Alt und allein – Wenn Kinder weit weg wohnen

Alt und allein – Wenn Kinder weit weg wohnen | Manuskript
Alt und allein – Wenn Kinder weit weg wohnen
Bericht: Gerd Gerlach, Annett Glatz
Kerstin Kauer telefoniert. Mal wieder. Sie macht sich große Sorgen um ihre Mutter, die 270
Kilometer entfernt in Ilmenau lebt.
Kerstin Kauer
Vom Körperlichen ist meine Mutti noch ganz fit. Sie macht auch ihren Haushalt alles schön.
Nur eben geistig also man merkt es, ist eine Demenz da. Nee, sie hört nicht.“
Wir sind in Talheim in Baden-Württemberg. Nach der Wende zog Kerstin Kauer mit ihrem
Mann hier her. Die Mutter blieb zurück in Thüringen.
Kerstin Kauer
„Wir sind nicht mehr in Ilmenau, weil mein Mann im Bergbau arbeitet und der wurde ja
nach der Wende zugemacht in Thüringen. Da sind wir erst ins Saarland gegangen und
wohnen jetzt hier in Baden-Württemberg.“
270 Kilometer weiter östlich. Hier lebt Kerstins Mutter Elfriede. Als sie damals erfuhr, dass
ihre Tochter in den Westen geht, war das ein Schock.
Elfriede H, Mutter von Kerstin
„Das ist mir schwergefallen die erste Zeit. Also das war ganz schlimm. Da hat sie immer viel
angerufen, dass ich beruhigt war.“
So wie den Kauers geht es Zehntausenden Familien. Aus dem Osten gingen nach der Wende
viele in den Westen – auf der Suche nach einem Arbeitsplatz. Zurück blieben die Eltern, die
nun älter und hilfsbedürftiger sind. Eine Entwicklung, die unumkehrbar weiter fortschreitet.
Das zeigen Forschungen des „Deutschen Zentrums für Altersfragen“.
Clemens Tesch-Römer, Deutsches Zentrum für Altersfragen
„Was wir ganz deutlich sehen ist, dass der Anteil der am nächsten wohnenden Kinder, die
in der Nachbarschaft oder in derselben Stadt wohnen wie die Eltern, von 55 auf 45%
gesunken ist. Dementsprechend ist natürlich der Anteil der Kinder, die weiter weg
wohnen, gestiegen.“
Laut einer Studie wohnt knapp die Hälfte der Kinder mittlerweile 2 Stunden Fahrtzeit von
ihren Eltern entfernt. 1996 waren es nur 34 Prozent.
Ganze 4 Stunden von ihrem Sohn entfernt, lebt die 76-jährige Renate Schmidt. Allein – in
einem Einfamilienhaus im hessischen Leun-Stockhausen. 1996 ging ihr einziger Sohn wegen
eines Jobangebots nach Sachsen. Ein Tag, den auch sie nie vergessen wird
Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für den privaten Gebrauch des Empfängers
verwendet werden. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Urheberberechtigten ist unzulässig.
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Renate Schmidt
„Als er weggefahren ist, bin ich hier oben im Wald gelaufen. Bin ich nen halben Tag und
hab natürlich geweint. Hab mir aber vor Augen gehalten, das muss so sein. Ich kann ihm
doch keine Vorschriften machen.“
Hier, im sächsischen Stollberg bei Chemnitz, lebt und arbeitet der „verlorene“ Sohn. Rüdiger
Schmidt, 50 Jahre alt. Er ist Vermögensberater.
Rüdiger Schmidt
„In den Osten hat mich damals die Chance verschlagen …ne Führungsposition zu
übernehmen
Meine Mutter hat das damals positiv gesehen. Sie selbst kommt ja aus der Niederlausitz
und die Entfernung ist natürlich ein Stück weit weg. Sind ja reichlich 400 km. Aber sie sieht
das positiv.“
In den Westen jemals zurückzukehren, das kann sich Rüdiger Schmidt nicht vorstellen. Doch
in letzter Zeit beschäftigt ihn eine Frage sehr: Was wird, wenn die Mutter ständige Hilfe
benötigt?
Rüdiger Schmidt
„Das würde mich natürlich schon ganz schön unter Druck setzen, wenn meine Mutter
sagen würde: Du musst jetzt wieder zurückkommen. Weil ich auch der einzige Sohn bin
weil ich auch jetzt in einem Alter bin, wo man den Arbeitsplatz nicht so einfach wechseln
kann und meine Mutter sich immer gut um mich gekümmert hat und mich unterstützt.
Und ich da natürlich schon eine gewisse Verpflichtung sehe.“
Über das konkrete Wie und Wo die Eltern einmal gepflegt werden, darüber reden viele
Familien nicht offen miteinander.
Clemens Tesch-Römer, Deutsches Zentrum für Altersfragen, Berlin
„Häufig sagen die Älteren: Ich will gar nicht, dass ihr mir helft, ich will euch gar nicht zur
Last fallen. Aber wenn dann der Fall eintritt, ist es doch anders. Und da muss ma schon ein
bisschen überlegen, na ja , das sagst du jetzt. Aber ist es nicht eigentlich sinnvoll, dass wir
das schon vorher klären?“
Die Kauers auf dem Weg in die alte Heimat. Aller 10 Wochen versuchen sie die Mutter in
Ilmenau zu besuchen. Doch das klappt nicht immer. Denn Kerstin Kauer arbeitet im
Schichtdienst.
Kerstin Kauer
„Ich arbeite im Altenheim. Ich arbeite jedes zweite Wochenende und deswegen machen
wir es so, verbinden es immer zwischen 3 und 4 Tage, machen Urlaub, oder ich jetzt frei,
dass wir hier her kommen können.“
Arbeit, Familie und die Betreuung ihrer kranken Mutter unter einen Hut zu bekommen, das
ist schwierig. Oft plagt Kerstin Kauer deswegen das schlechte Gewissen.
Doch jetzt überwiegt erst einmal die Wiedersehensvorfreude.
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Kerstin Kauer: Mutti, da isse doch.“ „Hallo, meine Gute!“
Mutter: „Ich hab mich die ganze Woche drauf gefreut.“
Noch kommt die 76-jährige Mutter im Alltag ganz gut allein zurecht. Doch was, wenn es mit
der Demenz schlimmer wird. Wer kümmert sich dann um sie? Und wo wird sie leben? Wäre
ein Platz im Altersheim eine Alternative?
Reporter: „Gehen Sie da mal rein, später?
Mutter: Wenn ich nicht mehr kann.
Kerstin Kauer: Ich finde jeder Mensch soll so lange zu Hause bleiben, in seinem Umfeld,
wie es geht. Und zu meiner Mutter habe ich auch gesagt: Du brauchst mir nicht in ein
Heim, das kriegen wir auch alleine hin.“
Auch Renate Schmidt beschäftigt das Thema Heim. Die Witwe besucht ihren Sohn im
sächsischen Gorsdorf. Sie ahnt, dass er nie wieder nach Hessen zurückkehren wird.
Rüdiger Schmidt
„Hallo Mutter wie war die Fahrt. Hallo mein Junge“
Sohn Rüdiger schiebt das heikle Thema Pflegebedürftigkeit dagegen vor sich her.
Rüdiger Schmidt
„Das ist so ein Thema, da geht‘ s um Krankheit oder dass man Pflegefall wird. Das ist so
ein Thema, was ich gern noch etwas von mir wegschiebe. Das gebe ich zu.“
Doch seine couragierte Mutter nimmt ihre Zukunft selbst in die Hand, will ihrem Sohn nicht
zur Last fallen und hat schon mal vorsorglich einen Termin im örtlichen Seniorencentrum
vereinbart.
Renate Schmidt
„Warum nicht. Der Rüdiger hat‘s einfacher der fährt vorbei auf Arbeit und kann mal
reinspringen bevor er 400 Kilometer fahren soll. Haus verkaufen und schönen
Lebensabend verbringen.“
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