Surrender - Miss Fantasy

Surrender
Erst wenn sich mein Herzenswunsch erfüllt hat, werde ich richtig glücklich sein. Doch
so sehr ich mir auch die Erfüllung dieses Wunsches herbeisehne – nichts geschieht.
Ich unternehme daher alles Mögliche, kaufe jede erhältliche Lektüre darüber, treffe mich mit
Gleichgesinnten, verdränge meinen Wunsch, oder denke jede freie Minute daran, um meine
Energie in die von mir gewünschte Richtung zu senden. Doch so sehr ich mich auch
anstrenge, der Erfolg bleibt aus. Was jetzt?
Da endlich stosse ich auf einen neuen Hinweis. Das englische Codewort heisst surrender.
Irgendwie klingt das aber nach Niederlage, in der deutschen Sprache jedenfalls. Die
Übersetzung dieses Wortes wird mit aufgeben, sich aushändigen, kapitulieren, auf etwas
verzichten angegeben, was für mich nicht gerade verlockend tönt. Soll ich jetzt meinen
Herzenswunsch einfach aufgeben, ohne es noch einmal wirklich versucht zu haben?
Doch so ist das Ganze nicht gemeint, lasse ich mich belehren. Surrender ist keine
Niederlage, sondern eine Lebenseinstellung. Ich übergebe meinen Herzenswunsch dem
Universum, damit es daraus das Allerbeste macht, das es für mich gibt. Wer garantiert mir
aber, dass das, was das Universum für mich vorsieht, auch wirklich gut ist? Niemand. Doch
auf der anderen Seite besteht durchaus die Möglichkeit, dass alles viel besser wird, als ich
es mir in meinen kühnsten Träumen vorstelle. Vielleicht habe ich mich mit meinen
Vorstellungen, wie mein Leben aussehen soll, auch einfach limitiert und selbst blockiert?
Ich beschliesse daher, etwas Neues zu wagen, schreibe meinen Wunsch auf, zerreisse
den Zettel und verbrenne das Papier im Cheminéefeuer. Ein mulmiges Gefühl beschleicht
mich, als das Feuer die Papierstückchen erbarmungslos vernichtet. Loslassen ist nicht
einfach, das war mir schon länger klar. Doch jetzt wird mir auf einmal bewusst: Ich gehe
damit auch das Risiko ein, dass mein Herzenswunsch gar nie in Erfüllung geht. Loslassen
heisst nämlich, alles annehmen, was danach geschieht – bedingungslos.
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Unsicher geworden, warte ich auf einen Wink des Schicksals, denn was ich am liebsten
habe, sind schnelle Ergebnisse, die mir bestätigen, dass ich auf dem richtigen Weg bin.
Doch – nichts geschieht. Was nun?
Mein Ego meldet sich. Es will selbst die Zügel in die Hand nehmen und für meine Zukunft
sorgen. Warum nicht? Wenigstens kann ich so alles kontrollieren, auch wenn ich dabei
etwas viel Besseres verpassen könnte. Ich entscheide mich kurzerhand, dem Ego die
Führung zu übergeben. Doch – nichts geschieht.
Schicksalsergeben beginne ich nun, mich mit meinem jetzigen Leben zufrieden zu
geben, beginne zu schätzen, was ich bis jetzt alles erreicht habe, was bereits rund läuft, was
mir Freude und Zufriedenheit schenkt. Es sind das die alltäglichen Dinge unseres Lebens,
die wir allzu oft als selbstverständlich ansehen: ein warmes Essen auf dem Tisch, ein
kuscheliges Bett zum Schlafen, ein knisterndes Cheminéefeuer, das wohlige Schnurren der
Katze, Zeit für einen Waldspaziergang an der frischen Luft, Sonnenstrahlen auf dem Gesicht
zu spüren, ja, einfach die Möglichkeit zu haben, kerngesund am Morgen aus dem Bett zu
springen und einer Arbeit nachzugehen. Je länger ich nachdenke, desto grösser wird die
Liste der Dinge, für die ich dankbar bin – und je kleiner wird meine Sehnsucht nach meinem
Herzenswunsch.
Endlich erkenne ich, was das Wort surrender bedeutet: dankbar sein für alles in unserem
Leben und sich freuen auf das, was noch kommen mag – denn unser Leben wird nur noch
besser. Warum ich dessen so sicher bin? Sind wir bereits glücklich und zufrieden – ohne ein
Gefühl, dass uns etwas fehlt – kann das Gute zu uns kommen. Vielleicht war es auch schon
lange da, doch wir haben es nicht gesehen. Zu sehr waren wir mit dem Kampf beschäftigt,
unseren Wunsch in Erfüllung gehen zu lassen. Doch das Leben ist kein Kampf, es ist ein
Fluss. Entweder wir fliessen mit ihm oder schwimmen dagegen. Das Erste führt uns zu
unseren Wünschen, das Zweite hält uns davon ab.
Surrender – ich lasse bedingungslos los. Was habe ich auch zu verlieren? Nichts,
ausser meine Angst davor, dass sich mein Herzenswunsch wirklich erfüllt.
© C. Birbaum, 09.02.2016
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