Endstation Dornach

Michael(Eggert:(Insulaner(und(trunkene(Pilger(
Zu(„Endstation(Dornach.(Das(sechste(Evangelium“(von(Christian(Grauer,(
Felix(Hau,(Christoph(Kühn(und(Ansgar(Martins(
Sind wir nicht alle Südseeinsulaner, irgendwie? Ich lese gerade, parallel zu
„Endstation Dornach“1, im „Papalagi“2- ein Buch „des deutschen Malers und
Schriftstellers Erich Scheurmann, das die Reiseberichte eines fiktiven
Südseehäuptlings enthält. Es erschien erstmals 1920. Das Buch trägt den
Untertitel „Die Reden des Südseehäuptlings Tuiavii aus Tiavea“. Das aus dem
Samoanischen stammende Wort Papalagi bedeutet nach Scheurmann „der
Weiße“, „der Fremde“, „der Himmelsdurchbrecher“. Das Wort existiert
tatsächlich im Samoanischen. Dem Leser offenbart sich Scheurmanns Erzählung
als eine Art geheime Mitteilung, da er die Reden des Häuptlings Tuiavii
„sicherlich gegen seinen Willen“ veröffentliche.“3
Der fiktive Tuiavii bereist Westeuropa und berichtet aus seiner „naiven" Sicht
über das Leben der hiesigen, merkwürdigen Einwohner, die sich in Stoffe und
Felle kleiden, steinerne Kästen bewohnen, pseudoreligiöse Reden schwingen, aber
offenbar nur hinter ihrem wahren Gott, dem Papiergeld und den Münzen her sind
und diesem huldigen. Die besondere Perspektive des kulturell gänzlich Fremden
in der uns bekannten Umgebung, in die wir verwickelt sind, könnte erhellend
wirken, wenn nicht der wirkliche Autor Scheurmann seine ziemlich penetrante
Zivilisationskritik darin platzieren würde. Scheurmann spricht als Teil der
Wandervogelbewegung, der Alternativen aus der Zeit Steiners um 1920.
Diesen Kniff, sich als Fremde innerhalb eines Bekannten erzählerisch zu
positionieren, betreiben die Autoren von „Endstation Dornach“ ebenfalls. Nur
treten sie nicht als Samoaner in Dornach auf, sondern sprechen als die Vier
Evangelisten dem gutem Rotwein in Südfrankreich zu, lassen es sich generell gut
gehen, quatschen unentwegt miteinander und reisen in einer Art Road- Movie im
VW- Bus durch halb Europa, um nicht - wie erwartet- in Dornach zu landen,
sondern erst in einer Autobahnkirche und endlich in einem visionären
Zwischenreich, in dem ihnen die Queen of Theosophy4 herself
Haschischzigaretten aufnötigt und allerlei Geistgestalten auftreten lässt - vom
Erzengel Michael bis hin zum Bösesten des Bösen5.
Bis dahin gibt es allerlei Zwischenstationen. Mal werden die absurdesten
Repräsentanten der gegenwärtigen Anthroposophen- Szene durchgekaut - von
Vorstandsmitgliedern bis hin zu „kritischen“ Internetschmierern und angeblichen
1
„Endstation Dornach. Das sechste Evangelium“ von Christian Grauer, Felix Hau, Christoph Kühn und Ansgar Martins,
Rinteln 2011
2
„Der Papalagi. Ein Südseehäuptling erlebt unsere Zivilisation“, Stuttgart 1982
3
http://de.wikipedia.org/wiki/Der_Papalagi
4
Helena Petrovna Blavatsky
5
Mr. Sorat
1
Steiner- Reinkarnationen-; mal wird die Religiosität der Anthroposophenschar in
einer simulierten Menschenweihehandlung provoziert. Die vier Autoren geben
sich also einige Mühe damit, sich ihren Status als Tuiavii inmitten einer Schar
anthroposophischer Papalagi zu erobern. Daher wird auch immer wieder betont,
wie gut diverse Drinks und Zigarettensorten diesen merkwürdigen Heiligen
munden. Andererseits entstammen alle Beteiligten mehr oder weniger durch ihre
Sozialisation eben diesem Papalagi- Reich; es ist ihnen vertraut und sie versuchen,
sich darin zu orientieren.
Der fremde und befremdete Blick auf Anthroposophistan wird dem Leser damit
übertragen. Die eigenen Orientierungen und Sehgewohnheiten der Leser werden
mit diesem Kniff infrage gestellt. Nicht wenige orthodoxe Anhänger, die den
Reifegrad zum mündigen Zeitgenossen noch nicht ganz haben vollziehen können,
werden diese anarchische Sichtweise nicht gerade willkommen heißen. Aber auch
das gehört, selbstverständlich, zum Buch dazu; denn eben die Orthodoxien, die
religiösen Fahrwasser, die manchmal fanatische geistige Selbstverstümmelung
mancher Anthroposophen sind eines der Hauptthemen des Buches.
Aber auch in anderer Hinsicht steht das Buch quasi auf dem Kopf. Die eher
belanglosen, manchmal etwas gewollt witzigen Szenen sind keineswegs der
Aufhänger, sondern das Finale des Buchs. Die Grundsatzdiskussionen - etwa im
Blick auf Erkenntnistheorie- stehen eher am Anfang. Man muss durch die wirklich
anspruchsvollen Passagen erst mal durch, um zum lockeren Ausklang zu kommen.
Einen solchen „Hüter der Schwelle“ aufzubauen, um schlichte Gemüter erst mal
abzuschrecken, ist irgend wie auch wieder typisch anthroposophisch. Für Insider
dagegen ist die erste Hälfte des Buches in mancher Hinsicht ergiebiger.
Aber gehen wir doch etwas ins Detail. Felix Hau - einer der Evangelisten, der sich
in seiner Rolle als Moderator und Impulsgeber der Gespräche gut macht-,
verdeutlicht bereits im Vorwort, um was im vorliegenden Buch geht: „Um die
Aufhebung der künstlichen Trennung zwischen Geist und Spaß“ und eine
„keineswegs nur ironische Distanz der Autoren gegenüber einer bisweilen allzu
pathetischen, traditionellen, sich von der zeitgenössischen Kultur und ihren
Diskursen abschottenden anthroposophischen Wirklichkeit.“ (S. 9) Dieses kühne,
wenn nicht tollkühne Unterfangen wird mit einer Umschau durch die realen
Praxisfelder einer Anthroposophie begründet, die heute einerseits als ein „Label“
und Produkt in der Öffentlichkeit steht, sich andererseits aber, in ihren
Kernbereichen, durch „eine phänomenale Bedeutungslosigkeit“ (S. 19 ff)
auszeichnet. Die „Immunisierung gegen Einflüsse und Neuerungen von Außen“
schützt einerseits die „Marke“, verleiht Anthroposophie nach innen allerdings
auch den „Status einer Religion“. Dabei habe Steiner zumindest in seinem
Frühwerk eine „Reduktion von Ethik und Moral auf Erkenntnis“ (S. 38) betrieben.
Dem Menschen falle „in seinem Erkennen eine realitätsstiftende Mitwirkungsrolle
an der Welt“ zu. Anthroposophie reiche heran an die „aller Wirklichkeit zugrunde
liegende ontologische Substanz, als das Wesen des Seins.“
Während der frühe Steiner auf die „Fülle des Nichts, die das ununterschiedene
Bewusstsein ist“ ziele, habe er im Spätwerk eine „aus didaktischen Gründen
2
instrumentalisierte Mythologie“ (S. 42) geschaffen, eine „geistige Welt“. Auch
wenn nicht wenige Anthroposophen dieses Konstrukt als eine Art Religionsersatz
ansähen, handele es sich im Kern um eine Suchbewegung des Bewusstseins nach
den eigenen Quellen; ja um eine „völlige Selbstauslöschung in der Identifikation
mit dem erkannten Gegenstand.“ (S. 55) So bemühen sich die Vier Evangelisten in vorderster Front der Philosoph Christian Grauer -, „Steiner mal gedanklich so
auf die Pelle zu rücken.“ (S. 55) Dazu werden nicht nur der Konstruktivismus,
sondern auch Fichte, Kant, Schopenhauer und allerlei Schokoriegel in die
existentiellen Betrachtungen einbezogen. Die typische, naive anthroposophische
Rezeption Steiners, in der die „geistige Welt“ eine Analogie zu sinnlich erlebbaren
Inhalten darstellt, wird zurück gewiesen. Stattdessen verweist Felix Hau auf ein
„“überindividuelle(s)“ Identitätserleben“, das bei Steiner „wahres Ich“ (S. 70)
genannt werde.
In der Folge geht es ausführlich um Steiners Verhältnis zur Theosophie- und
damit auch um die Vorwürfe Helmut Zanders, Steiner habe sich daraus wie aus
einem Gemischtwarenladen bedient und seine Anthroposophie letztlich nur
zusammen gebastelt, bar jeder Originalität. Daher habe er auch eine „jenseits der
menschlichen Daseins- und - zunächst- Wahrnehmungssphäre liegende „höhere
Wirklichkeit““ (S. 93) konstruiert. Demgegenüber bezeichnet Grauer die
theosophischen Elemente als „Dekoration“ (S. 89). Steiner habe Theosophie nicht
„übernommen“, sondern „instrumentalisiert“. Die vielen „Sinnsuchenden, die
Halt finden in bestimmten Weltanschauungen“ (S. 97) rezipieren Steiner aber
eher als Guru, nicht als Möglichkeit der „Überwindung dualistischer
Denkgewohnheiten hin zu einem freien schöpferischen Denken.“ (S. 98) Die
Wandlung des anarchischen jungen Rudolf Steiners in den „Herrn Doktor“ im
schwarzen Gehrock sei für die Zeitgenossen sicher ein Schock gewesen: Dass der
„fröhlich zechende, umfassend gebildete, Religion anlehnende, Gott lästernde, auf
dem Boden der modernen Wissenschaften stehende und- vor allemindividualanarchistische Rudolf Steiner plötzlich zum esoterischen Guru
mutierte.“ (S. 105)
Die Sympathien der Vier Evangelisten liegen („Für mich ist der späte Steiner
persönlich nicht der echte“) eindeutig beim frühen Individualanarchisten Steiner.
Die spätere Anbindung an das Christentum mache aus der
erkenntnistheoretischen Grundlagenarbeit des frühen Steiner in der heute
verbreiteten naiven Rezeption ein „gut verdauliches, aber vollständig wertloses
Abendmahl.“ (S. 109) Steiner werde in dieser Sichtweise „permanent zum
christlichen Missionar verbogen und sein ganzes Anliegen auf den Kopf gestellt.“
(dito)
Der verzauberte Steiner wird in der Folge in seinen kulturellen Auswirkungen
abgeklopft. Die „aktuelle anthroposophische Kultur“ erscheint den Evangelisten
vor allem als „rückwärtsgewandt“. Es kommt die Frage auf, ob heutige
Anthroposophen sich „in geistige Welten emporhäkeln“ wollten oder meinten,
„der morgendliche Frischkornbrei“ führe sie zu „Erkenntnis und Glück.“ (S. 133)
Offenbar werde das „gewohnte christliche Moralverständnis“ über die
Anthroposophie gestreift und damit geglaubt, „durch einen inneren Kreuzzug zu
3
einem moralischen Vollkommenheitszustand zu kommen“ (S. 134). Nimmt man
den teleologischen Entwicklungsgedanken in kultureller Hinsicht noch hinzu,
findet man „gewisse Anthroposophen“, die daraus „dogmatisch eine Art Ratgeber
mit Anweisungen über die richtige Weltanschauung“ (S. 149) basteln wollen. So
wird z.B. daraus der verbreitete ideologische Antiamerikanismus abgeleitet. Bei
diesen Positionierungen wird aber immer wieder übersehen, dass Steiner selbst
„multiperspektivisch gearbeitet“ (S. 151) habe. Zugleich sei er aber auch selbst z.B.
„allseits verbreiteten antijudaistischen Ressentiments des Bürgertums im
ausgehenden 19. Jahrhunderts“ (S. 153) gefolgt, allerdings keinesfalls „dem
eliminatorisch gemeinten Antisemitismus". Man müsse aber zugestehen, dass
man in Steiners Gesamtwerk durchaus einen „überheblichen Eurozentrismus“ (S.
169) finden könne. Steiner gehöre zwar keinesfalls zu den „Scharfmachern seiner
Zeit“ (S. 170), teilte aber einen Zeitgeist, der einem latenten Rassismus unterlag.
Diese Positionen sind heute „nicht mehr akzeptabel“ (S. 170). Eine systematische
und intentionale „Rassenlehre“ finde sich aber bei Steiner nicht. Im Gegenteil, in
den praktischen Arbeitsfeldern wird der angeblich originär anthroposophische
Rassismus auch in Entwicklungsländern stets zu einer Art
„Menschenhilfsmission“ (S. 175); zu „in der Regel ausgesprochen fruchtbare(n),
menschenfreundliche(n) Projekte(n).“ (S. 178)
Der innere Widerspruch, dass aus dem „sehr libertären und emanzipatorischen
Freiheitsimpuls“ in Steiners frühen Arbeiten „in späteren Jahren ein antiemanzipatorisches esoterisches Entwicklungsdenken“ geworden sei, lässt sich in
der Sicht der Evangelisten nicht ohne weiteres auflösen. So sei aus der libertären
frühen Anthroposophie im Mainstream „eine Art Steiner- Religion“ geworden,
wobei „Steiners Denken ganz klar dem linearen Geschichtsbild der
abrahamitischen Religionen folgt“ (S. 209). Religion aber sei nichts als eine
„Verdrängungsstrategie, die versucht, die Sinnlosigkeit des Todes und damit des
Lebens zu leugnen“ (S. 210). Allerdings bestehe in Bezug auf Anthroposophie ein
grundsätzlicher Unterschied, da Steiner stets die „Trennung“ zwischen
Lebenswirklichkeit und ein(em) irreale(n) „Jenseits“ aufhebe: „Das Jenseits ist
zwar Angelpunkt der Religion, aber es muss unerreichbar bleiben“ (S. 211).
Insofern lebt „Steiners Werk von Paradoxien“: „Und da ist nicht nur diejenige
zwischen seinem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und seiner de facto religiösen
Praxis, sondern auch jene zwischen seinem Anspruch auf Freiheit als der
Kardinalbestimmung des Menschen und seinem unbändigen Drang zu lehren, zu
führen und zu therapieren.“ (S. 222) Entgegen seinen emanzipatorischen
Ansprüchen betrieb Steiner eine „Inkaufnahme einer sektenartigen
Anhängerschaft inklusive Personenkult.“ (S. 225) Die „naive Rezeption seines
Werks als Religion“ dominiere den anthroposophischen Mainstream bis heute.
Die Vorstellung, Anthroposophie sei „eine Wiederholung der katholischen
Kirche“ finden die Vier Evangelisten „nicht wirklich erotisch“ (S. 233). De facto
stelle sich die real existierende Anthroposophie vielfach aber dar als ein
„pseudointellektueller Wettbewerb im Flachwichsen für moralisch unselbständige
Ideologen“ (S. 234).
Nun, diese Fundamentalkritik werden die gemeinten Papalagi nicht gerne hören
und lesen - schon gar nicht, wenn sie sich in ihrem geschlossenen Weltbild wohlig
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eingerichtet haben oder gar angenehme Funktionärsstellen im
institutionalisierten Anthroposophentum einnehmen. Dabei findet man schon im
Papalagi- Buch Anmerkungen über die „schwere Krankheit des Denkens“ (S. 50):
"Wenn das Wort „Geist“ in den Mund des Papalagi kommt, so werden seine
Augen groß, rund und starr; er hebt seine Brust, atmet schwer und reckt sich auf
wie ein Krieger, der den Feind geschlagen hat. Denn dies „Geist“ ist etwas, worauf
er besonders stolz ist. Es ist jetzt nicht die Rede vom großen, gewaltigen Geiste,
welchen der Missionar „Gott" nennt, von dem wir alle nur ein kümmerliches
Abbild sind, sondern vom kleinen Geiste, der dem Menschen zugehört und seine
Gedanken macht.“
Es gibt nicht viele Arbeiten und Bücher, die Rudolf Steiner und die
Anthroposophie im Kontext ihrer eigenen Entwicklung und der sowohl internen
wie gesellschaftlichen Rezeption betrachten. Bei all den humorigen und
provokativen Einkleidungen merkt man den Autoren das echte, jahrelange Ringen
um eine individuelle Positionierung an, weit weg von der verbreiteten distanzund kritiklosen Rezeption. Gleichzeitig spürt man aber auch die innere
Verbindung der Autoren. Dass das Ganze nun auch noch unterhaltsam und in
durchaus konträrer Gesprächsform daher kommt, macht es auch noch gut lesbar.
Derartig erhellende Betrachtungen - etwa von Karen Swassjan- waren bislang
meist von einer geradezu kryptischen Unlesbarkeit gekennzeichnet, die sich an
belesene und kundige Insider wandte. Insofern ist zu wünschen und zu hoffen,
dass dieses kluge Buch nicht nur zur Unterhaltung eines elitären Zirkels dienen,
nicht nur Stürme in den Wassergläsern der orthodox Gläubigen hervorrufen wird,
sondern tatsächlich Schule macht, damit Anthroposophie nicht nur zum
Selbstbeglückungsinstrument einiger hungriger Sinnsucher verkommt, sondern
als der offene Erkenntnisweg angesehen wird, als der sie einmal angetreten ist.
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