Artikel über Kinder-Castings

KULTUR
DEFGH Nr. 214, Donnerstag, 17. September 2015
–
★★
Boom der Kinderfilme Die richtigen Stars zu finden, ist ein schwieriges Geschäft
Bunte Sachen
Die Suche nach dem richtigen Puzzleteil
Von „Frechen Mädchen“ und „Wilden Kerlen“: Stefany Pohlmann profitiert von der Sehnsucht nach Kinderfilmen.
Denn sie castet die angehenden kleinen Stars und verlässt sich dabei vor allem auf ihre Intuition
von barbara hordych
S
ie sorgt dafür, dass den „Wilden Kerlen“ neues Leben eingehaucht wird:
Stefany Pohlmann hat nicht nur deren Filme Nummer drei bis fünf gecastet –
damals noch gemeinsam mit ihrer früheren Geschäftspartnerin– , sondern sie hat
jetzt, nach acht Jahren Pause, auch den
kompletten Cast für deren neuen Film zusammengestellt. „Das sind sieben Hauptrollen und sieben Gegner“, zählt die Münchner Casterin auf. Und lässt sich auf eine
Couch mit vielen Kissen fallen, im Empfangsraum ihrer Firma „Stefany Pohlmann Casting“ nahe der Donnersberger
Brücke. Der Holzboden knarzt, in den Regalen an den Wänden stehen Tausende von
Demobändern, dazwischen hängen Filmposter von „Ostwind“ und anderen großen
Kinoerfolgen. Denn auch die Besetzung
von „Ostwind 1 und 2“, von „Freche Mädchen“, allen „Fünf Freunde“-Filmen sowie
zehn Kinderrollen in dem gerade abgedrehten Film „Connie & Co.“ nach der gleichnamigen Buchreihe hat sie vermittelt. Nicht
zu vergessen die Erwachsenenrollen in
den betreffenden Filmen – beim jüngsten,
im Orient spielenden Fünf-Freunde-Film,
waren das allein dreißig Darsteller.
„Dieses Jahr hatte es auch echt in sich,
ich glaube, alle fünf Wochen kam ich auf einen freien Tag“, erzählt Stefany Pohlmann.
Ihr Unternehmen, das sie mit nur einer Assistentin führt, verfügt über kein eigenes
Archiv, sondern schreibt jedes Projekt neu
aus. „Ich bin Einkäuferin, keine Verkäuferin“ erklärt sie ihr florierendes Geschäft.
Bekommt sie von einer TV- oder Filmproduktion den Auftrag, ein oder mehrere Kinder für Rollen zu suchen, startet sie einen
Castingaufruf: Der geht über ihren Verteiler an alle Agenturen deutschlandweit.
„Ich sage mal so: Dadurch, dass ich alle
Agenturen anspreche, bin ich gerecht“.
Etwa 6000 Bewerbungen gingen dieses
Jahr bei ihr ein, allein für die Neubesetzung der „Wilden Kerle“ waren es 3000.
600 dieser Kinder hat sich Stefany Pohlmann persönlich angeschaut, in der ersten
Castingrunde, in München, aber auch in anderen Großstädten. „Eine erste Vorauswahl treffe ich anhand der Fotos, da sieht
man schon unheimlich viel, wie ein Kind
steht, wie es lächelt, wie es in die Kamera
Sie sucht „keine „dressierten Pudel“: SteFOTO: M. J. WOLLSCHLÄGER
fany Pohlmann.
Das sind die neuen „Wilden Kerle“: In der Endrunde verbrachte Stefany Pohlmann zweieinhalb Tage mit zwanzig Kandidaten in einem Haus in Mittenwald – schließlich überzeugten (von links) Vico Mücke, Ron Anthony Renzenbrink, Stella Pepper, Michael Sommerer, Aaron Kissiov, Bennet Meyer und Mikke Rasch. FOTO: SAM FILM
schaut.“ Lädt sie zum Casting, vertraut sie
auf ihr Gespür, ihr Bauchgefühl. „Ich bin
weniger der analytische Typ, ich gehe mit
dem jeweiligen Kind für etwa zwanzig Minuten als Spielpartnerin in die Situation,
die es mit einem Text vorbereiten sollte.“
Dabei merke sie schnell, ob ein Kind
wirklich Lust am Spiel habe, sich offen in einer Situation verhalte und das umsetze,
was man ihm sage. Als es beispielsweise
darum ging, mit einem Mädchen eine Szene zu spielen, in der sie selbst den Part der
Mutter übernahm, „überzeugte das Mädchen, das sich locker zu mir auf die Couch
setzte, sich spontan traute, mir seine Beine
quer über die Knie zu legen und anfing, mit
mir zu plaudern – schließlich sollte ich ja
seine Mutter sein“, erzählt Pohlmann. Das
Mädchen, das da so erfolgreich „eine Situation herstellte“, war übrigens Leonie Tepe,
die später mit Rollen etwa in den „Vorstadtkrokodilen“ Karriere machen sollte.
Natürlich gebe es auch den Fall, dass die
Tür aufgeht und sie sofort weiß: Dieses
Kind ist nicht geeignet für die Rolle, um die
es geht. „Da ist es aber eine Sache des Respekts, mit dem Kind, das ja extra einen
Text gelernt hat, trotzdem zwanzig Minuten zu spielen, auch wenn ich weiß, dass es
unterm Strich vertane Zeit ist“, sagt Pohlmann. Andererseits: Es habe schon Fälle
gegeben, in denen ein Kind nicht für diese
eine bestimmte Rolle in Frage kam. Aber
es passte plötzlich einige Monate später
für eine ganz andere. „Mir hat einmal ein
Satz, den Anita Loos bei einem Casting zu
ihrer Tochter Lilly sagte, so gut gefallen,
dass ich ihn immer wieder gerne zitiere:
„Du kannst ein tolles Puzzleteil sein, aber
das ist nicht das richtige Puzzle für dich.“
„Generell ist festzustellen, dass der
Markt boomt – in mehrerer Hinsicht“, sagt
Pohlmann. Da seien erst einmal die Kinderagenturen, von denen es inzwischen
deutschlandweit rund hundert gebe. Noch
vor sechs, sieben Jahren ging es zum sogenannten „Streetcasting“, wenn ein Kind
für eine Rolle gesucht wurde. „Da haben
wir wirklich auf der Straße Kinder angesprochen, die von Aussehen und Ausstrahlung her für eine Rolle passten. Das kann
man sich heute gar nicht mehr vorstellen.“
Wenn überhaupt, dann seien es Agenten,
die Kinder auf der Straße ansprächen.
Auch die Zahl der
Kinderschauspielschulen
ist enorm gestiegen
Auch die Zahl der Kinderschauspielschulen, mit entsprechenden Freizeit- und
Ferienkursen, sei enorm gestiegen, sagt
Pohlmann. „Als ich ein Kind war, gab es so
etwas gar nicht“, erinnert sie sich. Bestenfalls hatte eine Schule eine Theater-AG. Sie
selbst studierte Theaterwissenschaften
und kam später über Tätigkeiten als Regie-
assistentin und in einer Filmproduktion
zum Castingberuf. Wie sie den Nutzen solcher Schauspielkurse einschätze? „Wenn
ein Kind gerne schauspielern und sich verkleiden möchte, dann ist das ein schönes
Hobby, das die Phantasie beflügelt und vielleicht auch selbstbewusster macht. Aber
ich kann nicht behaupten, dass Teilnehmer solcher Kurse zwingend anderen Kindern etwas voraus haben“, so Pohlmanns
Erfahrung. Manchmal kann sogar das Gegenteil eintreten. Dann nämlich, wenn Erwachsene, egal ob als Coach oder Eltern,
mit den Kindern einen Text zu sehr auf eine bestimmte Art und Weise einübten –
aber der Regisseur später den Text ganz anders betont und gespielt haben will. „Das
ist dann nur noch schwer aus dem Kopf des
Kindes herauszubekommen.“ Auf keinen
Fall solle sich ein Kind beim Vorsprechen
„wie ein dressierter Pudel“ verhalten.
Welche Voraussetzungen sollte ein Kind
aber dann mitbringen? „Erst einmal muss
es die optischen Voraussetzungen für die
Rolle erfüllen.“ Es sei eben ein Unterschied, ob ein bayerisches Bauernmäderl
gesucht werde oder eine Tochter aus besserem Hause. „Das hat dann gar nichts mit
Begabung zu tun, das ist dann wieder die
Sache mit dem Puzzlestück im falschen
Puzzle.“ Vom Charakter her sollte es offen
sein und sich etwas trauen, auch vor der Kamera. So habe es keinen Sinn, „wenn Eltern ein Kind bei mir vorstellen, das sich
völlig unwohl fühlt und verschüchtert ist“.
Zuhören sei auch eine ganz wichtige Eigenschaft. „Und damit meine ich wirklich Ansagen des Regisseurs aufnehmen können,
nicht nur ‚ja, ja, ich weiß‘ sagen und es trotzdem nicht machen.“ Und wenn es einen großen Cast zu besetzen gibt wie bei den „Wilden Kerlen“, dann falle auch die Gruppendynamik ins Gewicht. „Deshalb gingen wir
sogar zweieinhalb Tage lang mit zwanzig
Kindern in ein Haus in Mittenwald, um zu
sehen, wie es miteinander hinhaut“, erzählt Pohlmann. Da gelte es dann, die Konstellationen und Wechselwirkungen zu berücksichtigen: „Wenn ich den für die eine
Rolle nehme, passt dann der andere zu der
nächsten Rolle?“ Auch die Eltern rücken dabei in den Blick, denn mit denen habe es
der Regisseur ja später am Set zu tun.
„Wenn es von dieser Seite Probleme gibt,
kann das schwierig werden.“
Woher der Boom überhaupt kommt? Es
sei schon kurios, wenn auch völlig einleuchtend, meint Pohlmann. „Einerseits haben
wir immer weniger Nachwuchs und immer
mehr alte Menschen. Trotzdem – und gerade deshalb – liegt der Fokus unheimlich
stark auf dem Jungsein.“ Auch deswegen
gebe es viel mehr Kinderfilme als früher.
Und dann befeuerten natürlich auch die
ganzen Castingshows den Wunsch von Kindern und Jugendlichen, berühmt zu werden. Ohne dafür jahrelang üben zu müssen
wie etwa bei Geige oder Klavier.
Regisseur Norbert Lechner über die Schwierigkeiten beim Suchen und Finden zweier vietnamesischer Kinderdarstellerinnen
SZ: Herr Lechner, wie gehen Sie bei der
Besetzung von Kinderrollen vor?
Norbert Lechner: Meistens mache ich das
Casting selbst, indem ich über Medien wie
Zeitung und Radio Aufrufe schalte. Als ich
für die bayerische Tom-Sawyer-Filmvariante „Tom und Hacke“ in Niederbayern
zwei Jungs für die Hauptrollen suchte,
kam darüber ein halbseitiger Bericht in
der Passauer Neue Presse, danach haben
sich Hunderte von Buben gemeldet.
Bei Ihrem neuen Film „Ente gut!“ gestaltete sich das Casting komplizierter.
Der Film spielt in Halle, also habe ich insbesondere in Mitteldeutschland, in Halle und
Berlin gesucht. Ich habe Tausende von
Schulen in Berlin, Leipzig, Dresden ange-
Der Regisseur, Drehbuchautor und Filmproduzent
Norbert Lechner ist 1961
in München geboren.
Vielfach ausgezeichnet
wurden sein Jugendfilm
„Toni Goldwascher“
(2007) und sein Kinderkrimi „Tom und Hacke“
(2012). FOTO: KEVIN LEE
Musik muss beworben werden,
was zu einer Kunstform wurde
Musikalische Veranstaltungen brauchen
Aufmerksamkeit. Denn das öffentliche Präsentieren – seien es Rumpel-Bands in kleinen Punk-Kneipen oder Plattendreher in
Elektro-Clubs – verliert seinen Sinn, wenn
keiner kommt. Also hat sich um die Musik
herum eine eigene Kunstform entwickelt:
die des Musik-Bewerbens. In der nordamerikanischen Alternative-Szene der Neunzigerjahre standen dafür Collagen hoch im
Kurs. Da wurden diverse Motive aus Zeitschriften ausgeschnitten, wild zusammengeklebt, handschriftlich die Eckdaten der
Veranstaltung dazu geschrieben und dann
in grobkörnigem Schwarz-Weiß kopiert.
Die etwas edlerer Variante davon sind Siebdruck-Poster. Siebdruck erfordert in gewissem Sinne auch eine Collagentechnik. Der
Druck erfolgt in einfarbigen Schichten,
das Motiv muss vorher in diese Schichten
gerastert und auf Filme kopiert werden,
die wiederum zur Belichtung des Siebes
dienen. Und dann wird in bestem Manufaktur-Geist gedruckt.
HERTZKAMMER
Profis nach wenigen Tagen
Der Augsburger Regisseur Norbert Lechner („Tom Goldwascher“, „Tom und Hacke“) dreht mit seiner Münchner „Kevin
Lee Produktion“ derzeit in Halle den Kinderfilm „Ente gut!“, der aus der Initiative
„Der besondere Kinderfilm“ hervor geht.
Erzählt wird die Geschichte der vietnamesischen Schwestern Linh (12) und Tien (9),
die in der Abwesenheit ihrer Mutter alleine
einen Imbiss weiterführen, ohne dass das
jemand bemerken darf. Doch dann entdeckt das Nachbarsmädchen Pauline (11)
ihr Geheimnis und droht, sie zu verraten.
R21
schrieben, aber da merkte man dann auch,
dass es in dieser Region oft Castings gibt.
Zwar haben sich gut 400 Mädchen für die
Rolle des deutschen Mädchens Pauline gemeldet, aber nur relativ wenige vietnamesische Mädchen für die beiden Hauptrollen.
Wie erklären Sie sich das?
In Deutschland leben und arbeiten mehr
als 100 000 Menschen mit vietnamesischen Wurzeln, 20 000 davon alleine in Berlin, aber sie bleiben sehr in ihrer eigenen
Community. Auch wenn sie seit 20 Jahren
hier leben, sprechen sie kaum Deutsch. Ihre Kinder hingegen, die eine deutsche
Schule besuchen, sprechen perfekt
Deutsch, aber kaum mehr Vietnamesisch.
Um die Erwachsenen zu erreichen, habe
ich Anzeigen in einer vietnamesischen Internetzeitung geschaltet, dann haben wir
auch ein Streetcasting bei einem großen
Asia-Vietnammarkt in Berlin gemacht.
Freilich kamen wir da mit unseren deutschsprachigen Flyern nicht weit, also habe ich
sie ins Vietnamesische übersetzen lassen.
lich als erwachsen angesehen. Dann viel
Verantwortung zu übernehmen, ist ganz
normal. Das Problem für die beiden
Schwestern entsteht dadurch, dass die
deutschen Behörden das natürlich ganz anders sehen, die dulden das nicht. Deshalb
ist es auch gefährlich für sie, als das Nachbarmädchen Pauline sie ausspioniert und
ihnen droht, sie auffliegen zu lassen. Aber
eigentlich ist dieses Mädchen nur einsam,
und möchte Kontakt.
Lynn Dortschak, die die große Schwester
spielt, spricht überhaupt kein Vietnamesisch, die musste die Sätze, die sie im Film
sagt, regelrecht lernen. Linda Anh Dang, ihre kleine Film-Schwester, wurde mal in einem vietnamesischen Imbiss von einer Verkäuferin auf Vietnamesisch angesprochen
und reagierte völlig verdattert. Sie erklärte
uns, dass ihre Mama zu Hause schon Vietnamesisch mit ihr spreche, sie verstehe es,
aber sie spreche es nicht.
Auf alle Fälle! Als wir für den Erwachsenencast nach Saigon flogen, hatten wir die
Hoffnung, dort vielleicht ein vietnamesisches Zwillingspaar zu finden, für eine Doppelbesetzung. Denn die Drehzeiten für Kinder sind ja sehr beschränkt, drei Stunden
am Tag. Zwillinge wären eigentlich ideal gewesen, dann hätte die eine vormittags und
die andere nachmittags drehen können.
Aber die zehn Zwillingspaare, die sich
meldeten, waren ungeeignet.
Wie ist das Verhältnis der beiden Mädchen zur vietnamesischen Sprache?
Aber es war für Sie schon wichtig, dass
beide Mädchen deutsch sprechen?
Was meinen Sie mit ungeeignet genau?
Nun, es muss ein Kind sein, das so viel
schauspielerisches Talent mitbringt, dass
es einen Film tragen kann. Dann haben wir
aber auch gemerkt, wie schwierig die Kommunikation mit Kindern aus Vietnam für
uns ist. Sie wäre nur mit einem Übersetzer
gelaufen. Das geht bei unseren erwachsenen, professionellen vietnamesischen
Schauspielern. Aber nicht bei Kindern, mit
denen man intensiver arbeiten muss. Das
ist zu schwierig, wenn man mit ihnen nicht
direkt, sondern nur aus zweiter Hand kommunizieren kann.
Mit welcher Strategie hatten Sie Erfolg?
Unsere Hauptdarstellerin Lynn Dortschak
kam über ihre Schule in Berlin, sie spielt
dort auch Schultheater und hat den Flyer
ausliegen sehen und mitgenommen. Die
Darstellerin ihrer kleinen Schwester, Linda Phuong Anh Dang, haben wir tatsächlich beim Streetcasting auf dem Lichtenberger Dong Xuan Markt angesprochen.
Die beiden Schwestern in Ihrem Film
leben ganz alleine in Halle?
Nur eine gewisse Zeit lang. Die Mutter
kommt am Ende wieder, sie musste für
zwei Wochen nach Vietnam reisen, weil die
Oma dort einen Schlaganfall hatte. Sie müssen wissen, in der vietnamesischen Gesellschaft wird man mit zwölf Jahren eigent-
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Jegliche
Lynn Dortschak (li.) fand über einen Flyer in ihrer Schule zum Film, ihre FilmschwesFOTO: KEVIN LEE
ter Linda Phuong Anh Dang wurde beim Streetcasting angesprochen.
Wie wichtig sind filmische Vorerfahrungen bei Ihren Kinderdarstellern?
Bei Tom und Hacke habe ich mit Darstellern gearbeitet, die überhaupt keine Dreherfahrung hatten. Was oft auch gut ist, die
anderen haben oft schon Allüren. Die beiden Vietnamesinnen hatten auch keinerlei
Filmerfahrung, das ist in meinen Augen
auch nicht notwendig, wenn sie talentiert
sind. Das deutsche Mädchen hatte schon
einmal eine kleine Rolle in einem Film gespielt, kannte also schon die Abläufe bei einem Dreh. Ihre beiden „unerfahrenen“
Darsteller-Kolleginnen sind aber ganz
schnell reingekommen und waren schon
nach wenigen Tagen wie echte Profis.
interview: barbara hordych
Doch auch hier funkte irgendwann das
Internet dazwischen. Ende der Neunzigerjahre waren Flyer und Plakate noch ausgesprochen hilfreiche Werbemaßnahmen,
heute dienen sie allenfalls als Luxus-Beiwerk zur Facebook-Veranstaltung. Und
doch haben Siebdruck-Poster in letzter
Zeit eine ähnliche Aufwertung erfahren
wie Schallplatten. Heute sind sie Lifestyleund Liebhaber-Objekt und machen sich
gut im Wohnzimmer über dem Plattenspieler. So wurde schon 2002 in San Francisco
das „American Poster Institute“ gegründet
– eine Non-Profit-Organisation, die all die
Künstler, die unermüdlich solche Poster
gestalten, verbindet. Dazu veranstaltet es
die „Flatstock“ – eine Art Wanderausstellung und Poster-Messe, bei der die Künstler mit ihren Werken einer Band gleich
durchs Land touren. Eine Dependance der
„Flatstock“ gibt es seit 2006 jährlich im
September in Hamburg, während sich der
in Dresden und Leipzig mit „Colored Gigs“
nun auch schon zum siebten Mal eine ähnliche Veranstaltung anschloss.
Mit Bernd Hofmann hat München einen
ebenso aktiven Künstler dieser Szene. Der
gründete – quasi als Werbemaßnahme für
seine Kunst – das Label Red Can Records
und druckte Plattencover und Poster; mittlerweile widmet er sich fast ausschließlich
dem Drucken und weniger dem Plattenveröffentlichen. Und da Hofmann in der deutschen Poster-Szene kein Unbekannter ist,
hat er nun dem frühherbstlichen und eher
norddeutschen Ausstellungswandern einen süddeutschen Stopp organisiert. Im
temporären Kunstraum Köșt eröffnet nun
die erste München-Ausgabe der „Colored
Gigs“.
rita argauer
Colored Gigs, Vernissage: Freitag, 18. September,
läuft bis So., 20. September, Köșt, Schrenkstr. 8
KURZKRITIK
Schräger Engel
Von Reportage inspiriertes Stück
„Lost Wings“ am Rationaltheater
München – Engel Elvis kann eine ganze Liste an Vorzügen runterbeten, die ein himmlisches Dasein mit sich bringt. Er ist unsterblich, weise, ehrlich, unschuldig, kurz:
perfekt. Doch Elvis hat seine Flügel satt,
möchte viel lieber ein Mensch sein, kommt
deshalb auf die Erde – und landet ausgerechnet auf einer öffentlichen Toilette. Der
Charme solcher Örtlichkeiten ist auf den
18 Quadratmetern der Rationalbühne großartig getroffen: Leicht angesiffte Spiegel
hängen über ausladenen Waschbecken, an
denen ein Wischmopp lehnt, die Fliesen
zieren angeknibbelte Aufkleber.
Das unter einem Pseudonym verfasste
Stück „Lost Wings“ ist von einer Reportage inspiriert, die im Juni in der SZ erschien.
Karin Steinberger berichtete darin über eine junge Äthiopierin, die von ihrem Vater
verkauft wurde und jahrelang als Hausmädchen schuftete. Die Rolle der mosambikanische Klofrau, die Elvis auf der Toilette trifft, erinnert an dieses Mädchen, Nada
(Olga Xavier) verkommt hier allerdings zur
blassen Stichwortgeberin einer eineinhalbstündigen Ein-Mann-Show von Engel Elvis (Danijel Szeredy). Schuld daran sind
nicht die Schauspieler, es ist die Vorlage,
die das hehre Ziel hegt, ein Erweckungsstück gegen Ausländerfeindlichkeit zu
sein, aber über die überschaubare Schnittmenge von menschelndem Engel und mosambikanischer Toilettenfrau stolpert.
Das Gespräch dümpelt vor sich hin, immer wieder stimmt Elvis pathetische Reden an, die aber tatsächliche Tiefe vermissen lassen und etwas floskelhaftes haben:
„Die Zeit ist eine Hure, sie schläft mit jedem.“ Dazu Liedeinlagen, die ein wenig
Kurzweil in das Stück bringen, je weiter die
Menschwerdung fortschreitet, aber immer mehr an das Karaokesingen Betrunkener um drei Uhr morgens erinnern.
Die Verwandlung gelingt, wenn auch
das Programmheft ein paar Details mehr
weiß, die man auf der Bühne vergeblich
sucht. Nachvollziehen, warum Elvis sein
Sauseleben im wolkenlosen Himmel aufgibt, lässt sich aber nicht. Und auch nicht,
was das Ganze mit Ausländerhass zu tun
haben soll.
astrid benölken
Lost Wings, wieder 13. bis 16. Oktober 2015, 20.30
Uhr, Rationaltheater, Hesseloherstr. 18
bahordych
SZ20150917S2868989