Nr. 5 | 31. Mai 2015 NZZ am Sonntag Goethe Der gewaltige Briefschreiber aus Weimar 19 Neu übersetzt Alle Gedichte von Emily Dickinson 4 Vettern Sarasin Zwei Basler und ihre Tropenliebe 12 Reich der Mitte Bücher zum Aufstieg Chinas 16 Bücher am Sonntag Städtische versus ländliche Schweiz Neu Zwischen Stadt und Land hat sich beinah unbemerkt die Bevölkerung der Agglomeration als entscheidender Faktor geschoben. Auf welche Seite tendiert dieses Segment? Wie zeichnet sich suburbanes Verhalten bei Schweizer Abstimmungen aus und welche Bedeutung hat es bei gesamtschweizerischen Fragen? In zehn Beiträgen gehen die Autorinnen und Autoren der Frage nach, wie die aktuelle Entwicklung unserer Siedlungsstrukturen zu bewerten ist und wie sich die Siedlungsstrukturen auf die politische Mentalität und das Abstimmungsverhalten auswirken. Georg Kreis (Hrsg.) Städtische versus ländliche Schweiz? Siedlungsstrukturen und ihre politischen Determinanten. 224 S., 10 Abb., broschiert. Fr. 24.–* / € 24.– Auch als E-Book erhältlich <wm>10CAsNsja1NLU01DU3MDczMgQAx4YaMQ8AAAA=</wm> <wm>10CFXKKw6AMBBF0RVN82bKfEolqWsQBF9D0OxfkeIQV9zk9F414Wtr-9mOqkULk8NNeE4StxoiCYtXKIeAdUVkMAd-nMDFMvKYhKDEMRAkQeoj1NJz3S8uFtl5cQAAAA==</wm> Zwei Journalisten waren ein Jahr lang in den Agglos der Schweiz unterwegs. Aus ihren Begegnungen und Gesprächen wurde das Buch «Daheim». «Die Autoren wollten die Menschen hinter dem Schimpfwort ‹Agglo› kennenlernen. ‹Es wird immer über die Leute in der Agglomeration geredet, aber nie mit ihnen gesprochen›, so Matthias Daum. ‹Das wollten wir ändern›.» Limmattalerzeitung, 27. September 2013 Matthias Daum und Paul Schneeberger Daheim Eine Reise durch die Agglomeration. 208 Seiten, farbige Abbildungen und illustrierte Karten, 100 Illustrationen. Klappenbroschur. Fr. 38.–* / € 38.– #Agglo nzz-libro.ch Inhalt Als Briefe schreiben noch eine Kunst und Schwerarbeit war Nr. 5 | 31. Mai 2015 NZZ am Sonntag Goethe Neu übersetzt Dergewaltige AlleGedichte Briefschreiber von Emily aus Weimar Dickinson 19 4 Vettern Sarasin Reich derMitte Zwei Basler Bücher undihre zum Aufstieg Tropenliebe Chinas 12 16 Bücher am Sonntag J. W. von Goethe (S. 19). Illustration von André Carrilho Wenn Johann Wolfgang von Goethe einen Brief schrieb, war das körperliche Arbeit unter höchster Konzentration: Mit dem Gänsefederkiel, der dauernd gespitzt und nach jedem zweiten Wort ins Tintenfässchen getunkt werden musste, presste er seine Sätze auf «widerborstiges Papier, über das die Feder nicht glitt, sondern unter Absonderung hässlicher Geräusche mühsam kratzte». Neben seinen Romanen, Dramen, Gedichten und theoretischen Abhandlungen schrieb der Weimarer Dichterfürst rund 20000 Briefe. Der Goethe-Kenner Albrecht Schöne würdigt in seinem Buch diese Episteln als sprachliche Kunstwerke – sie beginnen mit dem ersten Schreiben des 14-Jährigen und enden mit dem Brief des 82-Jährigen wenige Tage vor seinem Tod. Er zieht überraschende Erkenntnisse aus den unterschiedlichen Anreden und Grussformeln, aus dem Gebrauch der Tempi und Grammatikregeln. Wir werfen einen Blick zurück auf eine Schreibkultur, die mit der digitalen Revolution weitgehend verschwunden ist – ohne Nostalgie, doch mit grossem Respekt (Seite 19). Andere Bücher widmen sich der «Unruhe der Welt» (S. 18), der Autonomie des Menschen (S. 21), den Aufsteigern in China (S. 16) oder den DadaFrauen (S. 20). Und natürlich werden Ihnen im Belletristik-Teil wie immer ein halbes Dutzend packender neuer Romane vorgestellt. Wir freuen uns, dass mit dieser Nummer die Germanistin Simone Karpf neu die BamS-Redaktion verstärkt. Herzlich willkommen! Urs Rauber Belletristik 4 Emily Dickinson: Sämtliche Gedichte Von Dorothea von Törne 6 Miklós Bánffy: In Stücke gerissen Von Stefana Sabin 7 Valerie Fritsch: Winters Garten Von Sandra Leis 8 Lukas Hartmann: Auf beiden Seiten Von Charles Linsmayer Jongsuk Yoon: Sansui Von Gerhard Mack 9 Lorrie Moore: Danke, dass ich kommen durfte Von Simone von Büren 10 Penelope Lively: Wenn eins zum anderen kommt Von Angelika Overath 11 Edmondo de Amicis: Auf dem Meer Von Manfred Papst Kurzkritiken Belletristik 11 Michael Weins: Sie träumt von Pferden Von Regula Freuler Sara Gran: Dope Von Regula Freuler Henry James: Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren Von Manfred Papst Pablo d‘Ors: Die Wanderjahre des August Zollinger Von Manfred Papst Porträt 12 Ambivalente Tropenliebe Geneviève Lüscher schreibt über die Basler Naturhistoriker Paul und Fritz Sarasin und ihre Ostasienexpeditionen Kolumne 15 Charles Lewinsky Das Zitat von Federico Fellini Die US-Journalistin Mona Eltahawy kämpft für die Rechte der Frauen in arabischen Ländern (S. 23). Kurzkritiken Sachbuch 15 Urs Schoettli: Aufbruch aus Europa Von Urs Rauber Kurt Brandenberger: Marco Camenisch Von Claudia Mäder Gerhard Danzer: Europa deine Frauen Von Kathrin Meier-Rust Gabriela Häfner, Bärbel Kerber: Das innere Korsett Von Kathrin Meier-Rust Sachbuch 16 Evan Osnos: Grosse Ambitionen Marcus Hernig: Chinas Bauch Von Harro von Senger 18 Ralf Konersmann: Die Unruhe der Welt Von Anja Hirsch 19 Albrecht Schöne: Der Briefschreiber Goethe Von Manfred Koch Angela Marquardt, Miriam Hollstein: Vater, Mutter, Stasi Von Kathrin Meier-Rust 20 Ina Boesch: Die Dada Von Janika Gelinek Dominik Müller: Jean Tinguely – Motor der Kunst Von Gerhard Mack 21 Michael Pauen, Harald Welzer: Autonomie Von Claudia Mäder 22 Britta Waldschmidt-Nelson: Malcolm X Von Tobias Meier Romano Cuonz, Christof Hirtler: Franz Josef Bucher, Hotelkönig, und Josef Durrer, Bergbahnpionier Von Simone Karpf 23 MonaEltahawy:Warumhasstihrunsso? Von Susanne Schanda 24 David Shields, Shane Salerno: Salinger Von Regula Freuler 25 Sandra Völker: An Land kannst du nicht schwimmen Von Kathrin Alder Rainer Matthias Holm-Hadulla: Integrative Psychotherapie Von Brigitte Boothe 26 Alan Cassidy, Philipp Loser: Der Fall FDP Von Urs Rauber Das amerikanische Buch Robert Putnam: Our Kids. The American Dream in Crisis Von Andreas Mink Agenda 27 Johann Feilacher: Navratils KünstlerGästebuch Von Manfred Papst Bestseller Mai 2015 Belletristik und Sachbuch Agenda Juni 2015 Veranstaltungshinweise Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura., Leitung), Regula Freuler (ruf.), Simone Karpf (ska.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Hildegard Elisabeth Keller, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Hanspeter Hösli (Art Director), Susanne Meures (Bildredaktion), Raffaela Breda (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AG Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected] 31. Mai 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Lyrik Endlich liegen sämtliche Gedichte der grossen amerikanischen Autorin Emily Dickinson (1830–1886) in einer exzellent übersetzten zweisprachigen Ausgabe vor Gebrochene Melodie Emily Dickinson: Sämtliche Gedichte. Zweisprachig. Aus dem Amerikanischen übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Gunhild Kübler. Hanser, München 2015. 1403 Seiten, Fr. 68.–. Von Dorothea von Törne Dies ist die weltweit vierte zweisprachige Gesamtausgabe der Verse von Emily Dickinson (1830–1886). Nach Japan, Italien und Frankreich zieht Deutschland nach mit der Edition sämtlicher 1789 Gedichte. Lange war Amerikas höchstrangige Dichterin im deutschsprachigen Raum fast unbekannt. Mehr sein als scheinen, war ihre Devise. «Ich bin klein wie der Zaunkönig, und mein Haar ist keck wie die Stachelfrucht der Kastanie – und meine Augen wie der Sherry im Glas, das der Gast stehen lässt», schrieb sie in einem Brief an ihren späteren Mentor Higginson. Gegen Ende ihres zurückgezogenen Lebens trauerte sie dem verpassten Ruhm nicht nach: «Ruhm ist ’ne Emily Dickinson Die Dichterin wurde 1830 in Amherst (Massachusetts) geboren, wo sie ihr ganzes Leben verbrachte und 1886 starb. Sie war eins von drei Kindern einer calvinistischen Familie. In der Schule fiel sie durch Intelligenz, aber auch physische und psychische Labilität auf. Sie führte ein einsames Leben und traf kaum andere Menschen, korrespondierte aber eifrig. 1850 begann sie, Lyrik zu schreiben. Von ihren rund 1800 Gedichten wurden zu ihren Lebzeiten nur 7 veröffentlicht. Obwohl sie kaum je ihr Haus verliess, ist ihr Werk von Offenheit, Weite und Modernität geprägt. Der Verzicht auf traditionelle lyrische Formen und die Fragmentierung der Gedanken weisen ins 20. Jahrhundert voraus. Es gibt nur eine einzige authentifizierte Fotografie von Emily Dickinson. 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Mai 2015 Biene / Hat Gesang – / Hat einen Stachel – / Ah, fliegt auch davon». Mehr als hundert Jahre hat es gedauert, bis Emily Dickinson als moderne Dichterin von Weltrang erkannt wurde. Paul Celan war einer der ersten, der sich von ihrer Poesie inspirieren liess. Zehn ihrer Gedichte hat er ins Deutsche übertragen. Das hätte die faszinierende Originalität dieser Dichterin stärker ins Bewusstsein der Leser rücken können. Aber die Kunde von moderner Weltliteratur aus dem 19. Jahrhundert verhallte zunächst ungehört. Aus Konventionen befreit Mehr als für die Verse interessierte sich die Öffentlichkeit für die ungelösten Rätsel ihres Lebens: die stets weissen Kleider, in denen sie durch den Garten des «Homestead» im Städtchen Amherst in Massachusetts schwebte. Die Jungfer mit exzellenter Bildung, die sich als Dreissigjährige entschloss, nie mehr über die Schwelle des väterlichen Hauses hinauszugehen. Die Liebende, die – anscheinend ohne Geliebten – kühn über die Leidenschaft schrieb. In selbstgewählter Einsamkeit, umgeben von ihrer «Regalverwandtschaft», den Büchern, betrieb sie eine intensive Kommunikation in Briefen. Sie war eine sich aus allen puritanischen Konventionen befreiende Frau und ein Unikum bis zum Grab. Der Literaturbetrieb brodelte postum als Gerüchteküche um möglicherweise psychotische Veranlagung, lesbische Neigungen, unterdrückte Frauenrechte und verstellte selbst den Blick von Verfassern renommierter Literaturlexika. Da ist von «mystisch-ekstatischen Gefühlserlebnissen» und «grundlegender Zerrissenheit» die Rede sowie von «Hoffnung auf göttliche Erwählung und Unsterblichkeit». Nichts von alledem hält dem unvoreingenommenen Blick stand. Der Leser prüfe selbst. Mit Gunhild Küblers zweisprachiger Komplettausgabe der chronologisch geordneten, zwischen 1850 und 1886 geschriebenen Gedichte hat er alles in der Hand, was er dafür braucht. Sie umfasst samt Nachwort und Anhang 1403 Seiten. Nicht von ungefähr waren es die Japaner, Meister des Haiku, die bereits 1976 die erste zweisprachige Gesamtausgabe edierten. Viele der Dickinsonschen Verse sind in haikuähnlichen Kurzformen gehalten, oft in jambischen Vierzeilern. Manche Sentenzen erinnern an Zaubersprüche. Dickinson und Celan gemeinsam sind die Sprechbewegung des Umkreisens/Einkreisens («circumference») von Begriffen und konkreten Wahrnehmungen und die gebrochene, nur angedeutete Melodie («cautious melody»), wie sie in Dickinsons «At half past three» zu vernehmen ist. In der Celan-Übersetzung ist als Ort des Geschehens ein «Zwischenreich» auszumachen; Gunhild Kübler spricht von «des Umkreisens Mitte», was an Rilkes «Panther» erinnert. Jungfer mit exzellenter Bildung: Emily Elisabeth Dickinson mit 18 Jahren (Daguerreotypie von 1848). Über das Für und Wider der Übersetzungen könnte man lange streiten. Welche Übertragung kommt dem Original am nächsten? Lola Gruenthal und Werner von Koppenfels haben das Gedicht einst nicht in ihre Auswahlbände aufgenommen, wohl aber Gertrud Liepe (Reclam 1970). Bei ihr heisst es in der zweiten Strophe entsetzlich umständlich: «Um halb nach vier, das Experiment / / Hatte den Test geschafft». Dabei hatte doch Celan wunderbar klar und vorwärts weisend formuliert: «Das war die Probe. / Um halb fünf / gings über sie hinaus». Und Gunhild Kübler? «Halb Fünf, da hatte / Der Versuch die Prüfung abgeschlossen». Sicherlich wird das nicht die letzte Übertragung auch dieses Gedichts ins Deutsche sein. Dass es hier letztlich um Prozesse in Zeit und Raum, um unwiederbringliche Momente des Lebens und des Aufbruchs vor dem Hintergrund von Ewigkeit und Universum geht, wird vor allem bei Celan und Kübler deutlich. Obwohl Dickinsons Verse oft von Naturerscheinungen wie Tag und Nacht, Wind, Wolken und Gewässern ausgehen oder von Lebewesen wie Biene, Kolibri und Käfer, erschöpfen sie sich nie in reiner Naturdichtung. Gedichte der Emily Dickinson bis heute ihre universelle und zeitlose Gültigkeit bewahrt haben, macht ihre besondere Qualität aus. Als präzise Miniaturen nehmen sie die Moderne vorweg. Das Offene, Dialogische, Prozesshafte, auch das Fragmentarische macht sie für die Gegenwart anregend. Bei allen nachdenklichen und tragischen Konstellationen bricht sich bei Dickinson immer wieder das Komische, Absurde und Paradoxe Bahn. In Verbindung mit Witz und Ironie entfachen sie ein Feuerwerk von Möglichkeiten («I dwell in possibility»), auch für Interpreten, Nachdichter und Autoren wie jüngst Hans-Ulrich Möhring, dessen Novelle «Ausgetickt» (Edition Rugerup, 2015 ) den Faden des Unerzählten in Emily Dickinsons Gedicht «A clock stopped» auf der Gegenwartsebene weiterspinnt. Kundig übersetzt Ihr Nachwort hat Gunhild Kübler – im Vergleich zu ihrem Auswahlband von 2006 – völlig neu gefasst. Es führt insbesondere das Trugbild von Emily Dickinson als einer Dichterin der provinziellen Naturidylle und der Lebensenge ad absurdum. Es weist auf die Zusammenhänge zwischen ihrem Werk und den naturwissenschaftlichen und technischen Errungenschaften ihrer Zeit und beschreibt die Spuren, die vor allem der amerikanische Bürgerkrieg (1861–1865) in ihrem Bilder- und Wortschatz und in der Wahl ihrer Perspektiven hinterlassen hat. Vor allem aber widerlegt sie die jahrzehntelang weitverbreitete Auffassung von der Opferrolle der Emily Dickinson als Frau und als zu Lebzeiten ungedruckte Dichterin. Anders als Lola Gruenthal löst Gunhild Kübler die Disharmonien nicht in gefällige Klänge auf. Sie orientiert sich dort, wo es möglich ist, an der Nachbildung von Metrum, Rhythmus und meist unreinem Reim, um etwas vom Klangzauber von Dickinsons Lyrik ins Deutsche zu retten. Wer so kundig und diffizil übersetzt wie diese Nachdichterin, vollbringt eine bewundernswerte Leistung. Ein unübersetzbarer Rest bleibt immer. Gunhild Kübler hält diesen Rest so klein wie möglich.● THE GRANGER COLLECTION Garten Eden als Utopie Anfang und Ende, Unten und Oben und das Dazwischen, auch der Traum vom Paradies ist in diesen Gedichten aufgehoben. Der Garten Eden als Utopie hatte es Paul Celan in zwei Dickinson-Gedichten besonders angetan: «One blessing had I» und «I reason, earth is short». Sowohl die Celan- als auch die KüblerÜbersetzung machen aus der Verzweiflung über die Vergänglichkeit des Lebens keinen Hehl. Das schnippische «Na und?» klingt als saloppe Floskel in der Übersetzung von Gunhild Kübler zeitgemäss widerborstiger als die Celansche Variante «Ja und?». Zeitgemässer klingt auch Küblers «Viele verletzt» gegenüber Celans «Und weh tut Hand um Hand». Mit Küblers Version kommen dem Leser gegenwärtige menschengemachte Katastrophen in den Sinn und dazu die Gleichgültigkeit einer Zuschauermenge. Dass die Zürich Basel Bederstrasse 4 Güterstrasse 137 Bern Länggassstrasse 46 <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMjIzsgAAkStyvg8AAAA=</wm> <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMjIztAQAxEhY4g8AAAA=</wm> <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUysjQwMQEAjzsSMg8AAAA=</wm> <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMjIzsgAAkStyvg8AAAA=</wm> 100‘000 antiquarische Bücher buecher-brocky.ch Luzern Aarau Ruopigenstrasse 18 <wm>10CFXKIQ7DQAxE0RN5NTNeb-MaVmFRQVW-JArO_VHasoL_0du2ioZfj_X5Xl9FoIdJGloqcrS8eTF7W5KFpAT2O9IRoOPPG5jD4fNrDGnU_FxpwUmhnftxAYCSdmhyAAAA</wm> <wm>10CFXKIQ6AMAwF0BN16W-7jlJJ5giC4GcImvsrAg7x3FvXrIU_S9-OvieYrZKIOCJreImmibAyBZKbqDBshkuFTorfJ0a4so73EDcSHXASI7UR3sp9Xg82ZWsHcgAAAA==</wm> <wm>10CFWKMQoDMQwEXySzWkt2dCqDO5MiXO_mSJ3_VzHXpRgYhpkzveDmOV7neKcC5kIGzNLDC3tLDZbuLUFWQv1AsLux4e8XaLSKuvZjohTawkMqtu9m5Xt9fi0-0d5yAAAA</wm> <wm>10CFXKoQ4CMRRE0S96zcy8TkupJOs2Kwi-hqD5f8WCQ9xcc_Z9uuDXbTse230SqA5JTZfp4aLeJodK93mwC6xXKq1q488HOFoi19cEEeyLiqyRXqcu7-frA2AIQV9yAAAA</wm> Kunst Kinder Hel vetika Freihofweg 2 Sport Politik Literatur Hobby Reisen Kochen u.v.m. 31. Mai 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Belletristik Roman Grossangelegtes Sozialgemälde des Siebenbürger Adligen Miklós Bánffy TräumeninZeitendesUntergangs Miklós Bánffy: In Stücke gerissen. Aus dem Ungarischen von Andreas Oplatka. Zsolnay, Wien 2015. 397 Seiten, Fr. 37.90, E-Book 28.90. Von Stefana Sabin Nachdem sie sich im Geheimen geliebt, sich mehrmals getrennt und dann doch wieder zueinander gefunden haben, glauben Graf Abády und seine Geliebte, Gräfin Adrienne Uzdy, dass sich ihre grosse Liebe nun endlich erfüllen kann. Denn er hat dem gesellschaftlichen Druck standgehalten und ist ledig geblieben, sie ist inzwischen verwitwet, und auch seine altersmild gewordene Mutter scheint die Verbindung am Ende zu akzeptieren. Nun also schmieden die Geliebten Lebenspläne, sie träumen von einer Familie. Aber dann schlägt das Unglück doch wieder zu, und sie trennen sich erneut, diesmal vielleicht tatsächlich endgültig. Die Träume sind ausgeträumt, und der über Europa aufziehende Krieg ist für Abády eine willkommene Gelegenheit, sich der eigenen Verzweiflung durch national-patriotisches Handeln zu entziehen: «Er würde sich den Vilmos-Husaren anschliessen.» Denkt Abády. «Warum auch um das eigene Leben fürchten? Eine Kugel, das wäre das Beste.» Und mit gebrochenem Herzen zieht er in den Krieg. Aber gebrochen sind am Ende dieses Romans nicht nur die Herzen der Liebenden, sondern auch die österreichisch-ungarische Monarchie, zu der die Liebenden als Teil des Siebenbürger Adels gehörten. Die aufwühlende, zwischen Leidenschaft und Verzweiflung schwebende Liebesgeschichte gibt den narrativen Faden ab, der verschiedene Nebenhandlungen verbindet, und sie bildet zugleich den Hintergrund eines grossangelegten Sozialgemäldes des Siebenbürger Adels, jener Schicht, der Miklós Bánffy, 1873 in Klausenburg geboren und 1950 in Budapest gestorben, selber angehörte und die in den Umwälzungen des Ersten Weltkriegs mit der österreichisch-ungarischen Monarchie zugrunde ging. In seiner «Siebenbürger Geschichte», die in den 1930er Jahren entstand, in den 1950er Jahren in Vergessenheit geriet und erst in den 1990er Jahren wiederentdeckt wurde, beschreibt Bánffy, der selber liberaler Politiker und konservativer Publizist war, sowohl die parlamentarischen Debatten in Budapest als auch ihre Reflexe in der Lokalpolitik in Klausenburg und setzte alles in Kontext der internen Lage der österreichisch-ungarischen Monarchie. Zugleich spinnt er eine dichte Handlung aus politischen Intrigen, Familienfehden und Liebesgeschichten – das Verknüpfen der sentimentalen Erzählung mit dem politischen Weltgeschehen erinnert ein bisschen an Tolstoi, während das Eindringen der ethnischen, kulturellen und sozialen Spannungen in die Handlung an den siebenbürgisch-rumänischen Epiker Liviu Rebreanu erinnert. Mit Rebreanu teilt Bánffy auch die erzähltechnische Strategie, die Figuren durch ihre Verbundenheit mit der heimatlichen Scholle zu charakterisieren und Naturbeschreibungen als stabilisierende Elemente einer lockeren Romanstruktur einzubeziehen. Am Ende des Romans, der auch etwas Pastorales hat, scheinen diese bewaldeten Berge, durch die Abády ständig geritten oder gefahren war, in Brand geraten zu sein: «Der untere Rand des Himmels leuchtete blutrot. Flammende Tränen glühten zahllos, blendend, als weine das All.» Es ist eine unheimliche Berglandschaft, die den heranziehenden Weltenbrand des Krieges suggeriert. ● www.rowohlt.de ES WAR EINMAL EIN KLEINER SCHWEIZER <wm>10CAsNsja1NLU01DU3MDGzNAcA11U4KQ8AAAA=</wm> © Getty Images <wm>10CFWKOw6AMAzFTpQqafpSHh0RG2JA7F0QM_ef-GxI9mDJy9KQ9HOa133eGgiaVC3B-kbKNZqTKQY0hZashtECYfTA7xc1hqv39xF9KN1CAMneWZiu47wBcP7qBnIAAAA=</wm> Amüsante, bewegende und charmante Geschichten des Bestsellerautors über seine Heimat – jenseits von Bergen, Schokolade, Käse und Taschenmessern. 6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Mai 2015 Roman Mit der 26-jährigen Valerie Fritsch hat Österreich eine neue literarische Stimme. Ihr Buch «Winters Garten» verblüfft vor allem durch seine Sprache ZumLebengehörtauchderTod Valerie Fritsch: Winters Garten. Suhrkamp, Berlin 2015. 154 Seiten, Fr. 23.90, E-Book 18.–. Der Basler Autor Jürg Laederach, nicht bekannt für eilfertige Lobhudeleien, fragt: «Was macht Valerie Fritsch im Rest ihres Lebens, wenn sie jetzt schon so gut ist?» Und der österreichische Schriftstellerkollege und Büchnerpreisträger Josef Winkler meint: «Ich bin mir sicher, dass mit Valerie Fritsch ein Prosatalent in der österreichischen Gegenwartsliteratur aufgetaucht ist, von dem man noch viel hören wird.» Die Rede ist von der gebürtigen Grazerin Valerie Fritsch. Sie ist 26 Jahre jung, schreibt, fotografiert und reist viel. Mindestens die Hälfte des Jahres verbringt sie im Ausland; im vergangenen Jahr bereiste sie Togo, Benin, Nigeria und Ghana. Ihr erster Roman «Die VerkörperungEN» erschien 2011 in einem kleinen Grazer Verlag, ein Jahr später folgte «Die Welt ist meine Innerei – Reisebriefe und Bilder», und kürzlich veröffentlichte sie zusammen mit ihrer Mutter Gudrun Fritsch den Gedichtband «kinder der unschärferelation». Valerie Fritsch ist Mitglied der Literaturgruppe «die plattform», eines «offenen autorenkollektivs sesshaft im grazer literaturhaus und walzierend durch die (kopf)welt». Bis vor kurzem galt die Autorin als Nachwuchstalent im österreichischen Literaturbetrieb. Jetzt hat sie, die in Literaturtalks selbstbewusst, manchmal auch etwas blasiert auftritt, den Sprung zum renommierten Suhrkamp Verlag geschafft. «Winters Garten» heisst der Roman, und Valerie Fritsch stürzt sich wie bereits in ihrem Erstlingsroman auf die grossen Themen der Menschheit: Geburt und Tod, Blüte und Verfall, Liebe und Einsamkeit und das Ende der Welt. Fotografischer Blick Das klingt nach Alarmstufe eins, und man müsste dringend von der Lektüre abraten, wären da nicht der parabelhafte Zugriff auf das apokalyptische Geschehen und eine Sprache, die so prall und üppig ist, dass sie aus der Zeit gefallen scheint und gleichzeitig höchst gegenwärtig ist. Da schreibt eine Autorin, die mit einem fotografisch genauen Blick auch ihre innere Welt beobachtet und so lange am Text feilt, bis dieses präzise Schauen Sprache geworden ist. Vereinzelt kippt die Sprache zwar ins Manierierte oder Altmodische; in aller Regel aber überzeugt sie durch ihren Detailreichtum und ihre Wucht. Über die Kindheit ihres Protagonisten Anton Winter schreibt Valerie Fritsch: Für ihn «war die Kindheit vollgestopft mit hohen Gräsern und Teerosen und grünen Äpfeln in den Bäumen (. . .). Die BRIDGEMAN ART Von Sandra Leis In Valerie Fritschs Roman stehen Garten und Stadt für diametrale Gegensätze: Der Garten ist Zufluchtsort, in der Stadt herrscht Chaos. Alten und Kranken waren zu Hause, und durch die dünne Haut fiel ihnen das Sonnenlicht bis aufs Skelett (. . .). Die Geburt steckte noch in allen Knochen, so dass man den Tod nicht fürchten musste.» Seine Kindheit verbringt Anton Winter in einer paradiesähnlichen Gartenkolonie zusammen mit Alten und Kranken, während der arbeitende Teil der Lebensgemeinschaft ein Auskommen in der Hafenstadt suchen muss. Garten und Stadt stehen sinnbildlich für diametral entgegengesetzte Konzepte: Während der Garten ein Zufluchtsort ist, in dem Geburt und Tod den natürlichen Lauf der Dinge einrahmen, herrscht in der Stadt das pure Chaos. Die Welt steht vor dem Untergang, und jeder weiss, Rettung wird es keine geben. Trotzdem, und das ist das Tröstliche an diesem Roman, die Menschen geben nicht auf. Mehr noch: Sie leben intensiver als je zuvor. Anton Winter, der als Erwachsener in die Stadt gezogen ist und als einsamer Vogelzüchter den Niedergang der Welt von seiner Wohnung im obersten Stock eines Hochhauses beobachtet, verliebt sich mit 42 Jahren erstmals unsterblich in eine Frau. Getrieben von einer nervösen Dringlichkeit, kosten Anton und seine Frederike ihre Leidenschaft aus. Denn sie wissen: «Der Augenblick, ab dem die grosse Liebe nicht mehr grösser werden konnte, aber nur noch kleiner, fehlte in ihrer Zukunft.» Die Apokalypse ist greifbar nah, die noch verbleibende Zeit entsprechend knapp. Die Einsamkeit plagt Anton so sehr, dass Frederike es nicht mehr übers Herz bringt, ihn alleine zurückzulassen. Und so gehen die beiden gemeinsam in die Gebärklinik, wo Frederike als Freiwillige arbeitet. Die Neugeborenen, sagt sie, «wachsen jeden Tag genau so viel, wie sie es sollten und wie es immer schon gewesen ist. Sie geben einen Dreck auf den Untergang und die verrückt gewordene Zeit.» Zurück in die Kindheit Anton ist in der Gebärklinik nicht nur Staffage, im Gegenteil, er übernimmt eine Aufgabe, vor der alle anderen zurückschrecken: Er kümmert sich um die Mütter und winzigen Säuglinge, die eine Geburt nicht überleben. Er trägt sie aus dem Zimmer und verbrennt ihre Körper im Hinterhof. Zum Leben gehört immer auch der Tod – dessen ist Anton sich bewusst, seitdem er als Kind im Paradiesgarten Werden und Vergehen hautnah miterlebt hat. Die Heimat sei der Ausgangs- und der Endpunkt jeder Reise, heisst es im Roman «Winters Garten». Das gilt auch für die Hauptfigur Anton: Er kehrt in seinen Kindheitsgarten zurück und überlebt dort auf der letzten halben Seite des Buches den Weltuntergang. Wie das? Wohl deshalb, weil sich dieser verwunschene Garten in eine Art himmlisches Paradies verwandelt. In ein Paradies, das gedeiht und wächst, auch wenn die irdische Welt zugrunde geht. Das heisst, ein kleiner Weltuntergang hin und wieder schadet nichts – das ist die versteckte Botschaft dieses auf den ersten Blick so düsteren Romans. ● 31. Mai 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Roman Lukas Hartmann erzählt eine Familien- und Generationengeschichte zwischen 1968 und 1989 DieSchweizam EndedesKaltenKrieges sen Episoden», konstatiert sie, «so wird das eigene Leben zum merkwürdigen Mosaik.» Wie die Figuren, so – ganz bewusst! – ihr Autor, hat Lukas Hartmann doch in der Tat noch kein Buch in so viele Perspektiven und Episoden zerfallen lassen wie dieses. Man wird hin- und hergerissen zwischen 1968, 1976, 1989, 1991 und 2010, und von einer Berner Vorortssiedlung gerät man in den Tschad, nach Ostberlin oder in ein Hotel in Heiden. Dennoch ist sich Hartmann seit «Gebrochenes Eis» von 1980 nie wieder selbst so nahegekommen wie in diesem Roman. Sowohl dieser Mario Sturzenegger, der in wachsender Gegnerschaft zum kalten Krieger Armand Gruber dem Establish- Lukas Hartmann: Auf beiden Seiten. Diogenes, Zürich 2015. 336 Seiten, Fr. 32.90, E-Book 28.–. Von Charles Linsmayer «Nichts, was man erzählt, ist je vollständig. Alles bleibt Fragment, erschwindelt, ein Seiltanz von Bild zu Bild.» Der so denkt, heisst Mario Sturzenegger und ist der eine Ich-Erzähler aus Lukas Hartmanns Roman «Auf beiden Seiten». Karina Koller ist die zweite von insgesamt drei alternierenden Stimmen, zu denen noch jene von Armand Gruber, Gymnasiallehrer und Repräsentant der Vätergeneration, zählt. «Ich verliere mich in die- Malerei Asien trifft auf Europa Der Vater der 1965 geborenen Jongsuk Yoon hatte eine Kunstgalerie, ihr Bruder malte Bambus- und Orchideenbilder. Sie wuchs in der koreanischen Kleinstadt Onyang auf und war von früh an mit Kunst vertraut. Als sie nach Deutschland zog und 1996 an der Kunstakademie Münster studierte, nahm sie diese Erfahrung ebenso mit wie die Erinnerung an die Landschaft in Korea. Das Gemälde «Sulwha» bringt die verschiedenen Einflüsse zusammen. Der Titel heisst Schneeblume; in Sulwhasan, dem Schneeblumenberg, kam die Künstlerin zur Welt. Das Gemälde wirkt für uns westliche Betrachter 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Mai 2015 abstrakt und scheint zugleich Elemente einer Landschaft zu enthalten, ähnlich wie die frühen Werke des russischen Künstlers Wassily Kandinsky. Anders aber als die gestische Abstraktion der europäischen Moderne isoliert die koreanische Malerin die einzelnen Bildelemente. Jedes setzt für sich an, sie müssen nicht zusammenpassen und ergeben doch einen eigenartigen, ruhigen Klang. Wie die Glocken asiatischer Klöster im Gebirge. Gerhard Mack Jongsuk Yoon: Sansui. Kehrer, Heidelberg 2015. 128 Seiten, 62 Farbabbildungen, Fr. 59.90. ment den Kampf ansagt, in der Wende von 1989 den «Flügelschlag der Utopie» spürt und am Ende gerade noch bei einer harmlosen Familienzeitschrift unterkommt, als auch die selbstbewusstkämpferische Juristin Karina, die ihren Emanzipationstraum in der Ehe mit einem spiessigen Richter begräbt, machen in ihrer allmählichen Resignation Phasen durch, die auch ihr Autor gekannt haben muss. Wobei sich das Zerbrechen der idealistischen Träume nicht nur im Erlahmen des rebellischen Impetus oder in der Kapitulation vor dem Elend der Dritten Welt zeigt, sondern, wie Marios schliesslich missglückte Partnerschaft mit Grubers Tochter Bettina am bewegendsten vorführt, auch in der Unmöglichkeit einer glücklichen Beziehung zwischen Mann und Frau. Hartmann zertrümmert das eigene Miterleben eines halben Jahrhunderts politischen, familiären und gesellschaftlichen Wandels zu einem Mosaik, aus dem allzu Persönliches und Intimes weggefiltert ist, das aber dennoch mit einer Authentizität beeindruckt, die ohne innere Anteilnahme, ja ohne Mitleiden nicht zu denken wäre. Obwohl brillant recherchiert, gehen einem historische Enthüllungen wie jene über die Geheimorganisation P16 oder die Pläne für einen Schweizer Widerstand nach der Eroberung durch die UdSSR weit weniger nahe als die persönlichen Schicksale der Menschen auf beiden Seiten der politischen Scheidelinie: das vergebliche Ringen des mässig begabten – und oft ziemlich sentimentalen! – Journalisten Sturzenegger mit seinen Stoffen, sein Schmerz, die eigenen Kinder nicht in einer intakten Familie aufwachsen zu sehen, die merkwürdige Faszination, die ausgerechnet ein Oberst des Geheimdienstes auf die linke Karina ausübt, die Verfallenheit des Germanisten Gruber an Adalbert Stifter, den er nicht als Biografen, sondern erst in seinem, dem Vorbild nachempfundenen Selbstmord wirklich zu fassen bekommt, die künstlerische Genese des nach Ostberlin emigrierten Schweizers Johann Ritter, der in seinen Bildern eine DDR spiegelt, wie sie niemand zu denken wagt. Es gibt berührende Teile in diesem Puzzle, das vielleicht etwas journalistischer als Hartmanns frühere Bücher daherkommt: das Lehrer-Schüler-Gespräch Grubers mit Mario um dessen erstes Theaterstück, Marios erstes Rendezvous mit Grubers Tochter Bettina, die Stimmung in Ostberlin kurz vor der Wende, der letzte innere Monolog des dementen Stifter-Biografen Gruber. Und wem sich die Episoden im Kopf zum Zeitgemälde verflechten, dem wird der Seiltanz von Bild zu Bild nachhaltige Eindrücke von einer Epoche vermitteln, die wie schon so viele vor ihr zu neuen Ufern aufbrach und am Ende ernüchtert vor den Trümmern ihrer Illusionen stand. ● Storys Acht Geschichten um Menschen und die Tücken der Liebe «AlleEhemännersindAliens» Lorrie Moore: Danke, dass ich kommen durfte. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Berlin-Verlag, Berlin 2015. 208 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 18.–. Von Simone von Büren «Alle Ehemänner sind Aliens», meint eine der desillusionierten Protagonistinnen in der neuen Story-Sammlung der Amerikanerin Lorrie Moore, als ihr der vom friedvollen Hippie zum Atomwaffenbefürworter mutierte Ehemann die Scheidungspapiere per Post zustellen lässt, während er im Keller Modellraketen baut. Der Alien ist ein passendes Motiv für die Erfahrung der Entfremdung, welche die acht Texte in «Danke, dass ich kommen durfte» miteinander verbindet. Zu Aliens werden da neben den Ehemännern auch «verzwangsjackte» Söhne; Geliebte, die beim Geheimdienst arbeiten; oder Leute, die den Sticker «NULL HILLARY NULL CHANCE» auf ihren Pick-up kleben. Moores Figuren – grösstenteils «ergrauende gestrandete Existenzen mit verwüsteten inneren Landschaften, die auf jung machten» – sind sich und einander fremd geworden. Sie haben sich gerade scheiden lassen, leiden in «isolierten Verzweiflungen» noch nebeneinander her oder kommen «in der Rendez-vousWelt der mittleren Jahre» gar nicht erst zusammen. Ein frisch Geschiedener lässt sich ein auf «Huhu-Sex» («wo der andere wie weggezaubert wirkte, nicht ganz da, seine Lust war geheimnisvoll und irre und hatte nur zufällig mit einem selbst zu tun») mit einer Tierärztin, die Kinderbücher über Erdhörnchen schreiben möchte und in symbiotischer Beziehung mit ihrem Teenagersohn lebt. Ein Autor – verunsichert vom Gespräch mit einer rechtspolitischen Lobbyistin, die gegen «Barama» wettert und behauptet, beim Angriff aufs Pentagon verwundet worden zu sein – ahnt, dass seine Frau, deren Haar im Licht der Strassenlaternen aussieht, «als wäre es gar kein Teil von ihr», ihn verlassen wird. Und die destruktive Beziehung zwischen einer Bandsängerin und einem mit Haschisch handelnden Verlierertypen zerfällt zum Gestank von «irgendwas, was im Winter gestorben ist, und jetzt, wo es Frühling wird, verwest» auf dem Dachboden. Die 58-jährige Autorin setzt ihre Figuren in das schwierige Stadium zwischen akuter und verarbeiteter Emotion, zwischen der ersten verzweifelten Wut und der Abgeklärtheit, die es ermöglicht, die eigene Erfahrung als Geschichte zu erzählen. In diesem Zwischenstadium geben sich alle «unkaputtbar» und unnahbar, auch wenn in ihrem Innern der Kummer «mit kalter blauer Hitze» brennt. Gekonnt widerspiegelt die amerikanische Story-Meisterin diesen Zustand in Sprache und Erzählperspektive: Ihre personalen Drittperson-Erzähler PATRYCE BAK/GETTY IMAGES Gestrandete Existenzen Die US-Schriftstellerin Lorrie Moore zeichnet in ihren aufwühlenden Beziehungsstorys Figuren, die einander fremd geworden sind. schaffen eine gewisse Distanziertheit, bieten aber noch so viel Einblick in die tatsächliche Befindlichkeit der Figuren, dass sich deren Zynismus und bittere Sprüche als Schutzfunktion entlarven. «Ich werde meine Rinde um den Drahtzaun breiten wie ein Grinsen», sagt der Apfelbaum in einem Zitat von Caroline Squire, das Moore ihrem Buch voranstellt. Dieses Grinsen zieht sich durch die Geschichten, eine Behauptung von Trotz und Unversehrtheit, welche die Verletzungen und Narben zu verbergen sucht und sie stattdessen sogar betont. Feinfühlig beobachtet Lorrie Moore, die sich einmal mehr als feinfühlige, scharfe Beobachterin erweist, zeichnet ein düsteres Bild zwischenmenschlicher Beziehungen. Aber angesichts des «weltumspannenden Wahnsinns», den sie über Verweise auf den Irak-Krieg, 9/11 und Abu-Ghraib wie eine diskrete Kulisse hinter ihren stolpernden Figuren aufzieht, will trotzdem keiner allein sein. Ex-Partner, Freundinnen, Mütter und Söhne kommen weder zueinander noch voneinander los. Drei Künstlerinnen mittleren Alters trinken mit dem Geist ihrer an Krebs gestorbenen Freundin in deren stillen Haus Tee. Eine Frau sucht in einem Heim für Geheimdienst-Veteranen immer wieder ihren Geliebten auf, obwohl er ihr nie die Tür öffnet. Der ExFreund einer Brasilianerin trägt an deren Hochzeit ein T-Shirt mit der Aufschrift «Danke, dass ich kommen durfte». Und einer bringt seinen Ehering auch Monate nach der Scheidung noch nicht vom Finger. Wie die Rinde um den Drahtzaun wuchert die Haut um den Ring. Das Lebendige verleibt sich Schmerz und Verletzung ein. Analog dazu wuchert Lorrie Moores dichte, präzise Sprache in starken, eigenwilligen Bildern: ein «Baiser auf der Haut wie eine Schneeverwehung», ein Stück Wassermelone «an der Kernreihe entlang auseinandergesackt wie ein Haifischgrinsen», Reue so sinnlos, «wie die zerknüllte Eintrittskarte von einem Zirkus, der die Stadt schon wieder verlassen hat». Und da klingt ab und zu dann doch Zärtliches und Zuversichtliches an, wenn auch «beschädigt und zufällig». Die aufwühlenden Storys über die Unvermeidbarkeit des Auseinanderfallens und die Unmöglichkeit des Loslassens reden indirekt auch über all das, was einmal gut war. Und das Buch, das mit den Nachwehen einer Scheidung begann, schliesst mit einer Hochzeit, die die Erzählerin begrüsst als Ausgleich für all die ungelebte Liebe: «So viel drängende, quicklebendige Liebe versank rumorend im Untergrund und verreckte dort, ohne jemals Ausdruck zu finden.» Allerdings tauchen die Aliens dann auch hier wieder auf, in Form röhrender Motorradfahrer, die versehentlich auf der falschen Hochzeit gelandet sind. Und all die vorhergehenden Trennungs- und Krisengeschichten werfen lange Schatten auf die ländliche Feier, aber noch lächelt das Brautpaar und noch bringt die Sonne die «wirbelnde, rote Scheune zum Leuchten». ● 31. Mai 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Roman Altmeisterin Penelope Lively schildert, wie ein Handtaschen-Raub im Leben einer 77-Jährigen ungeahnte Auswirkungen auf andere Menschen hat WennderFlügelschlag einenTornadoauslöst Penelope Lively: Wenn eins zum andern kommt. Aus dem Englischen von Maria Andreas. Bertelsmann, München 2015. 285 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 17.90. Von Angelika Overath London. Ein alltäglicher Vorfall: Eine alte Frau wird angerempelt, stürzt nieder auf den Gehweg. Sie merkt sofort, dass ihre Handtasche weg ist (in der kaum Geld war), und etwas später, dass sie sich die Hüfte gebrochen hat. Ausgehend von einem unerheblichen Moment in einer Metropole, eröffnet die mehrfach preisgekrönte britische Schriftstellerin Penelope Lively, geboren 1933 in Kairo, einen Roman, in dem sie zeigt, welch weitreichende Konsequenzen ein kleines persönliches Ereignis auf das Leben anderer Menschen haben kann. Ihr struktureller Einfall geht zurück auf ein Phänomen, das in der Meteorologie «Schmetterlingseffekt» genannt wird. Demnach kann ein leiser Flügelschlag über Kontinente hinweg sich in seiner Wirkung verstärken und in einer entfernten Weltgegend einen Tornado erzeugen. Die irritierende Vorstellung von nicht beherrschbaren Systemen ging in die Chaostheorie ein. Und was wäre unabsehbarer, sturmbereiter, katastrophenträchtiger als zwischenmenschliche Beziehungen? Der «Katalysator der Ereignisse», die gestürzte 77-jährige Charlotte Rainsford, wird ins Krankenhaus gebracht. Daraufhin kann ihre brave Tochter Rose, verheiratet mit dem blassen Hobbyangler und Bastler Gerry, ihren Arbeitgeber Lord Peters, einen emeritierten schrulligen Geschichtsprofessor, nicht auf einen Kongress nach Manchester begleiten. Und das Unabsehbare nimmt seinen Lauf. Marion, Nichte und einzige Verwandte des Professors, eine engagierte, allerdings gerade erfolglose Innenarchitektin, muss einspringen. Da Marion vergisst, das Redemanuskript ihres alten Onkels mitzunehmen, wird der frei gehaltene Vortrag für den Professor zu einer ungeahnten Demütigung. In Penelope Livelys Roman löst der Diebstahl einer Handtasche eine Kettenreaktion aus. SMS, da sie meint, ihre lange erwarteten Töchter würden sich melden. Zurück in London trachtet der Professor danach, seine Niederlage wiedergutzumachen, und entwickelt die Idee für eine dokumentarische Geschichtsserie im Fernsehen, deren mögliche Realisierung turbulente Verwicklungen zeitigt und zuletzt einen opportunistischen Jungakademiker auf den Plan ruft. Kaum hat der Leser die Figuren kennengelernt, beschleunigt sich in Shortcuts das Geschehen. Charlotte ist mit Krücken bei ihrer Tochter Rose und Schwiegersohn Gerry eingezogen. Die ehemalige Lehrerin gab in ihrer Freizeit Alphabetisierungskurse. Da sie nun unbeweglich ist, aber gerne Beschäftigung hätte, schickt man ihr einen der Schüler. Und so steht der 50-jährige Anton, ein Immigrant aus Osteuropa, in den sich die lebensscheue Tochter Rose verlieben wird, unvermittelt vor der Tür. Penelope Liveley zeichnet soziale Milieus als Reagenzgläser für psychologische Kettenreaktionen. Sie macht deutlich, wie Beziehungen, je nachdem, wie man sie betrachtet, umschlagen können, ewig narrenden Vexierbildern gleich. Ist der charismatische Jeremy ein Schuft oder ein letztlich guter Ehemann? Er kann beides sein. Und seine Gattin, die schöne, psychisch labile Stella? Die scheinbar Schwache bringt dann doch den Mut auf, sich gegen das Gift von dominanter Schwester und gierigem Scheidungsanwalt zu wehren. Wird der zunehmend schusselige Professor von seinem schleimigen Assistenten betrogen? Ja sicher, und doch ist der junge Mann für den Alten ein spätes Glück. Nur eine kleine Drehung im Denken, und Marion begreift, dass sie zwar viel Geld verloren hat, aber mit ihrem geerbten Haus einen Neuanfang wagen kann, nicht in London, aber bei einer Freundin auf dem Land. Wo die Liebe nicht mehr erwartet wird, stellt sie sich ein; wo eine Ehe sicher schien, öffnet sich ein Abgrund. Es braucht nur den Flügelschlag eines Schmetterlings, und das Selbstverständliche kippt. Mit britischem Humor Und was ist das Alter? «Beschauliche Abendstimmung»? Oder «eher die stürmische Morgendämmerung eines neuen Lebens, von dem man nichts ahnte»? Die Hölle oder: «auch erst die Vorhölle»? Jedenfalls ist «Altwerden nichts für Feiglinge». Mit britischem Humor erweist sich Lively als eine kühle, klare Beobachterin, die Sentimentalität in feiner Ironie abzufedern weiss oder sie augenzwinkernd einfach zulässt. Ihre Sittenbilder haben den Glanz von englischer Keramik. In ihren Sprüngen zittern die ewig frischen Fragen des menschlichen Daseins wie Blitze über die Lasur. Wären wir nicht auch als ganz andere denkbar, mit einem anderen Partner, in anderen Lebensumständen? Hätte Rose die Freiheit, ihre Zukunft noch einmal zu wählen mit dem aufmerksamen Anton, oder wird sie in ihrer betulichen Beziehung bleiben, die sie ebenso auffängt wie verkümmern lässt? «Wenn eins zum andern kommt» ist eine verführerische Sommerlektüre mit Widerhaken. Nicht ganz so leicht zu nehmen, wie sie sich liest. ● 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Mai 2015 BART GEERLIGS/GETTY Beschleunigtes Geschehen Doch bei Tisch lernt Marion einen Immobilienbanker kennen, der ihr einen lukrativen Auftrag und damit die traumhafte finanzielle Rettung verspricht. Mittlerweile hat Marion mit einer SMS allerdings die Ehe ihres Liebhabers Jeremy, eines erotisch smarten Antiquitäten- und Schrotthändlers, stark ins Wanken gebracht. Wegen ihrer plötzlichen Manchester-Verpflichtung sagt sie mit «Küsschen» eine Verabredung ab. Stella, Jeremys sorgenvolle Ehefrau, liest die Reiseroman Edmondo de Amicis erzählt packend von italienischen Auswanderern im 19. Jahrhundert Von Genua nach Montevideo Kurzkritiken Belletristik Michael Weins: Sie träumt von Pferden. Illustrationen K. Gschwendter. Mairisch, Hamburg 2015. 128 Seiten, Fr. 21.90. Sara Gran: Dope. Aus dem Amerikanischen von E. Bonné. Droemer Knaur, München 2015. 254 Seiten, Fr. 17.90, E-Book 10.–. Karen Duve hat mit Märchen-Nacherzählungen in «Grrrimm» (2012) für schönen wie komischen Schauer gesorgt. Was der Hamburger Michael Weins nun in seinen Erzählungen vorlegt, stammt noch einmal aus einem ganz anderen Kellerabteil der Unheimlichkeiten. Seine zwölf phantastischen Texte handeln von der Beziehung zwischen Mensch und Tier. Manche dieser Tiere sind berühmt wie etwa der Wolf, der «einmal im Showgeschäft gewesen ist», und jetzt vom jugendlichen Loser einer Wohnsiedlung zu Brei gehauen wird. Die titelgebende Erzählung über eine Frau mit Pferdeträumen wiederum erinnert an Polanskis Horrorfilm «Rosemary’s Baby». Anspielungsreich sind die Texte alle auf ihre Weise; um ein Vielfaches dank Katharina Gschwendters Schwarz-Weiss-Illustrationen, die einen bis über den Buchdeckel hinaus nicht mehr loslassen wollen. Skinny Harry, Easy Mike, Nick der Grieche – die zwielichten Gestalten in «Dope» heissen so, wie man sie sich für Hell’s Kitchen im Jahr 1950 vorstellt. Das New Yorker Stadtviertel, das lange für seine hohe Kriminalitätsrate berüchtigt war, ist Schauplatz von Sara Grans Roman über Ex-Junkie Josephine «Joe» Flannigan. Aufgewachsen in Hell’s Kitchen, ist Joe zwar überlebensschlau, rutschte aber trotzdem früh in die Drogen ab. Vor zwei Jahren hat sie den Ausstieg geschafft. Jetzt nimmt die Enddreissigerin gegen ein verführerisch hohes Honorar den Auftrag an, nach einem verschwundenen Mädchen zu suchen – eine fatale Entscheidung. «Dope», im Original bereits 2006 erschienen, ist ein ebenso gekonnter feministischer Hard-boiled-Page-Turner, wie es auch die Kriminalromane der Amerikanerin Sara Gran (*1970) um ihre Ermittlerin Claire DeWitt sind. Henry James: Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren. Manesse, Zürich 2015. 406 Seiten, Fr. 38.90, E-Book 27.90. Pablo d’Ors: Die Wanderjahre des August Zollinger. Deutsch von Enno Petermann. Wagenbach, Berlin 2015. 138 S., Fr. 23.90. Es ist kaum zu glauben: Aber es gibt von Henry James (1843–1916), dem eloquenten Meister der psychologischen Erzählkunst, noch immer Texte allererster Wahl, die bisher nicht in deutscher Übersetzung vorlagen. Zum Glück kümmert sich der Manesse-Verlag seit 2009 nachhaltig um das Werk des Amerikaners, der die grösste Zeit seines Lebens auf Reisen in Europa zubrachte. In bemerkenswert schön gestaltetem Grossformat (Leinen, Farbschnitt, splendider Satz, Lesebändchen) legt er nun sechs zwischen 1888 und 1900 entstandene Erzählungen vor. Friedhelm Rathjen hat sie geschmeidig übersetzt, von Maike Albath stammt das kundige Nachwort. Die Geschichten handeln von der meist vergeblichen Suche nach Liebe und Glück und muten in ihrem kristallinen Stil, ihrer überraschenden Direktheit, raffinierten Figurenzeichnung und ironischen Brillanz höchst modern an. Mit einem berückenden kleinen Entwicklungsroman wird der 1963 in Madrid geborene Philosoph und Priester Pablo d’Ors im deutschen Sprachraum erstmals vorgestellt: Er erzählt von August Zollinger, der in einem imaginären Österreich mit Schweizer Ortsnamen zuerst Buchdrucker werden will, dann aber in die Welt hinaus zieht und als Bahnwärter, Soldat, Einsiedler, Gehilfe auf einer Behörde, Flickschuster und zuletzt tatsächlich als Buchdrucker arbeitet. Er verliebt sich in die Stimme einer Telefonistin, die auf tragische Weise umkommt, gewinnt die Freundschaft eines Kameraden im Heer und lernt, die Leute an ihren Schuhen zu erkennen. Knapp sieben Jahre begleiten wir den jungen Mann auf seinem Weg, jede Station steht dabei für einen idealtypischen Lebensentwurf. Bisweilen kippt der Texte ins Sentimentale und Absichtsvolle, er hat aber auch seine wunderbaren Momente. Edmondo de Amicis: Auf dem Meer. Deutsch von Annette Kopetzki. Corso, Wiesbaden 2015. 176 Seiten, Fr. 52.–. Von Manfred Papst Das berühmteste Buch des italienischen Autors Edmondo de Amicis (1846_1908) ist der 1886 erschienene, den Geist des Risorgimento spiegelnde Jugendroman «Cuore» («Herz»), der in viele Sprachen übersetzt wurde. In den letzten Jahrzehnten ist aber kaum noch ein Werk des einstmals Berühmten auf Deutsch erschienen; eine Ausnahme bildet der kleine, die Emanzipation parodierende Roman «Liebe und Gymnastik» (Manesse 2013), der 1971 von Italo Calvino wiederentdeckt und 1973 mit Senta Berger in der Hauptrolle verfilmt worden war. De Amicis war aber auch ein Weltenbummler, der bis heute lesenswerte Bücher über Spanien, die Niederlande, Marokko und andere Weltgegenden schrieb. Der Wiesbadener Verlag Corso bringt nun eine Reihe dieser Werke in sorgsam übersetzten und schön gestalteten, allerdings auch gekürzten Bänden heraus. Auf «Istanbul, Hauptstadt der Welt» (2014), das von Orhan Pamuk als schönstes Buch über das alte Konstantinopel gepriesen wurde, folgt nun «Auf dem Meer». Die deutsche Ausgabe firmiert als Roman, man könnte aber genauso gut auch von einer Reiseerzählung oder Reportage sprechen. 1884 fährt de Amicis als Chronist der italienischen Auswandererbewegung von Genua nach Montevideo. Rund 1800 Menschen befinden sich an Bord der «Galileo». Die meisten sind italienische Bauern und Arbeiter, die auf ein besseres Leben in Nord- oder Südamerika hoffen, hinzu kommen einige besser gestellte Reisende aus Italien, Frankreich, Österreich und der Schweiz. De Amicis schildert den Abschiedsschmerz und die Hoffnungen der Auswanderer und berichtet mit viel Sinn für szenische Dramatik und sprechende Details vom Alltag der Dreiklassengesellschaft an Bord. Gewiss, für die Passagiere der dritten Klasse war die Reise kein Vergnügen, doch immerhin hatten sie, wie Erri De Luca in seinem Nachwort festhält, eine Fahrkarte, einen Pass, einen Schlafplatz, ausreichend Nahrung – und die Gewissheit, bei ihrer Ankunft nicht eingesperrt oder zurückgeschickt zu werden. Wenn wir die Situation der Emigranten von damals mit derjenigen von Flüchtlingen vergleichen, die heute in Lampedusa stranden, können wir durchaus ins Nachdenken kommen darüber, ob wir seit den Tagen von Edmondo de Amicis Fortschritte gemacht haben. ● Regula Freuler Manfred Papst Regula Freuler Manfred Papst 31. Mai 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Porträt AmbivalenteTrop Die Basler Naturhistoriker Paul Sarasin (1856–1929) und Fritz Sarasin (1859–1942) erforschten die britischen und niederländischen Inselkolonien in Asien. Die zwei Patriziersöhne und Grosscousins waren getrieben von wissenschaftlicher Neugier und gegenseitiger erotischer Zuneigung. Von Geneviève Lüscher Erstaunlich: Das Basler Haus der Kulturen, vormals Völkerkundemuseum, beherbergt eine der weltweit renommiertesten ethnologischen Sammlungen, und das, obwohl die Schweiz nie irgendwelche Kolonien besessen hat. Wie sind diese Schätze nach Basel gekommen? Bernhard C. Schär ist dieser Frage in seiner soeben erschienenen Dissertation «Tropenliebe» nachgegangen. «Am Anfang des Basler Völkerkundemuseums stehen Paul und Fritz Sarasin, die ‹Vettern Sarasin›, wie sie hier genannt werden», erklärt Historiker Schär auf einem Rundgang durch die Hallen des Museums. «Meine Motivation, über die Vettern zu schreiben, liegt in der – meiner Meinung nach – viel zu engen Schweizer Geschichtsforschung. Das sieht man gerade jetzt wieder an den Debatten über Morgarten, Marignano etc., die kaum über den nationalen Gartenzaun blicken. Dabei muss man die Schweiz global sehen; sie war immer Teil nicht nur Europas, sondern auch der Welt. Und die Vettern und ihre Geschichte zeigen das exemplarisch.» Paul (1856–1929) und Fritz (1859–1942) waren eigentlich Vettern zweiten Grades, also nicht nahe verwandt. Sie stammten aus dem Basler «Daig», wie man die städtische Elite hier nennt, und waren enorm reich. Des einen Vater war Baumwoll-, jener des anderen Seidenbandfabrikant. Da ihre Brüder die wichtigen Aufgaben in der Stadtpolitik oder im Geschäft bereits Paul und Fritz Sarasin Ende 19. bis Mitte 20. Jahrhundert war die Blütezeit der ethnografischen Expeditionen. Die Vettern Paul und Fritz Sarasin aus der Basler Oberschicht sammelten in Sri Lanka und Sulawesi Objekte aller Art, die heute den Grundstock des Naturhistorischen Museums und des Museums der Kulturen in Basel bilden. Bernhard C. Schär beleuchtet in seiner Studie die Liebe der Sarasin zu den Tropen, ihre gegenseitige Zuneigung sowie ihre Bedeutung für die Erforschung und Eroberung des kolonialen Südostasiens: Tropenliebe. Schweizer Naturforscher und niederländischer Imperialismus in Südostasien um 1900. Campus, Frankfurt am Main 2015. 374 Seiten, Fr. 56.–, E-Book 38.90. Eine gleichzeitig erschienene Biografie von Christian Simon verortet die beiden Forscher in der Schweizer Wissenschaftsgeschichte und der Basler Lokalgeschichte: Reisen, Sammeln und Forschen. Die Basler Naturhistoriker Paul und Fritz Sarasin. Schwabe, Basel 2015. 332 Seiten, Fr. 71.90. 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Mai 2015 Dem Druck der Familie und der konservativ-frommen protestantischen Gesellschaft Basels entzogen sich die Vettern Sarasin durch ein Studium in Deutschland. übernommen hatten, konnten sie sich standesgemäss nur noch der Kunst oder der Wissenschaft widmen. Das Einzige, was von ihnen erwartet wurde, war eine Heirat, die den Reichtum der Familie mehrte. Dazu hatten die beiden aber keine Lust. Sie hatten sich als Studenten der Naturwissenschaften an der Universität Basel kennengelernt – Paul war 23, Fritz 20 Jahre alt – und dort ihre Zuneigung füreinander entdeckt. Dem Druck der Familie und der konservativ-frommen protestantischen Gesellschaft Basels entzogen sie sich erst durch ein Studium in Deutschland, dann durch Forschungsreisen in die Tropen. Dissidente Männlichkeit Unter dem Begriff Tropen, erklärt der Berner Historiker, subsumierte sich im 19. Jahrhundert eine ganze Palette von Vorstellungen: Exotik, Wildheit, Ursprünglichkeit, Schwüle, verbotene Liebe – ein Raum voller Möglichkeiten und Verlockungen. Hier war der Ort, wo die Vettern ihre «dissidente Männlichkeit», wie Schär das spezielle Verhältnis der beiden zueinander nennt, ausleben konnten. Es war die Stadt Basel, die ihnen die ambivalente Liebe zu den Tropen mit auf den Lebensweg gegeben hatte. Deren Geschichte ist durch den Handel eng mit Übersee verwoben, eine ganze Reihe von Basler Familien hatte sich in den Dienst der europäischen Kolonialmächte gestellt oder von diesen profitiert. «Ohne Kolonien wäre der immense Reichtum kaum möglich gewesen», sagt Schär. Und neuere Forschungen hätten gezeigt, dass man gar in den afrikanischen Sklavenhandel involviert war. Wir sind unterdessen im ersten Stock in der Abteilung Expeditionen angelangt, wo ein Raum den Sarasin gewidmet ist. Ein Wandbild zeigt die beiden als kecke Zofingerstudenten, ein anderes als erfolgreiche Grosswildjäger mit dem Kadaver eines erlegten Elefanten. 1883 bis 1886 reisten sie erstmals in die Tropen, nach Ceylon (heute Sri Lanka), eine britische Kolonie. Sie widmeten sich dort den Naturwissenschaften, dem Sammeln von Objekten aller Art, und waren dabei nicht wählerisch: zoologische und botani- Die Basler Naturforscher Fritz und Paul Sarasin inszenierten sich als sche Präparate, archäologische Fundgegenstände, geologische Gesteinsbrocken, menschliche Schädel und Ethnografica – nichts war vor ihnen sicher. Für Studien an Elefantenembryos machten sie Jagd auf trächtige Elefantenkühe, für ihre umfangreiche Schädelsammlung plünderten sie die Grabstätten der Dorfgemeinschaften, die sie freundlich aufgenommen hatten. Auf Sri Lanka lebten – und leben noch heute – die Wedda, kleinwüchsige Menschen, von ETH BILDARCHIV ZÜRICH enliebe erfolgreiche Grosswildjäger. Auf ihren Reisen in die Tropen sammelten sie Objekte aller Art, die später den Grundstock des Basler Völkerkundemuseums bildeten (Foto undatiert). Kontroversen des 19. Jahrhunderts ein, derjenigen zwischen Evolutionisten und deren Gegnern. Die führenden Anthropologen Deutschlands lehnten Darwins Theorie ab. Erst ab 1900 fand ein Umschwung statt, nicht zuletzt wegen der Wedda-Studien der Sarasin. «Die beiden Basler gehören deswegen zu den Wegbereitern des wissenschaftlichen Rassismus», sagt Schär. Wir stehen nun vor der gipsernen Wedda-Figurengruppe: Mann und Frau mit Kind – klein, dunkelhäutig, fast nackt. Sie ist der Blickfang des Ausstellungsraumes, wurde 1908 nach Fotos und Messdaten der Sarasin geformt und sollte zeigen, dass die Kleinfamilie schon in der vormenschlichen Gesellschaft existierte, also der Natur des Menschen entspricht. Die Liebe für die Natur und Menschen in den Tropen führte die Vettern auf die noch weitgehend unerforschte Insel Celebes (heute Sulawesi), damals eine holländische Kolonie. Mit ▲ denen die Sarasin glaubten, sie stellten eine Art Urvolk und damit den «Anfang der menschlichen Evolution» dar, wie Schär erklärt. Für die Vettern waren die Wedda in einem primitiven Urzustand stehengeblieben, ganz im Gegensatz zu den viel weiter entwickelten Europäern. Sie stellten sich sogar die Frage, ob sie nicht das «missing link» zwischen Primaten und Menschen darstellen könnten. Damit mischten sie sich in eine der grössten wissenschaftlichen 31. Mai 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Porträt Im 19. Jahrhundert hatten Kolonien nicht nur eine wirtschaftliche Bedeutung, sie dienten auch dem Ausleben nicht geduldeter sexueller Vorlieben. MUSEUM DER KULTUREN BASEL Überaus blutiger Feldzug Fritz und Paul Sarasin waren die ersten Europäer, die ins Landesinnere vordrangen; sie gingen dabei nicht zimperlich vor. «Den Widerstand der Bevölkerung zu durchbrechen, bildete die hauptsächlichste und schwierigste Aufgabe auf unsern Reisen», berichtete Paul Sarasin an einem Vortrag 1898. Es seien Schweizer gewesen, die die 1905 folgende Eroberung durch die Holländer vorbereitet und mitermöglicht hätten, betont Schär. Es sei ein überaus blutiger Feldzug gewesen – Speere gegen Artillerie – die Bevölkerung hatte keine Chance. Die Gewalt, die beim Erwerb ethnografischer oder auch archäologischer Objekte, wie wir sie heute in den Ausstellungen sehen, im Spiel war, wird in Schweizer Museen nie erörtert. Auch europäische Häuser tun sich schwer damit. «Aber diese Schattenseiten müssten ebenfalls thematisiert werden», findet Schär, «sie würden einen ehrlicheren Blick auf die koloniale Geschichte nicht nur dieser Sammlungen, sondern auch der Schweiz ermöglichen.» 1917, bei der Eröffnung des Völkerkundemuseums, bedauerte Fritz Sarasin die fatale Entwicklung des Kolonialismus, ohne allerdings das eigene Zutun zu erwähnen: «Vielfach verschwinden bei der Berührung mit den Weissen nicht nur die primitiven Kulturen, sondern auch ihre Träger selbst.» Die Sarasin hätten mitgeholfen, gerade das zu zerstören, was sie am meisten liebten. Vielleicht sei ihr späterer Einsatz für den Naturschutz als stummes Eingeständnis ihrer Schuld zu betrachten, gibt Schär zu bedenken. Gemäss Bernhard Schär hatten die Kolonien im 19. Jahrhundert nicht nur wirtschaftliche Be- In den auf Sri Lanka lebenden Wedda (hier Gipsfiguren) glaubten die Sarasin, eine Art Urvolk entdeckt zu haben. deutung, sondern dienten auch dem Ausleben von in Europa nichtgeduldeten sexuellen Vorlieben. Davon zeugen die zahllosen Verbindungen weisser Männer mit einheimischen Frauen. Auch den beiden Vettern ermöglichten sie ein Zusammenleben nach eigenem Gusto. Ihre besondere Beziehung ist in einer umfangreichen Korrespondenz im Staatsarchiv Basel festgehalten. Paul, der an Gicht litt, musste oft zur Kur nach Deutschland; fast täglich verkehrten Briefe, die eine starke Verbundenheit zeigen. Sie handeln – verklausuliert – von Sehnsucht und Begehren. Am innigsten aber sind Pauls Gedichte, die er 1893 sogar publiziert hat. Es sind offensichtlich an Fritz gerichtete Liebesverse: «Ich habe als Glücklichster dich gefunden / Du wirst auch im Schlimmen nicht mich verlassen / Du Stern meiner Nacht, nie wirst du erblassen.» Ob sie sexuell oder nur platonisch miteinander verbunden waren, lasse sich aufgrund der Quellen nicht entscheiden, erläutert Schär bei einem Espresso im Museumscafé. Jedenfalls, davon ist er überzeugt, hegten sie füreinander eine innige Zuneigung, die weder in Basel noch in der Familie geduldet wurde. Als der Gedichtband herauskam, kritisierte Pauls fromme Mutter ihren Sohn aufs Schärfste. Er musste sämtliche Bücher einziehen und hat sie später in Celebes unter einer Kokospalme begraben. Es war der Versuch eines «Coming-out», das misslang. Online-Shop für secondhand Lektüre mit über 45 000 Büchern <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUysjQwNQAA185kLA8AAAA=</wm> <wm>10CFWKoQ6AMAwFv6jLe91aUiYJbkEQ_AxB8_-KgSO5M5drrVrC57Jux7pXAsVENWCjhyWdvDI0TeZ1NFfQZhpAVfffL2B4Ru7vIxh4ZxELIXthTvd5PXUhk51yAAAA</wm> Kontakt: [email protected] http://blog.buchplanet.ch http://facebook.com/buchplanet.ch http://www.twitter.com/buchplanet 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Mai 2015 Sara Grob, Betriebsleiterin Dank ihrer Wohltätigkeit waren die beiden Sarasin schliesslich auch in der Rheinstadt wohl gelitten. Sie schenkten dem neu gegründeten Völkerkundemuseum wertvolle Objekte, zu deren Studium noch heute Forscher aus aller Welt anreisen. Es war aber vor allem das Elefantenbaby Miss Kumbuk, das die Vettern 1886 dem neu eröffneten Zoo, dem ersten in der Schweiz, spendeten. Es eroberte die Herzen der Basler im Nu und liess sie die «dissidente Männlichkeit» vergessen. Während Paul sich in Basel vermehrt dem Naturschutzgedanken zuwandte, er gehört zu den Pionieren der Nationalparkidee und zu den Gründern des Schweizerischen Nationalparks, reiste Fritz weiterhin in der Welt herum. Die enge Verbindung lockerte sich, die sehr unterschiedlichen Temperamente entwickelten sich auseinander: Paul war arrogant, hatte einen Hang zur Überheblichkeit, forderte von allen Unterwerfung; Fritz hingegen war zurückhaltend, menschenfreundlich, harmoniebedürftig, zwar auch er ein Vertreter der herrschenden Elite, aber gleichzeitig dienend. Nach dem Tod seiner Mutter 1918 heiratete Paul Sarasin, nun schwer an Gicht erkrankt, die 25 Jahre jüngere Maria Hohenester. Schon 1907 war dieser Verbindung ein erstes Kind entsprungen. Die Ehe war eine Mesalliance, eine deutliche Absage an die Familie. Es scheint, dass Maria, die in den Familienarchiven kaum existiert, eine Angestellte von Pauls Mutter gewesen ist. Schär vermutet, dass Pauls zunehmende Pflegebedürftigkeit ein Grund für die Heirat gewesen sein könnte. Beide Vettern wandten sich zunehmend der Erforschung der Schweiz zu. Sie förderten die lokale Anthropologie, Urgeschichte, Volks- und Naturkunde. Krankheit und Tod 1929 erlag Paul Sarasin einer Lungenentzündung. Er war im Alter rechthaberisch und autoritär geworden und konnte sich weder mit dem Machtverlust des Basler «Daig» in der zunehmend demokratisch organisierten Gesellschaft abfinden, noch mit der Tatsache, dass seine literarischen Aktivitäten ohne Resonanz blieben. Fritz Sarasin forschte und publizierte bis zu seinem Tod 1942 als ein angesehener Wissenschafter seiner Zeit. Das Leben von Paul und Fritz Sarasin zeigt, dass die Schweizer Forscher an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einen internationalen Horizont pflegten und vom Kolonialismus nicht nur profitierten, sondern diesen dank ihres unermesslichen Reichtums sogar förderten. Auch ohne eigene Kolonien war die Schweiz – quasi hinter den Kulissen – zu einer Kolonialmacht geworden. l Ein soziales Projekt der Stiftung Tosam www.tosam.ch ▲ logistischer Hilfe der Kolonialverwaltung organisierten sie insgesamt sieben Expeditionen und gaben dabei Unsummen aus. Schiffe mussten organisiert, Träger angeheuert, teure Instrumente gekauft werden. «25000 Franken kostete so eine Expedition von rund sieben Wochen», erklärt Schär, d.h. fünf bis sechs Jahresgehälter eines eidgenössischen Beamten. Die sieben Expeditionen dürften also auf heute umgerechnet Millionen Franken gekostet haben. Kolumne Charles LewinskysZitatenlese Intelligente Fehler zu machen, ist eine grosse Kunst. Kurzkritiken Sachbuch Urs Schoettli: Aufbruch aus Euorpa. NZZ Libro, Zürich 2015. 201 Seiten, Fr. 38.–, E-Book 24.90. Kurt Brandenberger: Marco Camenisch. Lebenslänglich im Widerstand. Echtzeit, Basel 2015. 208 Seiten, Fr. 29.90. Seit langem plädiert der frühere AsienKorrespondent der NZZ Urs Schoettli dafür, den Austausch mit dem Osten als Chance zu packen. Die anderen kulturellen Werte Chinas, Indiens, Japans und Südostasiens seien zu anerkennen, die Schweiz solle mit diesen Staaten und Volkswirtschaften in einen Dialog auf Augenhöhe treten, denn helvetische Tugenden und Vorzüge würden dort geschätzt. In Zukunft werde der wissenschaftliche und technologische Fortschritt vom Orient geprägt sein. Eine Abkehr vom Eurozentrismus sei überfällig, ohne dass man einem «selbstlosen Kosmopolitismus» verfalle. Im ersten Teil des Buches zeigt Schoettli, wo bereits enge Bande bestehen und welches Potenzial noch brach liegt, im zweiten geht er auf länderspezifische Chancen und Risiken ein. Ein hilfreiches Brevier für unternehmensfreudige Eidgenossen. «E rechta Chlapf» wollten Marco Camenisch und sein Mitstreiter veranstalten, als sie 1979 einen Sprengstoffanschlag auf ein Bündner Kraftwerk verübten. Tatsächlich fand das Unterfangen grossen Nachhall, stand es doch am Anfang bewegter Jahrzehnte, in deren Verlauf sich der «Öko-Terrorist» zur linken Ikone entwickelte – in absentia, denn Camenisch lebte im Untergrund respektive nach der (nie gestandenen) Tötung eines Grenzwächters im Gefängnis. Dort hat ihn Kurt Brandenberger über zwei Jahre lang besucht und eine Biografie verfasst. Spannend wie ein Krimi lässt das Buch auch etliche Gesellschaftsdebatten der 1970er und 80er Jahre aufblitzen. Die grossen Fragen um die Widersprüche des gewaltsamen Kampfes für eine bessere Welt gehen aber im Gedöns von Camenischs weitgehend unkommentiert wiedergegebenen Anarcho-Diskursen unter. Gerhard Danzer: Europa, deine Frauen. Springer, Heidelberg 2015. 354 Seiten, Fr. 35.–, E-Book 35.–. Gabriela Häfner, Bärbel Kerber: Das innere Korsett. C. H. Beck, München 2015. 217 Seiten, Fr. 21.90, E-Book 13.–. Es mag verwundern, da hat sich ein Mediziner und Professor für Psychosomatik nichts Geringeres vorgenommen als eine weibliche Kulturgeschichte Europas. Er macht diese an 24 Porträt-Essays zu «kulturell produktiven» europäischen Frauen fest: von Madame de Sévigné über Simone de Beauvoir bis zu Melina Mercouri, von Maria Montessori über Astrid Lindgreen und Pina Bausch bis zu Rosa Luxemburg und Hannah Arendt. Die sehr persönliche und damit willkürliche Auswahl kontrastiert etwas paradox mit der lexikonartigen Präsentation: Jedes der durchnummerierten und nach Sachgebieten geordneten Porträts beginnt mit einem Bild und gliedert sich dann streng in Biografie, Werkanalyse und Conclusio. Doch die einzelnen Essays sind gehaltvoll, überaus informativ und ausgesprochen lesbar geschrieben und erst noch mit einem ausgezeichneten Literaturverzeichnis ausgestattet. Neu ist das vielleicht nicht. Doch die beiden Autorinnen – studiert, verheiratet, Mütter und Gründerinnen des OnlineFrauenmagazins MissTilly.de – stellen das heutige Gleichstellungsparadox trefflich dar: Gerade in reichen Ländern trotzen die Unterschiede zwischen den Geschlechtern aller Frauenförderung und Gleichstellungspolitik (Berufswahl, Karriere, Lohn). Schuld geben sie allerdings weder «den Männern» noch «der Politik». Vielmehr seien es die «heimlichen Erzieher», die überholte Geschlechterklischees neu entfacht haben: rosa Spielzeugwelten, die gnadenlose Bilderflut in Werbung und Medien, das völlig irrwitzige, längst nur noch digital erreichbare Schlankheits- und Schönheitsideal. Das unerfüllbare Idealbild untergräbt das Selbstvertrauen. Frauen, so eines von vielen klugen Resümees dieser Autorinnen, werden zu Expertinnen – der Unsicherheit und des Zwiespaltes. LUKAS MAEDER Federico Fellini Der Autor Charles Lewinsky arbeitet in den verschiedensten Sparten. Sein letzter Roman «Kastelau» ist im Verlag Nagel & Kimche erschienen. Die Grammatik hat ihre strengen Regeln, und die Orthografie regiert mit dem katholischen Anspruch allgemeiner Gültigkeit. (Was heute nicht mehr ganz funktioniert, weil sie zu oft reformiert wurde.) Was so nicht im Duden steht, wird von jedem Korrektor erbarmungslos ausgemerzt. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Und dabei sind es doch oft die scheinbaren Fehler, die unserer Sprache Glanzlichter aufsetzen. Vorausgesetzt sie werden von jemandem begangen, der die Sprache wirklich beherrscht. Wer nicht perfekt reiten kann, tut besser daran, sich nicht ans Voltigieren zu wagen. Kurt Tucholsky zum Beispiel wusste sehr wohl, dass man nur Adjektive steigern kann, aber keine Pronomina. Und doch kennzeichnete er einen aufgeblasenen Unteroffizier auf den Punkt genau mit der grammatikalisch total falschen Formulierung: «Je lauter er schrie, desto niemander kam.» Worauf mein Deutschlehrer am Gymnasium, der ein strenger Mann war und Regeln um ihrer selbst willen liebte, gesagt haben würde: «Setzen, Tucholsky. Note drei.» Noch so ein Problemschüler ist Wilhelm Busch, der als Dichter immer unterschätzt wird, weil er als Zeichner so brillant war. Er gab einmal dem Verb «anbeten» eine völlig falsche Bedeutung, indem er es unorthodoxerweise als Fortbewegungsart bezeichnen liess. Aber kann man frömmelnde Pilger genauer kennzeichnen, als es in diesen Versen aus der «Frommen Helene» geschieht? «Doch die Erzgebruderschaft Nebst den Jungfern tugendhaft, Die sich etwas sehr verspätet, Kommen jetzt erst angebetet.» Busch, Wilhelm, so geht das nicht. Wenn wir schon bei den falsch und gerade deshalb richtig verwendeten Verben sind, hier noch ein Beispiel aus «Annebäbi Jowäger»: «Der Vikari», schreibt Gotthelf da, «schmiss sich schmetternd aus der Türe.» Ich bin sicher, mein Professor, der hier namenlos bleiben soll, hätte dem Schüler Bitzius diesen Satz dick unterstrichen und am Rand mit vorwurfsvollem Rotstift angemerkt: «Deutsch!!!» Aber eben: In den Händen eines wirklichen Könners wird auch falsches Deutsch zu richtigem Deutsch. Da macht die Sprache die verwegensten Kunststücke, ohne dabei vom hohen Seil zu fallen. Manche mögen das nicht. Aber wer der Meinung ist, dass man beim Schreiben lechts und rinks niemals velwechsern dürfe, der soll eben nicht Ernst Jandl lesen. Urs Rauber Kathrin Meier-Rust Claudia Mäder Kathrin Meier-Rust 31. Mai 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Sachbuch Reich der Mitte Von den Träumen neureicher Aufsteiger bis zur Freude am geselligen Mahl – die Bücher von Evan Osnos und Marcus Hernig beschreiben den Wandel in China Tellerwäscher-Karrieren aufChinesisch Evan Osnos: Grosse Ambitionen. Chinas grenzenloser Traum. Suhrkamp, Berlin 2015. 535 Seiten, Fr. 35.90, E-Book 27.–. Marcus Hernig: Chinas Bauch. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2015. 227 Seiten, Fr. 27.90. Von Harro von Senger Eine Fülle an Informationen aller Art vermittelt in recht kleiner Druckschrift Evan Osnos in seinem Buch «Grosse Ambitionen – Chinas grenzenloser Traum», für das er 2014 den amerikanischen National Book Award im Bereich Non-Fiction erhielt. Osnos, von 2005 bis 2013 ChinaKorrespondent der «Chicago Tribune» und des «New Yorker», beleuchtet den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas seit 1978 anhand menschlicher Einzelschicksale. Das Buch beruht auf persönlichen Erfahrungen und Interviews. Es waren vor allem die Aufsteiger, die ihn anzogen, all jene, die «sich gegen ihr ursprüngliches Schicksal entschieden und einen Weg bahnten, nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, sondern auch in den Welten der Politik, der Ideen und des Geistes.» Im ersten Teil des Buches stellt Evan Osnos Frauen und Männer vor, die während der Frühzeit des Aufschwungs in China der Armut entkamen. Je erfolgreicher die Menschen in wirtschaftlicher Hinsicht wurden, desto mehr verlangte es sie danach, zu erfahren, was auf der Welt um sie herum vor sich ging. Aus diesem Grund berichtet er im zweiten Teil vom «Widerstand gegen Propaganda und Zensur». Im letzten Teil verschmelzen diese Bedürfnisse auf der Suche nach einer neuen moralischen Grundlage. Das Buch beginnt mit einer atemberaubenden Schilderung der riskanten nächtlichen Flucht des 26-jährigen taiwanesischen Hauptmanns Lin Zhengyi von einem winzigen, auf einer einsamen, windgepeitschten Felszunge gelegenen Kommandoposten unmittelbar vor der chinesischen Meeresküste auf das Festland. Als einer der am meis16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Mai 2015 ten gefeierten jungen Offiziere Taiwans entschloss er sich zur Desertion im Glauben, er könne seine Bestimmung nur in der Volksrepublik erfüllen. Über die drei Teile seines Buches verstreut schildert Osnos den Werdegang dieses Mannes und anderer Protagonisten. Lin Zhengyi durchlief unter seinem neuen Namen Lin Yifu im «grössten autoritär geführten Staat der Erde» eine glänzende Karriere. Er wurde der erste Student aus der Volksrepublik nach der «Kulturrevolution» (1966–1976), der an einer amerikanischen Universität in Wirtschaftswissenschaften promovierte, und der erste Chefökonom der Weltbank aus einem Entwicklungsland. Skandale begleiten Aufstieg Zu den Persönlichkeiten, denen sich Osnos in verschiedenen Lebensabschnitten widmet, gehören die des Englischen kaum mächtige Bauerntochter Gong Haiyan, die die grösste Online-Singlebörse des Landes gründete, weil sie trotz einem Hochschulabschluss infolge ihres unscheinbaren Aussehens keinen Partner gefunden hatte, der Blogger und Schriftsteller Han Han, «das Symbol des individualistischen Lebensentwurfs der Generation Ich», und der autodidaktisch zum Anwalt ausgebildete blinde Bauernsohn Chen Guangcheng, der im Gegensatz zu Lin Zhengyi glaubte, er könne sein Schicksal nur erfüllen, indem er China Richtung USA verliess. Eindringlich beschreibt Osnos auch Begegnungen mit Liu Xiaobo, Jahre bevor er den Friedensnobelpreis bekam, und mit dem «bekanntesten chinesischen Dissidenten aller Zeiten» Ai Weiwei. Osnos’ Buch zeichnet sich durch eine breit gefächerte Darstellungsweise aus. Er lässt ganz unterschiedliche Stimmen zu Worte kommen. So vernimmt man über Ai Weiwei nicht nur Lob. Auch chinesische Kritiker seiner politischen Aktionen und seines künstlerischen Schaffens kommen zu Wort. Umgekehrt erfährt man manch ungnädige Bemerkung Ai Weiweis über chinesische Kollegen. Zudem vergleicht Osnos China häufig mit den USA und vermeidet so scheuklappenartig verengte Urteile. Über eine Zugkatastrophe in Wenzhou schreibt Osnos, sie versinnbildliche für viele das, was der Hurrikan Katrina für die Amerikaner repräsentierte: das totale Versagen des Staates. «Ständige Skandale waren die Hintergrundmusik von Chinas Aufstieg.» Kein Wunder, dass Schilderungen der Untaten von Kriminellen einen breiten Raum einnehmen. Um sich kundig zu machen, studierte Osnos «Tausende Seiten Gerichtsakten». Sein Buch liest sich daher streckenweise wie eine Verbrechensgeschichte der Volksrepublik China. Der niederschmetternde Eindruck, der auf diese Weise entsteht, wird jedoch abgemildert durch einen an den Anfang des Buches gestellten Hinweis: «Ganz wie in China wurde auch die Entstehung des amerikanischen Wohlstands von einer spektakulären Verkommenheit begleitet. ‹Unsere Geschäftsmethoden›, erklärte der Eisenbahn-Unternehmer Charles Francis Adams jr., Enkel von Präsident John Quincy Adams, ‹basieren auf Lug, Trug und Diebstahl.›» Die meisten chinesischen Bezeichnungen sind korrekt wiedergegeben. In China kommt es vor, dass man eigentlich benötigte Materialien durch billigere schlechtere ersetzt, zum Beispiel beim Bau von Brücken oder Schulhäusern. Dies bezeichnet Osnos korrekt mit dem Strategen «touliang huanzhu». Aber seine Übersetzung «Balken stehlen, um daraus Säulen zu machen» stimmt nicht. Der Ausdruck bedeutet «Balken stehlen und Stützpfosten auswechseln». Wichtigkeit des Essens Osnos zieht das Fazit, dass «China nie facettenreicher, urbaner und wohlhabender gewesen ist». Aktivisten aus der chinesischen Mittelschicht, die er kennenlernte, zielten vor allem auf Reformen, nicht auf einen Sturz der Regierung. Für Dissidenten «stellte der chinesische Staat kein einfaches Ziel dar, da es immerhin gelungen war, die Lebensgrundlage von mehreren hundert Millionen Menschen PAUL CHESLEY / NATIONAL tet sie als einen «wunderbaren Leitfaden, Ereignisse und Beobachtungen zu erzählen», die er entweder selbst erlebt oder aus anderen Quellen mit eigenen Worten nacherzählt hat. Als grosse Quelle von Freude beschreibt Hernig das gesellige Mahl. Dieses spielt indes keine Rolle bei den in China recht bekannten «vier Freuden», die ein Gedicht aus der Zeit um 1100 n. Chr. aufzählt: 1. Die Begegnung mit einem Landsmann in einer fremden Gegend; 2. Ein Regenguss nach einer langen Dürreperiode; 3. Eine Hoch- Evan Osnos beleuchtet die Welt der Reichen und Erfolgreichen in China: Wohlhabende Lady im Pelzmantel auf den Strassen Pekings (2008). zeitsnacht bei Kerzenschein; 4. Erfolg im Beamtenexamen. Beide Bücher sind flüssig geschrieben. Sie passen gut zueinander. Wer sich während der Lektüre des informationsschwangeren Werks von Osnos ab und zu etwas Ruhe gönnen möchte, dem bietet sich das leichtfüssiger daherkommende Buch von Hernig als angenehme Entspannungslektüre an. ● Harro von Senger ist emeritierter Professor für Sinologie an der Universität Freiburg i. Br. www.fischerverlage.de Unser ganz normales, brüchiges Leben Foto: Andreas Labes zu verbessern». Als sich Osnos von einem Kenner in die chinesische Kunst der Bestechung einweisen liess, galt die erste Lektion der grossen Wichtigkeit des Essens. Mit Essen beginnt auch das Buch von Marcus Hernig «Chinas Bauch. Warum der Westen weniger denken muss, um den Osten besser zu verstehen». Der Verfasser beschreibt China anhand der sieben Gefühle Freude, Wut, Trauer, Angst, Liebe, Hass und Gier, die ein konfuzianischer Klassiker aufführt. Hernig betrach- <wm>10CAsNsja1NLU01DU3MDU0NAQACgtxtQ8AAAA=</wm> <wm>10CFWKqw6AMBAEv-ia3TbL9agkOIIg-BqC5v8VD4cYMZNZlqaEj2le93lrCgXNIZKvpOxqjJxcQ3tqzaBGAgRd9fcbGENB6e9jkLF2hEmWoztKuo7zBugNF6FyAAAA</wm> Ruth Schweikerts bewegender Roman umkreist die Geschichten mehrerer Generationen vom Zweiten Weltkrieg bis in die unmittelbare Gegenwart. Geschichten von Liebe, Aufbruch und Trennung, von abwesenden Vätern und der jahrelangen Sorge um die Kinder, bis sich irgendwann die Kinder um die Eltern sorgen. Ein Familienroman über das Vergehen der Zeit, fulminant und leidenschaftlich erzählt. 272 Seiten, gebunden, sFr. 29,90 31. Mai 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 AFP / GETTY IMAGES Sachbuch Aktion, Veränderung, Bewegung sind der Treibstoff des modernen Geschäftslebens: Händler der New Yorker Börse, 29. September 2006. Zeitgeist Der Philosoph Ralf Konersmann sagt, dass die Unruhe immer schon zur Zivilisation gehörte. Neu sei aber, dass sie heute zur Normalität geworden sei Hektikwirktansteckend Ralf Konersmann: Die Unruhe der Welt. S.Fischer, Frankfurt a. M. 2015. 480 Seiten, Fr. 35.90, E-Book 23.–. Von Anja Hirsch Schneller, höher, besser: Die Leitsätze westlicher Kultur haben fragwürdige Typen hervorgebracht, wie die «happy workaholics», die Arbeitssüchtigen, die ihre Leistung mit Fleissdrogen anfeuern. Mobilität ist verlangt und die Krankheit «Burnout» ein Symptom der Zeit. Ist die Unruhe also schlicht ein modernes Phänomen? Nein – sagt der Kulturgeschichtler und Philosoph Ralf Konersmann in seinem neuen Buch. Die Unruhe war immer schon da und ist Teil der Kultur. Nur: Wie kam sie hinein? Seit wann wurde sie für uns fraglose Normalität? Und wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass wir diese Unruhe, obwohl ihre negativen Auswirkungen bekannt sind, kultivieren? Nichtstuer Diogenes Der 1955 geborene Ralf Konersmann lehrt Philosophie an der Universität Kiel und gab Lexika wie das «Historische Wörterbuch der Philosophie» und der «philosophischen Metaphern» mit heraus. Er beschäftigte sich mit dem Kulturbegriff oder Phänomenen wie dem «Zeitgeist». Sein neues Studienobjekt, die Unruhe, sei eine «der ältesten Erfahrungen der westlichen Kultur». Schon der griechische Philosoph Diogenes, der im 4. Jahrhundert vor Christus lebte und ein Fass bewohnte, habe ihre entscheidenden Eigenschaften durch eine Parodie herausgestellt. Als seine Stadt Korinth belagert wurde und alle Einwohner aufgeregt durch die Strassen eilten, soll er damit begonnen haben, seine Tonne hin- und herzurollen, untermalt von den Worten: «Ich wälze mein Fass, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich sei unter so viel Tätigen der 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Mai 2015 einzige Nichtstuer.» Diese Anekdote über die «Performance des Strassenphilosophen», so Konersmann, zeigt zweierlei: Unruhe ist ansteckend. Und sie gelte selbst dann als attraktiv, wenn sie unbestimmt und ziellos bleibt. Unter diesem Blickwinkel beginnt Konersmann nun, die Unruhe in ihren verschiedenen Varianten aufzuspüren und zu beschreiben. Massstab ist ihm dabei nicht nur die Philosophiegeschichte, sondern Bilder, Märchen, Erzählungen, in welchen sich die Unruhe manifestiert. Als eloquenter Reiseleiter vertraut er also mit Hans Blumenberg als Gewährsmann der Kraft der Mythen. Eine dieser mythischen Erzählungen ist die Bibel. Mit der Vertreibung aus dem Paradies und Kains Verworfenheit ins Land Nod (übersetzt: «Unrast») sei den Menschen die Ruhe dauerhaft versagt, nachdem sie sich ihrer in zwei Generationen als unwürdig erwiesen hätten. Seitdem ist die Ruhe als Gegenpol zur Unruhe etwas, das erkämpft werden muss. Klöster, die um 1000 entstanden, machten diesen Wunsch nach Asyl deutlich. Um diese Unruhe fassbar zu machen,erfindetman«Ausgleichstechniken» - Ordnungssysteme wie Takt, Rhythmus, Regeln, Recht. Die Unruhe war also immer schon Teil der abendländischen Kultur und tritt als solche in verschiedenen Masken auf – als Aktion, Veränderung, Bewegung, Wandel oder gar Stress, ein erst Mitte des 19. Jahrhunderts benanntes Symptom. Diese Bestandsaufnahme unterlegt Konersmann mit einem weit verzweigten Parcours durch Geschichts- und Denkmodelle. Er zeigt, wie die Unruhe allmählich positiv umgewertet wurde, bis sie die biblische Konnotation als «reiner Schrecken» abwarf. Eine der Lichtgestalten dieser «Normalisierungsgeschichte der Unruhe» ist für Konersmann der Philosoph Francis Bacon. Auf der Schwelle zur Neuzeit warb er für die Erkenntnis und lobte ihre aufrührerische Kraft. Glaubte Bacon aber noch an eine nur vorübergehende Unruhephase, begegnet man der Unruhe in den Geschichtsmodellen eines Schillers oder Hegels als unumstössliche Prämisse des Lebens. Schriften zum Innenleben bescheren ähnliche Resultate: Im Empfindsamkeitsroman «Anton Reiser» von Karl Philipp Moritz ist nichts mehr übrig von der «Seelenruhe», die Seneca einst propagierte. Die «verzweifelte Anstrengung, unangestrengt zu leben», wird so allmählich zur treibenden Kraft einer Lebensform, die wir heute als normal einstufen: Nicht die Unruhe, sondern der Stillstand gilt heute nahezu als «reiner Schrecken». So eile denn zufrieden! Die Verführungskraft der Unruhe im Blick, nimmt Konersmann dieses Phänomen von allen Seiten auseinander. Beim Schriftsteller André Gide etwa entdeckt er die Figur des «Inquiéteur», ein erfundenes Wort: Nicht zu verwechseln mit einem Unruhestifter, folgt diese Art Künstler nicht nur der Unruhe selbst, sondern wirft sich ihr geradezu in die Arme. Als grosses Versprechen verführte sie die Künstler der Zeit. Hier sieht der Autor den Ausgangspunkt für eine Entwicklung von Glaubenssätzen, die unsere abendländische Kultur prägen, darunter das Misstrauen gegenüber Behaglichkeit und Zufriedenheit, die gern als spiessbürgerlich abspeist werden. Die reichhaltige Ernte dieser Befragung ist ausserdem mit einem als «Vokabular der Unruhe» getarnten Stichwortverzeichnis versehen. Die Studie endet mit einem Appellativ von Friedrich Hölderlin: «So eile denn zufrieden!». Er scheint heute beherzigenswerter denn je, um Ruhe und Unruhe im Gleichgewicht zu halten. Konersmann öffnet uns den Blick für die Zwiespältigkeit einer Kraft, die erlitten werden muss, aber zugleich Lust schaffen kann. Die minutiöse, geistesgeschichtliche Verortung dieses Phänomens liegt hier vor. ● Literaturklassiker Albrecht Schöne untersucht neun Goethe-Briefe ErschriebnochmitdemFederkiel Albrecht Schöne: Der Briefschreiber Goethe. C. H. Beck, München 2015. 537 Seiten, Fr 42.90, E-Book 26.–. Von Manfred Koch «Nichts wird mir saurer als Briefe zu schreiben», erklärte Goethe 1808 seinem Weimarer Ministerkollegen Voigt. Eine erstaunliche Behauptung für einen Mann, der etwa 20’000 Briefe verfasst hat! Schon rein handwerklich handelt es sich um eine unglaubliche Leistung, denn Goethe schrieb noch mit Gänsefederkielen (die dauernd angespitzt werden mussten) und Eisengallustinte (die nur langsam trocknete), auf widerborstigem Papier, über das die Feder nicht glitt, sondern unter Absonderung hässlicher Geräusche mühsam kratzte. In seiner zweiten Lebenshälfte standen ihm immerhin professionelle Schreiber zur Verfügung. Doch das Pensum war so gross, dass der Geheime Rat zuletzt schon frühmorgens vom Bett aus mit dem Diktieren begann. Albrecht Schöne, der grosse alte Mann der Goethe-Forschung, hat ein Buch über diesen gewaltigen Briefschreiber vorgelegt, das auf wunderbare Weise die Nahsicht aufs sprachliche Detail mit einem souveränen kulturgeschichtlichen Überblick ACTION PRESS verbindet. Neun Briefe aus den Jahren 1764 bis 1832 interpretiert er in akribischen Fallstudien, und der Leser staunt, welche Bedeutung ein scheinbar harmloser Konjunktiv oder ein wiederkehrendes Plusquamperfekt haben können. In drei umfangreichen Exkursen entfaltet Schöne zugleich ein Bild des Postwesens um 1800, erläutert die komplizierten Anredevorschriften der ständischen Gesellschaft («Höchst-deroselben») und resümiert die Schreib- und Diktiergewohnheiten Goethes. So erfährt man beiläufig, wie die Geheimdienste hinter den Briefen des berühmten Dichters her waren oder wie sich Goethe 1830 in weltliterarischem Sinn freute, dass eine Nachricht des schottischen Autors Carlyle dank beschleunigter Transportmittel schon nach 14 Tagen in Weimar eintraf. Die europäischen «Schnellposten» waren in seinen Augen ein wichtiger Faktor der beginnenden Globalisierung. In den Fallstudien zeigt Schöne, dass der junge Goethe die Sprache des «Werther», die die deutsche Literatur revolutionieren sollte, zuerst in seinen Studentenbriefen erprobte. Es war ein weiter Weg von diesen Sturmund-Drang- Als junger Mann in Sturm und Drang-Manier, im Alter mit zeremoniellem Gebaren verfasste Johann Wolfgang von Goethe um die 20’000 Briefe. Episteln («ich bin wieder scheissig gestrandet») zum zeremoniellen Gebaren der Altersbriefe. Deren förmlicher Kanzleistil – «Auf Ihr sehr wertes Schreiben, mein Teuerster, habe wahrhaftest zu erwidern» – wirkt heute eher schrullig. Aber Schöne macht verständlich, dass man all die Schnörkel und Umständlichkeiten nicht leichthin «als eine überflüssige Geheimratsversteifung abtun» sollte. Sie bildeten eine Art von schützendem Kokon, in den der zunehmend einsame, mit dem Zeitgeist zerfallene Goethe sich nach Schillers Tod (1805) zurückzog: Schutz vor der Verzweiflung über den Untergang der alteuropäischen Welt in den politischen und industriellen Revolutionen des frühen 19. Jahrhunderts; Schutz auch vor der eigenen Todesangst. Zu jammernder Resignation wollte sich Goethe aber nicht hinreissen lassen, es galt vielmehr, so seine Altersmaxime, Haltung zu bewahren und sich in «rastloser Tätigkeit» den modernen Bedrohungen gewachsen zu zeigen. Das Gravitätische der Briefe sollte nicht zu tief in sein Inneres blicken lassen, ihre menschenfreundliche Höflichkeit zugleich aber eine Verbindung mit den Wenigen stiften, die gleich ihm die Zeichen der Zeit erkannten. Das ist, wie Schöne in einer anrührenden Interpretation des letzten Schreibens an Wilhelm von Humboldt zeigt, der Sinn der Losungsworte, mit denen die Briefe schliessen: «unwandelbar», «treulichst», «treu beharrlich». Unterschrieben hat er alle – selbst die an vertraute Freunde gerichteten – immer auch mit dem Familiennamen (ihn manchmal zu «G» abkürzend). Als wollte er besiegeln, dass in «Goethe» doch ein rettendes Göttliches wirkt! ● DDR Das ehemalige PDS-Mitglied Angela Marquardt erzählt, wie die Stasi sie als Jugendliche rekrutierte Doppelter Missbrauch Angela Marquardt, Miriam Hollstein: Vater, Mutter, Stasi. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 230 Seiten, Fr. 21.90, E-Book 13.–. Von Kathrin Meier-Rust Sie war der Jungstar der PDS (der Vorgängerpartei von «Die Linke») und hatte eine atemberaubende Karriere hinter sich: Mit noch nicht mal 20 Jahren im Bundesvorstand der Partei, mit 23 stellvertretende Vorsitzende, mit 27 Bundestagsabgeordnete. Dann der Paukenschlag: Angela Marquardt, die immer für vollständige biografische Offenlegung der Vergangenheit plädiert hatte, wird 2002 als Informelle Mitarbeiterin (IM) der Stasi geoutet. Genüsslich wurde ihre von eigener Hand geschriebene Verpflichtungserklärung präsentiert. Einen Haken allerdings hatte die Skandalgeschichte: Es war die Hand einer 15-jährigen Schülerin, die diese Erklärung im Jahr 1987 geschrieben hatte. Wie sich nun zeigt, nach dem Diktat der eigenen Mutter. Der Schock warf Marquart damals vollkommen aus der Bahn. Konfrontiert mit 100 Seiten «Täterakten» vermochte sie sich kaum zu erinnern, blieb weitgehend stumm. Sie trat aus der Partei aus, studierte, jobbte, fand schliesslich im Büro einer SPD-Abgeordneten zur geliebten politischen Arbeit zurück. Mit ihrem Buch rekonstruiert sie nun, was damals geschah. Nicht nur waren Mutter, Grossvater und Stiefvater alle IM, eine Welt ausserhalb der DDR kam in dieser Stasi-Familie nicht vor. Der Stiefvater missbrauchte die Schülerin zudem über Jahre. Doch von seinen Freunden, allesamt Stasi-Leute, die in der elterlichen Wohnung ein und aus gingen, fühlte sich die schüchterne Halbwüchsige ernst genommen, sie boten ihr Halt im familiären Drama: «Es waren männlich Bezugspersonen, die mir nicht weh taten.» Bereitwillig erzählte sie, wenn sie zu Mitschülern und Lehrern gefragt wurde. Dass sie selbst als IM «geführt» wurde, realisierte das Mädchen nur sehr vage. Selbst als man die begeisterte Sportlerin dazu überredete, statt Sport lieber Theologie (!) zu studieren, hielt sie das für einen gutgemeinten Rat. Unter den 173’000 informellen StasiMitarbeitern sollen im Jahr 1989 laut Schätzungen rund 1300 Kinder und Jugendliche gewesen sein. Weil die Akten von unter 18-Jährigen unter Verschluss sind, weiss man kaum etwas über sie. Wie psychologisch geschult, gezielt und infam sie von der Stasi rekrutiert und ausgenutzt wurden – davon zeugt dieses nie rachsüchtige, aber immer beeindruckend ehrliche und genaue Buch. ● 31. Mai 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 Sachbuch Kunst Erstmals wird der weibliche Beitrag an Dada umfassend gewürdigt – die Rolle der Dichterinnen, Tänzerinnen und Malerinnen KünstlerinnenzuFussnotendegradiert Ina Boesch (Hrsg.): Die Dada. Wie Frauen Dada prägten. Scheidegger & Spiess, Zürich 2015. 164 Seiten, Fr. 31.90. Von Janika Gelinek Dada-Tänzerinnen und der ungarische Choreograf Rudolf von Laban in Ascona 1914. 2015 KUNSTHAUS ZÜRICH Es ist kein schlechtes Zeichen, wenn man sich von der Lektüre eines Buches sogleich zu neuen Lektüren inspiriert fühlt. So blättert man durch den von der Kulturwissenschafterin Ina Boesch herausgegebenen Sammelband über DadaKünstlerinnen, und wünscht sich sogleich eine Anthologie mit den Texten von Mina Loy, Maria d’Arezzo und Céline Arnauld, die häufig nur verstreut und erst recht nicht auf Deutsch publiziert worden sind. Man will umgehend alle grossartigen Zeitzeugenberichte über die Dada-Abende lesen, in denen Publikum, Polizei und Künstler sich gegenseitig überbrüllten und befeuerten, und sucht vergeblich eine Monographie über «The Little Review», die von 1914 bis 1929 in New York erscheinende Zeitschrift der unerschrockenen Dada-Verlegerin Margaret Anderson, die bei Geldknappheit am Michigansee kampierte und nach der Erstveröffentlichung von «Ulysses» unverdrossen ins Gefängnis wanderte. Damit drängt sich jedoch zugleich die Frage auf, was mit Hilfe eines weiteren Bandes über Dada-Frauen gewonnen ist, wenn deren Werke mit Ausnahme der auch hier wieder ausführlicher behandelten Sophie Taeuber und Hannah Höch auch 100 Jahre nach der Gründung von Dada immer noch weitgehend unbekannt sind. Tut man den Künstlerinnen einen Gefallen, über sie und ihre aufregenden Lebensentwürfe zu schreiben statt ihre Texte zu edieren bzw. ihre Bilder zu zeigen und sich kunsthistorisch damit auseinanderzusetzen? Der Band setzt es sich zum Ziel, die Vielfältigkeit weiblichen Dada-Schaffens von Zürich bis New York, von Paris bis Berlin zu zeigen – und das gelingt, trotz spärlicher Bebilderung, zweifellos. Unterteilt in Genres wird im ersten Teil in einem grossen essayistischen Überblick all der Tänzerinnen, Pianistinnen, Malerinnen, Dichterinnen und Verlegerinnen gedacht, die ihre zumeist gutbürgerlichen Elternhäuser hinter sich liessen, um Dada zu leben. Programmatisch stellt Ina Boesch dabei nicht nur die Protagonistinnen der Szene vor, sondern all die «vergessenen, verniedlichten, zu Fussnoten degradierten Frauen, die Dada mitprägten» und daneben meist noch den Haushalt, Kinder und einen künstlerisch aktiven Mann mitorganisieren mussten. Im zweiten Teil des Buches stehen dann in Aufsätzen verschiedener Autoren und Autorinnen die Künstlerinnen Elsa von Freytag-Lovringhoven, Hannah Höch, Sophie Taeuber, Céline Arnauld und Angelika Hoerle im Mittelpunkt. Da die Dada-Künstlerinnen jedoch zusätzlich in Kurzbiografien in der Randspalte erscheinen, fragt man sich, ob weniger Vielfältigkeit und grössere Systematik nicht mehr gewesen wäre bzw. warum ein Band, der unter anderem die Marginalisierung der Frauen thematisiert, diese im Layout ausgerechnet an den Rand rückt. Hier wird auch verzeichnet, welche Künstlerin es in die 1920 vom Dada-Mitbegründer Tristan Tzara aufgestellte Liste «Quelques Présidents et Présidentes du mouvement Dada» geschafft hat, und unterwirft sich damit wieder jenen von den männlichen DadaManifestanten so effektiv betriebenen Ein- und Ausschlussstrategien über die Deutungshoheit von Dada. Einzig Ralf Burmeister macht dies in seinem aufschlussreichen Essay über Hannah Höch exemplarisch deutlich, wenn er zeigt, wie Raoul Hausmann die einstige Lebensgefährtin aus den Annalen der Dada-Bewegung zu manövrieren versuchte, während er selbst, in den Worten Burmeisters, längst zum «Spiesser» und «Dada-Orthodoxen» mutiert war. Hannah Höch hingegen, die die Dada-Technik der Collage konsequent weiterentwickelte, begriff Dada eher als «katalysatorisches Moment in der künstlerischen Entwicklung» – womit sie nicht zuletzt im ästhetischen Verständnis von Dada zweifellos über Hausmann hinaus gelangte. ● Porträt Was für ein Mensch steckte hinter dem Avantgarde-Maschinisten Jean Tinguely? Tunichtgut, Querkopf, Autorennfahrer Dominik Müller: Jean Tinguely – Motor der Kunst. Christoph Merian, Basel 2015. 208 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Fr. 31.90. Von Gerhard Mack Beim Warenhaus Globus war man nicht begeistert: «Der junge Mann macht ständig Dummheiten. (…) Wir zweifeln daran, dass es uns gelingen wird, aus Ihrem Sohn einen tüchtigen Berufsmann zu machen», schrieb der Arbeitgeber 1942 an den Vater Jean Tinguelys. Der junge Mann sollte zum Dekorateur ausgebildet werden, aber er war ein Querkopf, Disziplin fiel ihm schwer, langweilig war ihm auch schnell. Nach einem Jahr wurde er fristlos entlassen. Und fand rasch bei anderen Verständnis und Unterstützung. Er schloss die Ausbil20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Mai 2015 dung ab und besuchte die Schule für Gestaltung, seine Schaufensterdekorationen aus feinen Drahtgebilden waren in Basel für ein paar Jahre Stadtgespräch, bis er zum Maschinisten der Avantgarde wurde und im Gefolge von Duchamp, Calder und den Konstruktivisten deren Diskurs wesentlich mitprägte. Dominik Müller, Basler Kunsthistoriker, erinnert an diese Geschichte und schöpft dabei aus dem Vollen. Er hat am Museum Tinguely in Basel gearbeitet. In sechzehn Kapiteln lässt er zentrale Etappen in der Entwicklung des Werks aufleben. Er nimmt uns mit zum Schaufensterdekorateur und Sozialisten nach Basel, zu Auftritten in New York und bei der Expo, und er lässt uns bei der Prozession dabei sein, mit der Jean Tinguely und seine Freunde 1960 seine Maschinenskulpturen vom Atelier in die Galerie zogen, bis die Pariser Polizei den Tross stoppte und Tinguely verhaftete, weil das Ganze nicht genehmigt war. Tinguely wollte, dass Leben und Kunst miteinander verbunden sind. Er entwarf bewegte Bilder und Zeichenmaschinen und liess die Besucher mitmachen. Jeder durfte Künstler sein. Er interessierte sich für Autorennen ebenso wie für Politik und Kunst. Der Schweizer Rennfahrer Jo Siffert war ein guter Freund. Der Mensch, der Künstler und der Zeitgenosse Jean Tinguely sind nicht zu trennen. Das zeichnet Dominik Müller mit leichter Hand und grosser Präzision nach, das zeigen nicht zuletzt die Fotos, die authentisch, frisch und packend eine Zeit wieder erstehen lassen. Jean Tinguely liebte die Bewegung, und er setzte die Kunst in Bewegung. Das wird aufs Schönste gewürdigt. ● Gesellschaft Je transparenter die Welt wird, desto angepasster der Mensch: Warum das autonome Handeln heute einen schweren Stand hat WodiePrivatsphärefehlt,steigt derDruckzurAnpassung Michael Pauen, Harald Welzer: Autonomie. Eine Verteidigung. S. Fischer, Frankfurt am Main 2015. 336 Seiten, Fr.28.90, E-Book 19.– Von Claudia Mäder In zehn Schritten zum selbständigen Denken? Das autonome Individuum erschauert! Wo einem zwei kluge Köpfe in Ratgebermanier die Welt erklären – «Ihr Leben hängt nicht davon ab, Dinge online zu bestellen» –, empfiehlt es sich, Regel Nr. 7 zu befolgen – «Treten Sie für Ihr eigenes Urteil ein» – und in aller Deutlichkeit zu sagen: Dieses Buch hätte besser vier Seiten früher geendet. Der abschliessende Griff in die Tippkiste ist eine kleine Entgleisung, die man Michael Pauen und Harald Welzer unerwähnt nachsehen würde, stünde sie nicht in groteskem Kontrast zum Thema ihres so informativen wie anregenden Buches: der Autonomie. Erbe der Aufklärung Die beiden Wissenschafter – Pauen ist Philosoph, Welzer Sozialpsychologe – sehen das selbstbestimmte Handeln in Gefahr und widmen ihm eine umfängliche Darstellung, die in fünf flüssigen Kapiteln durch die Geschichte der Autonomie führt, empirische Befunde zu ihrem Auftreten diskutiert und zuletzt zu einer beherzten Verteidigung dieser zentralen «Errungenschaft des zivilisatorischen Prozesses» anhebt. Worin aber besteht die eigentlich? Autonom sind nach heutigem Sprachgebrauch Zürcher Krawallanten genauso wie palästinensische Gebiete, weshalb zuvorderst eine Begriffsklärung nottut. Unter Autonomie verstehen Pauen und Welzer die menschliche Möglichkeit, Entscheidungen und Handlungen an eigenen Prinzipien und Wünschen auszurichten und – auch gegen Widerstände – durchzusetzen. Klar unterschieden von der Fremdbestimmtheit und vom Zufall ist die Autonomie in den Augen der Autoren eine natürliche Fähigkeit wie jene zum Lesen oder Rechnen – deswegen aber noch lange keine Selbstverständlichkeit: Erst der Individualisierungsprozess und insbesondere die Aufklärung haben die Anlage zur Entfaltung gebracht. Seither hat sich der Autonomieanspruch zuweilen über die menschliche Sphäre ausgedehnt und die Aushebelung der Naturgesetze angestrebt, bevor er letztens wieder empfindlich zurückgestutzt wurde: In den Nullerjahren zogen zahlreiche Hirnforscher die Existenz des freien Willens in Zweifel – autonom erschien aus ihrer Warte bestenfalls noch Sind auf den Bildern mehr weisse oder schwarze Quadrate zu sehen? Pauen und Welzer dokumentieren, wie sich Probanden oft der – getürkten – Meinung der Mehrheit anschliessen. das Gehirn, dessen neuronale Prozesse jede psychische Regung determinierten. Ein diesbezüglich interessantes Experiment dokumentieren auch Pauen und Welzer. Der Vorgang ist einfach: Muss ein Proband in einer Gruppe beurteilen, ob auf einem Bild mehr weisse oder schwarze Quadrate zu sehen sind, wird er sich mit hoher Wahrscheinlichkeit der (getürkten) Meinung der Mehrheit anschliessen, selbst wenn die offensichtlich falsch ist; er wird bei entsprechenden Vorgaben also auch dann «schwarz» sagen, wenn «weiss» in klarer Überzahl ist. Weniger Selbstbestimmung Wenn dieses Ergebnis mit Blick auf die Autonomiefähigkeit eher ernüchternd ist, vermögen die Forscher es vorerst doch zu erklären: Autonomie, sagen sie, ist immer an soziale Situationen gebunden und Konformität eine Eigenschaft, die evolutionär gesehen überlebenswichtig war – sich in der Steppe seiner fliehenden Horde anzuschliessen, war klüger, als sich plötzlich allein vor einem Löwen zu finden. Genau besehen wirft das Quadratexperiment nun aber die Frage auf, inwieweit eine andere Entscheidung nicht klüger oder dümmer, sondern überhaupt möglich gewesen wäre. Die Messung der neuronalen Aktivitäten zeigt nämlich, dass die Meinung der Gruppe nicht erst das Urteil, sondern schon die Wahrnehmung des Probanden beeinflusst – die Einzelnen sahen die Quadrate effektiv so (falsch), wie das Kollektiv es vorgab. Die Autoren orten daher «Dispositionen zu konformem Verhalten auf Ebene der neuronalen Verarbeitung», unterlassen es aber leider, die Konsequenzen zu besprechen, die sich daraus ergeben. Diese Aussparung mag damit zu tun haben, dass sie die Autonomie durch eine andere als die natürliche Macht bedroht sehen. Den aktuellen Rückgang an Selbstbestimmtheit, den sie zum Schluss alarmiert konstatieren, bringen Pauen und Welzer in Zusammenhang mit einer gesellschaftlichen Entwicklung: dem Trend zur Transparenz. Individuelles und potenziell abweichendes Denken braucht den geschützten Raum des Privaten, um sich entwickeln zu können; wo dieser Rückzugsort fehlt und jeder nackt vor dem andern steht, steigt die Bereitschaft, sich anzupassen – die Totalitarismen lassen grüssen. So weit folgt man den Autoren gern. Wenn sie aber vor einem «neuen informationellen Totalitarismus» à la Steve Jobs warnen, möchte man doch den vorhandenen Widerspruchsspielraum nützen. Anders als noch vor 80 Jahren herrscht heute kein terroristischer Mastermind, sondern ein ökonomisches Prinzip, und folglich vollzieht sich die bedauerliche «Transformation von Selbst- in Fremdsteuerung» weniger als «feindliche Übernahme» denn als freie Entscheidung: Handelt das bequeme Individuum etwa nicht nach seiner ureigenen Maxime, wenn es einen smarten Apfel kauft, der ihm gegen etwas Durchleuchtung das Denken abnimmt? Paradoxie Nr. 1: Man kann sich auch autonom dafür entscheiden, seine Autonomie aufzugeben. ● 31. Mai 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch USA Vor 50 Jahren wurde der Menschenrechtsaktivist Malcolm X ermordet. Eine deutsche Historikerin präsentiert eine ebenso informative wie kompakte Biografie DenBürgerrechtlerMartinLutherKing bezeichneteeralsnaiv Britta Waldschmidt-Nelson: Malcolm X. Der schwarze Revolutionär. C. H. Beck, München 2015. 384 Seiten, Fr. 27.90, E-Book 15.–. Von Tobias Meier Was würde Malcolm X wohl sagen zu den neuen amerikanischen Rassenunruhen – unter einem schwarzen Präsidenten? Der 50. Jahrestag seiner Ermordung im Februar 1965 gab in den USA Anlass zu solchen Überlegungen. Der deutschen Historikerin und Spezialistin für afroamerikanische Geschichte Britta WaldschmidtNelson – sie leitet das Deutsche Historische Institut in Washington und ist Privatdozentin in München – bot er Anlass für eine erste deutsche Biografie von Malcolm X, die sie mit einer kompakten Darstellung der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung verbindet. Nach einem einleitenden Kapitel zur Geschichte der Afroamerikaner bis 1920 erzählt die Historikerin die bekannte Lebensgeschichte des 1925 in Nebraska geborenen Malcolm Little: Der Vater wird vom Ku-Klux-Klan ermordet, die Familie bricht auseinander, Malcolm wird kriminell und landet im Gefängnis. Hier findet der 25-Jährige zur schwarzen Sekte der «Nation of Islam», deren asketische Lebensweise er bedingungslos übernimmt. Den Sklavenhalter-Namen seiner aus Afrika verschleppten Vorfahren legt er ab und ersetzt ihn durch ein X: Herkunft unbekannt. Die Black Muslims, wie die «Nation of Islam» im Volksmund heisst, wachsen zu einer Sekte an, die auf ihrem Höhepunkt in den frühen sechziger Jahren Zehntau- Schweizer Pioniere Hotelkönige und Bergbahnbauer Ein Hotelimperium, das von der Schweiz bis nach Ägypten reicht: Das schufen zwei visionäre Kernser gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Franz Josef Bucher (1834– 1906, rechts im Bild) und Josef Durrer (1841–1919) avancierten um die Jahrhundertwende zu Pionieren im Hotelbau – in der Schweiz zeugt etwa das hoch über dem Vierwaldstättersee angelegte Grand Hotel Bürgenstock, das noch bis ins 20. Jahrhundert Prominenz aus Politik und Film aus aller Welt anzog, von ihrem Renommee. Darüber hinaus konstruierten die Obwaldner zahlreiche Berg- und Strassenbahnen, sowohl in der Schweiz als auch in Europa, und unterhielten Sägewerke in Rumänien und Bulgarien. Durrer galt als introvertierter Tüftler und Techniker, Bucher als kluger Geschäftsmann 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Mai 2015 mit aufbrausendem Temperament. Diese Gegensätze befruchteten die erfolgreiche Zusammenarbeit, führten aber auch zu Konflikten und 1895 zur Trennung. Die wegen grosser Nachfrage neu aufgelegte Biografie der beiden Macher dokumentiert Romano Cuonz anhand historischer Bilder aus dem Besitz der Familien und aus Archiven. Darunter finden sich Fotografien zahlreicher Reisen, von innovativen Bergbahnen und prunkvollen Hotels. Anhand von Briefen, Reiseberichten und Zeitzeugenaussagen wird das Leben der unternehmerischen Tausendsassas nachgezeichnet. Simone Karpf Romano Cuonz, Christof Hirtler: Franz Josef Bucher, Hotelkönig, und Josef Durrer, Bergbahnpionier. Brunner Verlag, Kriens 2015. 118 Seiten, Fr. 55.90. sende von Mitgliedern zählte, darunter auch den Schwergewichtsbox-Weltmeister Muhammad Ali, und eigene Tempel in Dutzenden Städten sowie Restaurants, Kindergärten, Geschäfte und Zeitschriften besass. Gemäss ihrer Theologie, einer Mischung aus islamischem Vokabular und exzentrischer Rassenlehre, sind weisse Menschen «blauäugige Teufel», von denen sich die Schwarzen fernhalten sollten. Malcolm X, ein glänzender Redner, fordert schwarze Selbstachtung, Selbstversorgung und, zumindest ansatzweise, sogar einen eigenen schwarzen Staat in Amerika. Die christliche Feindesliebe und Gewaltlosigkeit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung unter dem vier Jahre jüngeren Martin Luther King verspottet er als naiv. Statt Integration besteht Malcolm X auf Menschenwürde und droht diese «mit allen Mitteln» einzufordern. Den 1963 von Martin Luther King formulierten Traum einer integrierten Gesellschaft weist er als Träumerei zurück angesichts des «Albtraums», den die 22 Millionen schwarzen Amerikaner damals seiner Sicht nach erlebten. Malcolm X provozierte, doch seine Analyse war oft bestechend. Warum sollten Afroamerikaner in Vietnam für die USA ihr Blut vergiessen, sich zu Hause aber strikt gewaltfrei für ihre Rechte einsetzen? Sein Bestehen auf sozialer und wirtschaftlicher Gerechtigkeit statt formeller rechtlicher Gleichstellung hat schliesslich auch Martin Luther King übernommen. Doch auf dem Höhepunkt seiner Berühmtheit vollzieht Malcolm X einen Wandel: Der wiedergeborene Gläubige durchschaut die korrupte Machtstruktur seiner Sekte und bricht mit ihr. Auf Reisen im Nahen Osten lernt er den wirklichen Islam kennen, versteht angesichts der sichtbaren ethnischen Vielfalt unter den Pilgern in Mekka seine Universalität. Er beginnt sein Engagement für die Rechte der amerikanischen Schwarzen als Teil eines weltweiten Kampfes zur Durchsetzung der Menschenrechte zu verstehen und sucht bei schwarzafrikanischen Regierungen Unterstützung für eine Anklage der USA vor den Vereinigten Nationen. Am 21. Februar 1965 wird Malcolm X bei einer Rede vor seinen Anhängern in New York erschossen – im Auftrag der «Nation of Islam». «Für die Muslime bin ich zu weltlich, für andere Leute bin ich zu religiös, für die Militanten bin ich zu moderat und für die Moderaten bin ich zu militant», zitiert die Autorin Malcolm X. Indem sie nicht nur sein Leben, sondern auch den geschichtlichen Rahmen seiner Zeit beschreibt, erfasst Waldschmidt-Nelson diesen wandlungsfähigen, moralisch unbeirrbaren, aber nie dogmatischen Kämpfer für das schwarze Amerika. ● Islam Frauen in arabischen Ländern bleiben Menschen zweiter Klasse, solange es nicht eine echte Revolution gibt. Dazu ruft die ägyptisch-amerikanische Publizistin Mona Eltahawy auf KampfdenPaschasindenKöpfen Mona Eltahawy: Warum hasst ihr uns so? Piper, München 2015. 208 Seiten, Fr. 23.90, E-Book 14.–. Der arabische Frühling hat unzählige Frauen politisch mobilisiert. Gerade dadurch wurde auch deutlich, wie weit die Repression gegen Frauen in den arabischen Gesellschaften geht. Je stärker sie sich in den öffentlichen Raum vorwagten, desto heftiger wurden die Frauen zurückgestossen. Sexuelle Belästigungen und Vergewaltigungen gab es schon vorher, aber erst jetzt wurden sie lautstark angeprangert. Die ägyptische Schriftstellerin Mansura Eseddin forderte «Eine zweite Revolte für Scheherazades Töchter», und die ägyptisch-britische Journalistin Shereen El Feki schrieb in ihrem Buch «Sex und die Zitadelle», dass in Ägypten eine Revolte gegen die Eltern viel schwieriger sei als eine gegen den Präsidenten. In die gleiche Richtung zielt nun die ägyptisch-amerikanische Journalistin Mona Eltahawy mit ihrem angriffigen Buch «Warum hasst ihr uns so?» über die tief verwurzelte Frauenfeindlichkeit in der islamischen Welt. Ausgangspunkt ihrer Analyse war ein persönliches Erlebnis. Sexuell misshandelt Im November 2011 wurde Mona Eltahawy in Kairo nach einer Demonstration verhaftet. Sie wurde in einen Bereitschaftswagen der Polizei gezerrt, geschlagen und sexuell misshandelt. Weil ein Demonstrant ihr sein Smartphone zusteckte, gelang es ihr, einen Tweet über ihre Verhaftung und Misshandlung zu verschicken. Ihre Freunde mobilisierten die Öffentlichkeit und bewirkten, dass sie bereits nach zwölf Stunden wieder freigelassen wurde. Ein halbes Jahr später erschien Mona Eltahawys Essay mit dem provokativen Titel «Warum hassen sie uns?» im amerikanischen Politmagazin «Foreign Policy». Mit «sie» meinte Eltahawy allerdings nicht nur die Polizisten und Schläger des Regimes, sondern die arabischen Männer schlechthin. Der Text wurde über die sozialen Medien auch in Ägypten verbreitet und löste unter den Intellektuellen beiderlei Geschlechts Entrüstung und hitzige Debatten aus. Die Autorin, die nach der Misshandlung durch die Polizei noch wie eine Märtyrerin und Heldin der Revolution gefeiert wurde, galt nun als Verräterin, weil sie die alltägliche sexuelle Belästigung auf Ägyptens Strassen anprangerte. Die Täter seien nicht nur auf der Seite des Regimes zu finden, sondern auch unter den Demonstranten, den Regimekritikern, den Revolutionären, schreibt sie: «Wenn unsere Kollegen uns Gewalt antun, nehmen wir an, dass sie vom Regime bezahlte Agenten seien, weil wir die Revolution ABIR ABDULLAH / KEYSTONE Von Susanne Schanda Frauen demonstrieren gegen die alltägliche sexuelle Belästigung auf Ägyptens Strassen (Kairo 2013). nicht schlechtreden wollen. Wir müssen aufhören, so zu tun, als ob. Wir müssen den Hass beim Namen nennen.» Mona Eltahawy hat ihre Streitschrift zu einem 200-seitigen Plädoyer für die sexuelle Revolution der Frauen in der islamischen Welt ausgebaut. Der Originaltitel «Headscarves and Hymens» bringt ihre Kritik auf den Punkt: Frauen würden in der islamischen Welt weitgehend über ihr Kopftuch und ihr Jungfernhäutchen definiert. Die Autorin stellt bei islamischen Geistlichen eine geradezu pathologische Besessenheit von der weiblichen Sexualität fest, die durch Predigten – nicht zuletzt am Fernsehen – bis tief in die Gesellschaft wirke. Die skandalösen Jungfräulichkeitstests, die ägyptische Militärärzte an verhafteten Demonstrantinnen durchführten, seien nur möglich vor dem Hintergrund der gesellschaftlich akzeptierten Haltung, dass die Jungfräulichkeit einer Frau nicht ihre Privatsache sei, sondern eine öffentliche Angelegenheit. Für die Unterdrückung der weiblichen Sexualität führt die Autorin zahlreiche Beispiele an, die bekanntesten sind die Verheiratung von kleinen Mädchen in Jemen, das Autofahrverbot für Frauen in Saudiarabien und die Genitalverstümmelung in Ägypten. Die Autorin hat vor allem in Ägypten und Tunesien recherchiert, sie führt Länderstatistiken bezüglich Frauenrechten an und beruft sich auf Expertinnen wie die ägyptische Frauenrechtlerin Nawal El-Saadawi und die schweizerisch-jemenitische Politologin Elham Manea. «Warum hasst ihr uns so?» ist nicht nur Analyse und Anklage, sondern auch ein Aufruf an die Frauen und Mädchen in der islamischen Welt, rebellisch zu sein. Wie schwierig Rebellion ist, demonstriert die Autorin an ihrer eigenen Geschichte. Obwohl sich die 1967 in Ägypten geborene Mona Eltahawy früh als Feministin verstand, trennte sie anfangs ihr politisches Engagement von ihrem Privatleben und hielt sich noch als Studentin verschämt an tradierte Werte, etwa das Gebot «Kein Sex vor der Ehe», und trug einige Jahre ein Kopftuch. Als Symbol der Ausgrenzung lehnt sie dieses heute ab und nennt es «die weisse Flagge, die wir schwenken, da wir uns den Islamisten und ihrem Konservativismus ergeben». Gegen Kulturrelativismus Im westlichen Kontext bietet das Buch starke Argumente gegen einen Kulturrelativismus, der mit dem Verweis auf die «andere» Kultur nur allzu oft repressive Praktiken schützt. Noch wird die arabisch-muslimische Kultur mit Konservativismus gleichgesetzt, aber Mona Eltahawy und ihre Mitstreiterinnen kämpfen dafür, dass sich dies ändert. Den inflationär verwendeten Begriff Revolution präzisiert die Autorin: «Bis der Zorn auf die Unterdrücker in den Präsidentenpalästen zum Zorn auf die Unterdrücker auf unseren Strassen und in unseren Häusern wird, bis wir die Mubaraks in unseren Köpfen und in unseren Schlafzimmern und an unseren Strassenecken gestürzt haben – bis dahin hat unsere Revolution noch nicht einmal begonnen.» ● 31. Mai 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Biografie Nach neunjähriger Recherche drehte Shane Salerno einen Film über den Schriftsteller J. D. Salinger und legte mit David Shields ein Buch nach ObsessiveSuchenach demMysteriösen David Shields, Shane Salerno: Salinger. Ein Leben. Droemer Knaur, München 2015. 825 Seiten, Fr. 47.90, E-Book 31.–. Seit Erscheinen seines Romans «Der Fänger im Roggen» 1951 wurde J. D. Salinger (1919–2010) kultisch verehrt. Sämtliche Bücher, Artikel, Meldungen über den zurückgezogen lebenden amerikanischen Schriftsteller wurden begierig aufgenommen. Wer sich nun an diesen Ziegelstein von Shane Salerno und David Shields wagt, muss Jerôme David Salingers Werk tatsächlich gut kennen, da hier recherchiertes Material wild mit den literarischen Texten durcheinander gewirbelt wird. Zudem operieren die Co-Autoren, der Drehbuchautor und Filmemacher Salerno und der Publizist Shields, überempathisch auf der Ebene der Küchenpsychologie. In erster Linie ist ihr Buch ein wildes Zeugnis für die Obsession unzähliger Fans. Einige von ihnen gingen so weit, sich bei ihren Mordtaten auf den «Fänger» zu beziehen, unter anderem der John-Lennon-Mörder Mark David Chapman. Von manchen Fans lesen wir in den zwölf Protokollen, die Shields und Salerno zwischen die Kapitel einstreuen; bisweilen doch eine gruselige Lektüre. Schwärmt für Teenager Salinger, der 1919 in Manhattan geborene Sohn eines begüterten jüdischen Schinken- und Käsehändlers und einer zum Judentum konvertierten Katholikin, wurde mit seinem Debütroman über einen Teenager, der die ErwachsenenWelt verachtet, berühmt. Doch er versuchte dem Rummel zu entkommen, zog sich aufs Land zurück und mied den Kontakt zu Mitmenschen weitgehend (ausser wenn er sich schwärmerisch und meist brieflich Teenager-Mädchen näherte). Nach 1965 hatte er nichts mehr veröffentlicht. Er wurde zum Mysterium. Immer wieder suchten ihn Journalisten auf. Allein schon die banalsten Informationen wie ein Foto seines Briefkastens liess Fans hyperventilieren. Den Eindruck eines Besessenen bekommt man auch bei Shane Salerno. Sein Film ebenso wie das Buch zum Film, für das er David Shields als Co-Autor beizog, sind durchdrungen davon. Sie haben tatsächlich einiges neues Material gefunden, aber in literaturhistorischer Hinsicht bleibt der Erkenntnisgewinn bescheiden. Schlimmer ist allerdings, wie sie viele pure Mutmassungen und Hörensagen als Fakten hinstellen. So der Hinweis, dass Sylvia Welter – eine deutsche Ärztin, die Salinger im Mai 1945 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Mai 2015 PAUL FITZGERALD / KEYSTONE Von Regula Freuler US-Autor J. D. Salinger spielt mit seinem Hund Benny. Nach dem Erfolg seines Debütromans «Der Fänger im Roggen» (1951) zog er sich aufs Land zurück und vermied den Kontakt zu Mitmenschen. in Bayern kennengelernt und im Oktober geheiratet hatte – mit der Gestapo kollaboriert habe; dies sei der Grund für die 1946 erfolgte Scheidung gewesen: reine Spekulation. Auch sind sie aufgrund von Aussagen Befragter überzeugt, dass Salinger mindestens einen Roman und weitere Schriften hinterlassen habe. Die Nachlassverwalter – sein Sohn Matthew und seine dritte Frau Colleen O’Neill – haben dem zwar nicht widersprochen, es aber auch nicht bestätigt. Viel zu sehr versteifen sie sich auch auf die Behauptung, dass «Der Fänger im Roggen» in Wahrheit der Anti-Kriegsroman eines Soldaten mit posttraumatischer Belastungsstörung sei. Dabei hatte Salinger die Figur des Holden Caulfield bereits in der Erzählung «Slight Rebellion Off Madison» verwendet, an der er seit 1940 arbeitete und die er 1941 beim «New Yorker» einreichte; erste Kriegshandlungen erlebte er 1944 am D-Day. Viele Spekulationen Eine andere These, die Salerno/Shields breitwalzen, betrifft Salingers Sexualität: Laut einer indirekten Quelle habe Salinger Hemingway 1944 in Paris anvertraut, nur einen Hoden zu haben. Die Biografen geben das als Tatsache wieder und behaupten, dieser körperliche «Mangel» habe letztlich Salingers Werk geprägt, weil es einer der Hauptgründe seiner Vorliebe für Teenager-Mädchen gewesen sei. Aber: Salinger hat zwei Kinder gezeugt und mit verschiedenen Frauen verkehrt, und keine berichtete von einer physischen Anomalie. Ausführlich sind die Schilderungen des Kriegseinsatzes unter anderem der vierten Division, in der Salinger gekämpft hat. Er war 299 Tage im Einsatz und gehörte zu den ersten, die im KZ Kaufering IV, einem Nebenlager von Dachau, eintrafen. Als Agent des Nachrichtendienstes verhörte er nach Kriegsende gefangene Deutsche und mutmassliche zivile Kollaborateure. Was er in dieser Zeit erlebt hat, muss zweifellos Spuren beim 25-Jährigen hinterlassen haben. 1945 lieferte er sich wegen Erschöpfung selbst in Nürnberg ins Krankenhaus ein. Die überstürzte Hochzeit mit Sylvia mag in dieses Kapitel gehören. Aber auch hier nehmen Shields und Salerno Mutmassungen als Fakten und inszenieren die Schlachten mit dramatischem Trara. Was die Lektüre massgeblich erschwert, ist die chaotische Zitate-Weise. Um wen es sich nun bei den 200 Interviewten handelt, muss man stets hinten nachschlagen, und nicht immer wird man fündig. Bei einigen ist überhaupt nicht nachvollziehbar, warum sie beigezogen wurden. Manche Quellen werden angegeben, viele aber auch nicht, und so wissen wir etwa bei Aussagen von Salingers ehemaliger Geliebten Joyce Maynard nicht, ob Shields/Salerno aus ihren Memoiren zitieren oder aus einem Interview mit ihr. Auch mischen die Co-Autoren ihre eigenen Schlussfolgerungen – vielmehr: Schubladisierungen – immer wieder zwischen die Aussagen der Befragten und Zitierten. Geordnet haben sie ihr Buch nach der hinduistischen Vedanta, einer Richtung der indischen Philosophie, mit der sich Salinger stark auseinandersetzte. Auch hier verfahren die Autoren nach ihrem üblichen Muster: Sie giessen ihre Spekulation in eine feste Form. Das Ergebnis ist ein unübersichtlicher Wust an Informationen; mit einer sorgfältig geschriebenen Biografie hat das nichts zu tun. ● Sport Die erfolgreiche deutsche Schwimmerin Sandra Völker schreibt über ihren Aufstieg und den Fall vom Podest – bis zur Hartz-IV-Empfängerin Zuverkaufen:Olympiamedaille Sandra Völker: An Land kannst du nicht schwimmen. Orell Füssli, Zürich 2015. 256 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 22.–. Von Kathrin Alder Weltmeisterschaften im Schwimmen, Januar 1998 in Perth (Australien): Sandra Völker (in der Mitte). CHRISTROF STACHE / AP Wie fühlt es sich an, eine olympische Silbermedaille zu erschwimmen und diese 18 Jahre später wieder zu versteigern, weil die Insolvenzverwalter alles zu Geld machen, was sie finden? Wie fühlt es sich an, unzählige Male zur Nationalhymne auf dem Podest gestanden zu haben, Jahre später aber Hartz IV beantragen zu müssen? Sandra Völker, eine der erfolgreichsten Schwimmerinnen Deutschlands, weiss es. Es ist ihre Geschichte, sie hat sie in einer Biografie zu Papier gebracht. Und sie greift darin einige interessante Themen auf. Die Verarmung von erfolgreichen Profisportlern etwa, ein Phänomen, das häufig vorkommt, auch in publikumswirksamen Sportarten. Völkers Profikarriere begann in einer Zeit, in der Sportgymnasien kaum vorhanden waren. Sie musste dafür kämpfen, neben ihrem Training das Abitur absolvieren zu dürfen. Schon früh entschied sie sich dafür, am Olympiastützpunkt in Hamburg zu trainieren, weil ihr dort unbeschränkt «Wasserzeiten» garantiert wurden. Zu dieser Zeit hatte sie schon einige Titel gewonnen, freie Trainingszeiten im Wasser indes standen ihr erst mit 16 Jahren zur Verfügung. Schon damals begann sie, gegen die vorherrschenden verkrusteten Strukturen aufzubegehren. Ein aufreibender Kampf, der ihre Karriere begleiten sollte und den sie gemeinsam mit Dirk Lange bestritt, ihrem damaligen Trainer und langjährigen Lebenspartner. Die beiden probierten neue Trainingsansätze aus, schauten über den Tellerrand, liessen sich von anderen Sportarten inspirieren. Den Funktionären des Deutschen Schwimmverbands passte das nicht. Obwohl das Duo Völker/Lange grosse Erfolge feierte, warfen ihm die Funktionäre immer wieder Knüppel zwischen die Beine: Als Völker an die Olympischen Spiele in Atlanta reiste, musste ihr Lange auf eigene Kosten folgen. Er wurde nicht als Bundestrainer nominiert und hatte dementsprechend auch keinen Zugang zum Athletenbereich. Völker holte dennoch Olympiasilber. Ein weiteres Thema, das Völker an ihrer eigenen Geschichte aufzeigt, ist das ewige Bemühen um finanzielle Mittel. Diese gehen Hand in Hand mit den Erfolgen – was aber macht man, wenn man sich erst noch beweisen muss? Die besten Trainingsvoraussetzungen kosten schliesslich Geld. Doch auch Erfolge feien die Spitzensportler nicht vor dem Fundraising. Im Gegenteil, Geldflüsse versiegen schnell. Mit dem Erfolg steigt auch der Druck. Völker hielt ihm mehrheitlich stand, aber auch bei ihr äusserte er sich irgendwann körperlich: Sie kämpfte mit Rückenproblemen und am Ende gar mit Asthma, das bei Schwimmern wegen des chlorhaltigen Wassers häufig vorkommt. Sandra Völker beschreibt ihre Karriere authentisch. Man spürt ihre Leidenschaft für den Schwimmsport und glaubt ihr, dass sie gemeinsam mit Lange Pionierarbeit geleistet hat. Auch das Aufreiben am Schwimmverband und die Stehauffrau nimmt man ihr ab, sonst hätte sie es nicht so weit gebracht. Leider aber bleibt sie sprachlich allzu oft dem Sportlerjargon verhaftet und bemüht allerlei Plattitüden. Wie es sich fernab aller «Wer-hinfällt-steht-wieder-auf»-Weisheiten anfühlt, eine ganze Karriere mitsamt Olympiamedaille versteigern zu müssen, weil das Geld nicht einmal mehr für die nötigsten Einkäufe reicht, erfährt der Leser nicht. Genauso wenig, wie es ist, den Lebenspartner als Trainer zu haben; auch dann noch, als die Beziehung längst in Scherben liegt. Zwar schneidet Völker all dies an, eine glaubwürdige Tiefe bleibt sie dem Leser aber schuldig. Herausgekommen ist eine Biografie, wie sie viele Sportler vor ihr schon geschrieben haben – trotz aussergewöhnlicher Lebensgeschichte. ● Psychotherapie Plädoyer für einen schulübergreifenden integrativen Ansatz Dialog statt Abgrenzung Rainer Matthias Holm-Hadulla: Integrative Psychotherapie. Klett-Cotta, Stuttgart 2015. 143 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 25.90. Von Brigitte Boothe Nicht jeder Patient fühlt sich in einer Psychotherapie gut aufgehoben. Nicht jeder fasst Vertrauen oder findet die Kraft zur Veränderung. Mancher erwartet Wunder, die es nicht gibt. Und doch hilft Psychotherapie den Menschen, das belegt die Forschung seit langem, auch Patientenbefragungen zeigen das deutlich. Psychotherapie ist ein wichtiger Teil des Gesundheitssystems, bei Ausfällen am Arbeitsplatz und Überforderung im Alltagsleben spielen Depressionen inzwischen eine Hauptrolle. Doch welche Therapeuten sind brauchbar? Welches ist die beste Methode? Ist Verhaltenstherapie erfolgreicher als zum Beispiel Psychoanalyse oder systemische Therapie? Nein, sagt die Wissenschaft, jede Methode hat ihre Vorzüge. Warum also nicht Integration statt Konkurrenz, Dialog statt Abgrenzung? Rainer Matthias Holm-Hadulla, therapeutisch langjährig erfahren und als Professor an der Universität Heidelberg interdisziplinär engagiert, plädiert für «integrative Psychotherapie». Er ist nicht der einzige, und so erwähnt er unter anderem den prominenten Psychotherapieforscher Klaus Grawe, der seinerzeit den Therapeuten empfahl, von der «Konfession zur Profession» zu gelangen und ideologische Enge zu überwinden. Holm-Hadullas Buch stellt nicht nur zwölf eindrucksvolle Fallbeispiele vor, an denen er die Fruchtbarkeit seines integrativen Vorgehens illustriert, sondern porträtiert sich immer auch selbst als Therapeuten. Er zeigt, wie eine aussichtsreiche Zusammenarbeit entsteht, wie man dem Patienten dabei helfen kann, sein Alltagsleben zu verbessern und wie man eingefahrene negative Denkmuster ausser Kraft setzen kann. Ebenso geht es um die unbewusste Dynamik der psychischen Konflikte und – dies ist dem Kreativitätsforscher wichtig – um das jeweils individuelle Potenzial, den unverwechselbar eigenen Lebensentwurf zu finden und geltend zu machen. Der Therapeut soll im besten Sinn «gebildet» sein, ganz im Sinne Goethes, über den Holm-Hadulla leidenschaftlich forscht: «Sich mitzuteilen ist Natur; Mitgeteiltes aufzunehmen, wie es gegeben wird, ist Bildung.» In diesem Sinn vermitteln die 12 Geschichten Bildung. ● Brigitte Boothe ist emeritierte Professorin für Psychologie der Universität Zürich. 31. Mai 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Schweiz Ein Thesenbuch zum Niedergang der FDP ist bereits von der Realität überholt ZickzackkursundliberalerFrühling Alan Cassidy, Philipp Loser: Der Fall FDP. Eine Partei verliert ihr Land. Rotpunkt, Zürich 2015. 215 Seiten, Fr. 39.90. Von Urs Rauber Es gibt Bücher, die goldrichtig liegen, weil sie ein Ereignis exakt vorhersagen oder treffend den Zeitgeist wiedergeben. Und es gibt Bücher, die bereits beim Erscheinen von der Realität überholt sind. Dazu gehört das Buch der beiden Journalisten Alan Cassidy (32, «Schweiz am Sonntag») und Philipp Loser (35, «TagesAnzeiger»). Hätte ihre These vom «unaufhaltsamen» Niedergang der «FDP. Die Liberalen» vor einem halben Jahr noch eine gewisse Plausibilität genossen, legte die Totgesagte seit Januar 2015 in sämtlichen fünf Kantonalwahlen (BL, LU, AR, ZH, TI) markant zu. Und für die Nationalratswahlen im Herbst 2015 wird die Partei von Demoskopen ebenfalls als Gewinnerin gehandelt. Was nun? Richtig liegen die Autoren mit der Analyse des FDP-Niedergangs in den letzten 30 Jahren. Die einst erdrückende freisinnige Dominanz in Wirtschaft, Militär, Politik und Gesellschaft, die seit 1848 bis Ende der 1970er Jahre andauerte, erodierte spätestens in den 1980er Jahren mit dem Abflauen des Kalten Krieges, der Fichenaffäre (für die die Autoren fälschlicherweise die 1988 zurückgetretene FDP-Bundesrätin Elisabeth Kopp statt CVP-Vorgänger Kurt Furgler verantwortlich machen), der EWR-Niederlage 1992 sowie dem Aufstieg der SVP unter Christoph Blocher, die 1999 erstmals die FDP als führende bürgerliche Partei ablöste. Dass schliesslich das Swissair-Debakel den Freisinnigen angelastet wurde, war ebenfalls Blocher zu verdanken, der im Mai 2001 – ein halbes Jahr vor dem Grounding – in einem grossen «TagesAnzeiger»-Artikel erstmals vom «FDPFilz» schrieb. Der Fall Swissair – ein Fall FDP: Diese Version wurde von der politischen Linken und manchen Medien dankbar übernommen. Wird die äussere Geschichte der FDP ausführlich nachgezeichnet, fehlen leider fast ganz die föderalistische Innen- sicht sowie Parteiinterna. Was erzählt wird, ist weitgehend bekannt. Das Thesenbuch enthält zudem Wiederholungen und viele Zeitsprünge, nicht alles ist kongruent dargestellt. Peinlich wirkt der Niedergangsduktus dort, wo das Trauermodell von Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross bemüht wird, um «verblüffende Parallelen» zur FDP-Entwicklung aufzuzeigen. Den Autoren scheint entgangen zu sein, dass sich die Partei nach dem unglückseligen «Zickzackkurs» von Franz Steinegger unter Fulvio Pelli (Präsident 2005–2012) organisatorisch und programmatisch erneuert hat (Fusion mit den Liberalen, Weissgeldstrategie, Abschied vom EU-Beitritt, Positionierung rechts der Mitte). Und komplett falsch liegen Cassidy und Loser mit der Zeichnung von Philipp Müller als «Verwalter des Niedergangs» (ab April 2012). Hat doch gerade er die FDP – wie jüngste Analysen zeigen – wieder volksnäher, jünger und weiblicher gemacht. Wieder einmal hat die Praxis eine scheinbar richtige «Theorie» widerlegt. ● Das amerikanische Buch Krise der amerikanischen Unterschichtsjugend Der Befund schockierte Silvas Doktorvater. Robert Putnam war in Port Clinton aufgewachsen und hatte dort 1959 die Highschool abgeschlossen. Der bedeutende Soziologe erinnerte sich an einen prosperierenden Industriestandort mit sozial gemischten Nachbarschaften und guten Schulen, von denen aus auch Arbeiterkinder wie er selbst erfolgreiche Laufbahnen in vielerlei Berufen antraten. Wie Putnam im Nachwort seines neuen Buches schreibt, gab der Schock Anlass für eine umfassende Recherche über die Lebensaussichten junger Amerikaner. Dazu reiste ein Harvard-Team über zwei Jahre lang in alle Regionen der USA. Das Ergebnis trägt den Titel Our Kids. The American Dream in Crisis (Simon & Schuster, 2015, 384 Seiten) und lässt sich auf einen Satz reduzieren: Port Clinton ist überall. 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Mai 2015 2012) bereits getan. Auch Putnam nennt den Kollaps der Industrie und drakonische Strafgesetze als Ursachen für die Krise der amerikanischen Jugend. Wichtiger ist ihm jedoch die Analyse der Zusammenhänge, die «Kids» aus unteren Schichten so viele Hürden in den Weg stellen. SPENCER PLATT / GETTY IMAGES Interviews für ihre Doktorarbeit über das Leben heranwachsender Amerikaner führten die Harvard-Studentin Jennifer Silva zuerst nach Port Clinton, Ohio. Anfang 2012 fand sie in der Kleinstadt am Erie-See zwei Welten vor: Von Eltern umsorgt, in guten Schulen erzogen und in sicheren Nachbarschaften aufgewachsen, planten Jugendliche aus der oberen Mittelklasse ihren Universitätsbesuch. Ärmere Teenager steckten dagegen ratlos in einem endlosen Kampf um das schiere Überleben. Ihr Alltag war häufig von chaotischen Familienverhältnissen, Drogen, Misshandlungen und Kriminalität geprägt. Aussicht auf eine akademische Bildung und damit sozialen Aufstieg hatten nur die wenigsten. In den USA kämpfen Teenager aus ärmlichen Verhältnissen oft ums schiere Überleben. Obdachloser in New York 2013. Autor Robert Putnam (unten). Putnam gilt spätestens seit seinem Aufsatz «Bowling Alone» von 1995 als führender Vertreter seines Fachs. USPräsidenten beider Parteien suchten das Gespräch mit dem 73-Jährigen. Mit «Our Kids» erweitert Putnam die seit der grossen Rezession von 2008/09 laufende Diskussion über die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft in eine wohlhabende Minderheit und eine zunehmend chancenlose Mehrheit um einen wertvollen Beitrag. Übersichtlich in Kapitel wie «Eltern», «Schulen» und «Gemeinschaften» gegliedert, rückt das Buch Interviews mit Jugendlichen aus armen und reichen Familien in den Mittelpunkt. Dazufügt der Soziologe in klarer Sprache seine Forschungsergebnisse. Wie die «New York Times» kritisiert, führt Putnam keine «Schuldigen» für schwindende Aufstiegschancen und zerbrechende Familien vor. Dies haben Ökonomen wie der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz («The Prize of Inequality», Diese erscheinen als ineinandergreifende Teufelskreise: Schlecht bezahlte und unsichere Jobs belasten familiäre Bindungen und machen dauerhafte Ehen zur Ausnahme. Geringe Einkommen führen zu Konzentrationen sozial Schwacher in von Drogen und Kriminalität geprägten Nachbarschaften. Kinder tragen das heimische Chaos in Schulen, deren Lehrer vorwiegend als Aufseher und nicht mehr erzieherisch tätig sind. Dazu kommen frühe Schwangerschaften und Vorstrafen, sowie das Fehlen persönlicher Netzwerke und Mentoren als Lebenshilfe. Damit ist eine Krise historischen Ausmasses umrissen, die zunächst die ohnehin benachteiligten Afroamerikaner erfasst hat. Nun ergreifen Chaos und Unsicherheit laut Putnam auch Weisse ohne höhere Bildung. Mit diesen Erkenntnissen löst Putnam in allen politischen Lagern Empathie für die «Kids» aus. Gespalten sind jedoch die Reaktionen auf seinen Katalog von Gegenmassnahmen: Staatliche Investitionen in Kindergärten, handwerkliche Ausbildung und die Betreuung lediger Mütter sind im anlaufenden Präsidentschaftswahlkampf Reizwörter für konservative Politiker. ● Von Andreas Mink Agenda Agenda Juni 2015 Art Brut Kreative Patienten Basel Mittwoch, 10. Juni, 19 Uhr Sarbacher liest Annemarie Schwarzenbach: Klassikerinnen der Weltliteratur. Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3. Info: Tel. 061 274 26 55. Freitag, 12. Juni, 20 Uhr Stückelabor Basel mit Katja Brunner, Michèle Roten und Wolfram Höll. Podium. Theater Basel, Theaterstrasse 7. Info: www.theater-basel.ch. Dienstag, 16. Juni, 19.30 Uhr Silvilo Blatter: Wir zählen unsere Tage nicht. Lesung, Fr. 15.–. Kulturhaus Bider & Tanner, Aeschenvorstadt 2. Karten: Tel. 061 206 99 96. Bern Dienstag, 9. Juni, 20 Uhr Mathias Binswanger: Geld aus dem Nichts. Fr. 15.–. Thalia, Spitalgasse 47/51. Reservation: Tel. 031 320 20 40. Der berühmte österreichische Psychiater Leo Navratil (1921–2006) wirkte viele Jahre lang in der Nervenheilanstalt Gugging, die 2007 aufgelöst und in ein Museum umgewandelt wurde. Er erkannte das künstlerische Potenzial mancher seiner Patienten und förderte es nach Kräften. Inzwischen zählen die Werke der Gugginger Maler und Zeichner zum Kanon der Art Brut. In vielen Büchern und Ausstellungen wurden sie dokumentiert. Nun liegt erstmals ein Kuriosum in gedruckter Form vor: Leo Navratil plünderte damals den grossformatigen, 1968 bei Bruckmann in München erschienenen Sammelband «Der Künstler und sein Bild der Welt», in den die Farbtafeln nach dem Usus der Zeit eingeklebt waren, und gab die Blätter seinen Patienten als Inspirationsquelle. Den bis auf die Texte kahlen Band aber verwendete er als «Gästebuch» für seine Klientel. Er liegt nun als prächtiges Faksimile vor. Unsere Abbildung zeigt ein «Kriegsschiff» von Johann Hauser, gemalt am 25. Februar 1970. Manfred Papst Johann Feilacher: Navratils Künstler-Gästebuch. Residenz, Salzburg 2015. 152 S., zahlreiche Abb., Fr. 45.40. Ausstellung im Museum Gugging 19.3. bis 23.8.2015. Bestseller Mai 2015 Belletristik Sachbuch 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Martin Suter: Montecristo. Diogenes. 320 Seiten, Fr. 33.90. Martin Walker: Provokateure. Diogenes. 432 Seiten, Fr. 34.90. Viveca Sten: Tod in stiller Nacht. Kiepenheuer & Witsch. 400 Seiten, Fr. 21.90. Jussi Adler-Olsen: Verheissung – Der Grenzenlose. DTV. 596 Seiten, Fr. 22.90. Milena Moser: Das Glück sieht immer anders aus. Nagel & Kimche. 224 Seiten, Fr. 26.90. Cecelia Ahern: Das Jahr, in dem ich dich traf. Fischer Krüger. 384 Seiten, Fr. 21.90. Lukas Hartmann: Auf beiden Seiten. Diogenes. 336 Seiten, Fr. 33.90. Tess Gerritsen: Der Schneeleopard. Limes. 416 Seiten, Fr. 28.90. Lucinda Riley: Die sieben Schwestern. Goldmann. 544 Seiten, Fr. 22.90. Lori Nelson Spielman: Morgen kommt ein neuer Himmel. Fischer Krüger. 368 Seiten, Fr. 21.90. Giulia Enders: Darm mit Charme. Ullstein. 288 Seiten, Fr. 18.90. Thomas Maissen: Schweizer Heldengeschichten. Hier + Jetzt. 240 Seiten, Fr. 29.00. Per Andersson: Vom Inder, der nach Schweden fuhr. Kiepenheuer & Witsch. 336 S., Fr. 21.90. Wilhelm Schmid: Gelassenheit. Insel. 118 Seiten, Fr. 12.90. Joachim Bauer: Selbststeuerung. Blessing. 240 Seiten, Fr. 28.90. Mahtob Mahmoody: Endlich frei. Ehrenwirth. 416 Seiten, Fr. 22.90. Kurt Lauber: Matterhorn, Bergführer erzählen. Droemer/Knaur. 304 Seiten, Fr. 31.90. Katrin Bentley: Allein zu zweit. Wörterseh. 224 Seiten, Fr. 37.90. Jean Ziegler: Ändere die Welt! Bertelsmann. 288 Seiten, Fr. 22.90. Lukas Bärfuss: Stil und Moral. Wallstein. 235 Seiten, Fr. 27.90. Erhebung Media Control® AG im Auftrag des SBVV; 19.5.2015. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Sonntag, 21. Juni, 11 Uhr Lukas Hartmann: Auf beiden Seiten. Lesung. Zentrum Paul Klee, Monument im Fruchtland 3. Info: www.zpk.org. Zürich Donnerstag, 4. Juni, 19.30 Uhr Schweizer Literaturpreis 2015, mit Eleonore Frey und Guy Krneta. Fr. 18.–. Literaturhaus, Limmatquai 62. Info: Tel. 044 254 50 08. Freitag, 5. Juni, 20 Uhr Jörn Jacob Rohwer: Die Seismografie des Fragens. Gespräch. Fr. 25.–. Kaufleuten, Pelikanplatz 18. Karten: Tel. 044 225 33 77. Montag, 8. Juni, 19.30 Uhr Daniel Gut: Neidkopf – Naturgeschichte des Frontisten Hans Kläui. Buchhandlung Volkshaus, Stauffacherstrasse 60. Info: www.volkshausbuch.ch. Mittwoch, 10. Juni, 20 Uhr Siri Hustvedt: Die gleissende Welt. Lesung. Fr. 30.–. Schauspielhaus Zürich (Pfauen), Rämistrasse 34. Karten: www.schauspielhaus.ch. Donnerstag, 18. Juni, 19.30 Uhr Laurie Penny: Unsagbare Dinge. Fr. 18.–. Literaturhaus (siehe oben). Karten: Tel. 044 254 50 00. Dienstag, 30. Juni, 20 Uhr Ulrike Ulrich: Draussen um diese Zeit. Buchpremiere, Fr. 25.–. Kaufleuten, Pelikanplatz 18. Karten: Tel. 044 225 33 77. Bücher am Sonntag Nr. 6 erscheint am 28.6.2015 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 31. Mai 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 <wm>10CAsNsja1NLU01DU3sDQwsAQA9mel6Q8AAAA=</wm> <wm>10CFWKOwqAMBAFT5TwdpP9mVLSiYXYpxFr719J7CwGZmC2rUnGx9r3sx9NQoKSIYCYkdm0OXNGtQZhMEgWcihVLfb7Eyi0oIz5JEhiDPIpkOGV8nPdL8Z8IC9yAAAA</wm> Jet z t en le s 8 e b o 2 Pr i g i t al n z z .c h/d Mehr Kultur. NZZ Digital. Die «Neue Zürcher Zeitung» und die «NZZ am Sonntag» erhalten Sie in vertrauter Qualität und exakt gleichem Umfang und Inhalt für Smartphone, Tablet und Computer. 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