Richard Reichensperger Ilse Aichinger: Seegeister Reclam Ilse Aichinger: Seegeister Von Richard Reichensperger Drei Episoden aus der sich eben formierenden Wohlstandsgesellschaft, geschrieben 1952, kurz vor dem ersten Italienboom, kurz vor Schlagern wie »Capri, wo die rote Sonne im Meer versinkt«: Ilse Aichingers Seestück – situiert wohl am Attersee im Salzkammergut1 – besingt keine Sonnenuntergänge; vielmehr schlägt hier das Urlaubsvergnügen ins Gespenstische um: »Da ist der Mann, der den Motor seines Bootes, kurz bevor er landen wollte, nicht mehr abstellen konnte.« (111) Mit seinem Boot, das zuletzt längsseits aufgerissen wird und »von nun an Luft« tankt (114), fährt er wohl auf ewig weiter – ein moderner, ein unglücklicher Fliegender Holländer mit seinem Luftschiff im doppelten Sinne: »In den Herbstnächten hören es die Einheimischen über ihre Köpfe dahinbrausen.« (114) Auch die letzte Episode endet mit einem solchen allgemeinen Ausblick, bezogen auf drei Mädchen, die einen Matrosen auslachten, damit in den Tod trieben und nun, wohl zur Strafe, als Geister am See wiederkehren: »Wer sie sieht, sollte sich von ihnen nicht beirren lassen. Es sind immer dieselben.« (118) Solche Sentenzen sind typisch für Sagen, jene knappen Erzählungen, die bestimmte Orte, Personen, (Natur-)Ereignisse mit numinosen oder mythischen Elementen verknüpfen; auch Toten- und Geistersagen gehören dazu.2 Gleich drei davon, auf einen See bezogen und insofern Lokalsagen, erfindet Ilse Aichinger. Diese drei Blicke auf den See folgen auch darin der Gattung, dass der Sage die Beschwörung oder Erklärung des Lokalkolorits meist ebenso wichtig ist wie die darin auftauchenden Personen: die Geister sind dem See zugeordnet und, was in Seegeister zum Thema 1 © 2007 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Richard Reichensperger Ilse Aichinger: Seegeister Reclam wird, keine »Individuen«. In die Moderne verschoben wird die Gattung dadurch, dass die in derTradition strenge Trennung von »Überirdischem« und »Irdischem« hier nicht mehr gilt. Diese Seegeister gehen allesamt direkt aus der ›normalen‹ Welt hervor. Das im Urlaub und im Konsum Übliche – Bootsfahrten oder Sonnenbrillen – wird in der für die frühe Ilse Aichinger typischen strengen Logik im Absurden einfach ins Extrem verlängert:3 So wird der Genuss beim Bootsfahrer derart ausgedehnt und weiter gedacht, dass er im wörtlichen und dann ironischerweise auch im metaphysischen Sinne nicht mehr damit aufhören kann. Das erklärt auch den Satz, mit dem die letzte am Sommerende noch am See Verbliebene, ein Mädchen, ihren Abschied vom Bootsfahrer kommentiert: »Sie warf ihm eine Kußhand zu und dachte: ›Wäre er ein Verwunschener, ich wäre länger geblieben, aber er ist mir zu genußsüchtig!‹« (113) – Mit solcher Ausdehnung ins Extrem arbeitet auch die zweite Episode, wo Sonnenbrille und ihre Trägerin derart verschmelzen, dass das Ablegen des Konsumgegenstandes zur Selbstauflösung führen würde. Diese kleinen Erzählungen funktionieren also wie ein Spiegelkabinett, das materielle Körper so dehnt, dass sie ›unwirklich‹ und eben geisterhaft werden; und doch wäre dieses Bild nicht möglich ohne das materielle Substrat. In einem schon klassischen Vorwort zu einer einschlägigen Anthologie hat Mary Hottinger diese Verbindung von Alltags- und Geisterwelt betont: »Der eigentliche Gegenstand der modernen Gespenstergeschichte ist der Einbruch jener völlig fremdartigen, anderen Welt in die Nüchternheit unseres Alltagslebens; genau genommen ist ihr Herrschaftsbereich jenes Grenzgebiet, in dem diese beiden Welten ineinander übergehen.«4 Dieses »Grenzgebiet« ist die Gesellschaft, ein – wie Geister – unfassbarer Bereich; und ebenfalls wie manche Geister liegt die Gesellschaft drückend auf den Individuen. Dieses Ungreifbare und zugleich Prägende umkreist Aichingers Erzählung. 2 © 2007 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Richard Reichensperger Ilse Aichinger: Seegeister Reclam Seegeister erzählt moderne Sagen auch in dem Sinne, als der Mythos aus der Gegenwart direkt aufsteigt, umgeben von Autolärm, Jachten, Tennisspiel und Ausflugsdampfer. Diese Welt der Freizeitgesellschaft bildet aber selbst schon einen Mythos im Sinne eines geschlossenen und unhinterfragten Systems, eine Glückskonstruktion, ein Mythos, der Glauben verlangt und dazu unterwirft. Diesen massiven Druck, den die Freizeitideologie ausübt, bestimmte Theodor W. Adorno in einem seiner letzten Rundfunkfeuilletons. »Freizeit« erkennt er darin als einen Bereich, der »im Zeitalter beispielloser sozialer Integration« ebenso gesellschaftlich diktiert sei wie die Arbeit: »Selbst wo der Bann sich lockert und die Menschen wenigstens subjektiv überzeugt sind, nach eigenem Willen zu handeln, ist dieser Wille gemodelt«.5 Weil der Zusammenhang des Begriffs »Freizeit« mit dem von »Arbeit« verdrängt wird, weil beide »im bürgerlichen Denken« streng geschieden werden (»erst die Arbeit, dann das Vergnügen!«), wird in der zur Gegenwelt stilisierten »Freizeit« alles überbewertet. Solcherart entstehen Fetische, vom Konsumgegenstand bis hin – ein Beispiel Adornos – zur Bräune der eigenen Haut. Fehlt sie nach dem Urlaub, so werde man besorgt danach gefragt, woraus folgt: »Der Fetischismus, der in der Freizeit gedeiht, unterliegt zusätzlicher sozialer Kontrolle.«6 Exakt dieses Zusammenspiel von nur noch scheinbarer Individualität und sozialer Kontrolle ist das Hauptthema in Seegeister. So wenig wie die Geister, die zum See gehören, eine selbständige Existenz führen, so wenig gibt es ein »Individuum«, das unabhängig wäre von Gesellschaft.7 Es ist nicht möglich, diesen Zwang zu verlassen, auch nicht im Urlaub. So erzählt die zweite Episode von einer »Frau, die vergeht, sobald sie ihre Sonnenbrille abnimmt« (114). Diese Sonnenbrille wird zum letzten Gehäuse des »Ich«; ohne die Teilhabe am Konsum – dem Bindeglied zur Gesellschaft – zerfällt es: »Als sie wenig später während einer Segelfahrt auf der Jacht eines Freundes die Sonnenbrille 3 © 2007 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Richard Reichensperger Ilse Aichinger: Seegeister Reclam für einen Augenblick abnahm, fühlte sie sich plötzlich zu nichts werden, Arme und Beine lösten sich im Ostwind auf.« (114) Wenn in der ersten Episode das »Ich« nur noch ewig zwischen Ost- und Westufer hin- und hertaumelt, so treiben es in dieser zweiten Ost- und Westwind immer wieder an den Rand der »Auflösung« (115). Für beide Abschnitte stellt sich die Frage, ob ein »Ich« überhaupt noch vorhanden ist. Die dritte Episode verneint dies von vornherein. Sie führt vor, dass sich ein Selbstbewusstsein hier ausschließlich über die Anerkennung durch andere bilden könnte.8 Das würde aber einen liebevollen Blick voraussetzen. Schon eine andere frühe Erzählung Ilse Aichingers, Das Fenstertheater (1949), zeigt aber (am Beispiel einer vom Fenster aus den Nachbarn belauernden Frau), dass dieser Blick böse, voyeuristisch und denunzierend ist.9 Deshalb wird die Hoffnung auf Anerkennung auch in dieser dritten Episode der Seegeister nicht erfüllt: Ein Matrose auf einem Ausflugsdampfer, verlacht von drei Mädchen, verunglückt bei einem waghalsigen Manöver, das er unternahm, »um den Mädchen zu zeigen, was er wert war« (117). Charakteristischerweise beginnt nach dem Tod des Matrosen in Ilse Aichingers moderner Sage nicht dieser zu geistern; dies tun die drei Mädchen, die für die Gesellschaft stehen, die Anerkennung verweigert. Die Unsicherheit, die diesen Matrosen schon nach dem ersten Lachen erfasst hatte – »er hatte den bestimmten Argwohn, daß es ihn und den Dampfer betraf« (116) –, und der Verlust seines Vertrauens in seine angestammte Rolle werden durch kein positives Echo von außen ›repariert‹. Eine kalte Gesellschaft verweigert dies – und zwar nicht nur aus Sadismus oder Gleichgültigkeit, sondern auch, weil sie selbst gar nichts »Aufbauendes« zu bieten hat. Verknüpft sind die drei Episoden also nicht nur durch die Erzählstimme und die Erzählform, sondern durch ihre gemeinsame Stoßrichtung:10 Zur Sprache gebracht wird, was David Riesman in seinem soziologischen Bestseller The Lonely Crowd (1950)11 als die »Außensteuerung« in der Konsumgesellschaft diagnostiziert.12 Verkürzt 4 © 2007 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Richard Reichensperger Ilse Aichinger: Seegeister Reclam gesagt: In einer Gesellschaft mit Produktionsüberschuss und erhöhtem Konsumbedürfnis dominiert der »außen-geleitete Typus«. Wichtiger als Traditionen oder Familie sind ihm Kollegen und »peer-groups«. Das Verhalten des Einzelnen wird von den Zeitgenossen gesteuert, die Ziele sind nicht selbst gesteckt, sondern verändern sich jeweils mit den Signalen von außen.13 Zentral wird die Empfangs- und Folgebereitschaft für die Wünsche anderer. Diese Angewiesenheit auf Anerkennung erzeugt wiederum eine »diffuse Angst«, ob man den ›peer-groups‹ genüge.14 Deshalb vermessen Menschen des außen-geleiteten Typus ihre Umwelt »wie eine Radaranlage«15. Auch die Figuren in Ilse Aichingers Erzählung sondieren »wie eine Radaranlage« ihre soziale Umwelt und richten ihr Verhalten danach aus: Als seine Kinder dem Mann im Boot vom Ufer her zuwinken, tut er so, »als wollte er nicht landen« (111). Seine erst diffuse, dann immer deutlichere Angst ist, vor den Freunden das Gesicht zu verlieren; deshalb entsprechen seine Ausreden, die eben dies verhindern sollen, exakt den Normen und Erwartungen des Urlauberverhaltens. Der zentrale Imperativ für und bei Urlaub ist »Fröhlichkeit«, das auch als Wort hier konsequenterweise gehäuft auftaucht: Fröhlich ruft er seinen Freunden auf der Terrasse zu, »er wolle noch ein wenig weiterfahren« (112), fröhlich rufen sie zurück, das solle er nur. Am nächsten Morgen ruft er den Freunden und dann auch seinen Kindern zur Erklärung seiner fortgesetzten Bootsfahrt »fröhlich« zu, »der Sommer ginge zu Ende, man müsse ihn nützen« (113). Nun zeigt der Text aber, dass dieses Einlassen auf den Schein ins Verderben führt – durch die eigenen Ausreden baut sich der Bootsfahrer einen Kerker, dessen Mauern die eigenen, nach der Erwartung der anderen ausgerichteten Sätze sind: Als seine Freunde schließlich doch das Gehäuse aufzubrechen beschließen und »am nächsten Morgen eine Rettungsexpedition nach ihm ausschicken wollten, winkte er 5 © 2007 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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