Führungsblatt Nr. 16 Die Drehleier Die Drehleier (Radleier, Vielle à roue) ist eines der weni gen Streichinstrumente mit einer Tastatur. Ihr Charakteristikum ist das scheibenförmige Rad, das an stelle e ines Streichbogens den Ton erzeugt. Es ist in das Korpus eingelassen und berührt die darüber gespannten Darmsaiten. Im 18. Jahrhundert bestand die Besaitung aus zwei unisono gestimmten Melodiesaiten und vier wahlweise zuschaltbaren Bordunsaiten. Die Melodiesai ten werden durch die Tangenten verkürzt, die nach Art einer Tastatur anstelle des Griffbretts angebracht und in einem Kasten eingeschlossen sind. Bei gleichmäßi ger Radbewegung entsteht ein kontinuierlicher Klang, durch ruckhafte Bewegung der Kurbel l assen sich rhyth mische Akzente, durch Beschleunigung und Verlang samung der Radbewegung dynamische Schattierungen erzeugen. Wegen ihrer mitklingenden Bordune erin nert die Radleier an Dudelsack und Musette. Der musikalische Gebrauch der Radleier war im Verlauf der Geschichte sozialen Veränderungen unterworfen: Das Instrument ist bereits im 10. Jahrhundert unter dem Namen Organistrum nachweisbar. Im Mittelalter diente es dem Spielmann zur Begleitung seiner Gesän ge, zumeist wohl in einem schlichten Bordunstil. Als diese Praktiken gänzlich unzünftig wurden, sank die Radleier zum Bettlerinstrument herab; 1619 spricht der Komponist und Musiktheoretiker Michael Praetorius von der »Bawren vnd Bettler Leire«. Durch die Jahrhunderte spielte die Radleier in der Volksmusik, ganz besonders in Südfrankreich, eine führende Rolle. Anfang des 18. Jahrhunderts erlebte das Instrument zu sammen mit der Musette in der Schäfermode eine Nach blüte in der französischen Aristokratie. Aus diesem so zialen Umfeld stammen die Instrumente von Georges Louvet (Kat.-Nr. 4087 und 5804; Abb. siehe Rückseite). Die kostbare Einlegearbeit aus Elfenbein in Ebenholz, die Schildpatt- und Elfenbeinintarsien, die ausführliche Signierung und andere Merkmale weisen diese chroma tischen Radleiern als Instrumente der höheren Stände aus. Die wohl aus Böhmen stammende Radleier mit der Signierung »Carel Bimer« (Kat.-Nr. 4058) ist hingegen ein typisches Volksmusik-Instrument aus dem 18. Jahr hundert, dessen Wuchtigkeit und Schlichtheit für einen ganz anderen instrumentalen Lebensraum steht als die mit filigranen Intarsien versehenen Instrumente des höfischen Rokoko. Drehleier, Carel Bimer, Böhmen, 18. Jahrhundert, Kat.-Nr. 4058. Kastenform; eine Spiel- und drei Bordunsaiten; Feinstimmvorrichtung in Form eines sitzenden Männchens, Spannvorrichtung in der eines Hundes © MIM, Foto: Anne-Katrin Breitenborn Musikinstrumenten-Museum Staatliches Institut für Musikforschung Schema einer Drehleier © MIM, Zeichnung: Olga Adelmann Drehleier, Georges Louvet, Paris, 1. Viertel 18. Jahrhundert, Kat.-Nr. 5804 © MIM, Foto: Harald Fritz Als Franz Schubert 1827 seinen Liederzyklus »Die Winter reise« komponierte, war die Radleier bereits wieder zum beispielhaften Instrument der Bettler ab gesunken. Schuberts »Leiermann« – so der Titel des letzten Liedes – ist kein Drehorgelspieler, sondern ein Bettler, der mit starren Fingern das Rad der Drehleier dreht. Der Komponist hat die klangliche Besonderheit des Instruments genial und einfach imitiert: Durch gängig wird die Singstimme von einem Quintenbordun begleitet. Das widerborstige, bei der ersten Radbewe gung entstehende Geräusch wird mit einem Vorschlag angedeutet. Aber erst auf einem Klavier der SchubertZeit mit Fagottzug – wie etwa dem Hammerflügel von Josef Brodmann (Kat.-Nr. 312) – lässt sich die ganze Imitationsbreite der Klavierbegleitung darstellen. Der Fagottzug ist eine mit Pergament bespannte Leiste, die, über ein Pedal geschaltet, auf die Baßsaiten gelegt werden kann. Dadurch wird ein schnarrender Ton er zeugt, der dem der Drehleier ähnelt. Eine Sonderform der Radleier ist die Orgelleier (Lira organizzata). In ihrem Korpus liegen Bälge, die mittels eines den Boden durchdringenden Stricks mit dem Fuß bewegt werden kann. Das César Pons zugeschriebene Instrument (Kat.-Nr. 2609) hat zwei Pfeifenregister, die panpfeifenartig aus Holz in Dreiecksform hergestellt sind und übereinander auf der Decke des Instruments liegen. Ein Register erklingt im Einklang mit den Ton höhen der Melodiesaiten, das andere klingt eine Oktave höher. Joseph Haydn schrieb für die Orgelleier mehrere Kon zerte und Notturni im Auftrag Ferdinands IV. von Neapel, dem Schwiegersohn von Maria Theresia. D ieser spielte das kuriose Instrument mit Vorliebe selbst. Da es keine Virtuosen der Orgelleier mehr gibt, wird sie heute bei den Haydn-Kompositionen durch Blockflöten oder ein Positiv ersetzt, womit natürlich der spezifi sche kontinuierliche Klang des Streichborduns nicht erreicht werden kann. Detaillierte Beschreibungen der Instrumente befinden sich im Katalog der Streichinstrumente von Irmgard Otto, in Zusammenarbeit mit Olga Adelmann, heraus gegeben vom Staatlichen Institut für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1975. Musikinstrumenten-Museum SIM PK Führungsblatt Nr. 16, 2. korr. Auflage 2013 Text: Martin Elste © 2013 Staatliches Institut für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz Berlin
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