J. Wiedemann, S. Lowey von Seckendorff Maßgeschneidert statt Stangenware Maßgeschneidert statt Stangenware: Methodenmix zur Diagnose von Führungspotenzial Führungskräfte nehmen in jedem Unternehmen eine Schlüsselposition ein. Eine fundierte Potenzialdiagnose zur Standortbestimmung vorhandener Führungskräfte oder zur systematischen Auswahl von Führungsnachwuchskräften sollte deshalb einen hohen Stellenwert haben. Mit einer Methodenkombination von 360°-Feedback und Development-Center können diese Ziele effizient erreicht werden. Das zeigt das Beispiel eines pharmazeutischen Unternehmens. Mit der Besetzung von Führungspositionen aus der eigenen Belegschaft bietet die AWD.pharma GmbH & Co. KG in Radebeul ihren Mitarbeiter attraktive berufliche Entwicklungsperspektiven. Das mittelständische Unternehmen vertreibt qualitativ hochwertige Arzneimittel zur Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schmerzen und Erkrankungen des zentralen Nervensystems und gehört seit 2001 zum kroatischen Pharmaunternehmen Pliva d.d., das sich 2006 wiederum mit dem amerikanischen Großkonzern Barr Laboratories Inc. zusammenschloss und so heute zum weltweit drittgrößten Hersteller von Generika gehört. Der Auswahlprozess für Führungspositionen sollte möglichst transparent und nachvollziehbar sein. Fehlentscheidungen sollten minimiert und es sollte dem Gerechtigkeitsempfinden der Mitarbeiter sowie den Qualitätsstandards der berufsbezogenen Eignungsbeurteilung nach DIN 33430 entsprochen werden. Zudem sollten die Methoden dem veränderten Führungsverständnis mit Betonung der Selbstverantwortung und Mitarbeiterförderung gerecht werden – die Durchführung eines klassischen Assessment-Centers wurde daher ausgeschlossen. Stattdessen stehen eine Lernsituation mit SelfAssessment, Peer-Feedback, die Orientierung über die weitere berufliche Entwicklung (etwa Fach- versus Führungslaufbahn) und die interne abteilungsübergreifende Netzwerkbildung im Vordergrund. Die einzelnen Schritte sind dabei: Abklärung des Interesses an einer Führungs- beziehungsweise Fachlaufbahn im Mitarbeitergespräch und Nominierung der Kandidaten durch ihre Führungskraft; Kick-off-Veranstaltung für alle Kandidaten und ihre Führungskräfte zur Information über das Pro- Aus: Wirtschaftspsychologie Wirtschaftspsychologie aktuell aktuell 2/2007 2/2007 gramm, Verteilung der 360°-Feedback-Bogen (Anfang September); 360°-Feedback zur Stärken-Schwächen-Analyse im Arbeitsalltag, basierend auf den Anforderungen des Führungskompetenzmodells; Development-Center (zwei Tage) zur vertieften Stärken-Schwächen-Analyse unter „Laborbedingungen“, ebenfalls basierend auf den Anforderungen des Führungskompetenzmodells (Mitte Oktober); Diskussion der Ergebnisse in der Geschäftsleitung und Ableitung grundsätzlicher Entwicklungsmöglichkeiten und -maßnahmen, personelle Zuordnung Mentor–Mentee unter Berücksichtigung der Wünsche des Kandidaten; Entwicklungsgespräch zwischen Kandidat, Führungskraft und Human Resources zur Abstimmung der persönlichen Entwicklungsziele und eines individuell zugeschnittenen Entwicklungsplans (November). Führungskompetenzmodell: die Anforderungen Im Folgenden wird auf die Methoden zur Diagnose des Führungspotenzials (siehe Abbildung 1) näher eingegangen. Das Kompetenzmodell für Führungs- Dr. Jens Wiedemann, DiplomPsychologe, Gründungspartner Management Innovation Dresden Wiedemann & Partner [email protected] Dr. Stefanie Lowey von Seckendorff, Leiterin Personal und Verwaltung, HR Director WE Region, Barr Group AWD.pharma GmbH & Co. KG, Radebeul Stefanie.Lowey_von_Seckendorff@ awd-pharma.com 33 1 Eignungsdiagnostik J. Wiedemann, S. Lowey von Seckendorff Maßgeschneidert statt Stangenware Methodenkombination im Überblick Development-Center Entwicklungsgespräch tiefer gehende Ist-Analyse unter „Laborbedingungen“ Vereinbarung individueller Entwicklungsziele und -maßnahmen Diagnose des Führungspotenzials 360°Feedback Ist-Analyse im Arbeitsalltag Führungskompetenzmodell des Unternehmens = Soll-Zustand Abb. 1: Ausgehend vom Führungskompetenzmodell, wird der Ist-Zustand analysiert kräfte macht dabei das unternehmensspezifische Führungsleitbild deutlich und deckt die gegenwärtigen und zukünftigen Anforderungen an Führungskräfte ab. Es ist als Soll-Zustand zu verstehen und bildet das durchgängige Beurteilungsraster beim 360°Feedback und im DevelopmentCenter. Damit fördert es auch ein gemeinsames Führungsverständnis. Das Kompetenzmodell umfasst neun Dimensionen: Problemlöseverhalten, Persönliche Flexibilität, Strategieorientierung, Initiative, Effektive Kommunikation, Ergebnisorientierung, Kontaktfähigkeit, Managing Performance und Empowerment. Jede Dimension wird durch sechs konkrete Verhaltensweisen beschrieben, sodass das Führungskompetenzmodell insgesamt 54 Verhaltensweisen enthält. (meist ohne disziplinarische Personalverantwortung) hatten. 360°-Feedback: fit für den Alltag? Das zweitägige Development-Center (siehe Abbildung 2) dient der vertiefenden Stärken-Schwächen-Analyse der nominierten Kandidaten „unter Laborbedingungen“ und dem Abgleich mit den Ergebnissen des 360°Feedbacks. Im Mittelpunkt stehen mehrere Rollenspiele, Planspiele, Präsentationen, Gruppenaufgaben, die realistische Arbeitsanforderungen abbilden (zum Beispiel Präsentation auf Ärztekonferenz, Positionierung des Unternehmens als Generika-Hersteller Ziel des 360°-Feedbacks ist eine Stärken-Schwächen-Analyse nominierter Kandidaten bei der Bewältigung alltäglicher Aufgaben. Das Feedback-Verfahren basiert auf einem Fragebogen mit den 54 Items zu den im Führungskompetenzmodell beschriebenen Verhaltensweisen. Die Dimensionen „Managing Performance” und „Empowerment” wurden nur bei Kandidaten erfasst, die schon Führungserfahrung 34 2 Der Fragebogen wird von den Kandidaten selbst, ihren Vorgesetzten, Kollegen und gegebenenfalls auch von ihren Mitarbeitern beantwortet. So entsteht ein durchaus beabsichtigter Nebeneffekt: Die Mitarbeiter sind als Feedback-Geber „gezwungen“, sich mit dem Führungsleitbild des Unternehmens intensiv auseinanderzusetzen, und entwickeln entsprechende Erwartungen an ihre Führungskraft. Die Kandidaten erhalten ihren 360°Auswertungsbericht im DevelopmentCenter persönlich ausgehändigt und werten ihn später eigenverantwortlich mit den Feedback-Gebern aus. Development-Center: im Labor am Markt). Ziel sind Verhaltensbeobachtungen in realitätsnahen Situationen und die anschließende Bewertung des Verhaltens – wieder mit den Kriterien des Führungskompetenzmodells. Für Kandidaten ohne Führungserfahrungen bietet das DevelopmentCenter auch die Chance, „Führung“ unter geschützten Bedingungen auszuprobieren (zum Beispiel Konfliktgespräch mit Mitarbeiter wegen auffälliger Fehlzeiten). Begleitend erfolgt der Einsatz standardisierter Testverfahren wie etwa des Persönlichkeitstests Myers-Briggs Type Indicator (MBTI) oder der Testbatterie „Arbeitshaltungen.“ Im Development-Center schätzt sich jeder Teilnehmer zu jeder Aufgabe selbst ein, wozu er den gleichen Bogen verwendet wie die Beobachter. Das garantiert ein Höchstmaß an Transparenz der Kriterien und macht den Bewertungsprozess nachvollziehbar. Gleichzeitig werden die Teilnehmer für die eigenen Stärken und Schwächen sensibilisiert. Diese Selbsterkenntnis ist eine unverzichtbare Voraussetzung für den Lern- und Entwicklungsprozess. Um dieses Self-Assessment zu unterstützen und eine offene und konstruktive Feedback-Kultur zu entwickeln, wird am ersten Tag nur mit Video- und Teilnehmer-Feedback gearbeitet. Somit stehen drei wichtige Führungsfähigkeiten im Fokus: andere Personen differenziert wahrzunehmen und Feedback zu geben, selbst Feedback entgegenzunehmen und zu verarbeiten, an sich persönlich zu arbeiten und sich weiterzuentwickeln. Der letzte Punkt kristallisiert sich insbesondere am zweiten Tag heraus, wenn Aufgaben mit vergleichbaren Anforderungen zu bewältigen sind und die Veränderungsfähigkeit erkennbar wird. An diesem Tag, der für die Teilnehmer eher Prüfungscharakter hat, erfolgt die Beobachtung durch mehrere Führungskräfte des Unternehmens, die im Vorfeld eine Schulung absolviert haben. Am Ende des Development-Centers werden die Selbsteinschätzungen durch die Teil- Aus: Wirtschaftspsychologie aktuell 2/2007 J. Wiedemann, S. Lowey von Seckendorff Maßgeschneidert statt Stangenware nehmer quantitativ und qualitativ zusammengefasst. Bei der Beobachterkonferenz werden je Kandidat die Beobachtungen und Bewertungen der Beobachter erfasst und verdichtet. Wenn eine gemeinsame Sichtweise vorliegt, erfolgt der Abgleich mit der Selbsteinschätzung des Kandidaten. Wünschenswert ist eine weitgehende Übereinstimmung, die eine realistische Einschätzung widerspiegelt und eine gute Basis für Entwicklungsempfehlungen bildet. In einem nächsten Schritt erfolgt der Abgleich mit den Ergebnissen aus dem 360°Feedback, um den Bezug zum Arbeitsalltag herzustellen. Auf der Grundlage dieser integrierten Betrachtungsweise werden ein Fazit zum Führungspotenzial und mögliche Entwicklungsziele/-maßnahmen erstellt. Diese werden neben den Ergebnissen der Ist-Analyse (Gesamtprofil 360°Feedback, zusammenfassende Selbsteinschätzung und Fremdeinschätzung) in einem Bericht dokumentiert und im Entwicklungsgespräch, welches spätestens vier Wochen nach dem Development-Center erfolgen sollte, mit dem Kandidaten abgestimmt. Entwicklungsgespräch: gemeinsam Im Entwicklungsgespräch, an dem Kandidat, Führungskraft und ein Vertreter der Personalabteilung teilnehmen, werden die Ergebnisse ausgewertet. Ist gutes Führungspotenzial vorhanden, werden Entwicklungsziele für die nächsten zwei bis drei Jahre anvisiert und gemeinsam ein individueller Entwicklungsplan (passgenaue Trainings, Coaching, Mitarbeit in Projekten, Jobrotation, Hospitation etc.) erarbeitet. Jede Führungsnachwuchskraft erhält ein Mitglied der Geschäftsleitung als Mentor. Neben weiteren regelmäßigen Gesprächen mit dem Vorgesetzten finden in größeren Zeitabständen auch Back-up-Gespräche mit der Human-Resources-Abteilung statt. Bewertung der Methodik Dem Verfahren stellten sich insgesamt 34 Kandidaten (18 im Jahr 2004, 16 im Jahr 2006). Es wurden drei Deve- Aus: Wirtschaftspsychologie aktuell 2/2007 lopment-Center in deutscher und eines in englischer Sprache mit jeweils acht bis zehn Teilnehmern durchgeführt. Bei einem Teil der Kandidaten aus dem Jahr 2004, die verschiedene Fördermaßnahmen durchliefen, wurde das 360°-Feedback-Verfahren im Jahr 2006 nochmals eingesetzt. Dabei konnten deutliche Entwicklungseffekte nachgewiesen werden. Die integrierte Betrachtung der Ergebnisse aus dem Arbeitsalltag (360°-Feedback) und dem Development-Center, die aus unterschiedlichen Perspektiven resultierten, sowie das Höchstmaß an Transparenz des Diagnoseprozesses für alle Beteiligten sicherten eine fundierte Potenzialaussage mit sehr hoher Akzeptanz bei den Kandidaten und ihren Vorgesetzten. Kritisch ist bei einem Teil der nominierten Kandidaten allerdings das generelle Leistungsniveau zu sehen. Hier wird deutlich, dass die Vorauswahl entweder „zu sehr aus dem Bauch heraus“ erfolgte oder Kandidaten benannt wurden, weil sie schon lange dabei und jetzt „auch mal an der Reihe” waren. So besteht das Risiko, dass Erwartungen erst geweckt und dann enttäuscht werden. Daher sind Hilfsmittel notwendig, die eine strukturierte Vorauswahl unterstützen, wie sie zum Beispiel Ulrike Richter in ihrer Arbeit „Situationsbezogene Entscheidungsfragen. Ein Verfahren für Führungskräfte zur Nominierung von Orientierungscenter-Kandidaten“ aufzeigt. Fazit aus Unternehmenssicht Aus Sicht von AWD.pharma war der Einsatz des Verfahrens bisher außerordentlich erfolgreich. Die Akzeptanz ist sehr hoch. Über Leistung und Entwicklungsbedarf, aber auch über enttäuschte Erwartungen wird jetzt offener gesprochen. Darüber hinaus dient das differenzierte Feedback als wichtige Quelle für ein individuelles Design der Entwicklungsmaßnahmen, die nun gezielt am jeweiligen Bedarf ansetzen. Das schont finanzielle und zeitliche Ressourcen, und die Mitarbeiter erleben, dass man ihnen Maßgeschneidertes statt Stangenware bietet. Von den Teilnehmern aus der ersten Runde im Jahr 2004 sind inzwischen 70 Prozent in anderen Funktionen tätig, zwei Drittel davon in Führungspositionen. Weiterführende Literatur DIN (2002). DIN 33430: Anforderungen an Verfahren und deren Einsatz bei berufsbezogenen Eignungsbeurteilungen. Berlin: Beuth. Myers-Briggs Type Indicator (2001). Oxford: OPP Ltd. Testbatterie Arbeitshaltungen (2005). Frankfurt: Harcourt Test Services. Richter, U. (2007). Situationsbezogene Entscheidungsfragen. Ein Verfahren für Führungskräfte zur Nominierung von OrientierungscenterKandidaten. Diplomarbeit, Technische Universität Dresden. Abb. 2: Unterschiedliche Schwerpunkte an beiden Tagen im Development-Center Prinzipien im Development-Center Dauer: 2 Tage 8 bis 10 Teilnehmer, aber Arbeit in 2 Kleingruppen mit wechselnder Besetzung Insgesamt 6 Aufgabensimulationen, die unterschiedliche Anforderungen abdecken 1. Tag - 2 Aufgaben Selbsteinschätzungen Video- und Teilnehmer-Feedback Selbsterkenntnis im Vordergrund keine Führungskräfte des Unternehmens als Beobachter - dient auch als vorbereitende „Übung“ für den 2. Tag 2. Tag - 4 Aufgaben - Selbsteinschätzungen - Führungskräfte des Unternehmens als Beobachter - Beobachterkonferenz - verzögertes Feedback für Teilnehmer im Entwicklungsgespräch 35 3
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