Unterstützungs- und Versorgungsbedürfnisse von Jugendlichen mit

Britta Kelch
Unterstützungs- und Versorgungsbedürfnisse von Jugendlichen
mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
an der Schwelle zum Erwachsensein1
1 Problemhintergrund & Stand der Forschung
ADHS zählt mit einer Prävalenz von ca. 3 – 6 % weltweit zu den häufigsten chronisch verlaufenden psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter (World Federation for Mental Health
[WFMH], 2004). In Deutschland wird bei ca. 5 % der 3- bis 17-Jährigen eine ADHS-Diagnose
gestellt (Schlack, Hölling, Kurth & Huss, 2007), bei durchschnittlich der Hälfte der betroffenen
Jugendlichen besteht die ADHS im Erwachsenenalter fort (Döpfner, Frölich & Lehmkuhl, 2013;
Rösler, 2005).
Trotz qualitativer Veränderungen des Symptombildes bleiben die ADHS-Kernsymptome (Defizite
in der Aufmerksamkeitslenkung, Hyperaktivität und Impulsivität) auch im Erwachsenenalter bestehen (Schmidt & Petermann, 2008). Daher geben viele junge Erwachsene mit einer ADHS an,
in unterschiedlichen Lebensbereichen mehr Probleme bewältigen zu müssen, als Gleichaltrige
(Lehmkuhl & Schubert, 2013).
1.1 Übergang von der Schule in den Beruf
Einen dieser problemassoziierten Lebensbereiche stellt der Übergang von der Schule in den Beruf dar. In dieser Umbruchphase ist für ältere Jugendliche/junge Erwachsene mit einer ADHS
das Risiko stark erhöht, an den sich verändernden Anforderungen des Alltags zu scheitern
(Houck, Kendall, Miller, Morrell, & Wiebe, 2011; Shaw, Hodgkins, Caci, Young, Kahle, Woods et
al., 2012).
Viele SchülerInnen mit einer ADHS weisen aufgrund der verringerten Aufmerksamkeitsfähigkeit
Schulleistungsprobleme auf (Döpfner et al., 2013), komorbide Störungen wie Depressionen
oder Angststörungen können den Schulerfolg zusätzlich negativ beeinflussen (Adam, Döpfner &
1
Das Projekt ist Teil der Forschungskooperation NuV (Nutzerorientierte Versorgung bei chronischer Krankheit und
Pflegebedürftigkeit) zwischen der Universität Bielefeld und der Fachhochschule Bielefeld. Laufzeit 12/2012 12/2015. Sprecherinnen: Prof. Dr. Doris Schaeffer und Prof. Dr. Annette Nauerth. Homepage:
www.forschungskooperation-nuv.de. Der Forschungsverbund wird durch das Ministerium für Innovation,
Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert.
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Lehmkuhl, 2002). In der Folge ist für diese SchülerInnen die Wahrscheinlichkeit erhöht,
schlechtere Bildungsabschlüsse zu erlangen, als es dem jeweiligen Intelligenzniveau entspricht
(Biederman, Petty, Fried, Kaiser, Dolan, Schoenfeld et al., 2008; vgl. Lehmkuhl & Schubert,
2013).
Nicht zuletzt aufgrund dieser schlechteren Bildungsabschlüsse sind junge Menschen mit einer
ADHS im Verlauf ihres Berufslebens mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit in einem Arbeitsverhältnis angestellt, das nicht ihrem eigentlichen Kompetenzniveau entspricht (Kuriyan,
Pelham, Molina, Waschbusch, Gnagy, Sibley et al., 2013).
1.2 Übergang von der Jugend- in die Erwachsenengesundheitsversorgung
Neben dem Übergang von der Schule in den Beruf ist für ältere Jugendliche mit einer ADHS
auch die Transition von der Jugend- in die Erwachsenengesundheitsversorgung mit Problemstellungen assoziiert (exempl. Lehmkuhl & Schubert, 2013).
Zum einen ist die medizinisch-psychiatrische sowie psychologische Versorgung von (jungen)
Erwachsenen mit einer ADHS nach wie vor nicht flächendeckend gesichert (Lehmkuhl & Schubert, 2013). Zum anderen wird ab dem Jugendalter aufgrund zunehmender Autonomiebestrebungen der Nutzen der ADHS-Versorgung durch Gesundheitsprofessionelle von vielen PatientInnen in Frage gestellt (Goodman, Lasser, Babcock, Pucci & Solanto, 2011; Matheson,
Asherson, Wong, Hodgkins, Setyawan, Sasane et al, 2013; Williamson, Koro-Ljungberg &
Bussing 2009). Entscheidungen darüber, wann und welche Angebote der Gesundheitsversorgung in Anspruch genommen werden, hängen daher nicht nur vom Vorhandensein adäquater
Angebote ab, sondern auch von der subjektiven Notwendigkeit, das eigene Krankheitsmanagement mithilfe von Gesundheitsprofessionellen an die Herausforderungen in der Lebensbewältigung anpassen zu müssen (vgl. Williamson et al., 2009).
2 Methodisches Vorgehen
Diese
Barrieren
in
den
Übergängen
Schule/Beruf
und
Jugend/Erwachsenengesundheitsversorgung wurden weitestgehend aus einer bedarfsorientierten Perspektive heraus festgestellt. In dem diesem Beitrag zugrunde liegenden Projekt wird in Ergänzung dazu aus einer bedürfnisorientierten Perspektive heraus der Frage nachgegangen, wie ältere Jugendliche mit einer ADHS diese beiden Transitionsphasen erleben und welche Unterstützungs- und Versorgungsbedürfnisse daraus resultieren.
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Um das subjektive Erleben sowie etwaige Unterstützungs-/Versorgungsbedürfnisse eruieren zu
können, werden qualitative, leitfadengestützte face-to-face Interviews mit 16- bis 25-Jährigen
mit einer ADHS geführt. Die Daten werden mithilfe einer Kombination aus problemorientierten
(teil-)strukturierten Fragen (vgl. Reinders, 2012) und narrationsanregenden Erzählaufforderungen (vgl. Rosenthal, 2014) erhoben und auf Basis der Grounded Theory-Methodologie nach
Strauss & Corbin (1996) ausgewertet.
3 Erste Ergebnisse
In den bislang geführten Interviews wurde deutlich, dass ältere Jugendliche mit einer ADHS die
eingangs beschriebenen Barrieren in den Übergängen Schule/Beruf und Jugend/Erwachsenengesundheitsversorgung selbst auch als solche wahrnehmen, daneben aber auch
weitere Hürden zu überwinden sind. Ein 18-jähriger Interviewpartner antwortete hierzu:
„[…] diese Aufgaben, die dann jetzt halt auch ähm auf einen zukommen. Ähm wenn
man dann halt, sage ich mal, 18 ist und dann, was dann da halt auch so für Verantwortung auf einen alles zukommt, weil das dann ja halt auch, sage ich mal, eine ge/ ähm,
ja, hm ein gro/ ein großes Thema ähm, (schnauft) ja/ […] Ähm (4s) zum Beispiel jetzt halt
auch so bei den ADHS-Leuten halt wegen den Tabletten, dass du dann halt, sage ich
mal auch, einen Arzt findest, der die verschreibt. Ähm ja, dann halt auch so Ausbildung oder Job und so weiter, ähm, dann noch/ Ja, was kommt denn noch alles auf
einen zu? […] Ja. (4s) Wenn ich dann darüber/ wenn jemand Scheiße gebaut hat oder
so, sind nicht mehr so Mama und Papa da, die dann da irgendwie einspringen können
(lacht). (4s) Muss man selbst rauskommen“ (B2_18_m, 694-710). [Hervorhebungen
durch die Autorin]
Anhand dieses Interviewzitats lässt sich erkennen, dass auch die Entwicklung von Autonomie
und Selbstverantwortung essenzielle subjektive Bewältigungserfordernisse darstellen, bei deren
Bearbeitung i.d.R. Unterstützungsbedürfnisse entstehen. In vielen solchen Fällen suchen die interviewten Jugendlichen/jungen Erwachsenen dann (soziale) Unterstützung bei Angehörigen
und FreundInnen sowie ggf. bei Professionellen mit entsprechender Expertise. Eine 19-jährige
Interviewpartnerin antwortete z.B. auf die Frage, mit wem sie über Probleme bei der Krankheits- und Lebensbewältigung spricht, Folgendes:
„Ähm mit allen Personen, die mir im Alltag nahe stehen und Anteil an meinem Leben
haben in dem Sinne, dass sie ähm, dass ich mich mit denen treffe, ähm regelmäßig, und
dass wir Dinge zusammen tun und uns gegenseitig kennen, halt mit Freunden und mit Familie […] wo ich wirklich das Gefühl habe, da ist eine Vertrautheit und eine innere Nähe. […] Und ich versuche jetzt aber, auch eine Psychotherapie zu finden, wo ich
denke, das ähm könnte mir helfen und ich brauche Unterstützung und ich will auch
Unterstützung“ (B1_19_w, Z. 215-220/566-568). [Hervorhebungen durch die Autorin]
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4 Vorläufige Schlussfolgerungen
Ältere Jugendliche mit einer ADHS scheinen subjektiv unterschiedlichen Herausforderungen gegenüberzustehen, die sich zum einen durch das Krankheitsmanagement ergeben, zum anderen
regulär mit dem Erwachsenwerden in Verbindung stehen. Bei der Bearbeitung und Bewältigung
dieser Herausforderungen wenden sich die Jugendlichen mit Unterstützungsbedürfnissen in erster Linie an Personen, die ihnen nahe stehen und denen sie vertrauen (Familien- und Freundeskreis). Falls die Unterstützungsbedürfnisse von diesem Personenkreis nicht aufgefangen werden
können, suchen sie i.d.R. Hilfestellung bei professionellen VersorgerInnen/UnterstützerInnen
wie z.B. (Psycho-)TherapeutInnen, LehrerInnen, BerufsberaterInnen etc.
In diesem Zusammenhang ist im weiteren Forschungsprozess genauer zu untersuchen, aufgrund welcher Entscheidungskriterien ältere Jugendliche mit einer ADHS bestimmte Professionelle als subjektiv relevante HelferInnen ansehen. Die entsprechenden Erkenntnisse können
dann in Empfehlungen für adäquate Versorgungs- und Unterstützungsangebote übersetzt werden.
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Literatur / Quellen:
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Döpfner, M., Frölich J. & Lehmkuhl G. (2013). Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) (2., überarbeitete Auflage). Göttingen u.a.: Hogrefe.
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Kuriyan, A. B., Pelham, W. E., Molina, B. S. G., Waschbusch, D. A., Gnagy, E. M., Sibley, M. H. et al. (2013). Young
adult educational and vocational outcomes of children diagnosed with ADHD. Journal of Abnormal Child Psychology,
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Lehmkuhl G. & Schubert, I. (2013). Versorgung bei ADHS im Übergang zum Erwachsenenalter aus Sicht der Betroffenen. (Gesundheitsmonitor Nr. 1/2013). Gütersloh: Bertelsmann Stiftung & BARMER GEK.
Matheson, L., Asherson, P., Wong, I. C. K., Hodgkins, P., Setyawan, J., Sasane, R. et al. (2013). Adult ADHD patient
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Services Research, 13 (1), 184. Verfügbar unter: www.biomedcentral.com/content/pdf/1472-6963-13-184.pdf
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Reinders, H. (2012). Qualitative Interviews mit Jugendlichen führen. Ein Leitfaden (2., aktualisierte Auflage). München: Oldenbourg.
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Rosenthal, G. (2014). Interpretative Sozialforschung. Eine Einführung (4. Auflage). Weinheim & Basel: Beltz Juventa.
Schlack, R., Hölling, H., Kurth, B.-M. & Huss, M. (2007). Die Prävalenz der Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Erste Ergebnisse aus dem Kinder- und
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Kontakt
Britta Kelch, M.Sc. Public Health (Projektdurchführung)
Universität Bielefeld
Fakultät für Gesundheitswissenschaften, AG 4 Prävention und Gesundheitsförderung
Universitätsstraße 25
33615 Bielefeld
Tel: 0521/106-12782
[email protected]
Prof. Dr. Petra Kolip (Projektleitung)
Universität Bielefeld
Fakultät für Gesundheitswissenschaften, AG 4 Prävention und Gesundheitsförderung
Tel: 0521/106-67273
[email protected]
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