2,6 MB PDF - Gute Geschäfte machen

 Geschichten über Gute Geschäfte
Berichte über acht beispielhafte Projekte
Erarbeitet im Rahmen des Projektes
Gute Geschäfte machen - Erfolgreiche Modelle für den stationären Einzelhandel
Februar 2016
HafenCity Universität Hamburg HCU
Dipl.-Ing. Stefan Kreutz
Überseeallee 16
20457 Hamburg
[email protected]
Geschichten über Gute Geschäfte
Gute Geschäfte machen
Inhalt
Das Projekt ....................................................................................................................................... 2
Zwischen Bricks und Clicks: Temporäre Geschäftsräume via PopUp .............................................. 4
Auf offener Straße: Geschäftsstraßen gemeinsam gestalten ........................................................... 6
Kultur macht den Anfang, gute Geschäfte folgen ............................................................................. 8
Mehr als ein Buchladen: Das Geschäft als „third place“ ................................................................. 10
Mit Netz und doppeltem Boden: Die Online City Wuppertal ........................................................... 12
Jeder Apfel, eine Geschichte: Der Freiburger Münstermarkt .......................................................... 14
Gemeinsam 1a: Die Lübecker Hüxstraße ....................................................................................... 16
Mercado und IKEA: Win-Win in Altona? ......................................................................................... 18
Das Projekt „Gute Geschäfte machen - Erfolgreiche Modelle für den stationären Einzelhandel“ ist
ein Beitrag zum Wissenschaftsjahr 2015 – Zukunftsstadt und wurde vom Bundesministerium für
Bildung und Forschung gefördert. Projektzeitraum war September 2015 bis Februar 2016.
Projektteam: Prof. Dr. Ingrid Breckner und Dipl.-Ing. Stefan Kreutz (HafenCity Universität
Hamburg) in Zusammenarbeit mit Thomas Böhm und Carsten Sommerfeldt (Literarische
Unternehmungen Berlin)
Das Wissenschaftsjahr 2015 – Zukunftsstadt zeigt, wie die Forschung eine nachhaltige
Entwicklung der Stadt ermöglicht. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entwickeln
gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern, Kommunen und Wirtschaft kluge Lösungen für die
großen gesellschaftlichen Herausforderungen. Egal ob Klimaanpassung, Energiesicherheit, gute
Arbeit oder das soziale Miteinander: die Antwort darauf muss auf kommunaler Ebene verwirklicht
werden können. Die Wissenschaftsjahre sind eine Initiative des Bundesministeriums für Bildung
und Forschung (BMBF) gemeinsam mit Wissenschaft im Dialog (WiD). Sie fördern den Austausch
zwischen Öffentlichkeit und Forschung.
Weitere Informationen unter www.wissenschaftsjahr-zukunftsstadt.de.
Ein Beitrag für das Wissenschaftsjahr Zukunftsstadt
1
Geschichten über Gute Geschäfte
Gute Geschäfte machen
Das Projekt
Gute Geschäfte im Sinne des Projekts tragen zu einer lebendigen und nachhaltigen Stadt bei. Sie
sind nicht nur ökonomisch tragfähig, sondern leisten darüber hinaus auch wertvolle Beiträge für die
Nachbarschaft, den Stadtteil oder die Gesamtstadt. Das Projekt stellt die Macher und Unterstützer
ausgewählter guter Geschäfte vor: Einzelhändler, Stadtplaner und Kulturveranstalter in Berlin,
Eberswalde, Regensburg, Wuppertal, Freiburg, Lübeck und Hamburg.
Das Projekt versteht sich als Begegnungsort für Einzelhändler, Existenzgründer, Stadtverwaltung, Stadtmarketing, Wissenschaft und eine interessierte Öffentlichkeit. Es möchte inspirieren, informieren und ermutigen,
Dialog ermöglichen und eine Diskussion über Chancen und Risiken des
Einzelhandels in der Zukunftsstadt
entfachen und begleiten.
© Elke Ehninger „Die Stadt braucht den Handel – aber der Handel braucht nicht die Stadt!“ Stimmt diese
provokante These wirklich oder wie sieht er aus, der Handel in der Zukunftsstadt? Gehört der
kleinteilige, inhabergeführte Einzelhandel der Vergangenheit an?
Viele Prognosen für den stationären Einzelhandel sind düster: Die Bedeutung von inhabergeführten Fachgeschäften als Vertriebsform geht seit Längerem zugunsten größerer Einzelhandelsketten
und der wachsenden Zahl an Shoppingcentern zurück. Rund 73 Prozent der Internetnutzer shoppen auch im Netz. Für 2020 wird erwartet, dass 20 Prozent des Gesamtumsatzes des deutschen
Handels im Onlinebereich gemacht werden. Experten prognostizieren, dass 50.000 Einzelhändler
bis 2020 pleite sind – das wären 12,5 Prozent aller deutschen Einzelhändler. Diese Entwicklung
trifft besonders kleine und mittlere Läden in Innenstadtlagen, vor allen Dingen Geschäfte, die
besonders unter dem Angebotsdruck großer Handelsketten und Onlineshops leiden. Bereits heute
gibt es Stadtquartiere, in denen der klassische Einzelhandel bereits verschwunden ist.
Es gibt aber auch Stadtquartiere, in denen neue Einzelhandelskonzepte und andere innovative
Formen des quartiersbezogenen Wirtschaftens und Arbeitens zu finden sind bzw. sich entwickeln.
Diese Ansätze stehen hier im Fokus. „Gute Geschäfte machen“ verstehen wir dabei als doppeldeutigen Begriff: Es geht im Handel natürlich immer um gute Geschäfte im wirtschaftlichen Sinne.
Gleichzeitig geht es uns aber auch um gute Zusammenarbeit, gute Beziehungen zum Quartier,
guten Service und gute Qualität der Produkte sowie gute Atmosphäre in den Geschäften.
Durch Online-Handel und Strukturwandel im Einzelhandel geraten die gewachsenen Handelslagen
vielerorts unter Druck. Klassische Konzepte wie „Unternehmer“, „Kunde“, „Nachfrage“, „Ladengeschäft“, „Einkaufsstraße“ verändern sich und werden teilweise infrage gestellt. Der traditionelle
Abverkauf von Waren funktioniert nur noch in bestimmten Segmenten, die sehr stark preisdominiert sind. Der Einkauf im Internet wird von vielen Konsumenten als alternativlos günstig und
bequem angesehen – auch weil viele Alternativen vor Ort entweder unattraktiv oder auch nicht
Ein Beitrag für das Wissenschaftsjahr Zukunftsstadt
2
Geschichten über Gute Geschäfte
Gute Geschäfte machen
bekannt sind. Beim Einkauf steht heute das gewünschte Produkt im Vordergrund und nicht mehr
das verfügbare Angebot im Geschäft.
2015 haben sich nur noch rund 32 Prozent der Verbraucher als traditionelle Handelskäufer
bezeichnet, die nicht gerne im Internet einkaufen. Die Veränderungen im Verbraucherverhalten
und der Nachfrage haben vielschichtige Ursachen. Hierzu zählen der demografische Wandel, veränderte Haushaltsstrukturen, das verfügbare Einkommen für Konsum sowie Individualisierung und
zunehmende Heterogenisierung der Konsummuster. Als „hybrides Einkaufsverhalten“ wird die
Mischung aus Preisbewusstsein und Erlebnisbedürfnis bezeichnet. Dabei sind auch neue Wertmaßstäbe im Käuferverhalten zu beobachten, wie zum Beispiel nachhaltiger Konsum oder die
Bevorzugung lokaler und regionaler Produkte. Und auch die strikte Trennung zwischen Online
oder Offline löst sich auf – „Bricks and Clicks“ werden integriert, alle Vertriebskanäle parallel
genutzt. Viele Onlinehändler öffnen mittlerweile stationäre Ladengeschäfte, viele traditionelle Einzelhändler verkaufen ihre Produkte auch online – im eigenen Shop oder auf virtuellen Marktplätzen.
Es entstehen neue Geschäfts- und Handelsformen und haben das Potential, die Städte der
Zukunft zu prägen. Einige Stichworte hierzu sind Share-Economy und Collaborative Consumption
(Teilen statt Besitzen), Pop-Up-Stores („Experimentierflächen“ auf Zeit), Co-Working (Gemeinschaftliche Nutzung von Flächen), Individualisierte Produktion von Unikaten oder kleiner Serie,
Prosumenten (Produzenten und Konsumenten rücken zusammen), Streetfood und Foodtrucks
(Neue Formen mobilen Handels) sowie Handels- und Gewerbekonzepte sozialer Träger oder
gemeinnützige Genossenschaften als Geschäftsform.
Verkaufsflächen werden immer mehr zu „Third Places“, zu hybriden Orten irgendwo zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, auf dem Weg zwischen Zuhause und Arbeitsort. „Kuratierter Konsum“
wird gefragt: Geschäfte, bzw. deren Inhaber lotsen ihre Kunden durch Auswahlprozesse, z. B.
durch eine pointierte Auswahl von Produkten, durch Beratung oder durch Kaufentscheidungshilfen.
Vor diesem komplexen Hintergrund war die Leitfrage des Projektes, wie es stationären Einzelhändlern gelingen kann, die Tragfähigkeit ihrer Geschäftsideen zu verbessern und ihre zukünftigen
Handlungsspielräume so zu erweitern, dass sie ihre Existenz langfristig sichern. Ziel ist dabei,
dass der stationäre Einzelhandel seine wichtigen Funktionen für die Stadt auch weiterhin wahrnehmen kann.
Deshalb haben wir Geschäfts- und Handlungskonzepte innovativer Akteure des stationären Einzelhandels und der Stadtentwicklung im Hinblick auf die Tragfähigkeit ihrer Ideen untersucht.
Dabei ging es auch um die Bedingungen und Hemmnisse ihrer Verwirklichung und eine mögliche
Vorbildfunktion für die Übertragung an andere Orte. Hierzu haben wir Beispiele aus sieben Städten
ausgewählt – von der wachsenden Metropole bis zur Mittelstadt im strukturellen Wandel. In acht
öffentlichen Veranstaltungen vor Ort haben Geschäftsleute und mit dem Einzelhandel und/oder der
Stadtentwicklung vor Ort befasste Akteure gemeinsam mit den Stadtforschern der HafenCity Universität ihre Erwartungen und Ideen für die Zukunft des stationären Handels in ihrer Stadt präsentiert und diskutiert. Die Erkenntnisse dokumentieren wir in diesem Bericht.
Ein Beitrag für das Wissenschaftsjahr Zukunftsstadt
3
Geschichten über Gute Geschäfte
Gute Geschäfte machen
Zwischen Bricks und Clicks: Temporäre Geschäftsräume via PopUp
Gute Geschäftsideen, Produkte und Dienstleistungen brauchen Räume, um auf sich aufmerksam
zu machen und Kunden zu finden. Solche Räume bietet nicht nur das Netz, sondern auch die
Stadt. Wenn solche Räume nicht gleich für mehrere Jahre angemietet werden können oder sollen,
helfen Agenturen wie Go-PopUp aus Berlin. Sie suchen und qualifizieren Gewerbeflächen, die für
bestimmte Kurzzeitnutzungen geeignet sind – zur Präsentation von Kollektionen und Produkten,
für Ausstellungen und Events oder gastronomische Angebote – und vermitteln diese Räume an
passende Interessierte. Mit ihrer Dienstleistung unterstützen sie sowohl Geschäftsleute als auch
Vermieter und tragen gleichzeitig zu attraktiven Angeboten in Quartieren bei.
PopUp Stores sind Läden für eine begrenzte Zeit – von einem Tag bis zu sechs Monaten. Mit diesen „Läden on demand“ soll in kürzester Zeit maximale Aufmerksamkeit für eine Marke, ein Produkt oder eine Geschäftsidee erzeugt werden. „Ein Grundprinzip ist Flüchtigkeit – die Währung ist
Aufmerksamkeit. Es gilt, Überraschung zu generieren, immer wieder Anreize zu schaffen und
durch Belebung und Abwechslung Aufmerksamkeit für den Ort zu schaffen“, sagt Dennis Boehres,
Geschäftsführer und Co-Gründer von Go-PopUp aus Berlin. „Trotz der ganzen digitalen Entwicklungen gibt es einen Wert der analogen offline-experience! Der Gegensatz online oder offline funktioniert so nicht, es geht vielmehr um inline.“
Die Agentur berät ihre Kunden nicht nur bei der Suche nach einem geeigneten Standort für das
spezifische Angebot. Sie erhalten auch Unterstützung bei Vertragsangelegenheiten, bei der technischen Ladenausstattung (z. B. Kassensysteme) und beim Marketing sowie der Klärung ihrer
Zielgruppen. „Wir helfen unseren Kunden dabei, den richtigen Ort für ein gutes Geschäft zu finden.
Wir unterstützen Macher dabei, ihre Ideen umzusetzen. Unser Ziel ist ein Kreislauf des Guten“, so
Boehres zu den weitreichenden Ansprüchen seiner Agentur. Neben internationalen Brands nutzen
auch viele kleine bis mittelgroße Unternehmen die Dienstleistungen von Go-PopUp. Kurzzeitvermietungen und flexible Mietverträge sollen dazu beitragen, Gründern den Weg zum eigenen
Ladenlokal zu erleichtern, z. B. kleinen Marken und Manufakturen.
Von der Kurzzeitvermietung sollen aber auch den Immobilieneigentümern profitieren, die Nutzer
für ihre Gewerbeflächen suchen. Go-PopUp arbeitet gezielt daran, den oft noch konservativen
Immobilienmarkt für junge, kreative Startups zu erschließen. Hierfür ist eine Menge Überzeugungsarbeit erforderlich, da viele Eigentümer Kurzzeitvermietungen häufig erstmal ablehnen, weil
sie andere Vorstellungen hinsichtlich der zu realisierenden Mieteinnahmen haben.
Das Team der Agentur besteht neben Technologen aus Marketingspezialisten, Kulturwissenschaftlern und Planern. Neben den einzelnen Ladenlokalen analysiert die Agentur auch das
Umfeld und erstellt entsprechende Kiezprofile. Denn nicht nur die Fläche selbst muss zur
Geschäftsidee passen, auch das Umfeld muss stimmen. Und schließlich soll auch der Stadtteil von
den Pop-Up-Nutzungen profitieren. Die Möglichkeit, die eigene Stadt immer wieder neu zu entdecken oder Neues an bekannten Orten vorzufinden, macht für viele den Reiz einer Metropole
aus. „Den Langfristmieter gibt es nicht mehr überall. Dauerhafte Kurzzeitvermietung wäre ein
Erfolg – auch für die Stadt. Aber Go PopUp ist auch kein Wundpflaster und kann einen Standort
nicht revitalisieren“, betont Boehres die Grenzen des Ansatzes.
Neben Angeboten in Hamburg und anderen Großstädten, liegt der räumliche Schwerpunkt der der
Berliner Agentur Go-PopUp in der Hauptstadt – und hier sind es vor allem die angesagten Stadt-
Ein Beitrag für das Wissenschaftsjahr Zukunftsstadt
4
Geschichten über Gute Geschäfte
Gute Geschäfte machen
teile und Standorte innerhalb des S-Bahn-Rings. Perspektivisch kann sich die Agentur aber auch
vorstellen, in anderen Berliner Stadtteilen sowie in kleineren Städten Räume anzubieten. Dort wird
die Herausforderung vermutlich größer sein, kreative Kurzzeitnutzer zu finden.
Gute Geschäfte Veranstaltung: Einzelhandel neu denken – Go PopUp Berlin zwischen
Bricks und Clicks
am 11.1.2016 um 19 Uhr
mit Dennis Boehres (Geschäftsführer und Gründer Go-PopUp) und Andre Wilkens (Autor „Analog
ist das neue Bio“)
Ingrid Breckner, Dennis Boehres, Thomas Böhm (Foto: Filip Nuniz)
Ein Beitrag für das Wissenschaftsjahr Zukunftsstadt
5
Geschichten über Gute Geschäfte
Gute Geschäfte machen
Auf offener Straße: Geschäftsstraßen gemeinsam gestalten
In einer Geschäftsstraße gibt es viele Einzelhändler, die in der Regel sprichwörtlich einzeln handeln. Ihre einzige Gemeinsamkeit ist die gleiche Adresse, aber ansonsten haben die Händler häufig wenig miteinander zu tun – und schon gar nicht mit der sozialen Infrastruktur oder den Kulturschaffenden aus der Umgebung. Dabei brauchen gute Geschäfte auch eine gute Nachbarschaft!
Das Geschäftsstraßenmanagement will das ändern, die Akteure einer Straße vernetzen und zu
gemeinsamen Aktionen motivieren. Zum Beispiel in der Turmstraße in Berlin Moabit.
Die Turmstraße ist eine traditionelle Geschäftsstraße mit wechselhafter Geschichte und ein wichtiger Standort für die Nahversorgung in Moabit. Über 500 Einzelhandelsgeschäfte und Dienstleister
sowie bedeutende öffentliche Einrichtungen sind rund um das Rathaus Moabit ansässig. Aufgrund
von sogenannten Funktions- und Bedeutungsverlusten der Turmstraße wird seit 2008 die Gebietsentwicklung mit erheblichen Mitteln des Bundes und des Landes Berlin gefördert. In diesem
Zusammenhang wurde 2011 ein Geschäftsstraßenmanagement eingerichtet. Es verfolgt das Ziel,
die Turmstraße als Einzelhandelsschwerpunkt für den Stadtteil zu sichern, die gewerbliche Struktur zu stärken und ein Händlernetzwerk aufzubauen. Als Grundlage hierfür wurde 2013 das
„Zentrumskonzept zur Stärkung und Steuerung von Einzelhandel, Dienstleistung und Gastronomie
im Stadtteilzentrum Turmstraße“ vorgelegt.
Vor einem Jahr hat sich die „Turmstraßen Initiative Moabit“ (TIM) gebildet. Hier treffen sich regelmäßig Händler, Gastronomen, Kulturschaffende und soziale Einrichtungen aus dem Gebiet. Unterstützt vom Büro „die raumplaner“ hat die TIM schon im ersten Jahr verschiedene Aktionen in der
Nachbarschaft organisiert, z. B. ein Kiezfest und eine Weihnachtsbaumaktion. Eine Kiezkarte mit
Geschäften, Restaurants und Ateliers in Moabit wurde genauso produziert wie die TurmTüte, eine
Einkaufstasche aus Papier. Für die Zukunft sind ein gemeinsamer Internetauftritt sowie weitere
öffentlichkeitswirksame Aktionen geplant.
Die größte Herausforderung für Initiativen wie TIM liegt darin, möglichst viele Händler zu motivieren, sich an der Vernetzung aktiv zu beteiligen, um „die Realität der Straße“ abzubilden. Viele
Unternehmen machen jedoch nur bei einzelnen temporären Aktionen mit, engagieren sich aber
nicht dauerhaft und verbindlich. Daher braucht es für den Aufbau eines solchen Netzwerkes professionelle Koordinatoren, die Akteure motivieren und vernetzen sowie Aktivitäten koordinieren.
Die Händler alleine könnten diese Aufgabe neben ihrem Kerngeschäft, also dem eigenen Laden
nicht leisten. „Wir verstehen uns als Vermittler zwischen dem einzelnen Laden und der Verwaltung.
Wir stellen die Menschen in den Mittelpunkt, weniger die Zahlen“, beschreibt Georg Thieme seine
Aufgabe als Geschäftsstraßenmanager im Auftrag des Bezirksamtes.
Auch die Frage nach der Verbindlichkeit der Zusammenarbeit ist von zentraler Bedeutung für
Bündnisse von Geschäftsleuten. Soll es nur ein loses Netzwerk geben oder braucht es eine verbindliche Struktur, etwa einen Verein? Viele Händler scheuen die Gründung von Vereinen wegen
der formalen Voraussetzungen. Denn schon die Netzwerkarbeit und Aktionen bedeuten erheblichen Mehraufwand neben dem eigenen Geschäft. Daher muss neben dem Aufwand insbesondere
der Nutzen solcher Aktivitäten deutlich werden, z. B. Kooperationen mit benachbarten Unternehmen oder gemeinsame Werbung für den Standort. Damit auch in der Turmstraße weiterhin gute
Geschäfte gemacht werden können.
Ein Beitrag für das Wissenschaftsjahr Zukunftsstadt
6
Geschichten über Gute Geschäfte
Gute Geschäfte machen
Gute Geschäfte Veranstaltung: Auf offener Straße – Stadtplanung in Moabit
am 13.1.2016 um 8 Uhr (Frühstück TIM) und 10 Uhr (Rundgang Turmstraße)
mit Georg Thieme (die raumplaner / Geschäftsstraßenmanagement)
Rundgang über die Turmstraße (Foto: Carsten Sommerfeldt)
Ein Beitrag für das Wissenschaftsjahr Zukunftsstadt
7
Geschichten über Gute Geschäfte
Gute Geschäfte machen
Kultur macht den Anfang, gute Geschäfte folgen
So titelte Ende Januar 2016 eine Lokalzeitung über das bemerkenswerte Projekt „Guten Morgen
Eberswalde – Eine Veranstaltungsreihe im Zentrum der Stadt“. Unter diesem Motto findet seit
Sommer 2007 jeden (!) Samstag um 10.30 Uhr im Zentrum von Eberswalde eine Kulturveranstaltung auf dem Marktplatz oder im benachbarten Paul-Wunderlich-Haus statt. Hierdurch ist es
gelungen, die mit großem Aufwand umgestaltete Stadtmitte wieder zu beleben und auch am
Wochenende zu einer interessanten Adresse zu machen.
Eigentlich muss Udo Muszynski verrückt sein! Schon 450mal hat er an einem Samstag mit „Guten
Morgen Eberswalde“ im Zentrum der brandenburgischen Kreisstadt sein Publikum begrüßt. Woche
für Woche, Jahr für Jahr – bei freiem Eintritt und einmal monatlich mit regionalen Künstlern. Und
das alles ohne offiziellen Auftrag und mit schmalem Budget.
„Wir haben in der Veränderung des Zentrums durch das Paul-Wunderlich-Haus und den umgebauten Marktplatz die Gelegenheit gesehen, dem Alltag in der Region eine kulturelle Prägung zu
geben“, so der Organisator. „Durch die Entwicklung des Zentrums wollen wir unsere Stadt neu
formulieren.“ Und die große Resonanz auf die Veranstaltungen gibt ihm Recht. „Der Samstag ist
mittlerweile wieder ein guter Tag für die Innenstadt – das hat sich verändert.“
Neben dem unglaublichen Engagement von Initiator Muszynski lebt die Veranstaltungsreihe auch
von einer Mischung aus privater und öffentlicher Unterstützung. So haben einige inhabergeführte
Geschäfte das Projekt von Anfang an finanziell gefördert, weil sie auf die inzwischen eingetretene
steigende Kundenfrequenz hofften. Die Kreisverwaltung stellt in der kalten Jahreszeit den Veranstaltungssaal im Paul-Wunderlich-Haus für die Veranstaltung zur Verfügung. Trotz dieser Unterstützung weiß Muszynski oft erst im Sommer, ob das verfügbare Budget für das laufende Jahresprogramm ausreicht.
Dieses Beispiel macht deutlich, dass es für die Veränderung und Entwicklung von Innenstädten
Pioniere braucht: Menschen mit Ideen und Eigeninitiative. Deren Engagement ist unbezahlbar und
steht im Gegensatz zur Abhängigkeit von befristeten Fördermitteln und Programmen. Denn dort
brechen die Aktivitäten und Strukturen nach dem Ende der Förderung häufig zusammen – so auch
an anderer Stelle in Eberswalde. Ein weiterer Erfolgsfaktor ist die große Bedeutung von Einzelpersonen und deren Persönlichkeit: Motivation, Vision, Kompetenzen und Idealismus sind die Voraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung. Und es braucht natürlich Geduld und Ausdauer. Neuen
Ideen und Projekte brauchen Zeit für ihre Entwicklung, Etablierung und Durchsetzung. Schnelle
Lösungen und kurzfristige Ergebnisse darf man nicht erwarten.
Auch wenn der Veranstaltungsmanager Muszynski betont, dass er sich nicht als Zuträger sieht:
„Wir sind nicht der Motor der Innenstadtentwicklung und wir wollen uns auch nicht instrumentalisieren lassen“. Seine Aktivitäten tragen zur Stärkung des Eberswalder Stadtzentrums und zur Ausbildung einer Stadtmitte entscheidend bei. Sie schaffen Identität sowie eine regelmäßige und verlässliche Gelegenheit für ein Zusammentreffen der Stadtöffentlichkeit. Und die entdeckt bei der
Gelegenheit auch die Geschäfte ihrer Innenstadt wieder neu – vielleicht demnächst auch einen
regionalen Wochenmarkt am Samstag. Denn an Ideen mangelt es Muszynski wirklich nicht…
Ein Beitrag für das Wissenschaftsjahr Zukunftsstadt
8
Geschichten über Gute Geschäfte
Gute Geschäfte machen
Gute Geschäfte Veranstaltung: Am Anfang war Kultur – Guten Morgen Eberswalde
am 16.1.2016 um 10.30 Uhr
mit Udo Muszynski (Guten Morgen Eberswalde!)
Marco Zucknick, Thomas Böhm, Udo Muszynski (Foto: Carsten Sommerfeldt)
Ein Beitrag für das Wissenschaftsjahr Zukunftsstadt
9
Geschichten über Gute Geschäfte
Gute Geschäfte machen
Mehr als ein Buchladen: Das Geschäft als „third place“
Ulrich Dombrowsky ist seit 33 Jahren Buchhändler in Regenburg. Früher hatte er sein Geschäft
am Rand der Altstadt. Seit 2009 ist er am St. Kassians-Platz, mittendrin im Weltkulturerbe. Er
betreibt das Geschäft zusammen mit seiner Frau und betont: „Familienbetrieb heißt immer auch
Selbstausbeutung“. Aber seine große Leidenschaft für Bücher und die Literatur treibt ihn an.
Die Buchhandlung Dombrowsky bietet ein von den Inhabern handverlesenes Programm – neudeutsch würde man das wohl kuratiert nennen. Es gibt regelmäßige Veranstaltungen wie Lesungen und Konzerte, zu denen der Buchhändler Gäste einlädt, die er interessant findet. Gemeinsam
mit anderen Regensburgern unterstützt Dombrowsky Projekte zur Leseförderung. Und selbstverständlich ist das Geschäft mit Website, Onlineshop und Facebook-Auftritt auch virtuell präsent. „Ich
versuche, mein Tagesgeschäft so gut wie möglich zu machen“, beschreibt Dombrowsky seine
Strategie.
Der Buchhändler möchte weit mehr als nur Bücher verkaufen. Er will eine besondere Atmosphäre
schaffen: „Mein Ziel ist es, den Laden zum „third place“ zu machen, wo man gerne hinkommt. Wer
sich bei uns fühlt wie im eigenen Wohnzimmer, ist genau richtig! Außerdem möchte ich Begegnungen ermöglichen“, so Dombrowsky. Ein hoher Anspruch für einen kleinen Laden – vor allem
angesichts der starken Umsatzverluste des Buchhandels an den Online-Handel. Aber auch zu
dieser Entwicklung hat Ulrich Dombrowsky eine klare Haltung: „Amazon, Hugendubel oder Thalia
haben alle meine Umsätze nicht beeinträchtigt, zumindest nicht negativ. Mit Amazon kann ich in
vielen Bereichen sowieso nicht konkurrieren, aber ich bilde eine lokale Marke aus. Konkurrenz ist
für mich eher der inhabergeführte Buchhandel hier vor Ort in der Altstadt.“ Daher überlegt er sich
immer wieder kleine Aktionen, zum Beispiel mit den direkt benachbarten Geschäften. So gibt es im
Buchladen eine Speisekarte und einen Bestell-Klingelknopf für das Café nebenan. Und dort findet
sich eine kleine Buchauswahl.
Als wäre das alles nicht schon genug Programm, engagiert sich der Geschäftsmann auch noch im
Verein „Faszination Altstadt e.V.“, einem Zusammenschluss der inhabergeführten Geschäfte in der
Regensburger Altstadt. Als eine Aktion zur Förderung des Standortes hat der Verein den „Altstadt
Zehner“ eingeführt, einen Gutschein, der bei den teilnehmenden Geschäften eingelöst werden
kann. So sollen wieder Kunden in die Altstadt gelockt und die Verbundenheit mit dem lokalen Einzelhandel gestärkt werden.
Hinter dem Verein steht auch eine politische Strategie: Die Geschäftsführung wird für drei Jahre
finanziert. Dafür formuliert ein Stadtratsbeschluss klare Zielsetzungen, z. B. die Einführung des
Gutscheins nach Linzer Vorbild und die Vorgabe, die Mitgliederzahl innerhalb von drei Jahren von
80 auf 250 Betriebe zu erhöhen. Es gibt also viel zu tun in der wunderschönen Regensburger Altstadt!
Ein Beitrag für das Wissenschaftsjahr Zukunftsstadt
10
Geschichten über Gute Geschäfte
Gute Geschäfte machen
Gute Geschäfte Veranstaltung: Stadt und Handel der kurzen Wege
am 20.1.2016 um 19.30 Uhr
mit Ulrich Dombrowsky (Buchhandlung Dombrowsky) und Ingo Saar (GF Faszination Altstadt e.V.)
Ulrich Dombrowsky (Foto: Carsten Sommerfeldt)
Ein Beitrag für das Wissenschaftsjahr Zukunftsstadt
11
Geschichten über Gute Geschäfte
Gute Geschäfte machen
Mit Netz und doppeltem Boden: Die Online City Wuppertal
Manchmal braucht es einfach den richtigen Zeitpunkt für eine gute Geschäftsidee. Kurz nach
einem Vortrag des Innovationsberaters Andreas Haderlein in Wuppertal über die Zukunft des Handels, suchte der Bund Projektideen für das Förderprogramm Nationale Stadtentwicklungspolitik.
Die städtische Wirtschaftsförderung erkannte die Gelegenheit und beantragte gemeinsam mit
Haderlein das Projekt „Online City Wuppertal“ (OCW), das seit Ende 2013 die digitale Transformation des stationären Einzelhandels in der Stadt unterstützt.
Der stationäre Handel steht vor vielen Herausforderungen, von denen die Digitalisierung nur eine
ist. „50 Jahre hatten die Händler die Vertriebshoheit und mussten nicht viel tun. Mittlerweile ist der
Handel viel komplexer geworden. Früher war zuerst der Händler, dann das Produkt, dann die
Kasse – heute kommt zuerst das Produkt und dann erst der Händler. Bezogen auf die Digitalisierung sind außerdem die Kunden viel weiter als die Händler.“ Kurz und schonungslos beschreibt
Andreas Haderlein den fundamentalen Umbruch im Einzelhandel. Und er betont, dass es an
„Moderatoren im digitalen Wandel“ fehlt.
Genau hier setzt das Wuppertaler Modellprojekt an. Die Online City Wuppertal besteht aus drei
Säulen: talMARKT (Online-Portal der stationären Händler), talKONTOR (gemeinsames Ladenlokal
in der Innenstadt und Abholstation für Online-Bestellungen) sowie als zentrale Säule die Beratung
und Qualifizierung der Händler. „Von zentraler Bedeutung ist der Kümmerer 2.0 als Schnittstelle zu
den Händlern“, betont Haderlein der gemeinsam mit Christiane ten Eicken von der städtischen
Wirtschaftsförderung diese Funktion übernommen hat.
OCW will die räumlich weit verstreute lokale Geschäftswelt im Netz sichtbar machen und hierfür
einen Marktplatz als zusätzlichen Vertriebskanal kreieren: Was gibt es in Wuppertal? Dabei geht
es nicht um die Schaffung einer ausschließlich virtuellen Parallelwelt, sondern um das Ineinandergreifen von analogen und digitalen Welten. „Das Netz ist nicht nur ein Globalisierungsmedium,
sondern auch ein Lokalisierungsmedium. Es gibt eine zunehmende Anzahl lokaler Suchanfragen“,
so der Innovationsberater. Hiervon berichten auch beteiligte Händler: „Ich habe im Geschäft viele
neue Kunden bekommen, die mich im Netz gefunden haben.“ Gleichzeitig wird nicht zwischen den
Kunden unterschieden: „Ob der Kunde bei mir online oder offline kauft, ist mir egal – Hauptsache
er kauft bei mir!“
Die OCW-Macher betonen, dass sich die enge bzw. ausschließliche Verbindung von Stadt und
Handel aufgelöst hat und die Stadt heute weit mehr ist als nur der Vertrieb von Waren. Haderlein
fordert: „Ein kreativer Aufstand gegen die Innenstadtverödung ist erforderlich!“ Hierzu gehören
auch neue Formen der Händlergemeinschaften, die sich und ihre Produkte im Netz präsentieren.
Nicht mehr die Zugehörigkeit zu einem Straßenzug oder einem Stadtviertel ist der gemeinsame
Nenner der stationären Händler, sondern ihre Veränderungsbereitschaft. Hier liegt auch die große
Herausforderung für die Zukunft des Projektes nach dem Ende der Förderung im Herbst 2016: Wie
geht es dann weiter? Wer geht zukünftig in die Verantwortung und übernimmt die vielfältigen Aufgaben der Vernetzung und Koordination? Die Transformation des stationären Einzelhandels ist
auch in Wuppertal noch lange nicht am Ende.
Ein Beitrag für das Wissenschaftsjahr Zukunftsstadt
12
Geschichten über Gute Geschäfte
Gute Geschäfte machen
Gute Geschäfte Veranstaltung: Mit Netz und doppeltem Boden: Die Online City Wuppertal
am 21.1.2016 um 19 Uhr
mit Christiane ten Eicken (Projektleiterin OCW) und Andreas Haderlein (Impulsgeber OCW und
Innovationsberater)
Thomas Böhm, Christiane ten Eicken, Andreas Haderlein, Ingrid Breckner
(Foto: Carsten Sommerfeldt)
Ein Beitrag für das Wissenschaftsjahr Zukunftsstadt
13
Geschichten über Gute Geschäfte
Gute Geschäfte machen
Jeder Apfel, eine Geschichte: Der Freiburger Münstermarkt
Viele Stadtgründungen gehen auf die Verleihung des Marktrechtes zurück. In Freiburg reicht diese
Geschichte bis 1120 zurück. Seit dem 16. Jahrhundert ist der Münsterplatz der zentrale Marktplatz
der Stadt. Bis heute findet hier jeden Tag, außer Sonn- und Feiertags, der Markt statt – das sind
326 Veranstaltungstage im Jahr. Ein besonderer Schwerpunkt sind regionale und saisonale Produkte.
Gleichzeitig hat sich alleine im Laufe der vergangenen 60 Jahre im Handel viel verändert: Die vormals beliebten und gefeierten Warenhäuser sind in die Krise geraten. Das Discounter-Prinzip hat
sich entwickelt und durchgesetzt. Shopping-Center entstanden als künstliche, aber perfekte Innenstadt-Imitate zunächst am Stadtrand und dringen mittlerweile in die City vor. Als jüngste Entwicklung verändert oder gefährdet der Online-Handel den stationären Handel. „Alles ist gewachsen,
alles hat sich verändert – nur der Münstermarkt ist immer noch genauso groß und hat sich kaum
verändert“, sagt Thomas Barth von der städtischen Gesellschaft Wirtschaft, Tourismus und Messe
GmbH FWTM. Im Laufe der Zeit wurden nur kleinere Anpassungen vorgenommen, z. B. die Öffnungszeiten den veränderten Bedürfnissen angepasst. „Einerseits ist der Markt Tradition und
Geschichte, aber gleichzeitig ist er auch wieder modern“, betont die verantwortliche FWTM Abteilungsleiterin Dr. Franziska Pankow.
Auf der Nordseite des Marktes verkaufen die regionalen Landwirtschaftsbetriebe ihre eigenen Produkte, ebenso die Gastronomen – auf der Südseite stehen die reinen Händler. Alle Marktbeschicker haben feste Standplätze auf der ca. 10.000 Quadratmeter großen Marktfläche. Die Plätze
sind allerdings in ihrer Frequenz durchaus unterschiedlich – es gibt zentrale Läufe mit vielen Kunden, und spürbar weniger Frequenz in zurückliegenden Lagen. Um einen Marktstand zu bekommen, müssen sich Händler beim städtischen Marktamt bewerben. Eines der Prüfkriterien ist die
Regionalität der Anbieter. Außerdem gibt es eine Sortimentspolitik mit Quoten für bestimmte Branchen oder Produktgruppen. Die Organisation des täglichen Marktes ist ein „logistische Herausforderung“, für die zwei Marktmeister vor Ort sind.
Zur besonderen Geschichte gehören die Familienbetriebe, die seit mehreren Generationen auf
dem Münstermarkt handeln. So wird auch in diesem Jahr wieder eine Marktfrau geehrt, die hier
seit 65 Jahren ihre Waren verkauft. Gerade die Originalität und Kompetenz der Händler fördert die
besondere Kundenbindung. Und durch die Regionalität der Anbieter und die Saisonalität der Produkte wechselt der Münstermarkt fast täglich sein Bild. Die Jahreszeiten sind auf dem Markt deutlich sichtbar, z. B. das spezielle Angebot an Pflanzen und Setzlingen im Frühjahr.
Eine Herausforderung ist die teilweise schwierige Nachfolgeregelung in den landwirtschaftlichen
Betrieben, insbesondere den Familienbetrieben. Teilweise kommt es zu Betriebsaufgaben. Händler berichten zudem, dass sich das Kaufverhalten verändert hat, z. B. seien die Einkaufsmengen
kleiner geworden. Dies liegt auch an der schlechten Erreichbarkeit des Marktes mit dem Pkw in
der verkehrsberuhigten Altstadt („Da kann ich keinen Sack Kartoffeln kaufen, den ich dann gleich
ins Auto lade.“). Zudem besuchen viele Menschen den Münstermarkt als touristische Attraktion,
kaufen dabei aber allenfalls Kleinigkeiten ein.
10.000 – 15.000 Menschen besuchen den Münstermarkt pro Tag. Er strahlt auf die gesamte
Innenstadt und auch auf die Stadtteile aus. Mit dem stationären Einzelhandel in der Innenstadt gibt
es keine Konkurrenz, sondern eine „fruchtbare Zusammenarbeit“. Auf dem Markt gibt es nur eine
Ein Beitrag für das Wissenschaftsjahr Zukunftsstadt
14
Geschichten über Gute Geschäfte
Gute Geschäfte machen
beschränkte Produktauswahl – ein ergänzendes Angebot zum stationären Handel. Es gibt in der
Innenstadt auch Lebensmittelgeschäfte und Bioläden, die zum Teil ebenfalls regionale Produkte
verkaufen und von den selben Produzenten beliefert werden wie der Markt.
Freiburg bietet für ein erfolgreiches Marktgeschehen sehr spezielle und günstige Voraussetzungen: Attraktivität der Stadt (Innenstadt/Münsterplatz), wohlhabende und wachsende Stadt, landwirtschaftlich aktive Region, „grüne“ Stadtpolitik sowie wenige Konkurrenzstandorte im Umland für
das Oberzentrum. Aufgrund seiner Tradition und seiner überregionalen Bedeutung hat der Münstermarkt große Bedeutung und unterliegt weniger politischen oder kurzfristigen tagesaktuellen
Erwägungen. „Freiburg ist wirklich eine Stadt der kurzen Wege“, so Franziska Barth. „Wir kommunizieren in der Stadt miteinander, das macht es so besonders. Viele Entscheider sind seit langer
Zeit in ihren Funktionen/Ämtern am Ort (Beständigkeit) – das hat Vor- und Nachteile. Der britische
Städteforscher Charles Landry hat bei einem Besuch über Freiburg gesagt: „Small enough to
make it happen!“ Ein weiteres besonderes lokales Kennzeichen ist die enge Verbindung zwischen
Stadt und Region. Regionale Produkte finden sich nicht nur auf dem Markt, sondern auch im Einzelhandel, im Supermarkt und in der Gastronomie.
Der Münstermarkt übernimmt ganz unterschiedliche Funktionen, die über die reine Versorgung
hinausgehen. Er ist auch ein Kommunikationsort und sozialer Treffpunkt, er ist ein Kulturträger und
prägt das Stadtbild, er ist Standort- und Tourismusfaktor. Und durch die engen Bezüge zur regionalen Landwirtschaft übernimmt er auch eine kulinarische und gesundheitliche Bildungsfunktion.
Gute Geschäfte Veranstaltung: Jeder Apfel, eine Geschichte – Der Münstermarkt Freiburg
am 25.1.2016 um 17.30 Uhr
mit Dr. Franziska Pankow (Abteilungsleiterin Tourismus, Kongresse & Events) und Thomas Barth
(Projektleiter Märkte), Freiburg Wirtschaft, Tourismus und Messe GmbH FWTM
Stefan Kreutz (Foto: Carsten Sommerfeldt)
Ein Beitrag für das Wissenschaftsjahr Zukunftsstadt
15
Geschichten über Gute Geschäfte
Gute Geschäfte machen
Gemeinsam 1a: Die Lübecker Hüxstraße
Die Hüxstraße in der historischen Lübecker Altstadt ist ein besonderes Pflaster. Direkt um die Ecke
von den zentralen Geschäftsstraßen, sind die Gewerbeflächen hier eher klein, die Immobilien
befinden sich im privaten Einzeleigentum und die Geschäfte sind größtenteils inhabergeführt.
Außerdem wir in dieser Straße nicht nur gehandelt, sondern auch gewohnt. Und die Geschäfte
bieten besondere Produkte, die sonst nirgendwo in der Stadt zu finden sind.
Die Initiative zur Gründung der Interessensgemeinschaft Hüxstraße ging von einigen Händlern
aus. Sie hatten schon damals erkannt, dass sie gemeinsam etwas für ihre Straße machen müssen. Heute liegt der Organisationsgrad bei ca. 80 Prozent der Betriebe. Aktiv waren in der IG aber
immer schon nur Wenige. Viele Mitglieder zahlen ihren monatlichen Beitrag, engagieren sich aber
kaum für die aktive Zusammenarbeit. Das liegt auch an dem besonderen Charakter der Straße,
wie Andreas Pahlke von der Interessengemeinschaft weiß: „Die Hüxstraße ist eine Straße von
Individualisten! Das bedeutet eben auch, dass einheitliche Öffnungszeiten nicht durchsetzbar sind
und die gemeinsame Abstimmung schwierig ist.“
Trotz sehr positiver Entwicklung und großer Nachfrage nach den Ladenlokalen, bleibt für die Aktiven in der Interessengemeinschaft immer viel zu tun. „Das Image der Hüxstraße ist extrem gut.
Das bedeutet aber nicht, dass die Straße jeden Tag voller Kunden ist!“ In Zukunft soll daher auch
die Zusammenarbeit mit benachbarten Straßen in der Altstadt verbessert werden. Eine Schwierigkeit für die IG ist, auf die Ansiedlung von Geschäften Einfluss zu nehmen. Denn die Vermietung
läuft nicht koordiniert und gesteuert. Jeder Eigentümer macht das selbst und ohne Rücksprache
mit der IG. „Oft sind die Läden schon neu vermietet, wenn der Altmieter noch drin ist. Wir bekommen das erst mit, wenn der neue Laden einzieht“, so Pahlke.
Die Rahmenbedingungen für den Einzelhandel in der Lübecker Innenstadt sind nicht einfach. Die
Altstadt lebt heute mehr vom Tourismus als von ihrer Versorgungsfunktion für die Lübecker Bevölkerung. Gab es hier früher noch viele große Arbeitgeber / Dienstleister, hat deren Fortzug zur
Verlagerung von Kaufkraft geführt. Ein kontroverses Thema ist auch der Verkehr in der Altstadt,
also Verkehrsführung, Parkplätze und Geschwindigkeitsbegrenzungen. Teilweise langjährige
Leerstände von Passagen und Kaufhäusern wirken negativ auf das Umfeld. Problematisch für den
Handel in der Innenstadt sind zudem großflächige Einzelhandelsansiedlungen an der Peripherie
mit einem breiten Warenangebot, kostenfreien Stellplätzen und einheitlichem Management. „Viele
große Handelsunternehmen siedeln sich (zunächst) nicht in der Altstadt an, weil sie erstmal
beobachten, wie sich die unterschiedlichen Standorte in der Stadt entwickeln“, weiß Olivia Kempke
von Lübeck Management e.V. Mit großem Engagement setzt sich dieser Zusammenschluss für die
Förderung der Stadtentwicklung in der Hansestadt Lübeck ein. So wurde in 2015 ein Prozess
gestartet, um auf lokalen Veranstaltungen im gemeinsamen Dialog mit den verschiedenen Akteuren eine Vision für die Stadtentwicklung zu erarbeiten.
Angesichts der großen Herausforderungen für den stationären Einzelhandel, auch durch den
Online-Handel, rät Andreas Pahlke den Händlern: „Wichtig ist vor allem, Kommunikation zu betreiben. Das unterscheidet den stationären Handel vom Online-Handel! Der Handel darf sich nicht
mehr auf die reine Warenverteilung reduzieren – das funktioniert nicht mehr so wie früher. Kommunikation und sinnliche Erfahrungen sind von Bedeutung – das wollen die Kunden.“
Ein Beitrag für das Wissenschaftsjahr Zukunftsstadt
16
Geschichten über Gute Geschäfte
Gute Geschäfte machen
Gute Geschäfte Veranstaltung: Gemeinsam 1a – Die Lübecker Hüxstraße
am 27.1.2016 um 20 Uhr
mit Andreas Pahlke (IG Hüxstraße) und Olivia Kempke (Lübeck Management)
Andreas Pahlke (Foto: Carsten Sommerfeldt)
Ein Beitrag für das Wissenschaftsjahr Zukunftsstadt
17
Geschichten über Gute Geschäfte
Gute Geschäfte machen
Mercado und IKEA: Win-Win in Altona?
Als das Mercado 1995 in Ottensen eröffnete gab es viel Protest gegen das Shoppingcenter, das
am Standort eines Hertie-Kaufhauses neu gebaut wurde. Als IKEA fast 20 Jahre später auf der
anderen Seite des Altonaer Bahnhofs ebenfalls am Standort einer ehemaligen Kaufhaus-Immobilie
sein erstes innerstädtisches Möbelhaus realisiert hat, gab es wieder starken Protest. Heute sind
die beiden bemerkenswerten Projekte akzeptiert und gut mit dem Stadtteil vernetzt.
Das Mercado ist weit mehr als ein rein funktionales Shoppingcenter. Neben 23.000 Quadratmeter
Verkaufsfläche bietet es auch 75 Wohnungen, einen Kindergarten, Arztpraxen und die am stärksten frequentierte Stadtteil-Bücherhalle Hamburgs. „Herzstück“ ist der Marktplatz mit seinen 30
Ständen und gastronomischen Betrieben. Besonderes Kennzeichen des Marktes ist die Individualität, die sich von den sonst ansässigen Filialisten abhebt. Zwei Markthändler sind Mieter der ersten Stunde, die vorher auf dem Ottenser Wochenmarkt ihre Stände hatten. Einer von ihnen ist der
Biohändler Reinke – ein leidenschaftlicher Jäger, der im Mercado auch schon mal ins Jagdhorn
bläst. Er engagiert sich gemeinsam mit anderen Händlern auch in der Geschäftsführung der Werbegemeinschaft. Jüngste Idee der Händler und des Centermanagement ist ein zentraler Lieferservice, der im Sommer starten soll.
„Ziel war es von Anfang an, ein lebendiges Haus zu schaffen“, sagt Mercado-Centermanager Sven
Ebert. „Wir sind der überdachte Marktplatz des Stadtteils. 93 % unserer Kunden kommen mit
ÖPNV oder Rad. Die Hälfte kauft auch im Stadtteil.“ Beim jährlichen Stadtteilfest ALTONALE ist
das Mercado seit vielen Jahren ein wichtiger Partner, weil die Vernetzung mit Kulturschaffenden
und sozialen Einrichtungen ein wichtiges Anliegen ist. Aber es gibt auch wirtschaftliche Motive für
die Beteiligung: „An den Veranstaltungswochenenden der ALTONALE haben wir Weihnachtsfrequenzen im Mercado“, so Ebert.
Großes Kundeninteresse verzeichnet auch IKEA in der Großen Bergstraße, fünf Minuten entfernt
vom Altonaer Bahnhof. Ein Möbelhaus mitten in der Stadt und nicht wie üblich am Stadtrand neben
der Autobahn? „Wir wissen, wir bauen große hässliche Kisten, die nicht innenstadtkompatibel
sind!“ Einrichtungshauschef Christian Mollerus weiß von vielen Herausforderungen bei der Realisierung zu berichten. „Das Altonaer Haus musste anders konzipiert werden als üblicherweise. Es
gab intensive Anforderungen aus dem Stadtteil. Und auch unternehmensintern musst er viel Überzeugungsarbeiten leisten, um die Freiräume zu bekommen, die er für diese Filiale braucht.“
Viele Erfahrungen hat er seit der Eröffnung im Sommer 2014 gesammelt: „80 % unserer Kunden
kommen mit ÖPNV oder mit dem Rad. Einen Großteil der Parkplätze auf den Parkdecks werden
nicht gebraucht. Viele Kunden kommen einmal im Monat. Das Restaurant hat sich längst zum
Treffpunkt und Mittagstisch für den Stadtteil entwickelt.“
Wenn Mollerus über die Nachbarschaft mit den Einzelhändlern in der Großen Bergstraße spricht,
wird er ganz bescheiden: „Wir sind einer von den vielen Händlern im Stadtteil.“ Und ihm ist wichtig,
im guten Kontakt mit den anderen Händlern zu sein – viele von ihnen sind inhabergeführte
Geschäfte. In der Interessengemeinschaft Große Bergstraße sitzt er im Vorstand, um den Prozess
der Veränderung mitzugestalten. „Es geht darum, Verbindungen mit und zu den anderen Händlern
herzustellen. Und die Veränderungen langsam und geduldig zu befördern.“ Und auch hierfür muss
er in seiner Unternehmenszentrale immer wieder um Verständnis werben und die eigentlich klaren
Ein Beitrag für das Wissenschaftsjahr Zukunftsstadt
18
Geschichten über Gute Geschäfte
Gute Geschäfte machen
Regeln und Vorgaben aufweichen. So sponsert IKEA eigentlich keine Kulturveranstaltungen und
auch keine Weihnachtsbeleuchtungen – IKEA Altona macht das aber.
Das gemeinsame Ziel von beiden großen Geschäften ist, dass Zentrum von Altona rund um den
Bahnhof zu stärken. Mercado und IKEA sind auch Grundeigentümer der Immobilien – das vergrößert im Vergleich zu anderen Geschäften natürlich auch ihre Handlungsmöglichkeiten.
Gute Geschäfte Veranstaltung: Mal was anderes: Mercado und IKEA – Win–Win in Altona?
am 28.1.2016 um 18 Uhr
mit Sven Ebert (Centermanager Mercado) und Christian Mollerus (Einrichtungshauschef IKEA
Altona)
Sven Ebert, Christian Mollerus (Foto: Carsten Sommerfeldt)
Ein Beitrag für das Wissenschaftsjahr Zukunftsstadt
19
Geschichten über Gute Geschäfte
Gute Geschäfte machen
© Géna David Junghans Ein Beitrag für das Wissenschaftsjahr Zukunftsstadt