Interpretation. Ilse Aichinger: "Die geöffnete Order"

Richard Reichensperger
Ilse Aichinger: Die geöffnete Order
Reclam
Ilse Aichinger: Die geöffnete Order
Von Richard Reichensperger
Wichtig ist nur, jeden Augenblick auf den Tod bereit zu sein, »zum Sterben
fertig« … Das ist das Kommando, das die Preußen noch nicht erfunden haben!
(Heinrich Böll an seine Mutter, 24. Juli 1943)
Keine deutschsprachige Erzählung einer Frau aus der Generation Ilse Aichingers ist an
der Front situiert. Nicht an der – Frauen traditionell zugeteilten und auch
beschriebenen1 – »Heimatfront«, sondern an der militärischen. Überdies wird in Die
geöffnete Order aus der Soldatenperspektive erzählt; dabei wechselt die wie in
filmischer Technik gegebene Totale von Landschaft und Kriegsgeschehen ab mit den
Nahaufnahmen einer Kurierfahrt und einer Verwundung und wird immer stärker von
der Innenperspektive des Kuriers, von seinen Ängsten, Flucht-und Todesphantasien
überblendet.
Die militärische Ausgangslage der 1950 geschriebenen Erzählung ist der
Stellungskrieg: »Vom Kommando war lange keine Weisung gekommen, und es hatte
den Anschein, als ob man überwintern würde. […] Der Feind lag jenseits des Flusses
und griff nicht an.« (88) Ein Stellungskrieg verstärkt, wie exemplarisch Heinrich Bölls
Briefe von der Westfront im Zweiten Weltkrieg zeigen,2 nicht nur das Gefühl der
Unsicherheit, sondern auch das Bewusstsein des Ausgeliefertseins an unverstehbare,
von fernen Instanzen hinter der Front beschlossene Entscheidungen. Auch in Aichingers
Erzählung fühlen sich einige »unter den jüngeren Freiwilligen der Verteidigungsarmee
[…] dieser Art der Kriegführung« nicht gewachsen (88).
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© 2007 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
Richard Reichensperger
Ilse Aichinger: Die geöffnete Order
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Durch die Wahl dieser Ausgangslage einer drückenden Nicht-Aktivität untergräbt
Die geöffnete Order von Beginn an eine Tradition der auf Aktion ausgerichteten
männlichen Soldatenerzählung, die im Niveau von Ernst Jüngers In Stahlgewittern bis
zu Heinz Konsalik reicht. Im Unterschied zu dieser Traditionslinie werden die dort nicht
befragten Befehlsstrukturen und Begriffe wie »Aktion« und »Order« bei Aichinger in
höchstem Grade problematisiert, ja förmlich dekonstruiert. Deshalb handelt diese
Erzählung nicht nur von einer Kurierfahrt, von Angst, Verwundung, Tod und dem
Erbrechen einer Order, sondern auch von der Sprache, auf der solche Befehle und
Abläufe fußen: indem der Text diese kritisiert, bringt er jene zu Fall.
Denn was, zum Beispiel, ist eine militärische Aktion? Im traditionellen
Verständnis, und damit setzt die Erzählung ein, stellt diese einen Angriff oder die
Verteidigung im Kampfgeschehen dar. Genau dies wird den Soldaten hier aber
verweigert, und deshalb beschließen sie, selbst eine Aktion zu setzen, nämlich »auch
ohne Befehl anzugreifen, bevor Schnee fiel« (88). Gegen Ende aber, als der zu
einerAktion – dem Überbringen der Order ans Kommando – bestimmte Soldat
verwundet in einem Zimmer der Kommandozentrale liegt, da sieht dieser die
eigentliche »Aktion« nicht mehr in einem Angriff, sondern in einer Flucht (94). Und da
er dazu, seiner Verwundung wegen, nicht fähig ist, wird der Begriff noch weiter
umgedreht: »Aktion« ist jetzt genau das, wovor zu Beginn eine traditionelle
Angriffsaktion retten sollte: das Zurückgeworfensein auf sich selbst, ohne Weisung, das
Ausharren in einer – nun physisch durch die Verwundung erzwungenen – Nicht-Aktion.
»Und war nicht der reinste aller Zustände Verlassenheit und das Strömen des Blutes
Aktion?« (95), fragt sich der Verwundete, während ihm die realen Aktivitäten in der
Kommandozentrale, die nach Überbringung der Order nun tatsächlich einen Angriff
vorbereitet, leer erscheinen: »›Wozu das alles?‹ dachte der Mann« (94).
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© 2007 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Im Verlauf der Erzählung hat sich auch der Begriff »Kampf« verkehrt, er ist kein
äußerer, sondern ein innerer, und diese Entwicklung verläuft parallel zum Weg, den die
Order nimmt: Gegen die von oben in Form von Befehlen vollzogene Verfügung über das
Subjekt brechen immer stärker dessen Phantasmen, brechen Todesangst und
Todeswunsch hervor. Diese Abstufungen werden im Aufbau der Erzählung durch eine
dreimalige Uminterpretation des Wortlauts der Order markiert: »Die Order lautete auf
seine Erschießung« (91); »Die Order lautete auf dieErschießung des Überbringers«
(93); und schließlich die beiläufige Anmerkung eines Stabsoffiziers, der Wortlaut der
Order sei bloß »eine merkwürdige Chiffre für den Beginn der Aktion« (96). Die
Erzählung zeichnet dabei nicht nur den Weg von der Unruhe zur relativen Gelassenheit
einer »verzweifelten Heiterkeit« (95) nach, sondern destruiert in diesen drei Stufen mit
ihren beständigen Uminterpretationen des scheinbar Feststehenden die Normen des
Über-Ich.
Der erste Abschnitt, der mit dem Erbrechen der Order endet, setzt ein mit einem
Geflecht aus Schuldgefühl und Projektionen: Zwar gehört der ausgewählte Kurier zu
den scheinbar Tapferen, die schon zum Angriff »auch ohneBefehl« entschlossen waren,
aber das militärische Über-Ich – »Er wußte, daß sie keinen Scherz verstanden, wenn es
um Meuterei ging« (88) – generiert Schuldgefühle, welche auch die Deutung der Order
steuern: Wenn die Order auf Erschießung lautet, so wohl, vermutet der Kurier, wegen
dieser – im Übrigen ja nur geplanten – »Aktion ohne Befehl« (91). Deshalb muss der
beigegebene Fahrer auch »Eskorte« sein (91), alle Sätze, die dieser spricht, werden im
Kontext der Todesgewissheit des vermeintlichen Delinquenten umgedeutet. Phrasen
wie »Wir werden eine ruhige Nacht haben!« (91) klingen mit dieser Vorsteuerung »wie
reiner Hohn« (91). Konsequenterweise denkt der Verwundete beim Satz »Wir sind jetzt
bald am Ziel!« (93) nach der Lektüre der Order nur noch: »Dem Verwundeten wird der
Tod versprochen« (93).
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Die hermeneutische Falle, die hier zuschnappt, ist diejenige, in welcher die
Dorfbewohner aus Kafkas Roman Das Schloß festsitzen: Die Macht der Mächtigen
beruhtdarauf, dass die Unterworfenen jede mehrdeutige Äußerung oder auch
Nichtäußerung sofort zu deuten versuchen und damit die Abhängigkeit in der
Machthierarchie weiterhin akzeptieren, ohne je aus diesem Bannkreis herauszutreten.
Die Bewegung eines solchen Heraustretens macht den ›Drive‹ von Aichingers Erzählung
aus. Insofern ist sie, obgleich sie in einer Situation physischer Ausgesetztheit endet,
eine Befreiungsgeschichte.
Am Beginn erwarten die Soldaten einen Befehl. Ein solcher würde ihnen,
vermeintlich, Halt geben, jene Orientierung, die George Saiko in einer die Kriegsmythen
von Heimkehrern problematisierenden Erzählung benennt als »jene Geborgenheit, die
aus dem Zwang, aus der unerhörten Eindeutigkeit des Befehls kommt«.3 Zweifellos hat
solche Eindeutigkeit eine Entlastungsfunktion, zumindest so lange, wie der Zwangsund Scheincharakter dabei nicht reflektiert wird.
Diese Illusion einer möglichen Sicherheit durch eindeutigen Befehl greift Die
geöffnete Order durch ihre sprachliche Mehrdeutigkeit an: Was der Befehl verspricht,
nämlich Entlastung und Orientierung, leistet er nicht, weil er selbst, wie die
Uminterpretationen beweisen, mehrdeutig und auslegungsbedürftig ist. Gleichzeitig
wird aber die diese Mehrdeutigkeit nun festlegende und als »Chiffre« benennende
Schlusspointe von der Gegenrichtung her, derjenigen der eindeutigen Geschehnisse,
ausgehöhlt: Obwohl die Order nur »Durch den Schuß lädiert« ist, wie ein Offizier erklärt
(96), hat sich davor ihr chiffrierter Inhaltdoch schon fast erfüllt: Der Überbringer wurde
tatsächlich angeschossen. Und da die Order als Chiffre den Beginn eines Angriffes
signalisiert, verweist sie auf etwas, was wie bei allen Angriffen im Krieg stattfinden
wird: Erschießungen. Trägt nicht jeder Soldat die Order zu seiner Erschießung
tatsächlich unausgesetzt mit sich?
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Ilse Aichinger: Die geöffnete Order
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Die Kritik an Befehls- und Gewaltstrukturen entwickelt dieser Text auf der
Sprachebene also in einer Doppelstrategie: Während das Verständnis des scheinbar
eindeutigen Begriffes »Aktion« durch eine Reihe von Permutationen immer weiter
aufgefaltet und ins Gegenteil verkehrt wird, wird die mehrdeutige Chiffre als eindeutige
Bedrohung gelesen: Was – wie oft in der Sprache der Militärs – verschleiernd gedacht
war, das wird hier dechiffriert: der Soldat trägt die Order seiner eigenen Erschießung
mit sich. So wird die Order hier auch im doppelten Sinn geöffnet, nämlich in ihrem
Zynismus offen gelegt. Mit dieser starken und sehr frühen Sprachreflexion steht Die
geöffnete Order auch innerhalb der Tradition der kritischen Kriegsgeschichte – von
Borchert und Böll bis Schnurre – singulär.
Und doch ist die militärische Ebene noch nicht alles; Aichingers Geschichte
erzählt noch etwas, indem sie von dem spricht, was nicht nur im Kriegsalltag – dort
aber am deutlichsten – dauernd präsent ist, aber verdrängt wird: Der Tod ist der
»Cantus Firmus« der Erzählung, und zwar so stark, dass Klaus Hoffer in seiner
Interpretation sagen kann: »Ich sage mir, die Schlucht mit dem Fluß, der auf der Fahrt
durch den Wald da und dort in der Tiefe einsehbar wird, ist die Schlucht des Acheron.«4
Damit ist auch schon die Kunst der frühen Aichinger benannt: Genaueste Schilderung
sichtbarer Abläufe in der »Wirklichkeit« – die Fahrt, die Natur –, dazu aber ein
Sprechen aus dem und zum Unbewussten. In dem Moment, da hier im Stellungskrieg
Gewissheiten und Befehle brüchig werden, bricht das Verdrängte auf: »Die Kontur des
Bewußten verfließt in der Finsternis.« (91) Alles gewinnt einen doppelten Boden, auch
die Sprache, zum Beispiel das Wort »Grenze«.
Frühe Texte Ilse Aichingers kreisen um Begriffe wie »Freiheit«, »Abschied«,
»Ort« und eben »Grenze«. In der poetologischen Äußerung Das Erzählen in dieser Zeit,
das sie ihrer ersten, auch Die geöffnete Order enthaltenden Sammlung von
Erzählungen 1952 vorangestellt hat, wird das moderne Erzählen mit reißenden Flüssen
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© 2007 Philipp Reclam jun., Stuttgart.