Um kurz nach 9 Uhr hatte das nervenzehrende Warten endlich ein Ende: „Eigentlich sollte die Leber für Michele schon um 7 Uhr eintreffen“, erinnert sich Sergej Freund, Micheles Vater. „Es kam buchstäblich auf jede Minute an.“ Sofort rannten die Ärzte auf den Wagen mit der kleinen Transportbox zu. Das Spenderorgan musste vor der Transplantation noch einmal untersucht werden. Wieder verrannen die Minuten quälend langsam: Würde das Organ tatsächlich passen? – „Um 9.21 Uhr begann die Operation.“ Dieser Zeitpunkt hat sich Micheles Eltern in die Erinnerung eingebrannt. „Als Michele die Narkose bekam, habe ich versucht, sie mit einer Geschichte aufzuheitern, und die Ärzte haben trotz der Anspannung einen Spaß gemacht. Ich konnte nur noch mit Tränen in den Augen mitlachen“, erinnert sich Natalie Freund. Krebs hat die ganze Leber angegriffen Begonnen hatte alles am 1. Mai 2014. Michele (6) und ihre Schwester Constanze (9) waren auf dem Spielplatz. Michele fiel hin, landete auf dem Bauch. „Als wir tags darauf gerade beim Einkaufen waren, rief Constanze an: Michele hat ganz dolle Bauchschmerzen.“ Die 6-Jährige bekam kaum Luft. „So habe ich sie noch nie schreien gehört.“ Die Arztpraxen waren am späten Freitagnachmittag bereits geschlossen. „Wir sind direkt ins Krankenhaus gefahren. Die Ärztin hat den Bauch lange mit dem Ultraschall untersucht.“ Der fühlte sich an wie eine steinharte Kugel. Michele musste ins Kinderklinikum Bremen-Mitte. Dort die erschütternde Diagnose: Michele leidet an einer höchst aggressiven Krebserkrankung der Leber, einem Hepatoblastom. Michele lebt „Ich war zu müde und erschöpft, um es wahrzunehmen. Die Oberärztin hat mich zweimal fragen müssen: Verstehen Sie, was los ist? – Das war das Ende für mich, ein todkrankes Kind!“ Micheles Tumor war beim SpielplatzSturz geplatzt, der Bauch voller freier Flüssigkeit. Bei der OP entnahmen die Ärzte eine Gewebeprobe. Der Krebs hatte bereits die gesamte Leber angegriffen. Micheles Zustand verschlechterte sich, der Bauch war aufgebläht. „Seit der ersten Chemotherapie hat sie nicht mehr gelächelt, alles ertragen wie eine Puppe.“ Nur mit Morphin konnte sie die Schmerzen aushalten. Das körpereigene Abwehrsystem war nahezu außer Gefecht gesetzt, und der Behandlungsmarathon führte zu einem psychischen Kollaps. „Nach sechs Wochen sollten wir deshalb trotz ihres kritischen Zustands nach Hause.“ Alle zwei Wochen eine Chemo, die Einschulung fiel erstmal aus. Dann Metastasen in der Lunge, zwei weitere Operationen. „Mitte Januar wird es kritisch“ „Ohne eine Lebertransplantation hätte sie nur noch eine 30-prozentige Überlebenschance gehabt.“ Um ein Spenderorgan zu bekommen, musste Michele vollständig metastasenfrei sein. Im November war sie nach der zweiten Lungen-OP wieder zu Hause – und wartete auf eine Spenderleber. „Die Chancen darauf sind bei Kindern geringer, weil nicht nur die Blutgruppe passen muss, sondern der Spender auch nicht älter als 40 Jahre alt und das Organ nicht zu groß sein darf.“ Mitte Januar wurde es kritisch. Ihre Handys hatten die Eltern in diesen Wochen immer griffbereit. Erst am 10. Januar kam der erlösende Anruf: Die Leber sei da, der Krankenwagen brachte Michele sofort nach Hannover. Mitten in der Nacht begannen die OP-Vorbereitungen. Acht Stunden im OP Nach acht Stunden war die OP vorbei – „aber nur, weil die Ärzte Michele nicht zugenäht hatten, um das frische Organ nicht zu schädigen. Der Bauch war offen und nur mit einer Stretchfolie und Mullbinden geschützt.“ Dann der Schock: Micheles Gesicht lief blau an. „Der Riss war nicht richtig geschlossen. Sie drohte zu verbluten und musste sofort wieder notoperiert werden.“ Zwei NotOPs in kurzem Abstand folgten. „Wir dachten, jetzt ist alles vorbei. Unsere Gefühle fuhren zwischen Verzweiflung und Hoffnung Achterbahn.“ Hospizdienst entlastet die Familie „Eine solch schwere Erkrankung bringt die ganze Familie in einer Ausnahmesituation“, sagt Monika Mörsch, Leiterin des Ambulanten Kinderhospizdienstes Jona, der schwerkranke Kinder und ihre Familien zu Hause oder in Pflegeeinrichtungen begleitet. „Micheles Schwester Constanze lebte seit der Diagnose mit der Angst um ihre Schwester, sie fühlte sich verloren und allein“, erzählt ihre Mutter. Zeitweise brauchte Constanze Logopädie und Ergotherapie, weil sie plötzlich Probleme beim Sprechen hatte. „Schon Erwachsene können die Frage nach dem Warum bei so einer lebensbedrohlichen Erkrankung nicht klären. Da fehlen einem die Worte.“ Die Eltern wechselten sich am Krankenbett ab, Constanze war oft bei Großeltern oder der Familie ihres Onkels Alexander. „Die Angst lag uns allen auf der Seele.“ Deshalb kümmerte sich Hospizmitarbeiterin Melanie Haunhorst, die die Freunds regelmäßig besucht, besonders um Constanze. „Geschwisterkinder sind in so einer Situation außerordentlich belastet und fühlen sich vielfach zurückgesetzt“, erzählt die ehrenamtliche Hospizmitarbeiterin. „Wir machen zusammen Ausflüge, spielen, backen oder basteln. Manchmal unterstütze ich bei den Hausaufgaben, oder wir gehen shoppen.“ So bringt die Hospizmitarbeiterin ein Stück Normalität Wie der Kinderhospizdienst Jona Familien entlastet in den Alltag, der von der Krankheit überschattet ist. „Als wir bei deinem Pferd waren und mit der Kutsche gefahren sind, war das besonders toll“, erinnert sich Constanze, als die beiden in der Küche der Freunds Muffins backen. „Wir sind stille Begleiter“, umschreibt Melanie Haunhorst ihre Aufgabe. „Über die Krankheit wird nur gesprochen, wenn die Kinder das Thema ansprechen.“ Für Natalie und Sergej Freund ist Melanie Haunhorst mittlerweile eine enge Vertraute der Familie geworden. „Sie hat immer ein offenes Ohr für uns, auch als andere sich Micheles Leidengeschichte nicht mehr anhören konnten.“ „Das war ein Wunder!“ Michele lebt, seit Mai darf sie in die Schule gehen. In diesem Sommer hat sie ihre Einschulung nachgefeiert, endlich auch eine Schultüte bekommen. Im Wohnzimmer der Familie Freund läuft ein Video: Auf der Bühne singen und tanzen die Zweitklässler für die Schulanfänger. Mittendrin Michele, mit dunkeln Locken und einem strahlenden Lächeln – wer die Geschichte nicht kennt, kann es kaum glauben. „Vier Wochen nach der OP konnte sie wieder gerade laufen – das war für uns, die Ärzte und Schwestern ein Wunder!“ Text/ Fotos: Matthias Dembski Kinderhospiz Jona Kontakt Telefon 0421/6381 269 montags bis freitags von 9 bis 15 Uhr [email protected] Ausbildung für Ehrenamtliche Bildungsurlaub für künftige ehrenamtliche Hospizmitarbeitende: 22. bis 26. Februar 2016 plus drei Sonnabend-Termine: 12. März, 9. April und 21. Mai Spendenkonto Stiftung Friedehorst Stichwort „Kinderhospiz Jona“ IBAN DE61 5206 0410 0106 4256 58 BIC GENODEF1EK1 1. Bremer Hospiztage bis 20. Oktober 2015 10. Oktober, 10 bis16 Uhr Michele, Sergej und Constanze Freund, Melanie Haunhorst und Natalie Freund Infomesse des Hospiz- und Palliativverbandes Bremen und seiner Mitgliedsorganisationen in der Zentralbibliothek, Am Wall und der Stadtbibliothek Vegesack Alle Termine im Flyer: www.kinderhospiz-jona.de www.facebook.com/ KinderhospizJona www.lag-hospiz-bremen.de 22 bremer kirchenzeitung Oktober 2015 · www.kirche-bremen.de www.kirche-bremen.de bremer kirchenzeitung Oktober 2015 23
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