Predigt am 9. August 2015 anlässlich des Ökumenischen Gottesdienstes Film-Festival-Locarno um 11.15 Uhr in der CHIESA NUOVA LOCARNO (Maria Assunta) Bibeltext: Lukas 9,57 – 62 Liebe Festgemeinde, Können Sie zwischen wichtigen und unwichtigen Dingen in ihrem Leben unterscheiden? Was ist für Sie in ihrer persönlichen Lebensgestaltung wesentlich und unwesentlich? Wie setzen Sie in wichtigen Entscheidungssituationen Prioritäten? Ein Thema, das in vielen Filmen vorkommt. Und das heute auch im biblischen Text aus dem Evangelisten Lukas als existentielles Thema gesetzt ist. Dies geschieht beim Evangelisten Lukas anhand von drei Beispielen. Drei junge Männer und ihr Verhalten sind sozusagen „Prototypen“. Zugleich wird aber auch deutlich: es ist im Leben oft schwierig, sich zu entscheiden. Schauen wir uns die drei Beispiele etwas näher an: Der erste junge Mann ist ein positives Beispiel. Er will Jesus nachfolgen und spricht ihn an. Er will sein Leben grundlegend verändern. Seine Lebensdevise ist: Ich weiss, was ich will und setze es um. Ich will und ich kann. Und Jesus verstärkt seine Entschlossenheit einerseits durch den Satz: „Die Füchse haben Gruben und die Vögel haben Nester; der Menschensohn dagegen, hat nichts, wo er sein Haupt hinlegen kann.“ Andererseits ist dieser Satz zugleich eine allgemeine Mahnung an uns: Ein bisschen Aufbrechen im Leben geht nicht. Entweder ganz oder gar nicht. Interreligiös wird dies sichtbar in dem bekannten Kinofilm „Slumdog Millionaire“. Es geht um einen jungen Mann aus den Slums von Mumbai in Indien, der in der dortigen Variante von „Wer wird Millionär“ im Fernsehen auftritt. Eine Szene auf der Eisenbahn gehört zu den Schlüsselszenen. Der Zug fährt. Das Leben läuft. Raus aus dem, was nicht sein soll. Hin zu dem, wozu der Mensch bestimmt ist. Wer auf den Zug steigt, sucht in der Regel mehr als die Umstände, in denen man lebt und mit denen man sich nicht abfinden will. Es soll sich vieles verändern. Auch was und wie wir leben. Wir müssen die Veränderung wollen. Auch gegen das Establishment der Politik und der Religion und was sie für Tradition und richtiges Leben halten. Wer leben will, wer sein Glück finden will, der muss sich bisweilen über alles Bisherige hinweg setzen. Er muss seinem Stern, seiner Idee folgen, die Chance ohne Wenn und Aber ergreifen. Der zweite junge Mann wird von Jesus direkt angesprochen, ihm nachzufolgen bzw. sein bisheriges Leben zu verändern. Aber es kommt nicht zustande, weil dieser Mann noch unbedingt seinen eben verstorbenen Vater beerdigen möchte. Und Jesus reagiert darauf verärgert. Denn er bemerkt, dass diese heilige Pflicht dem Mann nur als Vorwand dient. Auch wir kennen vermutlich viele Leute, deren Lebensmotto bei wichtigen Entscheidungen ist: Später! Nur nicht heute! Für das, was sie verändern müssten, fehlt ihnen der Mut. Oder sie verdrängen es. Hier fällt mir der Kinofilm „Chocolat“ ein. Eine Frau kommt in ein trostloses Provinznest in Frankreich, in dem in jeder Beziehung Winter herrscht. Viele traurige Lebensgeschichten sind hier zu finden. Eine von der Familie gemiedene Großmutter. Ein Witwer, der sich nicht traut, eine neue Liebe zuzulassen. Das von einer alleinerziehenden und zugezogenen Frau errichtete Schokoladengeschäft ist ein Zeichen für Veränderung. Im Zentrum des Films steht die Bereitschaft der Bewohner, Veränderung zuzulassen und damit die Erlösung aus den negativen und unglücklichen Teilen ihrer Biographie. Der dritte junge Mann steht sozusagen zwischen dem ersten und dem zweiten Prototyp. Er ist der „Ja, aber Typ“. Er spricht Jesus von selbst an. Will ihm zwar nachfolgen. Schafft es aber nicht seine bisherige Lebensweise und die Vergangenheit loszulassen. Das vorherige Abschiednehmen Wollen von seiner Familie ist dafür eine Ausrede. Jesus stellt dem das Bild des Pfluges entgegen, der vorwärts geführt werden muss. Erfülltes Leben hängt nicht davon ab, ob man in der Vergangenheit immer alles richtig gemacht hat, sondern dass man seine Zukunft immer wieder neu durch andere Prioritäten gestalten kann, auch wenn Familienbindungen und bisherige Biografie prägend sind. Hier denke ich besonders an den Film „Wie im Himmel“, der sehr kritisch mit kirchlicher Tradition und Bigotterie umgeht. Gezeigt wird dort die letzte Lebensphase eines Musikers, der es in jungen Jahren zu Ruhm brachte, in der Mitte des Lebens aber wegen einer Herzschwäche seine Karriere abbrechen muss. Und er macht sich auf den Weg zurück. Dabei wird er eingebunden in ein Netzwerk menschlicher Beziehungen in dem Dorf seiner Kindheit, insbesondere im Kirchenchor, dessen Leitung er übernimmt. Doch weder der verklemmte Pfarrer noch der gewalttätige Ehemann einer Sängerin heissen gut, was der Musiker von Weltrang aus den so unterschiedlichen Stimmen des dörflichen Chores zu machen versteht. Ermutigt durch den Dirigenten erkennt die Sängerin ihr Talent und wagt schliesslich den Schritt aus den familiären Zwängen hinaus in ein selbstbestimmtes Leben: „Ich will und ich kann“. Der Kirchenchor wird dargestellt als eine Welt im Kleinen, in der es nur gut klingt, wenn jeder seinen Teil zum Ganzen beiträgt und dabei zugleich authentisch ist. In diesem Film ist Gott ein Befürworter des Lebens und nicht der gesellschaftlichen Zwänge. Der Bibeltext im Lukasevangelium lässt letztlich offen, wie sich die drei Männer entscheiden. Jetzt können Sie natürlich sagen: Der Prediger hat mich verwirrt. Ich weiss immer noch nicht automatisch in allen Situationen, was in meinem Leben wesentlich und unwesentlich ist. Aber das ist ja gerade die Aussage dieser biblischen Geschichte: Es gibt kein Patentrezept. Es gibt unterschiedliche Antworten und Möglichkeiten. Christsein heisst: sein Leben leben. Und weil Christus mit uns durch unsere Lebenszeit geht, können wir auf ihn vertrauen. Und auch Entscheidungen auf uns nehmen mit allen jeweiligen Konsequenzen. Das Grundprinzip bleibt: Unsere Wünsche und Sehnsüchte einerseits. Und das Gefangensein in Umständen und in uns selbst andererseits. Jesus nachfolgen heisst, Prioritäten nicht nur neu zu bedenken, sondern auch umzusetzen. Gerade auch unter dem Aspekt der Einmaligkeit unseres Lebens und seiner Endlichkeit. Diese Geschichte will also in erster Linie nicht zeigen, wofür und wie sich drei Personen entschieden haben, sondern uns Mut machen zu leben und uns nicht von Zwängen beherrschen zu lassen, die uns am Leben hindern. Solche Zwänge können in uns selbst liegen; aber auch in Lebensumständen und Traditionen. Ein guter Film, was macht ihn aus? Vermutlich gibt da jeder unter Ihnen eine andere Antwort. Genau das gilt auch für ein erfülltes Leben. Wenn einer weiss, wohin sein Weg führt. Wenn einer sich entschieden hat, was er in seinem Leben sein will. Dann weiss er, was für ihn wesentlich ist und was nicht. Amen. Bischof Dr. Harald Rein, Präsident der AGCK Schweiz
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