EU-Krisenpolitik verletzt Grundrechte - Hans-Böckler

Europa
EU-Krisenpolitik verletzt Grundrechte
Im Kampf gegen die Krise setzt die EU nationale Tarifsysteme unter Druck.
Damit verstößt sie gegen ihre eigene Grundrechtecharta.
Tarifautonomie gilt in Europa als hohes Gut: Die Charta der ins Visier der EU geraten: Belgien sollte nach den VorstellunGrundrechte der EU garantiert Beschäftigten und Arbeitge- gen des Rates dafür sorgen, dass sich die Lohnentwicklung an
bern „das Recht, Tarifverträge auf den geeigneten Ebenen der lokalen Produktivität orientiert. An Frankreich erging die
auszuhandeln und zu schließen sowie bei Interessenkonflik- Empfehlung, Abweichungen durch Haustarifverträge zuzulasten kollektive Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen, sen. Und Luxemburg wurde eine Reformierung der Lohnfineinschließlich Streiks, zu ergreifen“. Wie ernst diese Garantie dung einschließlich der Lohnindexierung nahegelegt, um die
genommen wird, haben Florian Rödl und Raphaël Callsen mit Wettbewerbsfähigkeit zu steigern.
Unterstützung des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeitsrecht
Der Analyse von Rödl und Callsen zufolge fallen sowohl die
und der Hans-Böckler-Stiftung überprüft. Die Rechtswissen- Empfehlungen des Rates als auch die Mitwirkung der Komschaftler von der Universität Frankfurt kommen zu dem Ergeb- mission an den Auflagen für Krisenstaaten in den Bereich der
nis, dass die Krisenpolitik der EU zum Teil nicht mit dem Grund- EU-Grundrechtecharta. Dem dort verankerten Grundrecht auf
recht auf Kollektivverhandlungen vereinbar ist.
Kollektivverhandlungen habe der Europäische Gerichtshof zwar
Im Fokus der Studie stehen zwei Instrumente der EU-Wirt- bislang kaum eigenständigen Gehalt zugebilligt. Tatsächlich
schaftspolitik: Zum einen haben Rödl und Callsen die Empfeh- handele es sich aber um ein vollwertiges Grundrecht, das allenlungen analysiert, die der Europäische Rat im Rahmen des Ver- falls nach sorgfältiger Abwägung eingeschränkt werden darf.
fahrens makroökonomischer Überwachung abgegeben hat. Die Eingriffe der EU in nationale Tarifsysteme seien dagegen
Zum anderen haben sie die Mitwirkung der Kommission an vielfach unverhältnismäßig und damit rechtswidrig. Denn unden „Memoranda of Understanding“ betrachtet, die mit Kri- abhängig davon, ob flexiblere Tarifstrukturen als Mittel der Krisenstaaten als Voraussetzung für Finanzhilfen ausgehandelt senbekämpfung geeignet sind, fehle es vielen Maßnahmen an
werden. Ihrer Untersuchung zufolge zielen die Empfehlungen der „Erforderlichkeit“, weil „gleichermaßen effektive und doch
und Auflagen konsequent darauf ab, Wettbewerbsfähigkeit mildere Mittel zur Verfügung stehen“. Die Juristen weisen insdurch Senkung von Lohnkosten zu steigern. Entsprechende besondere auf drei Versäumnisse hin: Erstens dürften EingrifFlexibilität „nach unten“ sollen Eingriffe in die Tarifsysteme si- fe in Tarifsysteme nicht ohne Einbeziehung der Sozialpartner
cherstellen.
Das wirtschaftspolitische
Paradigma der EU wird am
Der griechische Flächentarif erodiert
Umgang mit Griechenland
besonders deutlich. Die Auf- So viele Tarifverträge wurden in Griechenland abgeschlossen auf Ebene der ...
lagen hätten sich von Anfang
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an nicht nur auf die Tarifstrukturen im öffentlichen Dienst
Branchen und Berufsgruppen
Unternehmen
bezogen, sondern auch auf
die griechische Privatwirt210 153 216 165 223 186 223 152 231 120 113 63
23
22
19
schaft, so Rödl und Callsen.
Verlangt wurde unter anderem, das Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung
auszusetzen und die maxima128 151 186 173 226 254 231 209 230 227 240 178 976 409 286 193
le Laufzeit von Tarifverträgen
zu verkürzen. Darüber hinaus
August
2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014
sollte die Zulassung nicht-ge2015
werkschaftlicher Akteure zur
Dezentralisierung des Ta- Tarifverträge und Schlichtungsvereinbarungen Quelle: Schulten 2015
rifsystems beitragen. Sogar Grafik zum Download: bit.do/impuls0059 Daten: bit.do/impuls0060
inhaltliche Eingriffe in bestehende Verträge waren vorgesehen: Tarifvertraglich vereinbar- durchgesetzt werden. Zweitens wäre es geboten, Maßnahte automatische Lohnsteigerungen mussten ausgesetzt wer- men zur Bewältigung einer akuten Krise zeitlich zu begrenzen.
den. Zudem waren Kürzungen des durch nationalen Tarifvertrag Drittens seien in Einzelfällen „Regelungen zur Milderung besonderer Härten“ vorzusehen. Der Weg für Klagen gegen die
vereinbarten Mindestlohns Gegenstand der Vereinbarungen.
Auch Portugal musste sich zu Eingriffen in sein Tarifsys- Krisenpolitik der EU steht den Autoren zufolge damit sowohl
tem verpflichten: Unter anderem sollten Vereinbarungen auf den betroffenen Staaten als auch den Tarifparteien offen.<
betrieblicher Ebene erleichtert, AllgemeinverbindlicherklärunQuelle: Florian Rödl, Raphaël Callsen: Kollektive soziale Rechte unter dem Druck der Währungsgen erschwert werden. Selbst Staaten, die ohne Finanzhilfen union – Schutz durch Art. 28 EU-Grundrechtecharta? Bund-Verlag, Frankfurt a. M.
auskommen, müssen damit rechnen, dass ihre Tarifsysteme 2015 Download: bit.do/impuls0058
Böckler Impuls · 14/2015 · Seite 6