Ein dünner Ort - Abenteuer Philosophie

Ein dünner Ort
Die Insel Iona in Geschichte und Gegenwart
A
uf meinen Schreibtisch liegen
ein paar Steine aus Iona, dunkelgrüne, die wie Jade oder alter Türkis aussehen, hellgrüne, fast schon
gelbe, schwarze, rote. Und ein größerer
Stein, der alle diese Farben in sich vereint.
Früher, als die Bewohner noch arm und
Besucher selten waren, verkauften Kinder
diese Steine als Souvenirs. Erinnerungen
an Iona.
Am Westrand der Insel durchbricht das
Gneis-Urgestein wie kaum begrabene Dinosaurierknochen den Strand. Der Gneis
T E X T: S A B I N A J A R O S C H
hat während der Formationsphase unserer
Erde noch anderes Mineral mit hochgehievt, das nun in schwarzen, roten und
grünen Flözen das Muttergestein durchzieht. Dazwischen, in kleinen Buchten,
weißer Sandstrand und am Meeressaum,
wasserglänzend, diese schwarzen, grünen
und roten Edelsteine.
Wasser und Stein
Wer sich von seinem Sammeltrieb befreien kann und den Blick hebt, der sieht
an klaren Tagen einen Felsbrocken am
Horizont schwimmen. In unvordenklicher
Zeit hat hier die Erde heiße Lavaströme
ausgespuckt, die in reiner, gebündelter
Säulenform erstarrt sind, sechseckige Basaltsäulen, die dicht an dicht fast die ganze Insel einfassen. Die Wikinger gaben ihr
den Namen Staffa, „Stabinsel“. Zeit, Wind
und vor allem Wasser haben das Kunstwerk vollendet, haben Höhlen aus dem
Fels gebrochen, darunter die größte und
berühmteste: Fingals Höhle, einer Kathedrale gleich. Von Naturforschern wurde
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sie entdeckt, von den Romantikern bekannt gemacht; Keats und Wordsworth
haben sie bedichtet, Turner hat sie gemalt,
Felix Mendelssohn in seiner „HebridenOuvertüre“ in Musik gesetzt.
Abgesehen von einer Kolonie Papageientauchern ist
Staffa unbewohnt.
Wasser und Stein sind die
Grundelemente dieser Landschaft, aber der östliche Teil
von Iona ist flaches Bauernland. Hier legt die Fähre aus
Mull an, hier gruppieren sich
die rund 120 Einwohner der
Insel in einem Dorf, das
schlicht „The Village“ heißt,
und hier gibt es auch die einzige Straße, ein vielleicht drei
Kilometer langes Teerband,
genannt „The Street“, denn
die ganze Insel ist nur fünf
Kilometer lang und zwei
breit.
Es ist gar nicht leicht, diesen Winzling auf der Karte zu
finden: Das Eiland gehört zu
den Inneren Hebriden an der
Westküste Schottlands. Um dahin zu gelangen, setzt man von Oban auf dem Festland mit der Fähre auf die Insel Mull über,
nimmt dort den bereitstehenden Bus, der
in einer guten Stunde zum anderen Ende
von Mull fährt, von wo einen eine weitere Fähre in zehn Minuten nach Iona bringt.
Ein Ort der Kraft
Warum Iona? Es heißt, Iona sei „a thin
place“, ein dünner, ein dünnwandiger, ein
dünnschaliger Ort. Gemeint ist, dass hier
die Trennlinie zwischen Sichtbarem und
Unsichtbarem, Diesseits und Jenseits,
Vergangenheit und Zukunft dünner sei als
anderswo. Das haben die vielen Besucher
im Laufe der Zeit deutlich gespürt. Neben
den schon erwähnten seien noch Boswell,
Dr. Johnson, Sir Walter Scott und Robert
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Louis Stevenson genannt. Dr. Johnson
schrieb in sein berühmtes Reisetagebuch,
dass der Mensch zu bemitleiden sei, dessen Frömmigkeit auf Iona nicht zunähme,
und Mendelssohn, der 1828 in Schottland
war, hatte schon wieder in Glasgow Sehnsucht nach Iona. Wenn er sich im weltlichen Getümmel einmal in die einsamste
Einsamkeit wünschen würde, schrieb er,
dann dächte er an Iona.
Historisch gesehen begann die Geschichte der Insel, als der hl. Columba im
6. Jahrhundert mit der biblischen Idealbesetzung von zwölf Mönchen von Irland
kommend in Iona anlandete, um von hier
aus Schottland zu christianisieren.
Columba, die Kirchentaube
Colum Cille, wie sein Name auf gälisch lautet, heißt übersetzt „Kirchentaube“, aber ein sanftes Täubchen war er auch
als Mönch nicht. Er gehörte dem irischen
Kriegeradel an und verkehrte mit den pik-
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tischen Stammesfürsten im Norden
Schottlands durchaus auf gleicher Augenhöhe. Auch Monster wie das von Loch
Ness konnten ihn nicht beeindrucken. Als
er einmal an diesem See vorbei kam und das Monster gerade den Kopf aus dem Wasser streckte, schickte ihm
Columba einen so kräftigen
Exorzismus hinterher, dass
es seitdem sehr schüchtern
geworden ist und sich kaum
mehr blicken lässt. Diese
Episode wird in der Biographie des Heiligen aus dem 7.
Jh. erzählt. Es ist erstaunlich,
wie lange das Loch-NessMonster schon durch die
Köpfe der Menschen geistert.
Iona wurde zu einem Zentrum des westlichen, keltisch
ausgerichteten Christentums.
Es ist hier nicht der Platz,
ausführlich auf dessen Besonderheiten einzugehen,
nur so viel: Die keltische SpiQuelle: Google Earth
ritualität kannte noch eine
globale Zusammenschau der Gegensätze,
was sich an den Kreuzen mit dem Ring um
die Mitte und den bekannten Spiral- und
Flechtmustern ablesen lässt.
Am Rand der Welt
und doch mittendrin
Auch den Wikingern entging diese kleine Insel nicht; sie plünderten und mordeten. Müde der dauernden Überfälle, zogen
sich die Mönche wieder nach Irland zurück, nach Kells. Sie nahmen ihre Bibliothek mit, darunter wahrscheinlich auch jene illuminierte Bibelhandschrift, die als
das Book of Kells heute den Schatz des
Trinity College von Dublin bildet. Iona
war nämlich auch ein Zentrum des Wissens und der Kultur. Klein und abgelegen,
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doch mit der Welt verbunden: Das Blau in
den Illustrationen des Book of Kells ist
Lapislazuli, und das gab es nur in Afghanistan!
Die irischen Mönche wurden im 12. Jh.
von den Benediktinern abgelöst, die eine
Abtei bauten; später kam noch ein Nonnenkloster hinzu. Beide verfielen während
der Reformationszeit. Das Nonnenkloster
ist eine romantische Ruine geblieben. Die
Abtei mit all ihren Gebäuden aber grüßt
heute wieder die Besucher, die sich der Insel nähern. Sie wurde von der Iona Community neu aufgebaut, einer internationalen ökumenischen Gemeinschaft aus
Priestern und Laien, Frauen und Männern,
die seit 1938 besteht.
Ihr Gründer George MacLeod hat erstaunlich viele Ähnlichkeiten mit Columba. Auch er aus adeligem Haus, ein hochdekorierter Veteran des Ersten Weltkrieges, der sich zu einem kompromisslosen
Pazifisten wandelte, ein Priester der schottischen Amtskirche, der in den Slums von
Glasgow arbeitete, ein charismatischer
Mann mit Durchsetzungswillen.
Das Experiment einer ökumenischen
Gemeinschaft, die zum einen sehr in der
Sozial- und Friedensarbeit engagiert ist,
zum anderen eine Erneuerung kirchlicher
Formen anstrebt, wurde von seiner eigenen Kirche lange Zeit mit äußerstem Misstrauen betrachtet. Die einen machten „papistische Strömungen“ aus; den anderen
war die Ausrichtung einfach zu „links“ –
man siedelte die Iona Community irgendwo auf halbem Weg zwischen Rom und
Moskau an.
Die Abtei
Das Nonnenkloster
Schwanger mit
vielen Möglichkeiten
Heute ist sie in gewisser Weise eine Institution geworden, und auch das hat seine Tücken. Doch noch immer war die Gemeinschaft flexibel genug, sich neuen
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que l’esprit règne. (Jacob Lipchitz, ein Jude, treu dem Glauben seiner Vorfahren,
hat diese Jungfrau für das gute Verständnis aller Menschen auf der Erde gemacht,
damit der Geist herrsche.)
Ja, unsere liebe Frau von Iona geht
schwanger mit vielen Möglichkeiten!
Die Schatzinsel
Keltisches Kreuz in der Abtei
Kreuzgang in der Abtei
Herausforderungen zu stellen. Vielleicht
ist dies ihre wichtigste Aufgabe: In Zeiten,
in denen die Ökumene (und überhaupt jede abweichende Meinung) einen schweren Stand hat, an der Gemeinsamkeit festzuhalten.
Deutlich macht das nicht zuletzt die moderne Bronzeskulptur, die in der Mitte des
Kreuzgangs steht. Sie stellt eine Taube
Eine der zahlreichen Buchten
dar, die von oben kommt und die vier Enden eines Tuches in ihrem Schnabel zusammenfasst, ein Tuch, das mit Sternen
übersät ist und in dessen Mitte eine Madonna steht. Der Künstler hat sich und
sein Credo auf der Außenseite so verewigt: Jacob Lipchitz, juif fidèle à la foi de
ses ancêtres, a fait cette vierge pour la bonne entente des hommes sur la terre afin
Bei Tag ging ich über die Insel, mal zum
„Weißen Strand der Mönche“, mal stieg
ich auf die „Sturmhöhe“, dann wieder auf
den grünen „Hügel der Engel“, besuchte
den „Hafen der Weißen Steine“, legte
mich in die „Bucht der Sandaale“ oder
guckte über die Steilklippen runter auf die
„Spitze des Großen Fisches“. Die Karte
von Iona liest sich wie die Karte der
Schatzinsel …
Am Abend nach der Andacht in der Abtei gab es noch Tee und einen Schwatz
oder auch einen Single Malt Whisky in
dem einzigen Pub, das eine Lizenz dafür
hat, und dann einen beschaulichen Rückweg in der nicht enden wollenden Abenddämmerung.
Der Friedhof ist der älteste authentische
Teil der Abtei. Duncan und sein Mörder
Macbeth sollen hier begraben worden
sein, und vor ihnen die schottischen Könige zweier Jahrhunderte. Zwischen dem 8.
und dem 10. Jh. war ein Grab auf Iona sozusagen die Krönung der irdischen Laufbahn.
Aber man muss nicht unbedingt
die letzte Ruhe suchen, um die kraftvolle
Stille von Iona zu genießen.
Für weitere Informationen:
http://www.iona.org.uk/
http://www.isle-ofiona.com/accommodation.htm
Wer auf Iona übernachten will, sollte sich unbedingt vorher um eine Unterkunft kümmern.
Wenn man gut zu Fuß ist, ist das schöne, ökologisch geführte Hostel sehr zu empfehlen.
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