Die Weichen werden früh gestellt! Individuelle Ausprägungen mathematischer Begabungen im Grundschulalter 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 1 Meine Gliederung 1. Grundpositionen zum Begriff „Mathematische Begabung“ 2. Allgemeine Merkmale mathematisch begabter Grundschulkinder 3. Individuelle Ausprägungen mathematisch begabter Grundschulkinder 3.1 Verschiedene Problemlösestile kleiner Matheasse 3.2 Geschlechtsspezifische Besonderheiten 3.3 Unterschiedliche kognitive und physiologische Konstellationen kleiner Matheasse 3.4 Unterschiedliche Sozialkompetenzen kleiner Matheasse 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 2 1. Meine Grundpositionen zum Begriff „Mathematische Begabung“ 1.1 Begabung ist ein komplexes interdisziplinäres Themenfeld. • „Indem wir uns von einer sehr vereinfachten (und offensichtlich falschen) Sicht von Hochbegabungen in Richtung auf eine mehr komplexe hin nähern, haben wir eine Position erreicht, von der aus wir eine Menge der Irrtümer der Vergangenheit vermeiden.“ (Torrance 1982) • „Der Begabungsbegriff hat viele Aspekte und entzieht sich wegen seiner generellen und variablen Verwendung einer strengen einzelwissenschaftlichen Definition.“ (König 1986) 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 3 1. Meine Grundpositionen zum Begriff „Mathematische Begabung“ 1.2 Mathematische Begabung ist bereichsspezifisch. 1.3 Grundschulkinder können schon auf außergewöhnliche Weise mathematische Probleme lösen, Strukturen entdecken und mit ihnen „arbeiten“, eine besondere Sensibilität für Mathematik entwickeln, … und somit mathematisch begabt sein. 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 4 Aktuelle Position der Hirnforschung IQ-Wert 70 85 100 115 130 G. Roth (Hirnforscher): • Viele Neuropsychologen gehen von einer Umweltabhängigkeit der Intelligenz aus, die bei 15 bis 20 IQ-Punkten liegt. 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 5 1.4 Die Entwicklung einer Begabung hat einen sehr dynamischen Charakter. • Vorgeburtlich, geburtlich und nachgeburtlich bestimmte Potenziale und ein förderliches soziales Umfeld sind für die Entwicklung von Begabungen unverzichtbar. • Erst ein günstiges Zusammenwirken beider Faktoren ermöglicht die Entfaltung einer Begabung und prägt die Eigendynamik der kindlichen Entwicklung. 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 6 1.5 Es gibt nicht einen einheitlichen Begabungstyp, sondern viele verschiedene Begabungsausprägungen mit zum Teil konträren Merkmalen. Auch mathematisch begabte Kinder weisen, wie Begabte generell, oft seltene individuelle Begabungszüge auf. „Es gibt die kühnen Eroberer, die mit stärkster Intuition, aber ungeordneten Begriffen arbeiten, die durch Instinkt und Anempfinden neue Schätze auffinden und zutage fördern; und es gibt die sorgfältigen Ordner und Verwalter des Gewonnenen, die jedes Ding richtig einzuschätzen und an seinen Platz zu stellen vermögen mit der klaren, sicheren Kritik eines scharfen Verstandes. Die Vereinigung dieser beiden sich widersprechenden Gaben findet sich nur in ganz seltenen Fällen.“ 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster Felix Klein (1849-1925) 7 2. Allgemeine Merkmale mathematisch begabter Grundschulkinder Kompetenz (Begabungspotential) Mathematikspezifische Begabungsmerkmale Begabungsstützende Persönlichkeitseigenschaften Speichern mathematischer Sachverhalte im Arbeitsgedächtnis unter Nutzung erkannter Strukturen Jeweils auf mathematische Aktivität bezogene Strukturieren mathematischer Sachverhalte Hohe geistige Aktivität Intellektuelle Neugier Anstrengungsbereitschaft Mathematische Sensibilität Freude am Problemlösen Mathematische Fantasie Konzentrationsfähigkeit Selbstständiger Transfer erkannter Strukturen Beharrlichkeit Selbstständiges Wechseln der Repräsentationsebenen Selbstständigkeit Kooperationsfähigkeit Selbstständiges Umkehren von Gedankengängen 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 8 Beispiel für das Speichern mathematischer Sachverhalte im Arbeitsgedächtnis 1 19 18 2 9 11 12 8 7 13 14 6 3 17 16 4 Wer kann alle Zahlen korrekt in ein leeres 4x4-Feld eintragen? 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 9 Ein wichtiger Aspekt der mathematischen Sensibilität: Besondere visuelle Vorstellungskompetenzen Sven (10 J.): Svens Lösung zum Erkunden aller Möglichkeiten für die Anzahl von Schnittpunkten bei 1, 2, 3, 4, und 5 Geraden 08.04.2014 „Ich habe beim Knobeln so viele Dinge im Kopf, dass ich das, was ich sagen möchte, nicht [mit Worten] rausselektieren kann.“ Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 10 Svens gedankliche Visualisierung: Eine „doppelte Dreiecksanordnung“ auf der Basis der nachfolgenden Ergebnistabelle Zahl der Geraden Anzahl der Schnittpunkte 0 1 1 X 2 X X 3 X X 4 X X 5 X X 6 X X 7 X X 08.04.2014 2 3 X X X 4 5 6 7 8 9 10 X X X X X X 11 12 13 14 15 X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 16 17 18 19 20 21 X X X X X X 11 Besonderheiten der visuellen Vorstellungskompetenzen Die visuellen Vorstellungen − entstehen intuitiv und sind zumindest z.T. noch unbewusst, − werden als Bilder oder Zeichengebilde und (zumindest) meist nonverbal (gedanklich) repräsentiert, − sind häufig noch unpräzise, − sind aber zugleich sehr komplex, d.h., sie beinhalten wesentliche Grundstrukturen oder Kernideen, − sind individuell geprägt. • Die Problembearbeiter identifizieren sich schnell mit den Vorstellungsbildern, indem sie diese gefühlsmäßig für sehr wichtig und richtig erachten. 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 12 Selbstreflexionen eines Mathematikers der WWU Münster Prof. Dr. Ch. Deninger (Leibniz-Preisträger) 08.04.2014 „Also jeder macht sich halt ein Bild von den Dingen, mit denen er operiert. Niemand operiert ganz, indem er formal irgendwelche Dinge umformt und ohne ein übergeordnetes Bild. Wenn man nicht ein übergeordnetes Bild hat, in irgendeinem Sinne, kann man diese tausende Umformungen, die man machen muss, ja nicht zielgerichtet machen. Man muss schon eine Vorstellung haben. Diese Vorstellung ist irgendwie bildhaft, ja das ist irgendwie, man sieht es. Aber es ist nicht zu vergleichen mit irgendetwas anderem in dieser Welt. … Man sucht, probiert, macht, tut, entwickelt ein Gefühl für den Gegenstand und in irgendeiner Weise entsteht dann ein Bild von dem Gegenstand. Aber das Wort Bild ist … in einem sehr viel weiteren Sinne, als das Übliche, was man darunter versteht, gemeint.“ Prof. Dr. F. Käpnick WWU Münster Besondere Stärken visueller Vorstellungen beim Bearbeiten von anspruchsvollen Problemaufgaben Die besonderen Stärken visueller Vorstellungen ergeben sich gerade daraus, dass sie bild- oder symbolhaft, nonverbal und unpräzise sind. Dies ermöglicht den Problembearbeitern unter Beibehalt wesentlicher Zusammenhänge bzw. Kernideen • ein sehr schnelles Vergleichen und Auswählen von Wichtigem aus dem jeweiligen inhaltlichen Kontext, • eine große Komplexitätsreduktion und damit eine beträchtliche Entlastung des Arbeitsgedächtnisses, • einen sehr flexiblen und spielerisch-kreativen Umgang mit den visuellen Vorstellungen. 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 14 Möglichkeiten, Probleme und Grenzen des Erfassens und Analysierens von Visualisierungskompetenzen • Über ihre visuellen Vorstellungen können die Problembearbeiter nur z.T. reflektieren und sie nur vage beschreiben. • Ein Beobachter kann sie generell nicht erfassen. • Im Ergebnis eines Interviews mit dem Problemlöser kann der Interviewer visuelle Vorstellungen erkennen bzw. vage erfassen und dann analysieren. Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist aber, dass der Interviewer mathematisch kompetent und sensibel für intuitive und individuell geprägte Problemlöseprozesse ist. 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 15 Modell mathematischer Begabungsentwicklung im Grundschulalter von Käpnick und Fuchs Vorgeburtlich, geburtlich und nachgeburtlich bestimmte (r) (allgemeine physische, psychische, kognitive und persönlichkeitsprägende Grundkompetenzen, …) Kompetenz (Begabungspotential) • Gehirnstruktur • Zahlensinn • Räumliche Wahrnehmung und Orientierungskompetenzen • Struktursinn Alter in Jahren Fördernde / hemmende und typprägende intrapersonale Katalysatoren • Körperliche Konstitution • Charakterzüge 10 6 Geburt Entwicklung des Zahlbegriffs, von rechnerischen und geometrischen Kompetenzen Mathematikspezifische Begabungsmerkmale Begabungsstützende Persönlichkeitseigenschaften Speichern mathematischer Sachverhalte im Arbeitsgedächtnis unter Nutzung erkannter Strukturen Jeweils auf mathematische Aktivität bezogene Strukturieren mathematischer Sachverhalte Hohe geistige Aktivität Intellektuelle Neugier Anstrengungsbereitschaft Mathematische Sensibilität Freude am Problemlösen Mathematische Fantasie Konzentrationsfähigkeit Selbstständiger Transfer erkannter Strukturen Beharrlichkeit Selbstständiges Wechseln der Repräsentationsebenen Selbstständigkeit Kooperationsfähigkeit Performanz Weit über dem Durchschnitt liegende mathematische Leistungsfähigkeit (diagnostiziert durch spezielle Indikatoraufgaben sowie durch komplexe prozessbegleitende Fallstudien,…) Selbstständiges Umkehren von Gedankengängen • Sprachliche und allgemeine kognitive Potentiale •… 08.04.2014 Fördernde / hemmende und typprägende interpersonale bzw. Umweltkatalysatoren Prof. Dr. Käpnick WWU Münster (bedeutsame Personen, physikalische Umwelt, Interventionen (Kindergarten, Schule,…), besondere Ereignisse, Zufälle,… 16 2. Warum ist eine individuelle und nachhaltige Förderung jedes kleinen Matheasses sehr wichtig? Aspekt: Individuelle Förderung • Kleine Matheasse unterscheiden sich z. T. sehr stark bzgl. ihrer Leistungspotenziale, Einstellungen, Lernstile, Selbstkonzepte, Sozialkompetenzen, ... Aspekt: Nachhaltige Förderung • Kontinuierliche langfristige Förderung • Mitbestimmung und Eigenverantwortung jedes Kindes • Flow-Erlebnisse und andere emotional relevante Erlebnisse • Gemeinschaftsleben (Traditionen, Rituale, Freundschaften, …) 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 17 Einschätzungen der Viertklässler des Projekts „Mathe für kleine Asse“ am Ende der Schuljahre 2007/08 bis 2012/13 1. Gründe für die Teilnahme am Projekt 07/08 08/09 09/10 10/11 11/12 12/13 • • • • Ich knoble gern. Meine Eltern wollen es. Meine Lehrerin will es. Ich langweile mich in der Schule oft. 17 2 2 7 15 5 5 7 24 6 4 14 21 7 6 16 20 6 8 12 27 12 4 13 • • • • Meine Freundin / mein Freund macht mit. Ich will neue Freunde kennen lernen. Mathe ist eines meiner Lieblingsfächer. Ich will mehr wissen. 4 1 13 8 6 1 14 4 6 5 12 15 10 3 26 12 9 3 22 17 11 2 25 18 • • • • Ich kann sehr gut rechnen! Ich löse gern schwere Aufgaben. Ich langweile mich öfter zu Hause. Ich will wissen, was andere Knobler gut können. 9 15 5 11 9 2 18 24 3 20 17 4 22 19 4 28 25 7 2 2 8 6 8 6 Statements von Münsteraner Projektkindern „Das hat mir besonders gefallen ...“ „Ich bin an meine Grenzen gekommen.“ Ich konnte Mathe neu entdecken. Spaß und Knobeln zusammen – das ist eine „Super-Kombination“!“ „ „Es waren nicht zu leichte und nicht zu schwere Aufgaben. “ „Ich habe neue Freunde kennengelernt, mit denen ich toll zusammen knobeln kann. “ „Mir hat nicht gefallen, dass es nur alle zwei Wochen war und dass es nur so kurz war.“ „Mir hat alles gefallen. Die mathematischen Exkursionen und das Fußballthema fand ich aber am besten.“ 3.1 Verschiedene Problemlösestile mathematisch begabter Grundschulkinder Der Würfeltrick Wie groß ist die Summe aller sichtbaren Augenzahlen bei einem „Dreier-Würfelturm“? 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 20 3.1 Wie lösen kleine Matheasse das Würfeltrick-Problem? Problemlösestile mathematisch begabter Grundschulkinder (nach Fuchs 2006) • Intuitives Erahnen einer Problemlösung bzw. intuitives Herantasten an eine Lösung • Hartnäckiges Probieren • Abwechselndes Probieren und Überlegen • Systematisches Vorgehen • Begründen (Herleiten, Erklären, ...) der Problemlösung auf der Basis erkannter Strukturen 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 21 3.1 Wie lösen Grundschulkinder das Würfeltrick-Problem? Lösungsbeispiele von Projektkindern 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 22 3.1 Wie lösen Grundschulkinder das Würfeltrick-Problem? eine weitere Lösung eines Drittklässlers 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 23 3.1 Ein anderes authentisches Beispiel für eine Problemlösung mathem. begabter GS-Kinder Einsatz einer Aufgabe des indischen Mathematikers Bhaskara Welche durch 7 teilbare Zahl lässt beim Teilen durch 2, 3, 4, 5 und 6 den Rest 1? Gibt es mehrere solcher Zahlen? Aryabhata – Lehrmeister von Bhaskara 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 24 Lösung des 9-jährigen Simon Nach ca. 10 Sekunden rief er freudestrahlend: „721“. Verblüfft fragte ich ihn: „Wie hast du so schnell die Lösungszahl ermittelt?“ Simons unsichere und zögerliche Antwort: „Ich kann es nicht erklären. Die Zahl war auf einem Mal da!“ 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 25 Wie kam Simon so schnell auf die Lösung? Simons sprunghafte, z.T. unbewusste Gedankengänge: • 21 ist ein Vielfaches von 7. • 21 lässt beim Teilen durch 2, 4 und 5 den Rest 1. • 21 erfüllt also teilweise die geforderten Zahleigenschaften. • 21 + 70 = 91 • 91 erfüllt noch besser als 21 die Aufgabenbedingungen, 91 lässt aber beim Teilen durch 4 nicht den Rest 1. • 21 + 700 = 721 • 721 ist eine Lösungszahl. • „Ich hab’s! Ich melde mich!“ 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 26 Welche mathematische Substanz steckt in Simons Lösung? • blitzschnelles Erfassen der wesentlichen Aufgabenbedingungen • schnelles Kopfrechnen • Erahnen, Erkennen und Anwenden von Teilbarkeitsregeln (einschl. der Summen- und Produktregel) • selbstständiges Erkennen und intuitives Anwenden einer effektiven Problemlösestrategie (eines „Superzeichens“) 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 27 Möglichkeiten des Erkennens intuitiver Lösungen Deutliche Indizien für Intuition können sein: • plötzliche Ideen (Bsp.: Simon: „Ich kann es nicht erklären. Die Zahl war auf einem Mal da!“) • sprunghafte Gedanken (bei Beobachtungen oder in Videotranskripten erkennbar, seltener in schriftlichen Dokumenten feststellbar; vgl. Beispiel aus der Vorlesung) • scheinbar zusammenhanglose Wortfetzen, die aber beim genauen Analysieren doch wichtig für einen Themenkomplex sind • • symbolhafte Gesten, die Wesentliches „erahnend“, mit Worten (noch) nicht fassbar ausdrücken 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 28 Möglichkeiten des Erkennens intuitiver Lösungen Ein Indiz für eine intuitive Problemlösung kann weiterhin sein: • eine unvollständige Erklärung von Lösungswegen (erkennbarer Widerspruch beim Problemlöser zwischen der Überzeugung, eine Lösung zu kennen oder zu ahnen („Ich ahne …“, „Ich denke, dass es damit etwas zu tun haben müsste.“) und dem Unvermögen, das „intuitive Erkenntnisprodukt“ anderen und sich selbst verständlich und zusammenhängend erklären zu können („Ich kann es nicht erklären, es ist aber so.“). 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 29 Möglichkeiten des Erkennens intuitiver Lösungen Deutliche Indizien für Intuition können ebenso sein: • chaotische Lösungsdarstellung im Heft Beispiel: Lösung eines Drittklässlers zur Aufgabe „Wie groß ist die Summe der Zahlen bis 30?“ • eine äußerst „bruchstückhafte“ Lösungsdarstellung (z.B. Beschränkung der Lösungsangabe durch Nennen einer Lösungszahl; 450“) für die obige Beispielaufgabe: „900 08.04.2014 F. Käpnick WWU Münster 30 2 Typen mathematisch begabter Kinder, die vorwiegend Problemaufgaben intuitiv lösen a) Typ „Mark“: • sehr temperament- und fantasievoll, • denkt blitzschnell, sehr spontan und sprunghaft, • denkt weniger in Sprache, sondern vielmehr im Un- und Unterbewussten in Bildern und Symbolen, wodurch es viel schneller viel mehr Sachverhalte „verarbeitet“, • zeigt oft eine pure spontane Freude beim Finden einer (häufig originellen) Lösungsidee, ist aber zugleich wenig motiviert, Lösungswege und Lösungen korrekt zu beschreiben, zu begründen und darzustellen (was aufgrund der „chaotischen“ Denkweise auch sehr erschwert und z.T. gegen seine „Natur des Denkens“ ist), • äußert oft bei Erklärungen nur: „Das sieht man doch!“, • hat meist eine chaotische Heftführung, • Qualität der Lösungen sehr schwankend (von „genial“ bis „nichts“) 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 31 3.2 Geschlechtsspezifische Besonderheiten mathematisch begabter Kinder Mathematisch begabte Mädchen haben tendenziell • ein breiteres Interessenspektrum als begabte Jungen, • andere (weniger „weibliche“) Interessen als normal begabte Mädchen, • eine bessere Kausalattributation in Bezug auf Mathematik als normal begabte Mädchen, • kein Geschlechtsrollenbild, dem sie folgen und wodurch sie ein größeres Interesse an Mathematik zeigen als normal begabte Mädchen, • ein weniger stark ausgeprägtes geschlechtsspezifisches Verhalten, • in Bezug auf Mathematik ein positives Selbstkonzept. 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 32 3.2 Geschlechtsspezifische Besonderheiten mathematisch begabter Kinder Mathematisch begabte Mädchen • nähern sich einem neuen anspruchsvollen Problem behutsamer, aber auch umsichtiger als Jungen an, • sind in der Phase der Problemlösung vergleichsweise kommunikativer, sie tauschen sich aus, gehen wiederum behutsamer und oft umsichtiger als Jungen vor. • legen viel größeren Wert als Jungen auf eine übersichtliche, saubere und vollständige Lösungsdarstellung, • neigen stärker als Jungen dazu, ihre Lösungen verbal bzw. in Textform oder grafisch gestaltet darzustellen. 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster Lösung eines Mädchens zum 2x2-Sudoku-Problem 33 3.3 Unterschiedliche kognitive und physiologische Konstellationen kleiner Matheasse Es gibt mathematisch begabte Kinder • mit etwa gleich hohen mathematischen allgemein-kognitiven, eingeschl. sprachlichen Kompetenzen (ca. 70%), • mit einem hohen mathematischen Leistungspotenzial und vergleichsweise deutlich geringeren sprachlichen Kompetenzen (ca. 20 %), • mit z.T. ungewöhnlichen mathematischen Potenzialen auf speziellen Gebieten (z.B. im Umgang mit formalabstrakten Strukturen oder im Kopfrechnen, und zugleich gravierenden Defiziten in anderen grundlegenden kognitiven Bereichen sowie im Sozialverhalten (z.B. autistische Kinder). 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster Dr. Dr. G. Mittring 9-facher Weltmeister im Kopfrechnen 34 3.3 Sven – ein mathematisch begabtes Kind mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten Indizien für Svens mathematische Begabung im Vorschulalter • mit 3 Jahren: Zählen und Zahlen lesen bis 100 • mit 4 Jahren: Schach spielen, dabei schon Einprägen und bewusstes Nutzen verschiedener möglicher Züge (intensive sprachfreie Gedächtnisschulung) 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 35 3.3 Sven – ein mathematisch begabtes Kind mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten Besonderheiten von Svens Sozialverhalten im Vorschulalter • hat als Dreijähriger nur mit Sechsjährigen gespielt, • wollte bei Strategiespielen stets mit der Erwachsenenversion spielen, Das ist noch nichts für dich! Spiel erst ‘mal mit der KinderVersion! • zeigte einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und für konsequentes Einhalten von Regeln und Abmachungen. 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 36 3.3 Sven – ein mathematisch begabtes Kind mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten Belege für Svens mathematische Begabung im Grundschulalter • Einstiegstest: 9. Rangplatz von 49 Drittklässlern • Indikatoraufgaben-Test (Teil I): 11. Rangplatz von 66 Dritt- und Viertklässlern • Intelligenztest (CFT 20 – allgemein): IQ-Wert 124 • Intelligenztest (CFT 20 – mathematischer IQ): IQ-Wert 130 • Spezieller Test zur Raumvorstellung: 17. Rangplatz von 62 Dritt- und Viertklässlern 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 37 3.3 Sven – ein mathematisch begabtes Kind mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten Beobachtungsergebnisse beim Bearbeiten mathematischer Problemaufgaben Sven • ist meist hoch motiviert, • kann Probleme äußerst schnell erfassen, • entwickelt meist sehr zügig richtige Lösungsideen, • wechselt immer schnell auf eine bildlich-schematische oder formal-abstrakte Handlungsebene, • kann auf hohem Niveau mathematische Sachverhalte selbstständig strukturieren, • hat ein ausgeprägtes Gefühl für Zahlen und Zahlbeziehungen und ein besonderes ästhetisches Gefühl für „schöne“ mathematische Strukturen. 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 38 3.3 Sven – ein mathematisch begabtes Kind mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten Besonderheiten, die aus Svens Lese-Rechtschreibproblemen resultieren (Umgang mit seinen Schwächen) Sven • bevorzugt Einzelarbeit, • liest Aufgabentexte verkürzt, vorstrukturiert • stellt Lösungswege und Lösungen stark verkürzt, unvollständig und fehlerhaft dar, oft • vermeidet es viel aufzuschreiben oder hat Zeitprobleme, • vermeidet es, seine ErgebBeispiel für eine Lösung mit Rechtschreibfehlern nisse anderen zu zeigen oder im Plenum vorzustellen. 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 39 3.3 Sven – ein mathematisch begabtes Kind mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten 1. Beispiel für eine typische Lösungsdarstellung von Sven Problemaufgabe: Erkunde alle Möglichkeiten für die Anzahl von Schnittpunkten bei 1, 2, 3, 4 und 5 Geraden. Was kannst du dabei entdecken? 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 40 Svens gedankliche Visualisierung: Eine „doppelte Dreiecksanordnung“ auf der Basis der nachfolgenden Ergebnistabelle: Zahl der Geraden Anzahl der Schnittpunkte 0 1 1 X 2 X X 3 X X 4 X X 5 X X 6 X X 7 X X 08.04.2014 2 3 X X X 4 5 6 7 8 9 10 X X X X X X 11 12 13 14 15 X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 16 17 18 19 20 21 X X X X X X 41 3.3 Sven – ein mathematisch begabtes Kind mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten 2. Beispiel für eine typische Lösungsdarstellung von Sven Problemaufgabe: Tim hat einen Eimer mit 8 l Wasser, außerdem einen 3-Liter- und einen 5-Liter-Eimer. Wie kann er nur durch Umfüllen 4l Wasser abmessen? 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 42 3.3 Sven – ein mathematisch begabtes Kind mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten Besonderheiten, die aus Svens Lese-Rechtschreibproblemen resultieren („Stärken seiner Stärken“) • besondere Kompetenzen im Speichern mathematischer Sachverhalte im Arbeitsgedächtnis unter Nutzung erkannter Strukturen • äußerst schnelles (z.T. nicht an Sprache gebundenes) Erfassen und „Verarbeiten“ mathematischer Informationen • hohe Kompetenz im schnellen und geschickten Abstrahieren und Formalisieren • sehr ausgeprägtes Zahlgefühl, Spaß am substanziellen Kopfrechnen • sehr ausgeprägtes räumliches Vorstellungsvermögen 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 43 3.3 Sven – ein mathematisch begabtes Kind mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten Svens Prägung durch den Grundschulunterricht • Probleme nach einem Lehrerwechsel im 2. Schuljahr • Unterschätzung von Svens kognitiven Kompetenzen durch seine neue Lehrerin • Svens Bedürfnis nach einer wichtigen Bezugsperson • hohe Sensibilität bei Lärm im Unterricht • Entwicklung von Vermeidungs-, Ausweich- und Verweigerungsstrategien • Suche nach Chancen, seine Interessen zu befriedigen und seine besonderen Potenziale auszutesten Svens Eltern: Sein großer Rückhalt 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 44 3.3 Häufigkeit von kleinen „Matheassen“ mit gravierenden Sprachdefiziten (Basis: Münsteraner Förderprojekt) Übereinstimmung zw. allgm. IQ und math. IQ Abweichung zugunsten des allg. IQ Abweichung zugunsten des math. IQ Knapp 20 % unserer mathematisch begabten Kinder haben deutlich geringere sprachliche Kompetenzen! 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 45 3.3 Zur Häufigkeit von kleinen „Matheassen“ mit gravierenden Sprachdefiziten Übereinstimmungen zwischen verschiedenen Diagnoseergebnissen Prozess bezogene Diagnostik im Projekt Übereinstimmung mit dem allgemeinen IQ-Wert (CFT-20) Übereinstimmung mit dem mathematischen IQ-Wert (CFT-20) mathem. begabt ca. 45 % ca. 50 % mathem. nicht begabt ca. 76 % ca. 73 % 08.04.2014 Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 46 3.4 Unterschiedliche Sozialkompetenzen kleiner Matheasse Man kann unterscheiden zwischen kleinen Matheassen mit • „mäßiger“ mathematischer Begabung, • deutlicher mathematischer Hochbegabung, • extremer mathematischer Hochbegabung. 08.04.2014 Faustregel: Je höher bzw. je extremer die Begabung ist, desto einsamer sind betroffene Kinder und desto häufiger leiden sie unter Sozialproblemen. Prof. Dr. Käpnick WWU Münster 47 Nachtrag zum Titel: „Die Weichen werden früh gestellt!“ Eine Episode aus einer Förderstunde mit Frau Fuchs 2 Fühlsäckchen mit je 8 Holzwürfeln werden In einer Kindergartengruppe herumgegeben, verbunden mit den Fragen: • Was könnte in den Säckchen sein? • Wie viele Dinge könnten drin sein? Fynn (4 J.): „Das sind 9 oder 8 Bausteine!“ Jannis (3 J.): „Zahlen sind da drin.“ Collien (5 J.): „Kleine Bausteinwürfel?!“ Fynn: „Das meinte ich auch. [kurze Pause] 8 sind das.“ Collien: „Es könnten 4 sein.“ Hagen (5 J.): „Mh, 7 Bausteine.“ Nun bekommt jedes Kind ein Säckchen mit 8 Würfeln. Die Kinder packen aus. Hagen: „Ich hatte gleich an Bausteine gedacht.“ Fynn: „Haben wir doch gesagt!“ Fynn zu Jannis: „Jannis hat ‚Zahlen‘ gesagt und das stimmt nicht!“ 08.04.2014 F. Käpnick WWU Münster 48
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