Polizei- und Ordnungsrecht

Prof. Dr. C. Gusy
SS 2015
Semesterabschlussklausur im Polizei- und Ordnungsrecht
17. Juli 2015
Die zuständigen Polizeibeamten A und B finden am 01.02.2015 gegen 23 Uhr an den
Gleisen der S-Bahn-Haltestelle „Rathaus“ in Bielefeld den auf dem Boden liegenden und
stark alkoholisierten C. Die Außentemperatur beträgt -9° C. A und B bangen um den
Gesundheitszustand des C und nehmen ihn daher auf das nächstgelegene beheizte
Polizeirevier mit. Dort schläft C seinen Rausch unter Beobachtung aus. Am nächsten
Morgen erwarten A und B gegen kurz vor 6 Uhr, dass C in wenigen Minuten aufstehen und
das Polizeirevier ausgenüchtert verlassen werde. Aus diesem Grund unterlassen es A und
B, mit dem beim Amtsgericht eingerichteten richterlichen Eildienst Kontakt aufzunehmen. Um
6:15 Uhr verlässt C das Polizeirevier.
Bereits am nächsten Tag werden die zuständigen Polizisten A und B gegen 16 Uhr in die
Nähe des Hauptbahnhofs gerufen, da der alkoholisierte C auf der Straße Menschen
anpöbelt. Nach Angaben der Ladeninhaber D und E habe es schon oft Beschwerden
gegeben, weil C unter Alkoholeinfluss auf der Straße Passanten beschimpfe. C sei auch
schon handgreiflich geworden, wenn Passanten ihm keine Beachtung schenkten. Ohne
Erfolg fordern A und B den C auf, dieses Verhalten einzustellen. Daraufhin kündigen A und B
an, dass sie diesen wegfahren werden. Hiergegen protestiert C zwar, setzt sein Verhalten
aber dennoch fort. A und B verbringen C sodann nach Bielefeld Gadderbaum und laden C
am Rande des Teutoburger Walds mit der Aussage aus, er solle sein Verhalten überdenken,
wobei ihm die frische Luft helfen werde. C muss, um zu seiner Wohnung zu gelangen, einen
Fußweg von drei Stunden zurücklegen.
C hält die Maßnahmen für rechtswidrig. Schließlich habe er mit seiner Alkoholisierung zu
jedem Zeitpunkt nur sich selbst geschadet. Deshalb habe sich die Polizei in seine
Angelegenheiten „nicht einzumischen“. Jedenfalls hätte er nicht ohne richterliche Anordnung
festgehalten werden dürfen. Für den zweiten Zwischenfall hätten A und B ohne
Rechtsgrundlage gehandelt. Insoweit seien A und B über das Ziel hinausgeschossen. A und
B halten dem entgegen, dass der Eildienst des Amtsgerichts frühestens am nächsten
Morgen wieder erreichbar gewesen sei. Die zweite Maßnahme sei ebenfalls rechtmäßig
gewesen. C sei im Rahmen einer deeskalierenden Maßnahme weggefahren worden, die
weniger schwerwiegend sei als eine Ingewahrsamnahme auf dem Polizeirevier.
1. Ist die Maßnahme in der Nacht vom 01.02.2015 auf den 02.02.2015 rechtmäßig?
2. C hält das Verbringen in den Teutoburger Wald für rechtswidrig. Zu Recht?
Bearbeitervermerk:
Auf alle im Sachverhalt aufgeworfenen Fragen ist ggfls. hilfsgutachterlich einzugehen.
Es ist davon auszugehen, dass der richterliche Eildienst nur bis 21 Uhr und ab 6 Uhr
erreichbar war und dass die Einrichtung eines richterlichen Nachtdienstes rechtlich nicht
erforderlich ist.
Zulässige Hilfsmittel sind Gesetzestexte (Bundesrecht, Landesrecht), Aufbauschemata
(Folien 34, 35 des Foliensatzes zur Vorlesung).
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Korrekturhinweise: Bitte verzichten Sie auf Hinweise, die der Notenstufe nicht entsprechen
wie „gut“, „sehr gut erkannt“, etc., da der Bearbeiter / die Bearbeiterin durch solche
Anmerkungen verwirrt wird und die Punktevergabe nicht nachvollziehen kann. Bitte
vermeiden Sie auch Verweise auf die Lösungsskizze, da die Korrekturhinweise von sich aus
nachvollziehbar sein sollen.
Lösungsskizze: Die Lösungshinweise sind unverbindlich. Ein anderer gutachterlicher
Aufbau darf nicht nachteilig bewertet werden, soweit dieser nachvollziehbar ist.
Insbesondere können auch die Anforderungen an die richterliche Anordnung nach § 36 I 1
PolG NRW auch im Rahmen der materiellen Rechtmäßigkeit geprüft werden und müssen
nicht wie in dieser Lösungsskizze im Rahmen der formellen Rechtmäßigkeit diskutiert
werden.
A. Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme in der Nacht vom 01.02.2015 auf den
02.02.2015 (1. Frage)
I. Ermächtigungsgrundlage
Mit der Ingewahrsamnahme war ein Eingriff in die körperliche Bewegungsfreiheit (Art. 104
GG, Art. 2 II GG) des C verbunden, sodass wegen des Vorbehalts des Gesetzes eine
Ermächtigungsgrundlage erforderlich ist. Die Polizei NRW hat den C zu seinem eigenen
Schutz in Gewahrsam genommen, weshalb als Ermächtigungsgrundlage § 35 I Nr. 1 PolG
NRW in Betracht kommt.
II. Formelle Rechtmäßigkeit
1. Zuständigkeit
A und B sind laut Sachverhalt zuständig.
2. Verfahren
a) Anhörung § 28 VwVfG NRW
Bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in die Rechte eines Beteiligten eingreift, ist
diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu
äußern, § 28 I VwVfG NRW. Vorliegend ist fraglich, ob es sich bei der in Rede stehenden
Maßnahme um einen Verwaltungsakt oder einen Realakt handelt. Damit die Maßnahme als
Verwaltungsakt i.S.v. § 35 S. 1 VwVfG NRW zu qualifizieren ist, müsste sie insbesondere
Regelungscharakter aufweisen. Eine Maßnahme weist dann Regelungscharakter auf, wenn
sie auf das einseitige, verbindliche und unmittelbare Setzen einer Rechtsfolge gerichtet ist.
Vorliegend könnte diese Rechtsfolge in der konkludenten Statuierung einer Verpflichtung, die
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Ingewahrsamnahme zu dulden, liegen. Es ist weiterhin fraglich, ob das Setzen dieser
Rechtsfolge – Statuierung der Duldungspflicht – gegenüber dem alkoholisierten, mithin nicht
einsichtsfähigen C wirksam wäre. Jedenfalls ist in dem vorliegenden Fall – C droht zu
erfrieren bzw. auf die Gleise abzurutschen – eine Anhörung wegen Gefahr in Verzug gem.
§ 28
II
Nr. 1
VwVfG
NRW
entbehrlich.
Selbst
wenn
die
Maßnahme
mangels
Regelungscharakter als Realakt zu qualifizieren wäre und eine analoge Anwendung von § 28
VwVfG in Betracht käme, greift der Ausnahmetatbestand des § 28 II Nr. 1 VwVfG NRW
analog. Folglich ist die Qualifikation der Maßnahme an dieser Stelle im Ergebnis irrelevant.
Eine Anhörung ist vorliegend jedenfalls entbehrlich.
b) Richterliche Entscheidung nach § 36 I 1 PolG NRW
Grundsätzlich setzt eine Ingewahrsamnahme nach § 35 I Nr. 1 PolG NRW eine richterliche
Entscheidung nach § 36 I 1 PolG NRW voraus (Konkretisierung des Art. 104 II GG, Art. 5
EMRK). Dadurch soll das rechtliche Gehör sichergestellt werden. Die richterliche Anhörung
ist ein Ausgleich für die Schwere des Grundrechtseingriffs sowie für die fehlende Anhörung
im Vorfeld der Freiheitsentziehung. Die Vorführung hat grundsätzlich unverzüglich zu
erfolgen (Art. 104 II 2 GG, § 36 I 1 PolG NRW) und beginnt mit der Ingewahrsamnahme.
Unverzüglich bedeutet, dass es zu keiner Verzögerung tatsächlicher oder rechtlicher Art
kommen darf. Dem Sachverhalt nach verzichteten A und B auf die Einholung einer
richterlichen Entscheidung.
Unter den Voraussetzungen des § 36 I 2 PolG NRW entfällt das Erfordernis einer
richterlichen Entscheidung, wenn die Entscheidung voraussichtlich längere Zeit in Anspruch
nimmt, als es zur Durchführung der Maßnahme notwendig ist. Beim Aufgreifen und der
Entscheidung, den C festzuhalten, war eine richterliche Anordnung mangels Erreichbarkeit
des richterlichen Eildienstes um 23 Uhr nicht einholbar. Die Einrichtung eines richterlichen
Nachtdienstes ist dem Bearbeitervermerk nach nicht erforderlich.
Um 6 Uhr morgens hätten A und B allerdings eine richterliche Entscheidung beantragen
können.
A und B beantragten eine solche richterliche Entscheidung gerade nicht. Daraus könnte die
formelle Rechtswidrigkeit der Maßnahme folgen. Es bedarf einer Auslegung des § 36 I 2
PolG NRW. Eine Auslegung des Wortlauts, der Systematik und der Historie ergeben keine
eindeutige Aussage über die Pflicht zur Einholung einer richterlichen Entscheidung in der
Situation von A und B. Nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift soll aber verhindert werden,
dass sich die Entlassung des Festgehaltenen allein deswegen verzögert, weil noch keine
richterliche Entscheidung ergangen ist. Die Beamten müssen demnach abwägen, wie lange
die polizeiliche Ingewahrsamnahme voraussichtlich dauern wird, bzw. wie lange im Vergleich
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dazu ein Antrag über eine richterliche Entscheidung dauern würde. Um 6 Uhr erwarteten A
und B, dass C aufstehen und das Polizeirevier in absehbarer Zeit verlassen werde. Eine
richterliche Entscheidung war in der kurzen Zeitspanne nicht zu erwarten. Folglich war eine
richterliche Entscheidung entbehrlich nach § 36 I 2 PolG NRW.
Hinweis: An dieser Stelle geht es vorrangig darum, dass der Bearbeiter / die Bearbeiterin das
Problem erkennt und sich mit § 36 I 2 PolG NRW auseinandersetzt.
Dieses Problem kann auch in der materiellen Rechtmäßigkeit geprüft werden.
3. Form
Die polizeirechtliche Verfügung bedarf keiner besonderen Form (§ 37 II 1 VwVfG NRW).
III. Materielle Rechtmäßigkeit
1. Tatbestand des § 35 I Nr. 1 PolG NRW
Die Voraussetzungen des § 35 I Nr. 1 PolG NRW müssten erfüllt sein. Die Maßnahme setzt
eine Gefahr für Leib oder Leben voraus. Das ist insbesondere der Fall, wenn sich die Person
in einem die Willensentschließung ausschließenden Zustand befindet. Eine konkrete Gefahr
liegt vor, wenn im Einzelfall zureichende Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass bei
ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit ein polizeiliches Schutzgut geschädigt werden wird. C zeigte keinerlei
Reaktionsvermögen infolge seines Alkoholeinflusses und befand sich in einem die
Willensentschließung ausschließendem Zustand wie im § 35 I Nr.1 PolG NRW explizit
benannt. Die Außentemperatur betrug -9° C, sodass das Erfrieren des C nahe lag. Zudem
kommt als weiterer gefahrbegründender Umstand, dass C direkt an den Gleisen lag und
entweder selbst oder durch ein unvorsichtiges Vorbeigehen eines Passanten in das Gleisbett
hätte abrutschen können. Eine Gefahr liegt folglich vor.
§ 35 I Nr. 1 PolG NRW ist final auf den Schutz des Adressaten der Regelung gerichtet und
setzt daher darüber hinausgehend voraus, dass die Ingewahrsamnahme auf den Schutz des
C gerichtet war. A und B handelten allein im Interesse des C, indem sie ihn in ein beheiztes
Polizeirevier gebracht haben. Die Regelung setzt schließlich die Erforderlichkeit der
Ingewahrsamnahme voraus. In Anbetracht des stark alkoholisierten Zustands des C, der
Kälte und des Ortes, an dem A und B den C aufgefunden haben, waren keine anderen Mittel
zur Abwendung der Gefahr ersichtlich, die gleich geeignet gewesen wären. Die Maßnahme
war erforderlich.
2. Rechtsfolge
a) Verantwortlichkeit
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Bei C handelt es sich um die in § 35 I Nr. 1 PolG NRW gefährdete Person, sodass dieser
Adressat der Regelung ist. Auf die allgemeinen Regeln zur Störerverantwortlichkeit ist nicht
zurückzugreifen.
b) Ermessensausübung, § 3 PolG NRW
Die Polizeibeamten haben Entschließungs- und Auswahlermessen gemäß § 3 PolG NRW,
welches ohne Ermessensfehler ausgeübt werden muss. Dem Entschließungsermessen
könnte ein Ermessensfehler zugrunde liegen. Die Selbstgefährdung ist im Grundsatz durch
Art. 2 I GG, Art. 2 II GG geschützt, sodass sich A und B mangels Gefährdung Dritter
möglicherweise nicht um den Zustand des C hätten kümmern dürfen. Allerdings muss die
Selbstgefährdung freiverantwortlich gewählt sein, wovon bei der polizeirechtlich maßgeblichen ex ante Sicht nicht ausgegangen werden konnte.
Möglicherweise haben A und B ihr Auswahlermessen fehlerhaft ausgeübt. Der Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit ist nach § 2 PolG NRW in Anbetracht dessen, dass es die mildeste
Maßnahme war, gewahrt. C wurde gemäß § 38 I Nr. 1 PolG auch entlassen, sobald es
möglich war.
3. Zwischenergebnis
Die materielle Rechtmäßigkeit ist zu bejahen.
IV. Zwischenergebnis
Die Maßnahme ist rechtmäßig.
B. Rechtmäßigkeit des „erweiterten Verbringungsgewahrsams“ (2. Frage)
I. Ermächtigungsgrundlage
Das Verbringen des C gegen seinen Willen an den Rand des Teutoburger Walds sowie der
damit
verbundene
Aufwand,
an
einen
anderen
Ort
zu
gelangen,
stellt
eine
Freiheitsbeschränkung dar. Auch für diese belastende Maßnahme muss eine einschlägige
Ermächtigungsgrundlage bestehen. Problematisch ist, ob § 35 I Nr. 2 PolG NRW samt seiner
Rechtsfolge „in Gewahrsam nehmen“ das „Verbringen“ seinem Wortlaut nach erfasst,
sodass darin die einschlägige Ermächtigungsgrundlage gesehen werden kann.
Fraglich ist, wie der Begriff „Gewahrsam“ zu verstehen ist. Gewahrsam ist eine
Freiheitsentziehung durch die Polizei oder die Ordnungsbehörde aus präventiven Gründen.
Eine Freiheitsentziehung liegt bei einem allseitigen Ausschluss der Bewegungsfreiheit durch
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Einsperren in einem eng umgrenzten örtlichen Bereich, etwa einem Raum oder Gebäude
vor. 1
Eine Ansicht lehnt die Existenz eines sogenannten „erweiterten Verbringungsgewahrsams“
aufgrund der polizeirechtlichen Rechtsgrundlage des § 35 PolG NRW mangels Vereinbarkeit
mit dem Wortsinn „Gewahrsam“ generell ab. Das Verbringen an einen anderen Ort gehe
über den Gewahrsamsbegriff hinaus, da lediglich das Festhalten und nicht die Aussetzung
im Freien erfasst werde. Außerdem begründe der Gewahrsam Obhutspflichten des Staates
gegenüber dem Betroffenen, denen bei einer Aussetzung am Stadtrand schlechter
nachgekommen werden könne als bei einem Gewahrsam auf dem Polizeirevier. Es gäbe im
Rahmen der Standardmaßnahmen auch keine andere Regelung, die das Verbringen einer
Person an einen anderen Ort erfasse. Die Ausdehnung des Begriffs stelle eine unzulässige
Freiheitsberaubung dar. 2
Andere schließen diesen nicht schon begrifflich aus, da eine Freiheitsentziehung durch die
Polizei oder die Ordnungsbehörde aus präventiven Gründen nicht an einen festen Ort
gebunden sei. 3 Für die erste Auffassung spricht der Wortlaut des § 35 PolG NRW. Für die
zweite Ansicht spricht, dass das Verbringen an einen anderen Ort im Einzelfall eine
Minusmaßnahme zur Ingewahrsamnahme darstellen kann.
Hinweis: Die Lösungsskizze folgt der zweiten Ansicht, um eine weitere Prüfung vornehmen
zu können. Die erste Ansicht ist ebenfalls gut vertretbar. An dieser Stelle ist nicht zu
erwarten, dass der Bearbeiter / die Bearbeiterin beide Ansichten bis in das Detail kennt. Ein
Problembewusstsein des Bearbeiters / der Bearbeiterin an dieser Stelle ist jedoch
vorauszusetzen.
Weiterhin stellt sich die Frage, ob ein Rückgriff auf die polizeirechtliche Generalklausel nach
§ 8 PolG NRW möglich ist. § 35 PolG NRW entfaltet aber eine Sperrwirkung aufgrund der
Schwere des Grundrechtseingriffs.
Es liegt auch keine Vollstreckung eines Platzverweises nach § 34 PolG NRW vor. Das folgt
daraus, dass aus einem Platzverweis lediglich die vorübergehende Entfernung von einem
bestimmten Aufenthaltsort der Person folgt, nicht aber das Verbringen in ein entfernteres
Gebiet.
II. Formelle Rechtmäßigkeit
1. Zuständigkeit
1
Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, 9. Aufl., Rn. 301.
So z.B. LG Hamburg, NVwZ 1997, 537.
3
So z.B. OVG Bremen, NvWZ 1987, 235; Leggereit, NVwZ 1999, 263.
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A und B waren zuständig.
2. Verfahren
a) Anhörung
Eine Anhörung ist nur für den Fall erforderlich, dass ein Verwaltungsakt im Sinne des § 35
VwVfG NRW angenommen wird. Der Streit um die Rechtsnatur der Maßnahme kann hier
aber dahinstehen, wenn dem Betroffenen, wie hier, eine Möglichkeit zur Stellungnahme
gegeben wurde.
b) Richterliche Entscheidung
Wenn ein Gewahrsam bejaht wird, ist auch eine richterliche Entscheidung erforderlich.
Hinweis: Dies kann auch im Rahmen der materiellen Rechtmäßigkeit erfolgen.
In dem Fall war die Einholung einer richterlichen Entscheidung möglich und die Verbringung
ohne deren Einholung somit formell rechtswidrig.
Hinweis: Es besteht die Möglichkeit, falls ein Verwaltungsakt angenommen wurde, über eine
Heilung nach § 45 I Nr. 5 VwVfG NRW nachzudenken. Mangels Vorliegens eines
mehrstufigen Verwaltungsaktes ist diese Idee aber schnell zu verwerfen. Sollte der
Bearbeiter / die Bearbeiterin einen Realakt angenommen haben, kann über eine analoge
Heranziehung des § 45 I Nr. 5 VwVfG nachgedacht werden. Auch hier ist zu erkennen, dass
die Regelung nicht passt. Zudem würde dadurch der Zweck der richterlichen Anordnung
unterlaufen werden.
3. Form
Die Maßnahme ist an keine bestimmte Form gebunden (§ 37 II 1 VwVfG NRW).
III. Materielle Rechtmäßigkeit
1. Voraussetzungen des § 35 I Nr. 2 PolG NRW
§ 35 I Nr. 2 PolG NRW setzt die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung
einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit
voraus. Zu denken ist an die §§ 185 ff., 223 StGB. C pöbelte auf der Straße Menschen an,
sodass sich der Schaden bereits realisiert hatte und solange andauerte, bis C mit dem
Pöbeln aufhörte. Den Angaben der Ladeninhaber D und E nach war C in der Vergangenheit
auch schon handgreiflich geworden, sodass aus ex ante Betrachtung die Gefahr bestand,
dass C in unmittelbarer Zeit den § 223 StGB erfüllen würde. Die Voraussetzungen des § 35 I
Nr. 2 PolG NRW sind erfüllt.
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2. Rechtsfolge
a) Verantwortlichkeit
Die Eigenschaft des C als Adressat der Maßnahme ergibt sich daraus, dass er die
Menschen auf der Straße anpöbelt.
b) Verhältnismäßigkeit / Ermessensfehler
Die Maßnahme müsste auch verhältnismäßig sein (§ 2 PolG NRW). Möglicherweise kam ein
Verbringen des C an den Rand des Teutoburger Walds als Minusmaßnahme zu einer
Ingewahrsamnahme auf das Polizeirevier in Betracht.
Zunächst setzt die Verhältnismäßigkeit einen legitimen Zweck voraus. Jeder Zweck, der den
Wertungen des Grundgesetzes nicht widerspricht, ist legitim. A und B verfolgten das Ziel,
dass C daran gehindert wird, andere Menschen anzupöbeln. Dies widerspricht nicht dem
Grundgesetz und stellt daher einen legitimen Zweck dar.
Zudem setzt die Verhältnismäßigkeit die Geeignetheit der Maßnahme voraus. Geeignet ist
eine Maßnahme, wenn sie den Zweck zumindest fördert. Grundsätzlich kann eine
Aussetzung im Freien durch den Ortswechsel und die Bewegung an der frischen Luft
deeskalierend wirken und somit auch den Zweck fördern, das Pöbeln zu unterlassen. Doch
ist äußerst fraglich, ob C, der weiterhin unter Alkoholeinfluss stand, nicht erst Recht zornig
auf die Maßnahme hätte reagieren und an einem anderen Ort sein Verhalten hätte fortsetzen
können. Dem Zustand des C zufolge sprachen mehr Anhaltspunkte für diesen Verlauf. Die
Geeignetheit der Maßnahme ist abzulehnen (a.A. vertretbar).
Zudem ist die Erforderlichkeit der Maßnahme zweifelhaft. Die Erforderlichkeit ist zu bejahen,
wenn unter allen gleich geeigneten Mitteln das Mildeste gewählt wird. C war in der
Vergangenheit schon mehrfach wegen seines Fehlverhaltens unter Alkoholeinfluss auffällig
geworden. Somit war das Verbringen an einen anderen Ort möglichweise besser geeignet
als eine Ingewahrsamnahme auf dem Polizeirevier und somit auch erforderlich. Dem ist aber
entgegenzuhalten, dass C sein Fehlverhalten auch auf dem Polizeirevier unterlassen
musste, sodass ein Festhalten auf dem Polizeirevier gleich geeignet war. In Anbetracht
dessen, dass die Polizei gegenüber dem Festgehaltenen gewisse Obhutspflichten hat, die
sie bei einer Aussetzung schlechter ausüben kann als auf dem Polizeirevier, ist davon
auszugehen, dass eine Ingewahrsamnahme auf dem Polizeirevier leichter wiegt als das
Verbringen an einen fremden Ort.
Im Rahmen der Angemessenheit ist schließlich zu bedenken, dass C drei Stunden brauchte,
um zu seiner Wohnung zu gelangen, was eine lange Zeitspanne darstellt und sich als
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Freiheitsbeschränkung von einigem Gewicht erweist. Unter Alkoholeinfluss hätte C unter
Umständen sogar noch länger als eine Person im nüchternen Zustand brauchen können.
Zudem ist die Jahreszeit zu beachten. Bei kalten Temperaturen ist ein Fußmarsch sehr
mühsam. A und B hätten auch beachten müssen, dass es im Februar schon am späten
Nachmittag dunkel wird und dass sich C hätte verirren können. Unter Alkoholeinfluss war
schließlich ein Sturz des C und die damit verbundene Verletzungsgefahr nicht
auszuschließen. Die Maßnahme ist folglich nicht angemessen.
Die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme ist zu verneinen (an dieser Stelle a.A. kaum
vertretbar).
IV. Zwischenergebnis
Die Maßnahme ist rechtswidrig.
C. Ergebnis
Die erste Maßnahme ist rechtmäßig. Das Verbringen an den Rand des Teutoburger Walds
erfüllt dagegen nicht die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen, sodass C zu Recht von der
Rechtswidrigkeit der Maßnahme ausgeht.
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