Ein unbekannter Überlebenskünstler

Ein unbekannter
Überlebenskünstler
Es ist immer wieder verblüffend, wie wenig wir über manche Wildarten wissen,
obwohl sie jeder zu kennen glaubt. Dazu zählt auch der Schneehase. Er ist ein Relikt
aus der letzten Eiszeit, doch zu Gesicht bekommt man ihn selten. Wir haben uns auf
die Suche gemacht und stellen Ihnen den „weißen Hasen“ vor.
Fotos: Tierfotoagentur/P. Weimann
Schneehase
Mit Schneeschuhen und Wintermantel
Der Schneehase ist ein naher Verwandter des Feldhasen und ein entfernter Verwandter des
Wildkaninchens. Er lebt in tundrenartigen Tieflagen in Irland, Schottland oder im Baltikum und in alpinen
Regionen, auch bei uns in Bayern. Dann sprechen die Biologen vom Alpenschneehasen. Dr. Claudia Gangl,
BJV-Referentin für Tierschutz und Wildbiologie, stellt den mittelgroßen Hasenartigen vor.
Grundsätzlich kann man den Schneehasen bei uns in Höhenlagen über 1.300 Meter antreffen. Im Winter „tauchen“
sie nicht selten in Höhen unterhalb von 1.000 Meter ab.
Der Alpenschneehase bewohnt Geröllfelder, Grasheiden,
Latschen- und Erlenanpflanzungen, aber auch Fichtenund Mischwälder oder Weideflächen. Wichtig für seinen
Lebensraum ist die günstige Kombination von Deckung
und Äsung, denn die Tiere wagen sich nicht gerne weit in
offene Flächen vor.
Der „weiße Hase“, wie der Schneehase auch genannt wird,
ist mit etwa drei Kilogramm Durchschnittsgewicht und
rund 50 Zentimetern Länge etwas kleiner als der Feldhase. Im Vergleich erscheint er insgesamt molliger und niedlicher. Die etwa zehn Zentimeter langen Ohren erreichen
– nach vorne gelegt – gerade die abgestumpfte Schnauzenspitze. Die Hinterläufe sind beim Schneehasen proportional deutlich länger, an ihrem Ende sitzen übergroße
Pfoten. Die langen, mit steifen Borstenhaaren versehenen
Pfoten mit stark spreizbaren Zehen werden von ihm wie
Schneeschuhe getragen, wodurch sich die Auflagefläche
erhöht. So kann er Schneedecken überqueren, ohne allzu
tief einzusinken und seinen Verfolgern leichter entkommen. Das spart Energie.
So können die Tiere durch Tragen eines weißen „Wintermantels“ den Wärmeverlust um 30 Prozent reduzieren. Bei starkem Wind suchen Schneehasen Deckung auf. Häufig ziehen
sie sich dann in selbstgegrabene Schneegruben, wie in ein
„Schneebett“ zurück. Auch ihre „Pflanzendiät“ haben die
Überlebenskünstler dem jeweiligen Angebot angepasst. Im
Sommer bevorzugen sie Gräser, Kräuter, Knospen und dünne
Zweige von Zwergsträuchern. Auch frische Baumschößlinge
und Jungwuchs werden gerne angenommen. Im Winter, wenn
kaum qualitativ hochwertige Nahrung geboten ist, leben die
Schneehasen von trockenen Gräsern oder von Zwergsträuchern, die vom Wind freigeweht werden und so leicht zuTypisch für den Schneehasen ist der Farbwechsel zwi- gänglich sind. Schneehasen sind in der Lage, rohfaserreiche
schen dem weißen Winterfell und dem braunen Sommer- Nahrungsbestandteile länger im Verdauungssystem zurückzuhalten, dadurch können sie die Energieausfell. Er ist das Ergebnis einer
Der weiße „Wintermantel“ beute erhöhen.
perfekten Anpassungsstrategie
an die Umgebung und dient der
reduziert den Wärmeverlust
In Frankreich, in der Schweiz, in einigen ösFeindvermeidung. In Gebieten
um 30 Prozent
terreichischen Bundesländern und in Südtiohne geschlossene Schneedecke bleiben die Tiere auch im Winter graubraun bis rötlich rol dürfen Schneehasen bejagt werden. In Bayern zählt der
gefärbt, in ganzjährig schneebedeckten Gebieten sind Schneehase seit den 50er Jahren nicht mehr zum jagdbaren
sie stets weiß. Weiße Haare isolieren deutlich besser als Wild. Die natürliche Seltenheit und „Unsichtbarkeit“ führte
dunkle. Das dichte, weiße, am Rücken grobwollige Schnee- wohl zu der Einschätzung, dass die Bestände einem gerehasenfell besteht aus besonders feinen Wollhaaren, die gelten Jagddruck im Herbst und Winter nicht standhalten
weiß erscheinen, weil sie luftgefüllt sind. In der dichten, würden. Doch obwohl sie nicht bejagt werden, sind einige
weißen Unterwolle befinden sich auch Luftpolster und iso- Vorkommen in den Alpen deutlich im Rückgang begriffen.
Die Ursachen dafür sind allerdings weitgehend unklar oder
lieren äußerst effektiv.
noch unerforscht.
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Schützen durch Nützen?
Über die Lebensvoraussetzungen des Schneehasen ist leider nur
wenig bekannt. Dennoch wird er in einigen „Roten Listen gefährdeter Säugetiere“ geführt. Um mehr über seine speziellen Bedürfnisse
herauszufinden, hat Prof. Dr. Klaus Hackländer vom Institut für
Wildbiologie und Jagdwirtschaft an der Universität für Bodenkultur
Wien einige Schlüsselfaktoren zum Überleben des weißen Hasens
untersucht.
In Bayern gibt es kaum Daten über die Bestandsentwicklung von Schneehasen. Deshalb, so heißt es, sei eine
Einstufung in die Gefährdungskategorien nicht möglich.
Schließlich gibt es keine Schneehasenzählungen und auch
keine Jagdstreckendaten, weil der Schneehase in Bayern
nicht bejagt wird. Auch für Österreich ist die Datenlage
unübersichtlich. Die Jagdstrecken unterscheiden nicht
zwischen Feld- und Schneehasen, es werden nur „Hasen“
gemeldet. Das ist schade, denn die Streckendaten liefern
wertvolle Informationen über die Bestandsentwicklung.
Ganz anders im angrenzenden Schweizer Kanton Graubünden. Dort spielt die Jagd auf den Schneehasen eine wesentliche Rolle. Mit der Patentjagd werden jedes Jahr rund
1.000 Schneehasen erlegt. Das sind ideale Voraussetzungen für Forschungsarbeiten. Mich haben dabei vor allem
zwei Fragen interessiert: Die Fortpflanzung der Häsinnen
und die Auswirkungen des Klimawandels.
Durch Erfahrungen in Zoos und auch durch Beobachtungen
im Feld ging man bisher davon aus, dass Schneehäsinnen
zweimal im Jahr werfen und pro Wurf zwischen zwei und
acht Jungen hervorbringen. Die Anzahl der Würfe pro Jahr
ist bei den Hasen klar von den Umweltbedingungen abhängig. Grundsätzlich gilt, dass in kälteren Klimazonen Hasen
weniger oft werfen und größere Würfe haben als in wärmeren Gebieten. Die Zahl der Jungen pro Häsin insgesamt
bleibt dabei in warmen wie in kalten Regionen gleich.
Ich wollte nun wissen, ob es auch beim Alpenschneehase
je nach Höhenstufe Unterschiede im Fortpflanzungsmuster gibt. Zwischen 2003 und 2005 konnte ich mit Hilfe des
kantonalen Amtes für Jagd und Fischerei Informationen von
insgesamt 133 Schneehasen gewinnen. Die Ergebnisse
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der Studie zeigten, dass Alpenschneehäsinnen im Jahr ihrer Geburt nicht zur Fortpflanzung kommen. Offensichtlich
muss die zur Verfügung stehende Energie voll und ganz in
Wachstum und Energiereserven gesteckt werden, um den
Winter zu überleben. In der Altersklasse der ausgewachsenen Häsinnen waren fast alle Häsinnen fortpflanzungsaktiv. Im Gegensatz zu manchen schwachen Feldhasengebieten, wo ein hoher Anteil der Häsinnen durch Überalterung
nicht mehr fruchtbar ist, stieg bei den Schweizer Schneehäsinnen die Anzahl der geborenen Jungen pro Jahr mit
dem Alter an.
Die Untersuchungen haben gezeigt, dass es in der Fortpflanzungsstrategie deutliche Unterschiede zwischen den
Höhenstufen und damit zwischen den Umweltbedingungen
gibt. Ein interessantes Nebenergebnis der Studie: Mehr als
die Hälfte aller Häsinnen hatte drei Würfe pro Jahr und damit einen Wurf mehr als es bisher in der Wissenschaft beschrieben wurde.
gen. Feldhasenrammler verpaaren sich mit Schneehäsinnen, aber Schneehasenrammler kommen bei Feldhäsinnen
nicht zum Zug. Das hat womöglich mit der Größe der Tiere
zu tun. Schneehasen sind kleiner als Feldhasen.
Die zweite Frage galt den Auswirkungen des Klimawan- Der Schneehase ist ein Paradebeispiel dafür, wie variabel
dels. Beim Schneehasen spielt das tatsächlich eine Rolle, die Biologie auf die Umweltbedingungen reagiert. Dieetwa beim Farbwechsel, denn eine fehlende Schneedecke se Flexibilität ist Grundvoraussetzung dafür, dass die Art
verrät den „weißen Hasen“. Im Zuge der Klimaerwärmung erhalten bleibt. Die nachhaltige Jagd, aber auch die Dokumentation der Bestandsentwicklung
ist zu erwarten, dass die SchneefallDie
nachhaltige
Jagd
kann hierzu beitragen. Gerade für den
grenze steigt. Bei einer Erwärmung um
drei Grad, werden wir unterhalb von
schützt die Bestands- Schneehasen ist es daher von großer
Bedeutung, eigens über die Jagdstatistik
1.200 Höhenmetern keine geschlossene
entwicklung
erfasst zu werden. Wir müssen mehr über
Schneedecke mehr finden. Das kann sich
unterschiedlich auf die Bestandsentwicklung der Schnee- die Entwicklungstrends der Schneehasendichten wissen,
hasen auswirken: Der Lebensraum für die „weißen Hasen“ um zu verstehen, welche Faktoren diese Art beeinflussen.
kann kleiner werden. Das heißt, die Schneehasen müssen Ganzjährige Schonzeiten schützen nicht automatisch. Anmit weniger Lebensraum auskommen oder sie passen sich dere Beispiele zeigen, dass Arten, die keine Schusszeiten
den veränderten Bedingungen an. Denn innerhalb einer mehr haben, in ihrem Bestand sinken. Nicht zuletzt, weil
Population gibt es immer wieder einzelne Individuen, die man ohne eine Dokumentation leicht übersieht, dass die
sich weniger prägnant umfärben und im Winter noch etwas betreffende Art zurückgeht. Nach dem Motto „Schützen
braun sind. In schneearmen Wintern werden diese Indivi- durch Nützen“ könnte also auch der Schneehase von der
Jagd profitieren.
duen überleben und sich dann fortpflanzen.
Doch auch wenn der Klimawandel kein Problem für den
Schneehasen ist, droht ihm eine andere Gefahr: Mit der
Erwärmung der alpinen Regionen erobert nämlich der Feldhase ursprüngliches Schneehasenhabitat. Schnee- und
Feldhasen können sich miteinander verpaaren. Die Überlappungszone beider Arten wird immer breiter. In unserer
Studie in Graubünden konnten wir feststellen, dass 14 Prozent der Schneehasen Feldhasengene in sich tragen. Die
Durchmischung wird übrigens nur in eine Richtung vollzo-
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