WS I Perspektiven Psychiatrie aus der Perspektive der Nutzer

Brigitte Richter, 8. Fachtagung Psychiatrie 11./12.02.16 in Berlin:
Anspruch trifft auf Realität – Psychosoziale Versorgung und Ökonomie
WS I
Perspektiven
Psychiatrie aus der Perspektive der Nutzer
Was ist überhaupt ein „Nutzer“?
Laut Definition ist ein Nutzer ein Patient „wobei Patient einen in seinen psychischen
Funktionen beeinträchtigten Menschen meint. Patienten sollen keineswegs als passive Behandlungsobjekte, sondern als aktive Nutzer therapeutischer Angebote betrachtet werden, die auf der Basis intensiver eigener Erfahrung, also aus‚ SachKenntnis’ heraus (‚Psychiatrie-Erfahrene’, Experten ihrer Krankheit) durchaus in der
Lage sind, kompetent zu prüfen, was ihnen gut tut, und sich ein Urteil über therapeutische Maßnahmen zu bilden.“ (Sozialpsychiatrische Informationen. 1/1996, S.
21; „Nutzerorientierung“ kam damals gerade auf.)
Der Patient als Nutzer und der Behandler als Dienstleister, das klingt zunächst einmal für die Patienten sehr gut, dreht aber letztendlich das alte, paternalistische
Machtgefälle fast um. Für eine gemeinsam getragene Therapieentscheidung taugt es
meiner Meinung nach nicht, weil auch der langjährig erfahrene Patient nur seine eigene Krankheitserfahrung hat, aber kein Fachwissen und zeitweilig auch keine Introspektionsfähigkeit mitbringt, mit denen er die therapeutische Leistung beurteilen
kann.
Der Begriff „Nutzer“ scheint mir hier deshalb gut gemeint, aber doch nicht ganz angebracht. In anderer Bedeutung will ich ihn jedoch gerne gelten lassen, nämlich in der,
dass ein Nutzer ein Mensch ist, dem Psychiatrie nutzen soll.
„Perspektive“ meint nach Duden „Betrachtungsweise“, „Sicht“, „Blickwinkel“.
Die Sicht auf die Psychiatrie wird jeweils bestimmt von den Erfahrungen, die jemand
gemacht hat. Diese reichen von der Sicht eines erstmals in psychotischem „Zentralerleben“ Verhafteten, der alles, was ihm seine Realität nehmen will, als feindlich lebt,
bis hin zur oft behandelten Depressiven, die freiwillig immer wieder die Klinik
aufsucht, um ihrem Zustand möglichst schnell zu entgehen, bis hin zu einem Bewohner einer geschlossenen Einrichtung, der unter Betreuung steht, weil er seine Umgebung immer wieder aufs Neue verstört.
Die Sicht der Psychiatrie-Erfahrenen auf Psychiatrie reicht von „Psychiatrie ganz abschaffen“ über „möglichst wenig mit ihr zu tun haben“ bis hin zu „an einer besseren
Psychiatrie mitarbeiten“. Eine relative Gemeinsamkeit ist höchstens: „So wie die Psychiatrie ist, ist sie nicht gut (genug)“. Aber auch da gibt es andere Meinungen derer,
die nur gute Erfahrungen in und mit der Psychiatrie gemacht haben wollen. Jeder
einzelne, der als Patient mit Psychiatrie zu tun hatte, hat subjektiv andere Erfah1
Brigitte Richter, 8. Fachtagung Psychiatrie 11./12.02.16 in Berlin:
Anspruch trifft auf Realität – Psychosoziale Versorgung und Ökonomie
rungen gemacht, weshalb es für mich auch DIE Perspektive DER Nutzer nicht gibt wie übrigens auch nicht DIE der Angehörigen oder DIE Psychiatrie überhaupt.
Was Sie also jetzt von mir erwarten können, ist nur die Sichtweise einer Betroffenen
mit 40 Jahren Psychiatrie-Erfahrung (zuerst als schizophrene Patientin, dann als
Ergotherapeutin) und 23 Jahren Erfahrung im Nürnberger Selbsthilfeverein Pandora
e.V. Was ich in unserem Verein aktuell erlebe, trägt viel zu meiner Sichtweise bei.
Das Abstraktum „Psychiatrie“ wird für mich konkret erlebbar in Institutionen und
durch Personen, wobei die handelnden Personengruppen neben Patienten/Klienten
Professionelle und Angehörige sind.
Zur Psychiatrie gehören auch die Angehörigen als die nach einem Klinikaufenthalt oft
sehr stark Belasteten. Bei ihnen muss ich mich für befangen erklären. Mit meinen
Eltern habe ich gerade in Bezug auf meine Erkrankung nur schlechte Erfahrungen
gemacht. Ich bin jedoch überzeugt, dass auch hier entscheidend ist, welche individuellen Persönlichkeiten sich wie für ihre psychisch kranken Familienmitglieder einsetzen und welche Grundbeziehung sie zueinander hatten und haben.
Bleiben noch „Profis“, also Psychiater, Pflege, Psychologen, andere Therapeuten,
Sozialarbeiter, Betreuer und viele Andere.
Die Sicht Betroffener auf Psychiatrie hängt maßgeblich ab von guten oder schlechten
Erfahrungen mit den Personen, die darin arbeiten – egal wo sie stattfindet. Schlechte
Erfahrungen machen Viele z. B. mit Behandlern, die sie unter Zeitdruck nur medikamentös versorgen und wegen Zeit- bzw. Entgeltmangels kaum noch mit ihnen reden. Es gibt zwar bereits erste Anzeichen dafür, dass Psychiater in ihrer Ausbildung
wieder eine „sprechende Medizin“ erlernen, aber ob sie die dann unter den aktuellen
ökonomischen Gegebenheiten anwenden werden, ist eine ganz andere Frage.
Dass ein heilsames Stationsklima weniger Zwangsmaßnahmen generiert, ist wohl
unbestritten. Nur ist es eben nicht in Form von „Verrichtungen“ abbild- und abrechebar, sondern setzt genügend Zeit und genügend gut ausgebildetes, entspanntes Personal voraus, das die Aggressionen der Patienten abfangen kann, statt sie gereizt
weiter aufzuschaukeln. In Mittelfranken unterliegen die Kliniken bei den Betroffenen
einem gewissen Ranking. Es kommt durchaus vor, dass Patienten ihren Wohnsitz
verlegen, um nicht im Zweifelsfall in das Einzugsgebiet einer bestimmten Klinik zu
geraten - des Stationsklimas wegen. (Auch das ist eine Form von „freier Klinikwahl“!)
Nach unserer Erfahrung ist der Lebensweg eines aktenkundig psychiatrisierten Menschen gepflastert mit sozialen Beziehungsabbrüchen, ob zu Behandlern oder Mitbewohnern in Übergangsheimen, Heimen, die nur für begrenzte Zeit bewohnbar sind,
auf diese Weise aber nie ein Zuhause werden können. Von den Menschen, die aus
fast allen Bezügen gefallen sind und nach dem Klinikaufenthalt nach Nirgendwo in
ein geschlossenes Heim verschoben werden, das sie dann doch noch nimmt, will ich
gar nicht reden.
Ein für alle psychiatrischen Behandlungsformen durchlässiges Vergütungssystem ist
nicht vorhanden, aktuell im Pauschalierenden Entgeltsystem PEPP nicht einmal vorgesehen.
Und die Anzahl der psychisch kranken Menschen in Deutschland steigt, - möglicherweise durch häufigere Diagnostizierungen und/oder zu wenige Gesundungen.
Es kommen immer wieder junge Kranke nach, die „alten“ werden dauerhaft kaum gesünder. Die Anzahl der Menschen mit Doppeldiagnose „Psychose und Sucht“ steigt,
ebenso die der traumatisierten Flüchtlinge, die unser Land erreichen.
2
Brigitte Richter, 8. Fachtagung Psychiatrie 11./12.02.16 in Berlin:
Anspruch trifft auf Realität – Psychosoziale Versorgung und Ökonomie
Das alles sind keine guten Perspektiven für alle an Psychiatrie Beteiligten.
Um meine aktuelle Vereinssicht für Sie plastisch zu machen, nehme ich Sie jetzt in
die Niederungen der Realität mit, wie sie mir in der Pandora Nürnberg auf den Nägeln brennt.
Die grausame Realität bei uns sieht so aus: Viele derer, die mit mir seit Gründung
des Vereins 23 Jahre älter geworden sind, sind leider nicht gesünder geworden, sondern eher kränker, und das, obwohl (oder gerade weil?) sich die meisten von ihnen
compliant verhielten und mitleidlos richtlinienkonform behandelt wurden und werden.
Die Erfahrung in unserem Verein ist, dass sich die schweren psychischen Erkrankungen kein bisschen auswachsen, sondern die akuten Phasen immer länger und
schwerer, die Klinikaufenthalte häufiger und länger werden. Auf der Beziehungsebene hinterlassen die Krisen immer mehr langfristig zerbrochenes Geschirr.
Die eigene Wohnung muss aufgegeben werden, weil ein Sozialpädagoge oder Betreuer befindet, dass jemand von uns nicht mehr fähig ist, alleine darin zu leben oder
derjenige sich das in der Depression selbst nicht mehr zutraut. In den üblichen
soziotherapeutischen Heimen untergebracht wird er dann „gut versorgt“ – vor allem
medikamentös! Woher soll er da noch den Antrieb nehmen, wieder selbständiger zu
werden? Der Umgang mit ihm wird trotzdem oft nicht leichter. Manche von uns sind
zu ganz furchtbaren Persönlichkeiten geworden - aus welchen Gründen auch immer.
Aber wie ist es erst, wenn wir in den vergangenen Jahren unter immer schlimmeren
Psychosen oder Manien gelitten haben und dann auch noch zusätzliche körperliche
Krankheiten aufsammeln, die vielleicht auch von den im Laufe des Lebens eingenommenen Psychopharmaka herrühren können, wenn wir dann eben keine für uns
gnädige Demenz bekommen, sondern möglicherweise „nur“ inkontinent und pflegebedürftig werden? In den Altenheimen fehlt bisher meist gerontopsychiatrisch ausgebildetes Personal. Hilfskräfte sind ja billiger. Psychisch auffällige Alte stören aber den
Arbeitsablauf. Eingeschliffene Praxis ist es deshalb, dass psychisch kranke alte Menschen abwechselnd in der Gerontopsychiatrie medikamentös eingestellt und im Altenheim medikamentös ruhig gestellt werden – oft ohne jede Rücksicht darauf, dass
alte Menschen eine viel geringere Dosis verkraften und ohne sich viele Gedanken
über mögliche Wechselwirkungen mit den Medikamenten gegen die körperlichen
Krankheiten zu machen. Die Pharmaindustrie freut sich.
So weit dieser ausführlichere Ausflug in die Niederungen des Altwerdens psychisch
kranker Menschen. Ihr Ergehen ist mir - durch mein eigenes Alter bedingt - ein besonderes Anliegen.
Hatte sich nicht die Sozialpsychiatrie auf die Fahnen geschrieben, bei den Schwerstkranken zu beginnen? Oder haben diejenigen „eben Pech gehabt“, die durch Hoffnungslosigkeit, Selbststigmatisierung und u. U. die psychiatrische Behandlung selbst
zu chronisch psychisch Kranken geworden sind?
Jammern liegt mir nicht. Ich formuliere deshalb mein Thema um in:
„Welche Perspektiven muss Psychiatrie entwickeln, damit sie den Behandelten Nutzen bringt? (Realität kann ja auch Anspruch generieren!)
Eine gute Psychiatrie hält – aus meiner Sicht - möglichst vielfältige, gut verbundene
Behandlungsmöglichkeiten vor, um eine individuell nachhaltig gesundungsfördernde
Behandlung zu ermöglichen. Und diese müssen auskömmlich entgolten werden.
3
Brigitte Richter, 8. Fachtagung Psychiatrie 11./12.02.16 in Berlin:
Anspruch trifft auf Realität – Psychosoziale Versorgung und Ökonomie
Denn es macht nicht den mindesten Sinn, psychiatrische Patienten aus ökonomischen Gründen gegen ihren Widerstand oder gegen ihre Aversionen in vorgegebenen Settings und Therapien gesünder machen zu wollen oder ausschließlich
medikamentöse Behandlung im Stress von Zeitdruck und Personalmangel als gesundungsfördernd zu erklären. So etwas wird seelische Erkrankungen nur verstärken.
Weil ich genau diese Gefahr beim PEPP sehr sehe, habe ich mich mit Pandora auch
vehement gegen dieses Entgeltsystem gestellt. Im Verein waren wir nämlich keineswegs der Meinung, dass das PEPP von selbst gegen die Wand fahren würde, sondern vielmehr überzeugt, dass es Viele, auch die unmittelbar Betroffenen, bräuchte,
die den Karren an die Wand hinschieben.

Was wir also brauchen ist ein Behandlungs- und Entgeltsystem, das Vielfalt,
genügend Zeit, entspannten Umgang und möglichst wenig Zwang ermöglicht.
Gewaltfreiheit stellt sicher, dass Betroffene professionelle Hilfe später wieder
freiwilliger aufsuchen.

Wir brauchen ein psychiatrisches System, in dem der stationäre, teilstationäre
und ambulante Bereich für seine Nutzer in beide Richtungen durchlässig ist,
ohne dass Finanzierungsbarrieren das verhindern. Sein Entgeltsystem muss
notwendige Leistungen entgelten und darf diese nicht im Vorfeld einschränken.

Es muss den Behandlern wieder die Möglichkeit eröffnen, in dem Beruf, den
sie gewählt haben, Arbeitszufriedenheit zu finden, damit sie engagiert weiter
arbeiten können. Das wird sich wiederum auf ihren Umgang mit den Patienten
positiv auswirken. So sind sie eher in der Lage, ihre Patienten als ebenbürtige
Menschen zu sehen und zusammen mit ihnen eine individuell passende Behandlung zu suchen.
Diese kann dann auch darin bestehen, Medikamente immer wieder gemeinsam auszuschleichen. (Auch Behandlungsleitlinien sind nur Empfehlungen!!)

Wir brauchen ein Behandlungssystem, das auch sehr junge und alt gewordene psychisch kranke Menschen nicht abschiebt oder ihr Vorhandensein ausblendet.
Alte Menschen mit psychischen Erkrankungen aller Art, nicht nur Demente,
benötigen individuell seniorengerechte Wohnformen und Versorgung.

Wir brauchen Profis, die für die jeweiligen Angehörigen Zeit haben und weder
pauschale Schuldzuweisungen noch pauschale Handlungsanweisungen weitergeben. Es muss vergütete Zeit bleiben für Gespräche mit allen Beteiligten nicht jedoch gegen den Willen der Patienten!

Wir brauchen eine Psychiatrie, die nicht nur mit den beiden anderen Trialogpartnern redet, sondern auch bereit ist, da mit ihnen zusammen zu arbeiten,
wo das im gemeinsamen Interesse aller ist. (So bereits geschehen im Kampf
gegen das PEPP!)

Wir brauchen eine Psychiatrie, zu deren strukturellen Entscheidungen die Betroffenen gehört und in sie nach ihren Möglichkeiten eingebunden werden
(Stichwort „Partizipation“). Ich bin dabei keineswegs der Meinung, dass wir mit
Hinweis auf „Inklusion“ überall unsere Meinung dazu geben müssten. Dafür
sind für Viele von uns die Barrieren zu hoch.

Wir brauchen eine Psychiatrie, die uns verständlich Rede und Antwort zu ihrem Handeln steht und sich bundesweit von Besuchskommissionen und Be4
Brigitte Richter, 8. Fachtagung Psychiatrie 11./12.02.16 in Berlin:
Anspruch trifft auf Realität – Psychosoziale Versorgung und Ökonomie
schwerdestellen auf die Finger gucken lässt, in denen auch „Nutzer“ angemessen Platz haben.

Wir brauchen eine Psychiatrie, die geeignete krankheitserfahrene Menschen –
gegen Entgelt - mit einbindet, damit sie für die Kranken zu Hoffnungsträgern
und Genesungshelfern werden können.

Wir brauchen eine Psychiatrie, die über den Trialog hinaus den Tetralog mit
der Bevölkerung sucht und aushält, die mithilft, die ansteigende Stigmatisierung einzudämmen. Das Verbergen der eigenen Psychiatrieerfahrung verschlingt unendlich viel Energie, die besser für Gesundung eingesetzt werden
könnte. Es wäre nebenbei auch für die Behandler bekömmlicher, weniger mit
der Stigmatisierung ihrer Klientel infiziert zu sein. Auf dem Meer der Stigmatisierung sitzen wir alle – Betroffene, Angehörige und Behandler - im gleichen
Boot.
Für all das ist die Gesprächsbereitschaft aller Akteure einschließlich der Gesetz- und
Geldgeber notwendig, denn solche Psychiatrie ist ohne entsprechenden finanziellen
Aufwand nicht möglich - ein Aufwand, der sich nicht nur für die Gesundheit der Patienten lohnen, sondern auch ökonomisch positiv auf die Gesamtbilanz der Psychiatrie auswirken wird.
Um Psychiatrie zum Besseren zu verändern, werden wir uns noch oft miteinander
auseinander- und zusammensetzen müssen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
5