Impulsreferat Dr. Volker Tuerk

Österreichischer Asyltag
Wien, 16. November 2015
Impulsreferat von Dr. Volker Türk
Stellvertretender UN-Flüchtlingshochkommissar für Schutzfragen
Sehr geehrte Frau Bundesministerin!
Sehr geehrte Herren Präsidenten!
Meine Damen und Herren!
Ich freue mich sehr, beim „Asyltag“ in Wien sein zu können und mit einschlägigen Expertinnen und
Experten, die tagtäglich mit Flüchtlingen zu tun haben, über die Herausforderungen des
Flüchtlingsschutzes in diesen Tagen zu diskutieren.
Wir leben in einer Welt, die von Konflikten und Krisen geprägt ist. Die Tragweite, das Ausmaß und
die Komplexität, welche die Herausforderungen von Flucht und Vertreibung angenommen haben,
verdeutlichen dies ganz besonders. Flucht und Vertreibung sind weltweit Teil der menschlichen
Mobilität geworden.
In einer globalisierten und vernetzten Welt beeinflussen einander regionale und globale Ebenen wie
nie zuvor. Ein eindrückliches Beispiel dafür sind Flüchtlinge, die auf der Suche nach Schutz und
Sicherheit vor unseren Haustüren ankommen. Hier greifen regionale und globale Ereignisse
ineinander. Und der Schlüssel im Umgang mit diesen Ereignissen ist meines Erachtens das
Bekenntnis zu unseren fundamentalen Werten und unserer Mitmenschlichkeit. Das bedeutet nicht,
das souveräne Recht der Staaten in Frage zu stellen, ihre Grenzen zu managen oder Schleppern und
Menschenhändlern den Kampf anzusagen. Vielmehr müssen Lösungen im Einklang mit
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internationalen Verpflichtungen gefunden werden, die Asylsuchende und Flüchtlinge schützen sowie
deren Recht gewährleisten, um Asyl anzusuchen.
Im vergangenen Jahr und auch heuer wurden wir erneut Zeugen einer traurigen Realität.
Rekordzahlen von Menschen waren auf der Flucht vor Bürgerkrieg, Gewalt, ungeheuerlichen
Menschenrechtsverletzungen,
Extremismus
und
unzulänglicher
Regierungsführung.
Wenig
überraschend daher auch die aktuellen Zahlen: Über 60 Millionen Menschen wurden durch Konflikt
und Vertreibung zu Flüchtlingen, Asylsuchenden und Binnenvertriebenen gemacht. Auch
Umweltzerstörung und Klimawandel haben dazu beigetragen. Dies ist die höchste Zahl, seit UNHCR
Aufzeichnungen führt.
Doch diese Zahl kommt nicht überraschend! Denn wir sehen eine Zunahme von sowohl lang
anhaltenden als auch von neu entstandenen Konfliktherden: vor allem in Syrien, Irak, in der
Zentralafrikanischen Republik, im Jemen, im Südsudan, in Libyen und Afghanistan. Allein in den
letzten fünf Jahren sind fünfzehn Konflikte ausgebrochen oder wieder neu aufgeflammt, und gelöst
wurde in dieser Zeit kein einziger.
Die Fluchtbewegungen von heute verlaufen verstärkt über Kontinente hinweg. Menschen legen sehr
weite Strecken durch gefährliche Gebiete in sengender Hitze oder Eiseskälte zurück – häufig zu Fuß,
durch den Dschungel, mit wackeligen Booten über raue See, oder versteckt in Bussen, Zügen oder
LKWs, wie uns gerade auch in Österreich durch das traurige Ereignis bei Parndorf in diesem Sommer
wieder schrecklich bewusst wurde.
Auch immer mehr unbegleitete oder von ihren Familien getrennte Kinder sind auf der Flucht. Sie
versuchen, der Gewalt in Syrien, Afghanistan und Somalia, aber auch – was in Europa oft weniger
bekannt ist – im nördlichen Dreieck von Zentralamerika, also in Guatemala, Honduras und El
Salvador, zu entfliehen.
Knapp neun von zehn Flüchtlingen leben in Aufnahmeländern außerhalb Europas und im globalen
Süden. Hervorzuheben sind hier die Türkei, Pakistan, Libanon, die Islamische Republik Iran,
Äthiopien, Kenia und Jordanien. Die Aufnahme von Hunderttausenden, ja teils Millionen Flüchtlingen
belastet die Infrastruktur dieser Länder beträchtlich. Obwohl die Asylantragszahlen in den
Industrienationen im Steigen begriffen sind, sind sie im Vergleich zu diesen Ländern nach wie vor
wesentlich niedriger. In Europa, zum Beispiel, sind heuer bislang über 800.000 Menschen über das
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Mittelmeer gekommen. Das ist zwar ein starker Anstieg im Vergleich zu den vergangenen Jahren. Bei
einer Bevölkerungszahl von über einer halben Milliarde Menschen in Europa erscheint diese Zahl
jedoch immer noch moderat verglichen zu Flüchtlingszahlen in den eben genannten Ländern.
Innerhalb Europas besteht derzeit ein großes Ungleichgewicht bei der Verteilung der Asylsuchenden
über die einzelnen Staaten. So wurden in Deutschland in diesem Jahr bis Ende Oktober aktuell
bereits über 362.000 formale Asylanträge registriert – bei derzeit bereits über 800.000
Registrierungen von Neuankömmlingen, die einen Asylantrag stellen möchten. Von Österreich haben
wir erst letzte Woche erfahren, dass bereits mehr als 70.000 Asylanträge gestellt wurden.
Der Großteil der Menschen, die aktuell in Europa ankommen, flieht aus jenen neun Ländern, aus
denen weltweit die meisten Flüchtlinge kommen. In Europa stellen die steigenden Zahlen vor allem
Griechenland und Italien, die Westbalkanstaaten und Länder mit hohen Asylantragszahlen – unter
ihnen auch Österreich – vor große Herausforderungen. Allerdings ist nicht nur Europa von dieser
Entwicklung betroffen. Auch im Golf von Bengalen, in der Andamanensee und im Golf von Aden,
über den Menschen vor dem Konflikt im Jemen fliehen, registrieren wir zunehmende
Fluchtbewegungen.
Viele Flüchtlinge verlassen ihre Herkunftsregion auf der Suche nach Sicherheit; um wieder mit ihrer
Familie vereint zu sein, oder aus purer Verzweiflung aufgrund von Perspektivenlosigkeit. Sie riskieren
ihr Leben auf gefährlichen Meeresüberfahrten und auf riskanten Landwegen, denn es gibt kaum
alternative, sichere Optionen für sie. Selbst wenn diese gefährlichen Reisen keineswegs ein neues
Phänomen sind, so beobachten wir erst seit kurzem ihren sprunghaften Anstieg. Jene, die diese
Strapazen überleben, sind erschöpft und häufig auch traumatisiert. Sie brauchen dringend Schutz
und Hilfe, aber oft finden sie nichts vor: Keine Unterstützung und keine Strukturen, um sie
unterzubringen und zu versorgen. Dadurch wird ihre Notsituation noch verschlimmert.
Die Europäische Union hat mit der Verstärkung ihrer Patrouillen im Mittelmeer sowie mit effektiven
Such- und Rettungsmaßnahmen zweifelsohne zahllose Leben gerettet. Leider haben dennoch über
3.400 Menschen allein heuer ihr Leben im Meer verloren oder gelten als vermisst. Die Routen und
Fluchtbewegungen in Richtung West- und Nordeuropa unterliegen rasch wechselnden
Veränderungen, wodurch Lösungsansätze komplizierter sind. Bemühungen für ein EU-weites,
gemeinsames Vorgehen – das von UNHCR aktiv unterstützt wird – haben sich als komplex
herausgestellt.
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Der Beitrag von UNHCR sind konkrete Angebote an Regierungen, um die momentane
Fluchtbewegung zu bewältigen. Gleichzeitig sind wir heute in vielen Ländern in Europa operativ
wieder tätig, von denen wir noch vor kurzem geglaubt haben, dass sie diese Unterstützung nicht
mehr benötigen würden. Damit leisten wir konkrete Unterstützung vor Ort, auch im Rahmen des
herannahenden Winters.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle, etwas spezifischer auf die Lage in Europa einzugehen. Es ist klar,
dass die aktuelle Situation stabilisiert werden muss. Dafür braucht es einen gemeinsamen,
koordinierten und ganzheitlichen Ansatz. Mit Stabilisierung meine ich die Umsetzung einer
gemeinsamen Strategie kombiniert mit einer Reihe von Schutz- und Unterstützungsmaßnahmen.
Diese sollten dazu führen, Weiterbewegungen in den Griff zu bekommen, das Vertrauen zwischen
den Staaten wieder herzustellen und auch das Vertrauen der Öffentlichkeit zu stärken.
Aus meiner Sicht besteht in drei wesentlichen Bereichen Handlungsbedarf:
1) Erstens braucht es zur Stabilisierung ein Maßnahmenpaket für die Erstaufnahmeländer, mit
einer starken und erneuerten Unterstützung vor allem für jene Länder, die syrische, irakische
und afghanische Flüchtlinge aufgenommen haben. Hoffnungslosigkeit und das Abrutschen in
zunehmende Armut kombiniert mit gleichzeitig abnehmender humanitärer Hilfe sind
offensichtliche Auslöser, um in neue Länder aufzubrechen. Finanzielle Unterstützung ist
dringend nötig, um Hilfsleistungen für Flüchtlinge zu verbessern und wieder auf einen
menschenwürdigen Standard zu bringen. Ebenso wichtig sind verbesserter Zugang zu
Bildung und Maßnahmen, um Flüchtlingen eine Lebensgrundlage zu sichern. Über vier Jahre
im Exil und kaum legale Möglichkeiten zu arbeiten, haben unter der syrischen
Flüchtlingsbevölkerung einen hohen Preis gefordert. Viele haben ihre Ersparnisse längst
aufgebraucht, alle Wertgegenstände sind verkauft und viele Flüchtlinge in der Region leben
in elenden Verhältnissen. Sie können kaum für ihr Überleben sorgen und kämpfen mit den
Preisen für Mieten und Lebensmittel. Hier braucht es dringend einen neuen Pakt, nicht nur
mit Europa, sondern auch mit Akteuren der Entwicklungszusammenarbeit und Institutionen
wie der Weltbank. Der letzte Woche abgehaltene EU-Afrika Migrationsgipfel in Valletta war
ein wichtiges Ereignis in diesem Zusammenhang, nicht zuletzt deshalb weil ein
Treuhandfonds errichtet wurde. Im Rahmen dieser Stabilisierung müssen für Flüchtlinge
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auch Möglichkeiten geboten werden, von den Erstaufnahmeländern auf legalem Weg nach
Europa zu gelangen.
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Resettlement und andere Formen von humanitärer Aufnahme müssen in weit
größerem Umfang stattfinden: Die EU-weit in Aussicht gestellten 22.000 Plätze bis
Ende 2016 werden hier keinesfalls ausreichen.
o
Eine weitere Priorität ist der verbesserte Zugang zu Familienzusammenführung für
Angehörige von Schutzberechtigten in Europa, die in den Herkunftsregionen rund
um Syrien, Afghanistan, Irak und Eritrea zurückbleiben mussten. Eine erleichterte
Familienzusammenführung ohne komplizierte, langwierige und teure Verfahren
kann unnötige gefährliche Fluchtwege von Familien vermeiden, Leben retten und
gleichzeitig das Schlepperwesen bekämpfen. Und die Familieneinheit ist auch ein
wichtiger Faktor für eine erfolgreiche Integration, wie unter anderem auch eine von
UNHCR im Jahr 2013 durchgeführte Studie ganz klar belegt. Mit besonderer Sorge
beobachte ich daher die Bestrebungen einiger europäischer Länder einen
entgegengesetzten Weg einzuschlagen, indem sie bestehende Gesetze verschärfen
und die Familienzusammenführung einschränken.
o
Neben Resettlement und Familienzusammenführung sind „flüchtlingsfreundliche“
Stipendienprogramme sowie Arbeitsvisa ebenfalls wichtige Maßnahmen.
o
Und auch humanitäre Visa, die beispielsweise von Brasilien erteilt werden, haben
sich als effektiver Zugang zu Schutz für Flüchtlinge erwiesen.
Würden mehr Möglichkeiten für Flüchtlinge zur Verfügung stehen, auf legalem Weg nach
Europa zu kommen, müssten sich weniger Schutzsuchende Schleppern anvertrauen und das
Risiko von gefährlichen, irregulären Reisen auf sich nehmen.
Nötig ist weiters eine Informationsoffensive über Massenmedien und soziale Netzwerke,
aber auch individuelle Beratung in allen Erstaufnahmeländern, um Flüchtlinge über die
Gefahren einer Weiterreise auf dem Landweg oder über das Meer zu informieren. Menschen
müssen über die Risiken Bescheid wissen, die sie eingehen, wenn sie sich Schleppern oder
Menschenhändlern ausliefern.
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All diese Maßnahmen müssen Hand in Hand gehen, denn die beste Informationsoffensive
und die beste Beratung wird wenig helfen, wenn Flüchtlingen keine vernünftigen
Alternativen angeboten werden.
2) Neben all diesen Maßnahmen – und damit komme ich zum zweiten Bereich, von dem
meines Erachtens das Gelingen der Stabilisierung abhängt – bedarf es einer raschen und
umfassenden Umsetzung des so genannten „Hot Spot“-Ansatzes, allem voran in
Griechenland und Italien.
Aus Sicht von UNHCR beinhaltet der „Hot Spot“-Ansatz verschiedene Elemente: Alle neu
ankommenden
Flüchtlinge
müssen
einen
standardisierten
Aufnahme-
und
Registrierungsprozess durchlaufen und ihre Fingerabdrücke abgeben. Dabei muss eine
schnelle Identifizierung jener Personen gewährleistet werden, die für ein RelocationProgramm in Frage kommen. Ein Relocation-Programm kann aber nur funktionieren, wenn
sowohl eine glaubwürdige Zahl an Aufnahmeplätzen in den verschiedenen EUMitgliedstaaten vorhanden ist als auch Asylsuchenden die Möglichkeit haben, unter
menschenwürdigen Bedingungen in Griechenland bzw. Italien zu bleiben, während sie auf
ihre Relocation warten.
UNHCR begrüßt in diesem Zusammenhang den Beschluss der europäischen Staaten, in
Griechenland 50.000 Aufnahmeplätze zu schaffen und mit einem Mix an unterschiedlichen
Unterbringungsformen wie bei Gastfamilien, in gemieteten Wohnungen oder Zimmern wie
auch in Aufnahmeeinrichtungen besser auf die Bedürfnisse der Betroffenen, aber auch der
lokalen Bevölkerung einzugehen. UNHCR hat der Europäischen Union bereits zugesagt, die
Schaffung von 20.000 dieser Plätze zu unterstützen.
Eine weitere Schlüsselfunktion für das Gelingen von Relocation wird die individuelle
Beratung der Asylsuchenden sein, um diese von Anfang an über das Prozedere, aber auch
die Situation in den einzelnen Aufnahmeländern zu informieren. Diesbezüglich sollen auch
Flüchtlinge eingebunden werden, die von ihren Integrationserfahrungen in den RelocationLändern berichten können.
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3) Der dritte Bereich der Stabilisierung umfasst Hilfsmaßnahmen in Griechenland und in all
jenen Ländern, in die Menschen weiterreisen. Insbesondere jetzt, wo der Winter vor der Tür
steht, müssen Akutmaßnahmen getroffen werden, damit niemand mitten in Europa vom
Erfrieren bedroht ist. Freiwillige und lokale NGOs, teils unterstützt von UNHCR, standen in
den letzten Monaten häufig an vorderster Front und haben den Staaten dabei geholfen,
Flüchtlingen und Migranten die notwendigste Hilfe zu leisten. UNHCR hat nun ein
Winterhilfsprogramm gestartet, um humanitäre Katastrophen und Todesopfer zu verhindern
und Staaten auf der Route über das östliche Mittelmeer und über den Westbalkan zu
unterstützen.
Neben diesen drei Bereichen für eine Stabilisierung der jetzigen Situation ist es nun auch an der Zeit,
vorwärtsgerichtet zu denken, um auf das nächste Jahr und darüber hinaus besser vorbereitet zu
sein. Wir stehen inzwischen längst an einem Punkt, an dem wir mutige Zukunftsvisionen in Fragen
des Asylrechts und des Flüchtlingsschutzes entwickeln sollten. So könnte die Entwicklung einer
supranationalen Zuständigkeit der EU-Institutionen in diesen Angelegenheiten ernsthaft in Betracht
gezogen werden. Dadurch könnten effektive, durchgängige Maßnahmen in Einklang mit
völkerrechtlichen
Verpflichtungen
an
die
Stelle
von
zersplitterten,
einzelstaatlichen
Herangehensweisen treten. Ich wäre sehr daran interessiert zu hören, wie Sie, meine Damen und
Herren, darüber denken!
Die größte Herausforderung für ein effizientes und faires System für den Flüchtlingsschutz liegt
jedoch in populistischer Politik und schlecht informierten öffentlichen Diskussionen. Sie erzeugen ein
Klima der Angst. In einigen Ländern haben xenophobe und islamophobe Berichte, Verhetzung,
Panikmache und aufhetzende Reden zugenommen, sowohl auf der politischen Ebene als auch in der
Zivilgesellschaft. In manchen Fällen hat dies zu gewalttätigen Angriffen, ja sogar Säureattacken,
gegen Flüchtlinge und auch gegen Migrantinnen und Migranten geführt.
Ironischerweise ist diese negative Rhetorik aus einigen Ländern zu hören, deren eigene Bevölkerung
im Laufe der Geschichte mehrere Male fliehen musste oder zu Hunderttausenden migriert ist. Viele
heutige Zielländer in der ganzen Welt waren einst Auswanderungsländer oder haben ihrerseits
Flüchtlingsströme hervorgerufen. So mussten beispielsweise während des Kalten Krieges
westeuropäische Länder mit signifikanten Flüchtlingszahlen aus Zentral- und Osteuropa
zurechtkommen.
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Zusätzlich lässt diese Rhetorik gänzlich außer Acht, dass mehr und mehr Studien den positiven Effekt
von Flüchtlingen, Migrantinnen und Migranten und ihren Beiträgen zur Aufnahmegesellschaft
belegen – sowohl in wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht. In der Praxis ist aber
offensichtlich eine Kluft zwischen dem migratorischen Erbe der Menschheit einerseits und den
aktuellen Ansätzen im öffentlichen Diskurs um Asyl und Migration andererseits entstanden.
Die Institution „Asyl“ zu erhalten ist entscheidend. Asyl ist im wörtlichen Sinne lebensrettend und
hat über Jahrzehnte hinweg das Überleben von Millionen von Menschen gesichert. Das soll kein
Kleinreden der Probleme der heutigen großflächigen Migrations- und Flüchtlingsbewegungen sein,
vor allem nicht in Bezug auf adäquate Unterkunft, Aufnahme, Sicherheitsbedenken oder Teilung von
Verantwortung. Dennoch – und davon bin ich fest überzeugt – ist die aktuelle Situation bewältigbar
und ihr muss im Einklang mit internationalen Verpflichtungen zum Schutz von Asylsuchenden und
Flüchtlingen begegnet werden.
Die vorangegangen Ausführungen verleiten mich vielmehr zur Annahme, dass aktuell die Krise, mit
der wir konfrontiert sind, einen tieferliegenden Ursprung hat und eher eine Krise der Werte sein
könnte. Jene Werte, von denen wir nach den Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges geschworen
hatten, sie niemals zu vergessen und welche die Charter der Vereinten Nationen und die Allgemeine
Erklärung der Menschenrechte verkörpern.
Wenn wir über Asyl sprechen, dann sprechen wir ebenso über die Schaffung eines unterstützenden
und inklusiven Umfelds, das über polarisierenden, gesellschaftsspaltenden Tendenzen steht. Hier
gibt es Anlass zu Hoffnung. Wir beginnen die Stimmen der einst schweigenden Mehrheit zu hören,
die zu den humanitären Grundsätzen und Schutzprinzipien stehen und die mit inhaltslosem
Angstschüren und Sündenbock-Rhetorik nichts zu tun haben wollen. Es ist ermutigend, die Welle der
Solidarität und die Großzügigkeit von zivilgesellschaftlichen und kirchlichen Organisationen, von
politischen Kräften, Opinion Leader, ja von ganzen Gemeinschaften, zu beobachten wie auch das
Engagement von Familien oder Einzelpersonen und die ergreifenden Willkommens-Szenen der
letzten Monate.
Obwohl Aufnahmegesellschaften und -länder mehr als je zuvor mit der Bewältigung großer
Flüchtlingsströme konfrontiert sind, erleben wir gleichzeitig, wie Bürgerinnen und Bürger Flüchtlinge
bei sich zu Hause aufnehmen oder wie Touristen die Notversorgung für Tausende gestrandeter
Menschen wie selbstverständlich übernehmen. Zivilgesellschaftliche Gruppen und Privatpersonen
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haben die Ärmel hochgekrempelt, sie heißen die Neuankömmlinge willkommen und versorgen sie
mit dem Nötigsten. Außerdem nehmen wir zunehmend positive Medienberichterstattung über
Flüchtlinge wahr und lokale Initiativen werden immer zahlreicher. Gemeinsam können wir nun dafür
sorgen, dass diese Großzügigkeit und die Solidarität von Mensch zu Mensch die Norm wird und nicht
die Ausnahme bleibt.
In diesem Sinne möchte ich uns alle ermutigen, gemeinsam zu überlegen, wie wir Asyl in seinem
besten Sinne bewahren können, trotz aller Herausforderungen. Und ich meine mit Asyl nicht nur die
moralischen und rechtlichen Verpflichtungen, sondern ich verstehe darunter auch unsere
Grundwerte der Menschlichkeit, der Würde und des Respekts. Denn Herausforderungen, die uns in
der täglichen Arbeit begegnen, sollten nie über den Schutzprinzipien stehen. Diesen sind wir nicht
nur verpflichtet, sondern wir können sie auch umsetzen – politischen Willen, Verständnis und
Ressourcen vorausgesetzt. Rufen wir uns auch in Erinnerung, dass wir ähnliche Flüchtlingskrisen in
der Vergangenheit bereits erfolgreich gemeistert haben.
Wir brauchen einen umfassenden Ansatz, der sicherstellt, dass Flüchtlingsschutz und vor allem die
„Institution Asyl“ in ihrem lebensrettenden, unpolitischen und zutiefst menschlichen Charakter
erhalten bleibt. Auf unsere heutigen Probleme müssen wir Antworten jenseits der politischen
Debatten finden, um uns auf die praktische Umsetzung in den Bereichen Unterkunft, Versorgung
und die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft konzentrieren zu können.
Wir müssen uns auf unsere gemeinsamen Werte, unsere Geschichte und unsere unantastbare
Tradition, Personen auf der Flucht vor Verfolgung und Krieg Schutz und Asyl zu gewähren,
zurückbesinnen. Wir müssen uns auch vor Augen halten, dass der internationale Flüchtlingsschutz
für genau jene Situation wie die aktuelle geschaffen wurde. Flucht und Vertreibung sind eine
Realität, die wir anerkennen sollten – ebenso wie die positiven Beiträge, die Flüchtlinge und
Migrantinnen und Migranten in unsere Gesellschaft einbringen können. Mit diesem Bewusstsein
können wir die aktuelle Situation nicht nur als „Krise“ begreifen, sondern gleichzeitig auch als
Chance und als Aufruf, aktiv zu werden.
Vielen Dank!
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