatrie). Für seine
wissenschaftliche Arbeit auf dem Gebiet der
Stressfolgeerkrankungen wurde ihm vom
Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst der Bayerische
Habilitationsförderpreis verliehen. Keck ist
Autor von über 100 Publikationen in internationalen Fachzeitschriften. Darüber hinaus
ist er Mitglied der medizinischen Fakultät
der Ludwig-Maximilians-Universität München und zahlreicher Fachgesellschaften.
Er ist Gründungsmitglied des Forschungs­
verbunds „Kompetenznetz Depression“.
Ergebnisse der massenspektrometrischen Genanalysen
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19. Berliner Kolloquium der Daimler und Benz Stiftung
Die gestresste Gesellschaft. Burnout vs. Depression Volkskrankheit oder Modediagnose?
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T h e r a p i e , P r äv e n t i o n u n d B e r u f s w e lt
Antje Ducki
Betriebliche Ansatzpunkte zur Prävention
von Burnout
Prof. Dr. Antje Ducki
Beuth Hochschule für Technik
Berlin, Professorin am Fachbereich
Wirtschafts- und Gesellschafts­
wissenschaften
Nach ihrem Abschluss als Diplom-Psychologin an der Freien Universität Berlin war
Antje Ducki als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Universität Berlin
tätig. Mitte der 1990er-Jahre arbeitete sie
in der betrieblichen Gesundheitsförderung
für die AOK Berlin. Darüber hinaus war
Ducki wissenschaftliche Mitarbeiterin am
Bremer Institut für Präventionsforschung
und Sozialmedizin. Nach ihrer Promotion in
Psychologie im Jahr 1998 an der Universität
Leipzig war sie Hochschulassistentin am
Fachbereich Psychologie der Universität
Hamburg. Seit 2002 ist Ducki Professorin
für Arbeits- und Organisationspsychologie
an der Beuth Hochschule für Technik Berlin
und leitet dort seit 2009 zudem das Genderund Technik-Zentrum. Im Mittelpunkt ihrer
Forschungsarbeiten stehen die Themen
betriebliche Gesundheitsförderung, Stress­
management, Gesundheit und Arbeit, Mobilität und Gesundheit sowie geschlechtsspezifische Aspekte von Arbeit und Gesundheit.
Ducki ist seit 2011 Mitherausgeberin des
jährlich beim Springer Verlag erscheinenden
Fehlzeitenreports, der von einem breiten
Fachpublikum zum Thema Gesundheits­
förderung genutzt wird.
Leistungssteigerung x Flexibilität – Sicherheit = Burnout. Hillert und Marwitz
haben die Zutaten der modernen Leistungsgesellschaft bereits im Jahr 2006
in diese „Burnout-Formel“ transferiert. Fast zehn Jahre später hat sich die
Geschwindigkeit betrieblicher und lebensweltlicher Veränderungen nochmals
vervielfacht: Digitalisierte Prozesse und mobile Anwendungen erleichtern es,
raumzeitliche Grenzen zu überschreiten sowie schneller und unmittelbarer
auf äußere Anforderungen zu reagieren. Befristete Beschäftigungsformen,
Dauererreichbarkeit, Multitasking, Projekt-Tsunamis, wechselnde Arbeitsund Lebensorte gehören heute zum Alltag vieler Erwerbstätiger. Kontinuität,
Verlässlichkeit, Stille, Langsamkeit und Fokussierung werden zunehmend aus
dem Arbeitsleben in die Führungskräfteseminare von Mönchsorden und in
Burnout-Kliniken verschoben. Damit besteht die Gefahr, dass betriebliche und
außerbetriebliche Wertekulturen immer stärker auseinanderdriften.
Der Vortrag zeigt auf, wie sich dieses Auseinanderdriften vermeiden lässt.
Betriebe können ihre Strukturen und Unternehmenskultur so gestalten, dass
Beschäftigte maßvoll und zugleich effektiv arbeiten können. Auf der Grund­
lage verschiedener Metaanalysen sowie neuerer Studien der Erholungsfor­
schung werden verhältnis- und verhaltensbezogene Maßnahmen dargestellt,
die das Burnout-Risiko minimieren.
Als verhältnispräventive Maßnahmen werden Möglichkeiten der Aufgabenund Organisationsgestaltung, aber auch der Urlaubsgestaltung und der
„Grenzregulierung“ aufgezeigt. Beispiele für neuere Ansätze verhaltensbezogener Maßnahmen wie „mindfulness based stress reduction“ werden
dargestellt. Wesentliche Stärken dieser Methode bestehen in den Prinzipien
der bewertungsfreien Achtsamkeit, der Stille und des Mitgefühls. Sie bilden
die langfristige Grundlage einer betrieblichen Mäßigungskultur. Am Ende
wird das Modell des „health oriented leadership“ als Verbindungsglied zwi­
schen Verhaltens- und Verhältnisprävention vorgestellt. Dabei ist die Selbst­
achtsamkeit der Führungskräfte Ausgangspunkt einer angemessenen Gesund­
heitsfürsorge für die Mitarbeiter.
Berliner Kolloquium
Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und
Politik treffen sich einmal im Jahr zum Berliner
Kolloquium. Die fachübergreifenden Themen
dieser Veranstaltungsreihe wechseln jährlich
und werden vor dem Hintergrund des Span­
nungsfelds Mensch, Umwelt und Technik
behandelt. Seit 17 Jahren ist das Berliner
Kolloquium der Daimler und Benz Stiftung fest
etabliert und zählt zu den gefragten wissen­
schaftlichen Veranstaltungen der Hauptstadt.
Kommunikation:
Dr. Johannes Schnurr, +49 176 - 216 446 92
Patricia Piekenbrock, +49 152 - 289 093 77
Daimler und benz Stiftung
Die Daimler und Benz Stiftung verstärkt Pro­
zesse der Wissensgenerierung mithilfe zielge­
richteter Stimuli. Sie konzentriert sich auf die
Förderung junger Wissenschaftler, fachüber­
greifende Kooperationen sowie Forschungsin­
halte aus unterschiedlichen wissenschaftlichen
Disziplinen. Ihr jährlicher Förderaufwand
beträgt derzeit etwa 2,1 Millionen Euro.
Mit einem Vermögen von rund 125 Millionen
Euro zählt die operativ tätige Stiftung zu den
großen wissenschaftsfördernden Stiftungen
Deutschlands.
Kontakt:
Dr. Jörg Klein
Geschäftsführer
Daimler und Benz Stiftung
Dr.-Carl-Benz-Platz 2
68523 Ladenburg
Tel +49 6203 - 1092 - 0
Fax +49 6203 - 1092 - 5
[email protected]
www.daimler-benz-stiftung.de
Bildnachweise: S. 1, 2, 6, 8, 12, 16: © Daimler und Benz Stiftung/Oestergaard; S. 4: © upixa – Fotolia.com; S. 7: © casanowe – Fotolia.com;
S. 10: © Daimler und Benz Stiftung/Hohmann; S. 15: © Pavel Losevsky –
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19. Berliner Kolloquium der Daimler und Benz Stiftung