Seminarkurs 2002/03 der perfekte Mensch 3. Erziehung Mit Beispiel und Liebe zur Perfektion? Seite 5 3. Erziehung: Mit Beispiel und Liebe zur Perfektion? 3.1 Erziehung: Alltäglicher und wissenschaftlicher Begriff Zu Beginn des dritten Kapitels, welches sich ausschließlich mit der Erziehung befassen wird, soll der Begriff „Erziehung“ erläutert und definiert werden. 3.1.1 Alltäglicher Erziehungsbegriff – ein Umfrageergebnis Um uns ein Bild darüber zu verschaffen von welchem alltäglichen Erziehungsbegriff Menschen ausgehen haben wir in unserer Umfrage Eltern folgende Frage gestellt: „Wodurch denken Sie wird die größte Wirkung ihrer Erziehung erzielt?“ Unsere Umfrage wurde im Kreis Schwäbisch Hall durchgeführt; wir haben 15 Eltern befragt; ein Großteil der Befragten sind Eltern unserer Mitschüler gewesen. Die anderen Eltern haben wir in Schwäbisch Hall in der Stadt angetroffen. Abb.1: Die wirksamsten Erziehungsmittel (Mehrfachantworten: vorgegebene Möglichkeiten: blau, eigene Antworten: rot) Die Umfrage ergibt, dass 13 von 15 der Befragten die „Vorbildfunktion“ als eines der drei wichtigsten Erziehungsmittel sehen . Sie betrachten Erziehung als eine Art und Weise des „Vorlebens“. Für über die Hälfte der Befragten ist produktive Erziehung nur mit körperlicher Zuneigung möglich, was dazu passt, dass etwa jede vierte Person Autorität als wichtiges Erziehungsmittel empfindet. © Peter Leipold & Jonathan Denner Seminarkurs 2002/03 der perfekte Mensch 3.1.2 3. Erziehung Mit Beispiel und Liebe zur Perfektion? Seite 6 Wissenschaftliche Definition, Begriffseingrenzung Herkunft (Etymologie) des Begriffs Erziehung Erziehen setzt sich aus dem Wort „ziehen“ und der Vorsilbe „er“ zusammen. Ursprünglich war das Ziehen auf alle möglichen Alltagshandlungen bezogen und meinte so Unterschiedliches wie, Herausziehen eines Schwertes oder Beils, das Abziehen der Haut, das Ziehen von Lasten oder das Aufziehen von Tieren, Pflanzen oder Menschen in zunächst leiblicher, dann auch geistig-seelischer Absicht. 1 Von der einfachen Bedeutung des Auf- oder Heraufziehens löste sich der Begriff erst im 16. Jahrhundert, wie Otto Willmann in der „Didaktik als Bildungslehre“ (1923)2 ausführt: „Vom Aufziehen löst sich das Erziehen erst ab, sobald die Strebungen des Kindes als solche Gegenstand der Obsorge werden; sie zu regeln, die abträglichen zurückzudrängen, die förderlichen unterstützen, die schwankenden zu halten und derart zu befestigen, dass Gewohnheiten daraus erwachsen, ist die nächste und verständlichste Aufgabe der Erziehung“ Bei dem Begriff Erziehung muss immer unterschieden werden zwischen der Beschreibung dessen, was faktisch im erzieherischen Handeln geschieht (Deskription) und dem, was damit bewirkt oder bezweckt werden soll. So gibt es oft eine Differenz zwischen den normativen Vorstellungen von Erziehung und dem tatsächlichen erzieherischen Handeln und seiner Effekte. Die Vorstellung den Menschen zur Mündigkeit, Unabhängigkeit und Selbstständigkeit hin zu erziehen realisiert sich demnach nicht immer in der Praxis. In der erzieherischen Praxis kann Erziehung auch als Unterwerfung oder Repression bzw. überflüssige Herrschaft erscheinen3. Inkonsistenz und Dehnbarkeit des gegenwärtigen Begriffsgebrauchs führen zu einer kaum noch zu überblickenden Vielzahl und Vielfalt von Versuchen, Erziehung zu definieren. Einen kleinen Einblick geben wir im Folgenden. 1 2 3 Grimm/Grimm: „Deutsches Wörterbuch“ 1854 Willmann Otto, Didaktik als Bildungslehre, Freiburg, Basel, Wien, 1957 vgl. Michel Foucault „Überwachen und Strafen“ 1977; vgl Katharina Rutschky: „Schwarze Pädagogik“ 1977 © Peter Leipold & Jonathan Denner 3. Erziehung Seminarkurs 2002/03 der perfekte Mensch Mit Beispiel und Liebe zur Perfektion? Seite 7 Allgemeine Definition In Meyers großes Handlexikon4 findet man folgende Definition: „Erziehung, Bezeichnung für alle pädagogischen Maßnahmen durch die ein Mensch an die Normen und Wertvorstellung seiner gesamten Umwelt angepasst wird, wobei eine richtig verstandene Erziehung zu einer kritischen Haltung gegenüber der Gesellschaft und ihren Normen ermutigt. Ziel ist also die Fähigkeit, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden und sich in ihr zu behaupten.“ Im Brockhaus5 wird Erziehung folgendermaßen beschrieben: „Erziehung ist im weiteren Sinne der Inbegriff für alle pädagogischen Maßnahmen und Prozesse, durch die das Kind zur Erwachsenheit (Mündigkeit) gelangt. Das Wort bezeichnet den doppelseitigen Vorgang der Einwirkung des Erziehers und die Formung des Zöglings wie auch das Ergebnis der Erziehung“. Dolchs6 Definition geht weiter als die der Lexika Meyer und Brockhaus. Hier wird Erziehung nicht nur auf den zu Erziehenden beschränkt, sondern auch auf den Erzieher ausgedehnt. Nach Dolch nehmen beide eine Verbesserung wahr. „Erziehung heißen wir zwischenmenschliche Einwirkungen dann und insoweit, als durch sie eine mehr oder minder dauernde Verbesserung fremden oder eigenen Verhaltens und Handelns beabsichtigt oder erreicht wird.“ Der Erziehungswissenschaftler Brezinka7, hat eine sehr pragmatische und zugleich allgemein gehaltene Definition gegeben: „Als Erziehung werden Handlungen bezeichnet, durch die Menschen versuchen, die Persönlichkeit anderer Menschen in irgendeiner Form zu fördern.“ 4 5 6 7 Meyers großes Handlexikon, S. 158 Brockhaus, S. 95 Dolch, Josef, lebte 1959 als Erziehungshistoriker unter dem Titel "Lehrplan des Abendlandes: zweieinhalb Jahrtausende seiner Geschichte" nach jahrzehntelanger Forschung ein Werk vor, das bis heute ein Grundlagenwerk der Bildungsgeschichte geblieben ist. Brezinka, Wolfgang, Erziehungswissenschaftler und Erziehungsphilosoph; Brezinka, Wolfgang: Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft. München u.a. 1990 © Peter Leipold & Jonathan Denner Seminarkurs 2002/03 der perfekte Mensch 3. Erziehung Seite 8 Mit Beispiel und Liebe zur Perfektion? 3.2 Erziehungstheorie 3.2.1 Einführung in die Theorie der Erziehung8 Keine Gesellschaft, die weiterhin bestehen und sich weiterentwickeln will, kann darauf verzichten die „kleinen Barbaren“ in die Normen, Handlungsmuster, Wissensbestände und Praktiken einzuführen. Erziehung ist also abhängig von historisch geformten gesellschaftlichen Normen und Werten. Zudem hängt die Erziehung von unterschiedlichen pädagogischen Zielvorstellungen und Bildungsinhalten ab. Erziehung und Gesellschaft stehen in enger Wechselwirkung. So soll die Erziehung den Zögling in Gesellschaft einführen und zugleich soll die Erziehung die Gesellschaft erhalten und positiv weiterentwickeln. Das Ende der Erziehung wäre gleichbedeutend mit dem Untergang der jeweiligen Gesellschaft und Kultur. Erziehung ist jedoch nicht eine Prozedur, bei welcher ein Produkt nach einem Bauplan bzw. einer Theorie entstehen kann. Erziehung ist vielmehr eine lebenslange Tätigkeit. Wozu benötigt man eine Theorie der Erziehung, wenn diese nur praktisch stattfindet? Die Theorie der Erziehung soll zur Generalisierung einer letzten Endes praktischen Tätigkeit dienen. Sie soll auch die Anforderungen, welche sehr hoch sind, und Möglichkeiten, welche Erziehung hat, darstellen und zusammenfassen, so dass die Erziehenden eine Vorlage haben, woran sie sich orientieren können. Jedoch bietet die Theorie keine allein richtige Lösung, sondern jede Erziehungstheorie zeigt ihren eigenen Weg auf. Jede Erziehungstheorie baut auf drei historischen Säulen auf:9 Erziehung kann nie früh genug beginnen Der Erziehungsprozess verläuft nicht linear, sondern baut auf Vorerfahrungen auf Erziehung kennt keine Grenzen, das heißt, es gibt nicht zu viel Erziehung 7 6 5 5 4 4 3 3 2 2 1 1 0 bis 5 5 bis 10 10 bis 15 15 bis 20 20 und älter Abb. 2: Bis zu welchem Alter lässt sich ein Kind erziehen? 8 9 vgl. Microsoft® Encarta®: Online-Enzyklopädie 2002 vgl. Oelkers, Jürgen: Theorie der Erziehung, Weinheim und Basel 2001; Seite 25 © Peter Leipold & Jonathan Denner Seminarkurs 2002/03 der perfekte Mensch 3. Erziehung Mit Beispiel und Liebe zur Perfektion? Seite 9 Für die Eltern unserer Umfrage ist es nicht selbstverständlich, das es für Erziehung keine Grenze gibt, zumindest was das die Dauer von Erziehung betrifft. So sind ein Drittel der Meinung, dass zwischen 15 und 20 Jahren der Elterliche Einfluss vorbei ist und so die Erziehung endet. Lediglich einer von 15 gab als Antwort, dass Erziehung auch nach dem 20. Lebensjahr noch Einfluss hat. Übereinstimmung herrschte jedoch dabei, dass sie früh, also mit dem ersten Lebensjahr beginnen sollte. Abb. 3: Wie war Ihre Erziehung früher? (mehrfach Wahl möglich) Der Erziehungsprozess baut nicht nur auf den Vorerfahrungen des zu Erziehenden auf, sondern auch auf denen des Erziehers. Hier zeichnet sich ein klares Bild unter den Befragten ab: Die meisten fühlten sich strenger, autoritärer und ein Teil auch schlechter erzogen. So hat nur eine Person ihre Erziehung als freier empfunden, eine nur als intensiver und eine nur als religiöser. So sind die Eltern, die hier die Aufgaben des Erziehers übernehmen alle ähnlich „vorbelastet“ und so wirkt sich das auch auf ihre Erziehung aus. So hat die strengere und autoritärere Erziehung der Eltern meist Einfluss auf die Erziehung der eigenen Kinder (vgl. 3.3.1 Autoritäre Erziehung). 3.2.2 Geschichte der Erziehungstheorie – von der Antike bis zum 19. Jahrhundert Erziehung als ein Heranführen der Kinder an Werte und Kultur der jeweiligen Gesellschaft gibt es schon seit der Frühgeschichte der Menschheit. Erziehung geschieht beispielsweise durch religiöse Initiationsriten. Erziehung als organisierte Vermittlung von Bildungsinhalten gibt es seit der Antike, in der durch mündliche Überlieferung und Privatunterricht Kinder, meist reicher Familien, unter anderem in Philosophie, Wissenschaft und Staatslehre unterrichtet wurden. Bekannt wurden die als Erziehungsmethode durch Platon vermittelten ,,Dialoge“ des griechischen Philosophen Sokrates (470/469-399 v. Chr.), der durch gezielte Fragen seine Schüler zu neuen Erkenntnissen führen wollte. Im Mittelalter war in Europa die Erziehung eine Frage des Standes. So konnte sich nur der Adel eine ausgiebige bzw. ausreichende Erziehung leisten. Die Erstgeborenen der Adelsfamilien wurden am Hof erzogen und gelehrt. Die jüngeren Geschwister gingen meistens in ein Kloster, um dort zu © Peter Leipold & Jonathan Denner 3. Erziehung Seminarkurs 2002/03 der perfekte Mensch Seite 10 Mit Beispiel und Liebe zur Perfektion? lernen. Beim Bauernstand und dem gemeinen Volk spielte die Erziehung keine bedeutende Rolle. Die Kinder lebten und arbeiteten mit ihren Familien von Anfang an auf dem Hof mit. Es wurde auf die Erziehung kein besonderer Wert gelegt, da die Werte im gemeinsamen Leben vermittelt wurden. In der Renaissance und der Aufklärung, verstärkt auch im Biedermeier des 19. Jahrhunderts, erlangten Kindheit und Erziehung wieder einen höheren Stellenwert, der zur Folge hatte, dass der Anspruch auf Allgemeinbildung10 erhoben wurde. Diese Ansätze des frühen 19. Jahrhunderts stellen - neben Arbeiten einiger weniger Vordenker, wie Johan Amos Comenius 11 (1592-1670) - die Grundlagen zur Formulierung von gesellschaftlich bedeutsamen Erziehungszielen dar. Seit dieser Zeit spielen auch Abb. 4: Comenius Schulen als verfügbare und unter staatlicher Aufsicht stehende Bildungsinstitutionen die wichtigste Rolle. Im Erziehungs- bzw. Bildungsroman des 19. Jahrhunderts stellten verschiedene Autoren mit literarischen Mitteln ihre Erziehungsmodelle oder -programme exemplarisch dar (z.B. der Erziehungsroman Émile von Rousseau). Die Erziehungswissenschaft untersucht empirisch die Erziehungsprozesse. Erziehungstheoretiker wie Fröbel oder Pestalozzi setzten auf die (durch geeignete pädagogische Maßnahmen zu fördernde) kindliche Einsicht in das sittlich Gute. Daran anknüpfend entwickelten sich die außerdem stark musisch orientierte Waldorf-Pädagogik und die Theorien der italienischen Ärztin Maria Montessori. Um die Theorie von Maria Montessori und Pestalozzi wurde eine Art Kult geschaffen. Dabei übersah man jedoch auch Fehler und Schwächen dieser Theorien. So ist beispielsweise die Umwelt, in der erzogen werden sollte, nicht die gleiche wie man sie im realen Leben vorfindet. Die Wohnstube oder Kinderstube sind pädagogisch attraktive Milieus, weil sie die restliche Umwelt ausschalten, somit aber auch das Ergebnis verfälschen. Gerade die beiden zuletzt genannten Pädagogen Montessori und Pestalozzi wurden mit ihren Erziehungstheorien der Realität nicht gerecht. Beide schafften es nicht ihre eigenen Kinder so zu erziehen wie sie es theoretisch gefordert hatten. Das Dilemma ist, das die Theorie noch so perfekt sein kann, Erziehung war und bleibt eine praktische Tätigkeit, welche keine Patente kennt, so dass sogar Erziehungswissenschaftler an der Erziehung der eigenen Kinder scheitern können. Willst du für ein Jahr planen, säe Reis. Planst du für ein Jahrzehnt, pflanze Bäume. Planst du für ein Leben, erziehe einen Menschen. Chinesisches Sprichwort 10 11 Def.: Bildung, die bewusste Entwicklung der natürlichen Anlagen des Menschen durch Erziehung und eigenes Streben sowie deren Ziel, die sittliche Reife und geistige Fähigkeiten, Wissengehalte und ethische Werte zu integrieren. (Meyers Großes Handlexikon) Jan Amos Komensky (Johan Amos Comenius) wird am 28. März 1592 in geboren. Mehr zu seinem Leben und Werken: http://www.member.uni-oldenburg.de/wilhelm.topsch/comenius/1haupt.htm © Peter Leipold & Jonathan Denner 3. Erziehung Seminarkurs 2002/03 der perfekte Mensch Seite 11 Mit Beispiel und Liebe zur Perfektion? 3.2.3 Beispiel einer Erziehungstheorie: Émile oder über die Erziehung – Erziehungsroman und Theorie nach Rousseau In diesem Teil des Kapitels möchten wir einen Exkurs machen. Rousseaus Theorie und sein dadurch entstandener Erziehungsroman, der heute noch Thema vieler Vorlesungen ist, bietet genug Stoff um eine ganze Arbeit zu füllen. Hier werden wir versuchen, einen Einblick zu gewähren. Rousseau hat in seinem Roman versucht einen nach seinen Maßstäben perfekten Menschen zu erziehen. Jean-Jacques Rousseau12 Jean-Jacques ROUSSEAU lebte von 1712 bis 1778, war schweizerischer und französischer Philosoph, Schriftsteller und Musiker. Er gilt als einer der ideellen Wegbereiter der Französischen Revolution. In Genf geboren und als Halbwaise dort aufgewachsen machte Rousseau sich nicht nur in der Pädagogik einen Namen, sondern mit seinem Werk „Discours sur les sciences et les arts“ bezog er eine Art Contra-Stellung zum allgemein herrschenden Abb. 5: Rousseau Wirtschafts- und Fortschrittsoptimismus. Großen Einfluss hatte Rousseau jedoch mit seinem Werk Émile ou de l'éducation (1762, Émile oder über die Erziehung) in der Erziehungswissenschaft. Émile ou de l’éducation Rousseau beschreibt in seinem Werk die Erziehung eines fiktiven Jungen namens Émile. Er begleitet das Kind durch sein gesamtes Leben und verlässt es erst am Tag seiner Heirat. Der Roman ist in fünf Bücher unterteilt. Jedes stellt einen einzelnen Lebensabschnitt dar. Rousseau will seinen Émile fernab von schädlichen Einflüssen der Gesellschaft auf dem Land erziehen. Abb. 6: Émile Erstes Buch (die ersten Lebensjahren) Bereits in den ersten Lebensjahren, welche im ersten Buch beschrieben werden, soll das Kind Freiheit kennen lernen. Er wird nicht mumienhaft (wie es damals üblich war) gewickelt. Ein Problem ist, dass Rousseau ein Mann ist und so muss er sich eine Amme suchen, welche das Kind stillt. Hierbei achtet er darauf, dass die Frau sich selber gut ernährt und ausgeglichen ist und so auch gute Milch hat. Rousseau achtet sehr darauf, dass Émile von Anfang an sich frei bewegen kann und nicht zu verhätschelt wird, das heißt, dass er nicht zu warm angezogen wird. Er wird in jungen Jahren schon stark gemacht und abgehärtet. 12 vgl. http://www-user.tu-chemnitz.de/~koring/sem-bildungstheorie/rousseau.htm © Peter Leipold & Jonathan Denner Seminarkurs 2002/03 der perfekte Mensch 3. Erziehung Mit Beispiel und Liebe zur Perfektion? Seite 12 Denn es gilt der bekannte Grundsatz: „Nur in einem gesunden starken Körper, kann auch ein gesunder starker Geist sich entwickeln.“ So verpönt Rousseau auch das ständige Besuchen des Arztes und verlangt viel mehr der Natur freien Lauf zu lassen. Den starken und ausgeprägten Spiel- und Tätigkeitstrieb der Kinder in den ersten Lebensjahren darf der Erzieher nicht unterbinden, er soll das Kind nicht daran hindern Dinge selber zu erkunden und zu tun13. Für viele Eltern stellt sich die Frage, wie man mit einem schreienden Kleinkind umgehen soll: Auch hierzu nimmt Rousseau Stellung. Er findet es falsch, dem Kind, wenn es schreit, jeden Wunsch zu erfüllen und so dem Willen des Kindes immer gleich nachzugeben, sonst wird das Schreien zu einer Art Befehl. Rousseau meint stattdessen, dass der Erzieher nur die sinnvollen und vernünftigen Wünsche des Kindes erfüllen sollte und die willkürlichen nicht. So lernt das Kind nur dann zu rufen, wenn es wichtig ist. Aus dem ersten Buch kann man folgende Leitsätze14 bilden: 1. Man muss die Kinder ihre Kräfte ausüben lassen. Kinder sollen das tun können was sie können. Man könnte es auch Selbstständigkeit nennen. 2. Bei den Dingen, für die sie nicht genügend Kraft haben, muss man ihnen helfen. Man soll ihnen dort helfen wo sie auf Grund ihrer Abhängigkeit noch keine Selbstständigkeit erreicht haben: Hilfe zur Selbstständigkeit. 3. Die gebotene Hilfe muss sich auf das Nützliche beschränken und darf nicht die Begierden oder total konzeptlosen Phantasien des Kindes entsprechen sondern muss einen realen Nutzen für das Kind ergeben. 4. Der Erzieher muss die kindliche (Gesten- und Mimik-) Sprache verstehen, um zwischen willkürlichen und wirklichen Wünschen unterscheiden zu können. So kann man den Kindern mehr wirkliche Freiheit geben, indem man sie tun lässt was sie können (Selbstständigkeit) und nicht indem was sie wollen (Machteingrenzung). Auch zur sprachlichen Entwicklung in den ersten Jahren nimmt Rousseau Stellung im ersten Buch. Er ist der Meinung, dass Kinder zu Beginn nur das Reden sollten, was ihnen ein Begriff ist. Man sollte Kinder in keiner Weise drängen anzufangen zu reden, sondern auch hier der Natur Zeit und Raum lassen. 13 14 vgl. Émile, S. 160 vgl. Émile, S. 168 ff. © Peter Leipold & Jonathan Denner Seminarkurs 2002/03 der perfekte Mensch 3. Erziehung Mit Beispiel und Liebe zur Perfektion? Seite 13 Zweites Buch (ca. 10. bis 12. Lebensjahr) Das zweite Buch führt den Leser in die Phase, in der das Kind sich selber wahrnimmt. Émile lernt nun Begriffe einzuordnen, auch den Begriff „Leid“. Weiter lernt er das Laufen (Dauerlauf, Sprint). Er wird zu einer Art moralischem Wesen und beginnt individuell zu werden. Rousseau definiert in diesem Zusammenhang auch Glück und Unglück: „Glück bedeutet, wenig zu leiden. Unglück bedeutet, sich wenig zu freuen.“ Der Erzieher hat nun die Aufgabe dem Kind zu zeigen wie ein Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen und der Kraft, die es hat, zu schaffen ist, um die eigenen Vorstellungen zu befriedigen. Kind und Mensch sollen im Moment leben und nicht auf eine bessere Zukunft hoffen oder in der Vergangenheit schwelgen. Beide sollen ihre Fähigkeiten erkennen und so ihren Platz finden. Das Kind Émile ist noch im Naturzustand: es ist abhängig von den Menschen. Die Abhängigkeit beruht auf der Schwäche des Kindes. Deswegen sollte der Erzieher dem Kind die Wünsche erfüllen, wenn es um etwas bittet, denn so lernt es an Güte zu glauben. Jedoch darf nicht jeder Wunsch erfüllt werden, ansonsten wird das Kind maßlos. ,,Wir werden schwach geboren und bedürfen der Kräfte; wir werden hilflos geboren und bedürfen des Beistandes; wir werden dumm geboren und bedürfen des Verstandes.“15 Der Erzieher darf weder zu streng, noch zu nachsichtig sein. Ein Kind soll also weder Gehorsam noch Befehle kennenlernen. Rousseau spricht sich somit gegen den autoritären Erziehungsstiel aus. Weiter ist er dagegen, dass Kinder zu früh Leidenschaften wie Neid, Eifersucht, Habgier oder Feigheit kennenlernen. In diesem Lebensabschnitt wird Émile das Gefühl für Besitz und Eigentum vermittelt, z. B: durch Gärtner Robert. Diese Handlung ist die erste moralische Belehrung. Émile wird niemals von seinem Erzieher bestraft. Er erfährt jedes Mal am eigenen Leibe, wie es ist etwas falsch zu machen (z. B. beim Lügen: wer einmal lügt, dem glaubt man nicht... als Konsequenz). Rousseau vertritt die Maxime, dass man Kinder zur Wahrheit erziehen soll, indem man sie nicht zum Lügen zwingt, sondern ihnen zeigt, dass sie, wenn sie nichts Böses tun, automatisch Gutes tun. In diesem Kapitel führt Rousseau auch den Begriff der negativen Erziehung ein. Er fordert, dass dem Kind Zeit gelassen wird („Durch Nichtstun alles tun“). Für Rousseau ist negative Erziehung, wenn man einem Kind ohne eigenes Verlangen Vernunft, Begriffe, Gehen, Lesen oder ähnliche Dinge beibringen will. Wenn man dies zu früh beginnt, kann das Kind noch nicht begreifen, was das soll und würde so ein Leben lang mit falschen Vorstellungen leben müssen. Weiter empfindet Rousseau es als negativ, wenn Kinder aus Büchern oder Reden lernen bzw. erzogen werden. 15 Emile, S. 109 © Peter Leipold & Jonathan Denner Seminarkurs 2002/03 der perfekte Mensch 3. Erziehung Mit Beispiel und Liebe zur Perfektion? Seite 14 Sie müssen ihre eigenen natürlichen Erfahrungen machen, welche allerdings nicht ganz natürlich geschehen sondern im Hintergrund vom Erzieher geleitet werden sollen. Dieser bestimmt so, wann das Kind welche Erfahrung macht und dient darüber hinaus als Vorbild. In diesem zweiten Stadium der Entwicklung vertritt Rousseau die Meinung, dass Kinder zu diesem Zeitpunkt noch kein Gedächtnis haben. Sie nehmen viel mehr nur die Sinneseindrücke wahr. Bis zu diesem Zeitpunkt hat Émile noch keine Bücher kennen gelernt, geschweige denn Unterrichtsfächer. Das geschieht deshalb noch nicht, da Rousseau erst Begriffe und Erfahrungen einführt, wenn das Kind davon eine Vorstellung hat oder danach verlangt. Als Beispiel: Die Fähigkeit des Lesens kommt im Zusammenhang mit dem Verlangen Briefe lesen zu wollen. Im weiteren Verlauf des zweiten Buches zeigt Rousseau, weswegen Kinder eigensinnig werden. Ihm zufolge kommt dies daher wenn Kinder Befehlen gehorchen müssen. Für dieses Problem hat er auch eine Lösung bzw. eine Handlungsweise parat. Der Erzieher soll immer den Schein der Freiheit waren. Émile darf tun was er will, denkt er zumindest. In Wahrheit weiß er gar nicht, dass er sowieso nur das tun kann, was sein Erzieher will. 16 Er lernt deshalb so gut, weil er abgehärtet und körperlich trainiert ist. Dadurch ist er der Natur gewachsen. Er erträgt Schmerz im Spiel, welchen er sonst nicht ertragen würde (Kälte oder Schläge). Die Sinne sind vor allem deshalb so wichtig, da man mit ihnen die Dinge abzuschätzen lernt (Entfernungen oder Temperatur). Daher will Rousseau durch Ausschalten eines Sinnes die anderen schulen, z.B. so ist in der Nacht das Sehen ausgeschaltet wodurch die anderen Sinne stärker beansprucht werden. Emile soll ein gutes Augenmaß entwickeln, zeichnen können (Ausdehnung, Größe, Schatten) und die Geometrie (Linie; Fläche) in der Natur erfahren, um eine bessere Vorstellung von den Dingen zu entwickeln. Rousseau bezeichnet den Gemeinsinn als sechsten Sinn und meint damit den gesunden Menschenverstand. Dieser Sinn ist (ohne Organ) in den inneren Wahrnehmungen vorhanden. Je mehr Ideen (Wahrnehmungen) man besitzt, desto schärfer ist der Verstand. Kindliche Vernunft ist daher die Fähigkeit, Wahrnehmungen zu sammeln und mit ihrer Hilfe Begriffe zu bilden. Emile ist im Alter zwischen 10 und 12 Jahren nun mit den Sinneswahrnehmungen vertraut gemacht worden. 16 Hier treten sehr starke Parallelen auf zu einem Film aus der jüngsten Hollywoodgeschichte, die Trumanshow, auf. Dort wird ein Waisenkind auf einer realen Insel in einer künstlichen Welt großgezogen. Alle Mitmenschen, von den Eltern bis zum Briefträger, sind Schauspieler. Jede seiner Erfahrung wird vom Regisseur geplant und von einem Millionenpublikum an den heimischen Fernsehschirmen verfolgt. Heiseartikel zur Truman Show: http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/kino/3294/1.html Ausführliche Beschreibung des Filmes: http://www.cyberkino.de/entertainment/kino/110/110261.html © Peter Leipold & Jonathan Denner Seminarkurs 2002/03 der perfekte Mensch 3. Erziehung Mit Beispiel und Liebe zur Perfektion? Seite 15 Drittes Buch (ca. 12 bis 15 Jahre) Im dritten Buch wird Émile das erste Mal mit „Schulfächern“ konfrontiert. Dies sind zu Beginn Geografie und Physik. Doch auch hier werden keine Schulbücher in Anspruch genommen. Rousseau lässt Émile durch das Erleben, Beobachten und Erfahren in der Natur sich den Lerninhalt erschließen. So lernt und entwickelt er eine Vorstellung von den Himmelsrichtungen anhand dem Lauf der Sonne und kann durch die Beobachtungen aus der Natur in der er lebt, eine Karte lesen bevor er lesen und schreiben kann. So bekommt er auch Physik nicht trocken vorgetragen sondern beobachtet sie durch einen Kompass, die Luft oder die Flüssigkeiten und entwickelt auch hier seine eigenen Vorstellungen. Des Weiteren bekommt Émile ein Gefühl für Arbeit und Erholung vermittelt. Er lernt das zu tun, was ihm nicht gefällt, was er aber tut, weil er den Nutzen erkennt. Rousseau fragt seinen Zögling immer und immer wieder, wofür Dinge nützlich sind, die er tut. „Wichtig ist nicht, was er lernt, sondern, dass er den Nutzen erkennt.“ Nachdem Émile die Arbeit kennen gelernt hat, wird ihm durch Beobachten von arbeitenden Menschen ein neuer Begriff gelehrt – Arbeitsteilung. Er soll nun begreifen, welchen Nutzen das Handwerk hat. Rousseau lässt ihn auch hier wieder Dinge von Grund auf begreifen, wie und aus was z.B. eine simple Kiste hergestellt wird. Émile beginnt nun Begriffe, die er schon kennt, zu verallgemeinern (Handel, Tauschen, Eigentum). Weiter lässt Rousseau ihn anhand der Tatsache, dass einfaches Essen auch satt macht erkennen, dass Luxus keinen Nutzen hat.. Rousseau hält Émile immer noch von Büchern fern. Nur Robinson Crusoe darf er lesen, da es sich hierbei auch einen Naturmenschen handelt. Nach den ersten zwei „Erziehungsperioden“ (Erste: Sich selbst erkennen, eine Vorstellung entwickeln von Schwäche, Abhängigkeit und Freiheit; Zweite: Geometrie, Geographie und Physik) beginnt nun eine neue Periode: die der Menschen. Hierbei lernt Émile, wie er sein bisher erlangtes Wissen in der Gesellschaft mit Menschen einbringen kann. In der Gesellschaft ist der Mensch kein autarkes (autonomes) Wesen. So muss er lernen mit den Menschen zu leben, zu tauschen oder sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Émile lernt bei einem Tischlermeister die Fertigkeiten, die für diesen Beruf wichtig sind, ohne dabei die anderen Dinge zu vernachlässigen, welche er noch lernen muss. Für Rousseau ist Handwerk eine nützliche Beschäftigung, da sie im Gegensatz zum Landwirt unabhängiger ist. Rousseau ist der Meinung, dass der Bauer vom Ertrag abhinge und prägt in diesem Zusammenhang zwei Gedanken: „Arbeit ist eine unerlässliche Pflicht.“ „Man muss arbeiten um Ehre zu besitzen.“ Émile hat bisher vieles gelernt und ist daher nun fähig, seine Sinne und seinen Körper zu gebrauchen. Er hat Begriffe gebildet und gelernt zu urteilen. Für Rousseau ist er nun ein denkendes © Peter Leipold & Jonathan Denner Seminarkurs 2002/03 der perfekte Mensch 3. Erziehung Mit Beispiel und Liebe zur Perfektion? Seite 16 Wesen17, welchem nun noch die Eigenschaften eines fühlenden Wesen entlockt bzw. beigebracht werden müssen. Émile fehlt es auch noch an Erfahrung. Ohne Erfahrung lassen sich die Sinne täuschen. Émile weiß noch wenig, doch was er weiß, das weiß er gründlich und sicher. Das vierte Buch (Pubertät) Im vierten Buch beschreibt Rousseau die Zeit, in der Émile ein fühlendes Wesen wird. Hier vollzieht der Erziehungsweg eine Trennung von Mann und Frau. Rousseau beschreibt ab hier nur noch die Erziehung des Mannes. Rousseau bezeichnet diesen Lebensabschnitt (heute wird er wohl als Pubertät beschrieben) als die „zweite Geburt“. Er ist der Ansicht, dass man Kinder ganz natürlich aufklären muss, wenn sie von sich aus das Bedürfnis zeigen den Unterschied beider Geschlechter kennen zu lernen18. Neben den körperlichen Veränderungen fangen nun Leidenschaften an zu entstehen. Dies sieht Rousseau als Beginn der Gefahr, dass aus der „amour de soi“ die „amour propre“ wird19. Es entsteht das Verlangen geliebt zu werden und als liebenswert zu erscheinen. Wie jedes Kind bzw. jeder Jugendliche befindet sich Émile nun in einem schwierigen Alter. Daher ist Rousseau der klaren Meinung, dass man ihn von der Gesellschaft und somit von der Gefahr „schlechten Leidenschaften (z. B. Zügellosigkeit, Luxus)“ ausgesetzt zu sein, fern halten muss. Émile beginnt in dieser Phase erstmals andere zu lieben und fängt zugleich an zwischen sich und anderen Menschen zu vergleichen. Hier betont Rousseau die Wichtigkeit des Erziehers und dessen Vorbildfunktion, wie etwa in der Form von Wohltätigkeit. Rousseau lässt Émile nun den Begriff der moralischen Ordnung finden. Dies beginnt mit den Begriffen Mitleid20 und Dankbarkeit. Émile muss seinen Platz in der Gesellschaft erkennen, so dass aus den Leidenschaften keine bösen Empfindungen hervorgehen. Für Rousseau ist wichtig, dass Émile die Gleichheit unter den Menschen wertschätzten lernt und dass er erkennt, dass die Menschen von Natur aus gut sind und erst die Gesellschaft sie verdirbt. „Unsere ganze Weisheit besteht aus servilen Vorurteilen. All unsere Sitten sind nichts als Unterwerfung, Druck und Zwang. Der gesellschaftliche Mensch kommt als Sklave zur Welt, lebt und stirbt als Sklave.“21 17 18 19 20 21 Rousseau hatte eine dualistisch geprägtes Menschenbild, für ihn ist der Mensch ein denkendes Wesen und fühlendes Wesen. Émile kennt den Menschen, bevor er die Geschlechter kennt. Bei der Geburt ist der Mensch beherrscht von seiner Selbstliebe (amour de soi), die ihn sich selbst erhalten lässt. Im Laufe des Lebens wandelt sich diese, v.a. durch die Einflüsse der Gesellschaft, in Selbstsucht (amour propre) um, dies gilt es mit Hilfe der richtigen Erziehung zu verhindern. Leid kennenlernen, heißt wissen was Leid ist, d.h. sich eine Vorstellung davon gemacht zu haben. Dann kann man erst mitleiden, also wahres Mitleid empfinden. Émile S. 118; Hier wird deutlich, wie sehr Rousseau sein Bild der Gesellschaft in das Bild seines Erziehungsromans einfließen lässt. © Peter Leipold & Jonathan Denner 3. Erziehung Seminarkurs 2002/03 der perfekte Mensch Mit Beispiel und Liebe zur Perfektion? Seite 17 Im weiteren Verlauf bekommt Émile Geschichtsunterricht, jedoch nicht in Form von Daten. Stattdessen soll er die Menschen der damaligen Zeit kennen lernen. Gemäß Rousseau muss man die Menschen studieren um die Völker und die Geschichte zu verstehen. Nun, da Émile fast erwachsen ist, muss er lernen zu leben, was abermals bedeutet, das Gelernte anzuwenden. Rousseau macht ihm klar, dass er die Welt nicht verbessern oder beherrschen, sich auch nicht über Menschen stellen, sondern vielmehr helfen, wohltätig sein und Gutes tun soll22. Rousseau steht den Kirchen, ihren Dogmen und Zeremonien negativ gegenüber, da sie den Menschen einschränken. Er lässt Émile jedoch wissen, dass er eine Seele hat und spricht mit ihm mit Hilfe des „Glaubensbekenntnis eines savoyischen Vikars“ über Gott. Hierin fällt der Begriff der natürlichen Religion, was für Rousseau bedeutet, dass man durch die Liebe zu Gott eine Art Vernunft entdeckt, da man den Urheber des eigenen Daseins liebt. Rousseau geht davon aus, dass Émile durch die Liebe zur natürlichen Ordnung Gutes tun wird. Nun wird abermals Aufklärung betrieben. So muss Émile vor allem die Keuschheit schätzen lernen, den Erzieher bitten ihn vor seiner eigenen Leidenschaft zu beschützen und so ein Stück seiner Freiheit abgeben, auch wenn er es nicht versteht. Im Alter von 20 Jahren kommt Émile nun unter Menschen. Um ihn gegen die Reize anderer Frauen resistent zu machen, lässt Rousseau ihn sich in ein Mädchen verlieben, welches er noch nicht kennt. Émile wird sich innerhalb der Gesellschaft unauffällig und einfach bewegen. Er spricht ist klar und einfach, ist nicht verängstig, sondern natürlich und bescheiden und hat zudem Geschmack. Für Rousseau bedeutet Geschmack, die Fähigkeit über das zu urteilen, was der Mehrheit gefällt oder missfällt. So bezieht sich der Geschmack auf kurzweilige Dinge. Auch hier formt Rousseau einen interessanten Gedanken: Der gute Geschmack hängt von den guten Sitten ab und die guten Sitten vom guten Geschmack. Eine wichtige Erfahrung welche Rousseau Émile machen lässt ist, dass er mit ihm Sprachen vergleicht. Émile lernt auf diesem Weg die eigene Grammatik besser zu beherrschen. Bei allem soll Émile der Natur so nahe wie möglich bleiben: Er soll naturbewusst essen, mäßig sein, den Jahreszeiten entsprechend leben (Kleidung, Nahrung) und wenig Aufträge erteilen. Das fünfte Buch (20 Jahre und älter) Im fünften Buch darf Émile nun Sophie begegnen. Für Rousseau ist es selbstverständlich, dass sie anders erzogen worden ist. Es gibt für ihn nun mal keine Gleichheit zwischen den Geschlechtern. Rousseaus Frauenbild ist für heutige Verhältnisse sehr traditionell geprägt: © Peter Leipold & Jonathan Denner Seminarkurs 2002/03 der perfekte Mensch 3. Erziehung Mit Beispiel und Liebe zur Perfektion? Seite 18 Er forderte leidenschaftlich die freie Entfaltung des kindlichen Gemütes und seines Willens. Eine Einschränkung machte er allerdings bei der Erziehung des Mädchens: Die ganze Erziehung der Frau muss daher auf die Männer bezogen sein, ihnen zu gefallen und nützlich, liebens- und achtenswert zu sein, sie in der Jugend zu erziehen und im Alter zu umsorgen, sie zu beraten, zu trösten und ihnen das Leben angenehm zu machen. Das sind zu allen Zeiten die Pflichten der Frau, welche sie von ihrer Kindheit an lernen müssen. Rousseau begründet diese Forderung mit der Bestimmung von ihrer Natur her: So ist das liebenswürdige Naturell ihres Geschlechts beschaffen, dem Mann nachzugeben oder sogar eine Ungerechtigkeit zu ertragen. Die Abhängigkeit ist ein natürlicher Zustand der Frauen, und Mädchen fühlen, dass sie zum Gehorchen geschaffen sind.23 Die Frau, welche Émile kennen und lieben lernt ist Sophie. Sie ist lebensfroh und klug, hat Geschmack und somit auch gute Sitten, ist bescheiden und ihre Fähigkeiten liegen vor allem in der Handarbeit. Ihre Schönheit ist vor allem eine Art innere Schönheit. Sie ist gefühlvoll, hat jedoch wie jeder Mensch ihre Launen. Sie ist gläubig und liebt ihren Gott und tut gerne Gutes. Ihr Wunsch ist ein einem ehrenwerten Mann zu gefallen. Bis zum Kennenlernen von Émile hat sie einen solchen Mann natürlich noch nicht gefunden. Über ihre Rechte und Pflichten nicht nur in der Ehe ist sie von ihren Eltern aufgeklärt worden, besitzt allerdings noch wenig gesellschaftliche Erfahrungen. Rousseau ist der Ansicht, dass Vorraussetzung für eine gute Ehe ist, dass vor allem der Mann niemals aus einem niedrigeren Stand kommt als die Frau, umgekehrt sei es egal. Die Partner müssen entweder beide denken oder keiner von beiden. Émile hat Sophie kennen (und lieben) gelernt. Diese herrscht über ihn mit fraulicher Sanftmut. Dennoch wird er von ihr getrennt um auf Weltreise zu gehen. Bei dieser macht er politische Erfahrungen und lernt die Regierungen anderer Länder kennen. Hier entwickelt Rousseau auch die Grundgedanken zum Contract Social24. Émile lernt die Demokratie, die Aristokratie und die Monarchie kennen, bekommt eine Vorstellung vom Souverän, von der Regierung, vom Volk und von den verschiedenen Willen. Dann kehrt er zu Sophie zurück und kann nun endlich heiraten. Das Buch endet damit, dass Émile und Sophie ein Kind bekommen und Émile sich bei seinem Erzieher bedankt für die Erziehung. 22 23 24 Man ist gut, indem man Gutes tut. Viele Anhänger und Bewunderer Rousseaus kennen diese „frauenfeindliche“ Seite nicht, jedoch muss man zu seiner Ehrenrettung sagen, das alle „großen“ Philosophen Mann und Mensch gleich stellen, so auch Fröbel, Platon, Schleiermacher uvm. "Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten," beklagte Rousseau. Dennoch müsse es möglich sein, eine Verfassung zu schaffen, in der die natürliche Freiheit des Menschen mit dem notwendigen Maß an staatlicher Gewalt in Einklang gebracht ist. Diese Möglichkeit versuchte Rousseau im Gesellschaftsvertrag aufzuzeichnen. Für Rousseau stellt die direkte Demokratie die einzig legitime Staatsform dar. © Peter Leipold & Jonathan Denner Seminarkurs 2002/03 der perfekte Mensch 3. Erziehung Mit Beispiel und Liebe zur Perfektion? Seite 19 Happy End oder Sudden Death? Rousseau verfasst unmittelbar nach dem Fertigstellen von Émile, ein weiteres Werk „Émile et Sophie, ou les Solitares“. Dieses Werk verfasste er in Form von Briefen; es wurde jedoch nie gänzlich fertiggestellt. Die Ehe zwischen Émile und Sophie zerbricht daran, dass Sophie ihn mit einem anderen Mann betrügt. Sie hält sich nicht an die eigene Erziehung. Émile lebt von nun an vereinsamt, da er sich als Verlierer im Kampf der Leidenschaften sieht. Ihm ist ein Leben, welches er selber kontrollieren kann, lieber als eines, wo er die Risiken nicht selbst in der Hand hat. Und welches Risiko ist größer als die Liebe? Rousseau lässt selbst in seinem Erziehungsroman durchschimmern, dass das Ziel des perfekten Menschen nicht möglich ist. Ist dies jedoch ein Scheitern? Wer sagt, dass das Ziel eine glückliche Beziehung auf Lebzeiten war? ,,Der Mensch ist am besten erzogen, der auf den glühenden Felsen Maltas ebenso gut leben kann, wie in der eisigen Kälte des Nordens.“25 Ist es nicht viel erstrebenswerter seinen Zögling auf das Leben so vorzubereiten, dass er die Krisen des Lebens meistert und so im Einklang mit sich selbst leben kann ohne andere Menschen zu schaden? Für Rousseau war es das und der Einklang mit sich selbst zu leben war für Émile ein Leben ohne Risiken und somit in Einsamkeit. Totalitäre Konsequenzen Rousseau, der immer wieder an die Freiheit (vgl. Fußnote 22) appelliert, hat mit seinem Erziehungsroman jedoch eine Erziehung geschaffen, die totalitäre Konsequenzen mit sich bringt. Diese hat Jürgen Oelkers26 wie folgt zusammengefasst: 1. Die Erfahrungswelt des fiktiven Kindes ist total kontrolliert. 2. Die Kontrolle betrifft die Gegenstände und Themen des Lernens, den didaktischen Plan und den Erfahrungsraum. 3. Die Grenzen des Raumes sind nie klar markiert und gleichwohl vorhanden. 4. Das Kind soll genau dies nicht merken, sich also in der Illusion der eigenen Freiheit bewegen. 5. Die Überwachung ist Sache des pädagogischen Schöpfers. Émile, Denkanstoß und Provokation für die Erziehung bis heute! Rousseau hat mit seinem Werk Émile nicht nur Bewunderung hervorgerufen sondern auch viele vor den Kopf gestoßen, so wurde er von einigen Universitäten zu seiner Zeit auf das schärfste kritisiert 25 26 vgl. Émile, S. 117 Einführung in die Theorie der Erziehung, Jürgen Oelkers, 2001 (S. 65) © Peter Leipold & Jonathan Denner Seminarkurs 2002/03 der perfekte Mensch 3. Erziehung Mit Beispiel und Liebe zur Perfektion? Seite 20 und diffamiert. Doch bis heute sind durch sein durchaus zum Teil provokantes Schreiben Ansätze seiner Arbeit Bestandteil der Diskussion in der Erziehungswissenschaft. Die wesentliche Ansätze27: 1. Erziehung ist auf die Zukunft gerichtet und wird in der Gegenwart realisiert. Der Zögling bekommt heute die Werte mit auf den Weg um sie in seinem zukünftigen Leben anzuwenden und durch sie zu profitieren. 2. Jede Erziehung folgt Zielen28. Die „Verbesserung“ des Menschen am Maßstab der Ziele ist jedoch nicht unabhängig von Zufällen möglich. 3. Kindheit ist Natur und Gesellschaft. Man kann diese beiden Aspekte nicht von einander trennen, jedoch neigt die Theorie der Erziehung immer wieder dazu beide Aspekte getrennt von einander zu behandeln29. 4. Die Grundidee, durch Erziehung die Welt zu verbessern bleibt Wunschgedanke, obwohl und gerade weil er nicht erfüllt werden kann. Rousseau, der Wegbereiter für die Kindheitsforschung? Rousseau (1762) war der Erste, der die Kinder nicht als ,,kleine Erwachsene“ sah, sondern als vollständige Menschen mit Gefühlen und Erwartungen an das Leben, die es verdienen, ernst genommen zu werden. Die Idee dieser Differenz zwischen Kind und Erwachsenem als Basis einer Sicht auf Kindheit und einer Konzeption von Erziehung hatte es noch im Mittelalter keineswegs gegeben und war eine Erfindung der Neuzeit, im Wesentlichen 1762 ausformuliert von J.J. Rousseau. Diese Differenz ist nun aber heute unwiederbringlich verloren gegangen. Von Seiten des Kindes betrachtet sind hier die Stichworte „Fiktion Kindheit“ und „Verschwinden der Kindheit“ zu nennen. Dabei geht es vor allem um den Verlust des „Schonraumes“, in dem der überkommenen Idee von Erziehung zufolge Kinder geschützt und umsorgt aufwachsen. Dieser Raum, der in der Pädagogik viele Namen wie „Permissivitätsraum“, „pädagogische Provinz“, „pädagogisches Labor“ bekommen hat, dient vielen Erziehungswissenschaftler wie Montessori und Pestalozzi als Erziehungsmilieu. Vom Erwachsenen aus betrachtet ist hier das Stichwort "Infantilisierung der Erwachsenen" zu nennen, mit dem unter anderem beschrieben wird, dass Erwachsene heutzutage selbstverständlich ein Leben lang lernen müssen, sowie die Tatsache, dass erwachsene Mütter und Väter heute darin wetteifern, ihre Kinder an Jugendlichkeit zu übertreffen. 27 28 29 vgl. Einführung in die Theorie der Erziehung, Jürgen Oelkers, 2001 (S. 62) vgl. 3.4 Erziehungsziele vgl. Montessori, Pestalozzi, uvm. © Peter Leipold & Jonathan Denner Seminarkurs 2002/03 der perfekte Mensch 3. Erziehung Mit Beispiel und Liebe zur Perfektion? Seite 21 3.3 Erziehungsarten und Erziehungsbilder 3.3.1 Erziehungsarten Viele Wege führen nach Rom. Auch in der Erziehung lassen sich viele Wege finden. Es gibt viele Arten, um den zu Erziehenden so zu erziehen, dass ihn die Werte erreichen, die vermittelt werden sollen. Die Erziehungsarten sind wesentlich pragmatischer und leichter zugänglich, als die in 3.2 vorgestellten Theorien. Religiöse Erziehung Religiöse Erziehung ist wohl die älteste Form der Erziehung. Erziehung muss hier im engeren Sinn verstanden werden als eine Art Hinleitung von Menschen zu sozialen, kulturellen und religiösen Werten und Handlungsweisen. So sind als Formen religiöser Erziehung auch die Initiationsriten von Naturvölkern zu sehen, die meist mit spirituellem Glauben verbunden sind. Diese Initiationsriten finden in einem strukturierten Zeitplan statt und markieren so den Übergang von der Jugend zum Erwachsenenalter. Mit der Bildung fester Religionsgemeinschaften und ihrer Institutionalisierung wurde auch die religiöse Erziehung zunehmend geregelt. Sie war nun nicht mehr allgemeine Aufgabe der ganzen Lebensgemeinschaft sondern wurde immer mehr von speziellen religiösen Lehrern wie etwa dem Rabbi im Judentum, dem Pfarrer im Christentum oder dem Imam im Islam übernommen. Entsprechend wurden religiöse Schulen wie die jüdische Thora-Schule, die islamische Koran-Schule oder auch die christliche Sonntagsschule geschaffen. Zudem schufen die Religionsgemeinschaften eigene Bildungsinstitutionen in Form von Kloster- und Lateinschulen im mittelalterlichen Europa. Diese religiösen Bildungsstätten waren vielfach der Ausgangspunkt der Entwicklung des Erziehungswesens. Noch heute existieren viele religiöse Bildungseinrichtungen. Dazu gehören die theologischen Hochschulen, kirchliche Kindergärten und christliche Privatschulen. In religiös beherrschten Staaten wie dem Iran wird das gesamte Bildungswesen von der Religion beherrscht. Autoritäre Erziehung „Autorität ist keine Eigenschaft dieser oder jener Person... Autorität entfaltet sich vielmehr nur zwischen Personen... ist somit ein zwischenmenschliches Phänomen.“30 In der autoritären Erziehung wird von oben (z. B. den Eltern) bestimmt, was das Kind oder der Jugendliche zu tun und zu lassen hat. Das Kind hat keine Freiheit und darf auch nichts selbst entscheiden. Alle Entscheidungen werden ihm abgenommen oder weggenommen. 30 Dietrich, 1998, S. 109 © Peter Leipold & Jonathan Denner Seminarkurs 2002/03 der perfekte Mensch 3. Erziehung Mit Beispiel und Liebe zur Perfektion? Seite 22 Oft werden bei Nichtbefolgung der elterlichen „Befehle“ Strafen, wie Schläge oder Verbote angedroht und angewandt. Die Spätfolgen sind schwer abschätzbar: Der Erzogene könnte seine Erfahrungen auf die eigenen Kinder übertragen oder, was in den wenigsten Fällen passiert, aus der Erziehung seiner Eltern gelernt haben und eine demokratische Erziehung vorziehen. Im schlimmsten Fall kehrt sich alles um und ihm sind die Kinder total egal. Es kommt zum Ignorieren der Bedürfnisse des Kindes. Antiautoritäre Erziehung Antiautoritäre Erziehung ist eine nichtrepressive und somit zwangsfreie Erziehung, die ohne Triebunterdrückung, Repression und ohne autoritäres Verhalten der Erzieher auszukommen versucht, um selbstbewusste, kritische, nichtaggressive Persönlichkeiten heranzubilden. Der Erzieher steht zwar für Fragen zur Verfügung und ist im Notfall immer da, hat aber keinerlei Entscheidungsgewalt gegenüber dem Kind. Im Zusammenhang mit der Studentenbewegung in den 60er Jahren entstand diese pädagogische Bewegung. In Ablehnung der überkommenen Autoritäten forderten die Protagonisten der antiautoritären Erziehung eine Befreiung von sämtlichen Zwängen, die die Entfaltung der Persönlichkeit und der Gesellschaft behindern. Demokratische Erziehung Bei dieser Erziehungsart sind Eltern und Kind gleichgestellt. Alle Entscheidungen, die beide „Parteien“ betreffen, werden gemeinsam getroffen. Es wird beraten, diskutiert und ausgehandelt. Gemeinsam werden Lösungsvorschläge erarbeitet, entschieden und zusammen ausgeführt. Bei dieser Art der Erziehung können die Eltern dem Kind auch gewisse Bereiche alleine überlassen, in denen es Eigenverantwortung trägt und Entscheidungen selber fällt. Dies fördert die Entscheidungskraft und Entscheidungsfähigkeit des Kindes. © Peter Leipold & Jonathan Denner Seminarkurs 2002/03 der perfekte Mensch 3. Erziehung Mit Beispiel und Liebe zur Perfektion? Seite 23 3.3.2 Erziehungsbilder31 Um abstrakte Erziehungstheorien und die zwar schon pragmatischeren Erziehungsarten anschaulich zu gestalten, wurden in der Erziehungswissenschaft die sogenannten Erziehungsbilder eingeführt.32 Erziehung als Ziehen Das Wissen und die Werte, die sich der Zögling aneignen soll, bekommt dieser vermittelt. Wenn er sich jedoch dagegen sträubt, wovon auszugehen ist, wird in letzter Konsequenz auch psychische oder physische Gewalt eingesetzt. Erziehung als Führen (Immanuel Kant) Der Erziehende gilt als Führer, welcher den zu Erziehenden aus seiner Unwissenheit herausführen soll. Es entseht so ein Führungs-Nachfolge-Verhältnis. Erziehung als Regierung und Zucht (Johann Friedrich Herbart) Der eigne Wille des Kindes wird durch psychische oder physische Gewalt gebrochen. Die Zucht wird als Formung angesehen, um den jungen Menschen gesellschaftlichen und sittlichen Ansprüchen gerecht werden zu lassen. Erziehung als Anpassung (Skinner) Hier versuchen Erziehende den Menschen an die gesellschaftlichen Normen, Wertvorstellungen und Rollen anzupassen. Dies wird durch positive und negative Sanktionen, wie Lob und Bestätigung oder Tadel und Strafe erreicht. Erziehung als Hilfe zum Leben (Johann H. Pestalozzi) Es wird auch als Erziehungsbild „Hilfe zur Selbsthilfe“ genannt. Kinder, Kranke und Hilflose werden nicht besonders oder gesondert behandelt, sondern als positive Aufgaben gesehen. Diese Erziehung setzt bei Nahbedürfnissen an und versucht Wege und Lösungen zu erschließen. Dieses Erziehungsbild tritt nur ein, wenn man zuhört, Probleme erkennt und anschließend miteinander redet und in der Diskussion neue Regeln festlegt. Erziehung als Wachsenlassen (Rousseau) In Kindern liegendes Potential erschließen und ermöglichen, nicht nach vorgegebenem Bild formen: Diese Erziehungsbild beschreibt eine indirekte und natürliche Erziehung. Der Erzieher arrangiert Lern- und Entwicklungsgelegenheiten, berät, hilft und unterstützt. 31 32 vgl. http://www-campus.uni-regensburg.de/material/grundbegriffe/Referat-Erziehung12-11-02.pdf In Klammern wird immer auf einen bekannten Vertreter, Befürworter oder Schöpfer des jeweiligen Erziehungsbildes verwiesen. © Peter Leipold & Jonathan Denner Seminarkurs 2002/03 der perfekte Mensch 3. Erziehung Mit Beispiel und Liebe zur Perfektion? Seite 24 3.3.3 Zusammenhang von Erziehungsarten und Erziehungsbilder Alle Erziehungsarten und Erziehungsbilder haben das Ziel dem zu Erziehenden Werte zu vermitteln und ihn auf sein Leben als Erwachsener vorzubreiten. Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass mit keiner der Erziehungsarten oder Erziehungsbilder „der perfekte Mensch“ geformt werden kann. Der Unterschied besteht allenfalls in der Wahl der Mittel, mit dem die Werte an den zu Erziehenden herangetragen werden und auf welche Weise man ein bestimmtes Lern- bzw. Erziehungsziel erreichen will und kann. Um die richtige Methode zu finden, müssen jedoch verschiedene Aspekte bedacht werden. Abb. 10: Auswahl der Erziehungsmethode Der Beziehungsaspekt kann in drei Aufgabenfelder aufgeteilt werden. Der Erzieher und der zu Erziehende sollen ,,...erstens etwas voneinander wissen, zweitens im Rahmen von Kommunikation und Interaktion miteinander zu tun haben und drittens auch gefühlsmäßig miteinander verbunden..." sein. (Domke, 2001, S. 31). Des Weiteren ist auch der Inhaltsaspekt zu nennen. Es gibt Inhalte, die mit einer bestimmten Methode besser zu erreichen sind als mit anderen Methoden. Dabei kommt es unter anderem auch darauf an, ob es sich z.B. um intellektuelle Fähigkeiten oder um psychomotorische Fertigkeiten handelt. Es muss auch unterschieden werden zwischen Inhalten, die selbst erfahren werden müssen, um gelernt zu werden, wie beim Sport, Inhalten, die von jemandem vermittelt werden sollten, wie Geschichtswissen oder aber Inhalten, welche über Modelle gelernt werden, wie beispielsweise soziales Handeln. Ferner gibt es noch einen Zielaspekt bei der Wahl der geeigneten Methode. Beide, Ziel und Methode, sind voneinander abhängig. Um überhaupt eine Methode anwenden zu können braucht man zuerst ein Ziel. Aber dieses Ziel kann nur erreicht werden wenn entsprechende Methoden es ermöglichen. © Peter Leipold & Jonathan Denner Seminarkurs 2002/03 der perfekte Mensch 3. Erziehung Mit Beispiel und Liebe zur Perfektion? Seite 25 Als letzten Aspekt ist noch der Umweltaspekt zu nennen. Bei der Kindererziehung spielt die Umwelt des Kindes eine ganz entscheidende Rolle. Dazu gehört, ob das Kind beispielsweise in einem freiheitlichen Staat oder einem totalitären System, auf dem Land oder in der Stadt, mit vielen Geschwistern oder als Einzelkind aufwächst. Erziehungsmethoden sind auch abhängig davon, welchen Beruf der Vater ausübt und ob die Mutter berufstätig ist oder nicht. Beim Umweltaspekt gibt es eine Fülle von Faktoren von denen drei Bereiche besonders zu beachten sind: Herkunftsfamilie, Schulbildung und Beruf der Eltern. Auf weitere wichtige Aspekte bei der Methodenwahl in der Erziehung kann hier nicht näher eingegangen werden. Auch zum Beziehungsaspekt könnte noch sehr viel mehr geschrieben werden. Entscheidend ist jedoch, dass in der Erziehung immer viele Faktoren und Aspekte zu berücksichtigen sind. Jedes Kind und jede Erziehungssituation ist einzigartig. Es gibt niemals nur einen richtigen Weg, sondern immer viele verschiedene Wege. © Peter Leipold & Jonathan Denner Seminarkurs 2002/03 der perfekte Mensch 3. Erziehung Mit Beispiel und Liebe zur Perfektion? Seite 26 3.4. Erziehungsziele Jede ,,Erziehung“ ist bestimmt von zu Grunde gelegten Zielkonzepten. Wo solche fehlen, kann von Erziehung keine Rede sein33. Eine „Erziehung“, die sprunghaft wechselnde Ziele verfolgt, kann auf den Zögling neurotisierend wirken. Nicht ohne Hintergedanken meinte Wystan Hugh Auden34: „Das Ziel der Erziehung ist, ein Individuum mit der Menge an Neurosen zu beladen, die es gerade ertragen kann, ohne zusammenzubrechen.“ Erziehungsziele sind zu unterscheiden von Lernzielen, also den Zielen hinsichtlich der Ausbildung spezifischer Kenntnisse. Zu den Zielen der Erziehung gehört es aber gleichwohl die beständige Verfolgung von Lernzielen (wie von Lebenszielen überhaupt) in der Persönlichkeit zu verankern. Vorgegeben werden die spezifischen Grobziele der Erziehung von den normgebenden Institutionen wie der herrschenden Moral und Kultur, von Staat, Kirche und Gesellschaft. Das jeweilige individuelle Zielkonzept - etwa das der Eltern - entwickelt sich idealtypisch in der bewussten, vernunftgeleiteten Auseinandersetzung mit den Forderungen dieser einzelnen Instanzen an das Individuum unter ausdrücklicher Berücksichtigung der Lebensinteressen des zu erziehenden Kindes. In der Praxis spielen jedoch auch viele unreflektiert und unbewusst in die Erziehung integrierte Fremdforderungen eine Rolle, sowie häufig auch die eigenen unbearbeiteten Konflikte der Erziehenden. Allgemein werden heute in den westlichen Gesellschaften als die wesentlichen Ziele der Erziehung übereinstimmend genannt35: Mündigkeit, Selbstverantwortung und Autonomie (dazu gehört auch die Beherrschung der eigenen Triebe und Leidenschaften), Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Gemeinschaft und die Fähigkeit, das eigene Leben bewusst zu entwerfen und zu gestalten. 33 34 35 ebd. 3.3.2 Erstes Buch (Leitsatz 3) Zitat von Wystan Hugh Auden (1907-73), engl. Dichter, genauer Zusammenhang in dem er es von sich gegeben hat unklar. vgl. Microsoft® Encarta® Online-Enzyklopädie 2002; http://encarta.msn.de © Peter Leipold & Jonathan Denner Seminarkurs 2002/03 der perfekte Mensch 3. Erziehung Mit Beispiel und Liebe zur Perfektion? Seite 27 Umfrage Ergebnis Nachdem wir nun die allgemein übereinstimmenden Ziele der westlichen Gesellschaft vorgestellt haben, werden wir nun diese mit unserer Umfrage vergleichen. Der größte Part unserer Umfrage widmete sich den Zielen der Erziehung; hierbei kam folgendes Ergebnis zustande: Abb. 11: Erziehungsziele nach Wichtigkeit Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit sind die absoluten Spitzenreiter, so sind sie für 13 von 15 Eltern „sehr wichtig“ und für zwei „doch schon wichtig“. Weitere sehr wichtige Ziele sind ein liebevoller und selbstbewusster Zögling. Die in Erziehungstheorien oft genannte „Gesellschaftsfähigkeit“ wird erst an achter Stelle genannt, zuvor kommen Eigenschaften wie hilfsbereit, umgänglich und zielorientiert. Man sieht, dass die Teilnehmer und zugleich Eltern ähnliche Ziele verfolgen wie die, die als westliche Standards vorgegeben sind. So passen die ersten acht der „Toplist der Erziehungsziele“ genau auf die westlichen Standards. © Peter Leipold & Jonathan Denner Seminarkurs 2002/03 der perfekte Mensch 3.5 3. Erziehung Mit Beispiel und Liebe zur Perfektion? Seite 28 Fazit36 Ist es nun möglich mit Erziehung „den“ perfekten Menschen zu formen? Hierzu ist es erst einmal wichtig zu erkennen, dass viele Menschen gar keinen perfekten Menschen wollen, so haben in unserer Umfrage über 50% auf die Frage: „Wie sieht der perfekte Mensch aus?“ Geantwortet: „Wozu wollen wir den perfekten Menschen?“ oder „Es gibt keinen perfekten Menschen.“ Hieran erkennt man, dass das Streben nach Perfektion in der Erziehung nicht stark vorhanden ist. Rousseau stellt in seinem Roman auch fest, dass sein Zögling, den er ideal erzieht im Leben nicht alles bekommt, sondern auch scheitern kann. Doch gerade hier setzt die Erziehung ein: Wenn der Mensch scheitert und eine Krise durchlebt, dann muss er auf seine Erziehung zurück greifen und so diese Krise meistern und gestärkt daraus hervorgehen. Bei Rousseau zieht sich Émile in die Einsamkeit zurück, um so sein Leben selbst in den Händen zu halten. Dies ist eine Reaktion, und wohl nicht die „perfekteste“, jedoch lebt er nun sein Leben ohne das anderer zu gefährden. Wäre das nicht ein erstrebenswertes Ziel? An dieser Stelle möchte wir noch einmal auf das chinesische Sprichwort „Willst du für ein Jahr planen, säe Reis. Planst du für ein Jahrzehnt, pflanze Bäume. Planst du für ein Leben, erziehe einen Menschen.“ eingehen. Es verdeutlich sehr gut, welche große Aufgabe man sich gestellt hat, wenn man ein Kind „richtig“ erziehen will. Es gehört mehr dazu als, in den ersten 13 Lebensjahren nur die neuesten und angesagtesten Spielsachen zu besorgen. Erziehung dauert ein Leben lang und bedarf immer wieder der Reflexion und Erneuerung der Ziele und Methoden. Weitere Ausführungen in wie weit der Mensch sich durch Erziehung formen lässt haben wir im fünften Kapitel „Persönlichkeit – Die Suche nach dem Kern des Ichs“ genauer beschrieben. Im folgenden dritten Kapitel „Gene – Sind wir Marionetten ihrer Macht?“ werden wir ihnen zunächst einmal erläutern, welche Rolle die Gene bei der Formung des Menschen haben. 36 vgl. 2.2 Erziehungswissenschaftliche Definition © Peter Leipold & Jonathan Denner
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