Weltgeschichte endlich verstehen lernen

Weltgeschichte
endlich verstehen lernen
oder
Warum historische Zufälle notwendig Sinn ergeben
von
alexander braidt
Letzte Druckversion vom Sonntag, 15. November 2015
© alexander braidt
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Inhalt
Vorwort
Die Aufgabe des Historikers – neu gestellt
I Schlüsselbegriffe für das Verständnis von Geschichte
1 Bewußtheit –
bedeutet als Anlage zunehmendes Dienstbarmachen der Natur
2 Arbeit –
wälzt sukzessive Natur und Gesellschaft um
3 Arbeitsteilung –
wirkt antagonistisch oder harmonisch – je nach System
4 Antagonismus –
des Weltkapitalismus, der sich in einem Katastrophenszenario entlädt
5 Rahmenbedingungen –
in Natur und Gesellschaft lenken unmerklich das Oberflächengeschehen
6 Menschenrechte –
werden nur im Maße des Niveaus der Vergesellschaftung verwirklicht
7 Umwälzung –
der kapitalistischen Nationalstaaten in eine soziale Weltrepublik
Resümee
II Entstehen eines Sinns der Weltgeschichte
1 Sieben Schlüsselperioden –
verraten eine immanente Tendenz
2 Chaotische und zufällige Wege –
suchen und finden das Nadelöhr möglicher Höherentwicklung
3 Richtung, Antrieb und Progression –
als Merkmale der Weltgeschichte
4 Entwicklungslogik –
wurzelnd im Widerspruchssystem von Mensch und Natur
Resümee
Die immanente Widerspruchsentwicklung der Weltgeschichte
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III Weltgeschichte
als progressive Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur
1 Konfrontation – zwischen Mensch und Natur
als prozessualer Rahmen der Menschheitsgeschichte
2 Antriebsformen – um den Widerspruch zwischen Mensch und Natur
zu entfalten und wie sie entstehen
3 Schlüsselperioden – der Weltgeschichte
und wie sie folgerichtig Sinn ergeben
4 Fortschritt – der Menschheitsgeschichte
und woran er sich erkennen läßt
Resümee
Gesamtresümee
Lehren der Weltgeschichte für die Gegenwart
1 Das Krebsgeschwür der exponentiellen Kapital- und Finanzakkumulation
und seine geschichtlichen Ursachen
2 Zahlreiche Varianten sind möglich, dies Krebsgeschwür in eine globale
Apokalypse zu verwandeln
3 Werktätige der Welt: Entmachtet die Geisel des Profits!
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Vorwort
Die Aufgabe des Historikers – neu gestellt
Bis heute leistet Wissenschaft zur Geschichte nicht das, was sie leisten könnte – nämlich nicht nur vager, sondern konziser Ratgeber für das politische
Handeln zu sein. Und warum? Weil sie sich seit langem damit begnügt, Geschichte bloß nachzuerzählen, abzubilden und zu schildern, was sich äußerlich ereignete. Sie tut das so genau wie möglich, berücksichtigt Randständiges oder Nebensächliches ebenfalls, verallgemeinert möglichst auch nicht –
sieht folglich Geschichte primär vom Zufall oder von Ideen beherrscht. Das
allein hält sie für Wissenschaft. Kurz: Statt wirkliche Wissenschaft zu sein –
was verlangte, Äußeres durch Inneres zu erklären, die Entwicklung zwischen
elementaren Gegensätzen und damit ihre Regelhaftigkeit aufzuspüren –, ist
Historiographie von heute gefangen in der Wiedergabe einer irrlichternden
Oberfläche; fachmännisch ausgedrückt: in der Ideologie des Positivismus
oder einer ahistorischen Soziologie. Diese Denkweise zeitigt einen unvereinbaren Widersinn.
Einerseits sei der Verlauf von Geschichte – sofern man alle verfügbaren Fakten berücksichtige – beliebig genau nachzuzeichnen; andererseits sei über
ihre Zukunft – eben wegen der Fülle beteiligter Faktoren und Ursachen –
keinerlei Vorhersage möglich. Zugegebenermaßen steht wegen der Komplexität historischen Geschehens Zukunft nie zwingend fest. Trotzdem sind es
viele, relativ stabile Rahmenbedingungen – wie Geographie, Fruchtbarkeit,
Entwicklungsgrad der Teilung der Arbeit, Stand von Wissenschaft und
Technologie usw. –, die die Vorhersage eines mehr oder minder wahrscheinlichen Verlaufs künftiger Geschichte zulassen: Denn relativ stabile Rahmenbedingungen wirken wie Einhegungen, die den mäandernden, verzweigten
Strom der Geschichte letztlich in eine bestimmte Richtung lenken. Die großen, (höchstwahrscheinlich) unvermeidlichen Entwicklungstendenzen der
Weltgeschichte zu verstehen, könnte und sollte darum Grundlage jeder verantwortungsvollen Politik sein, die den Aufgaben der Zukunft gewachsen
sein soll.
Unglücklicherweise entspricht ein bloß ereignisorientiertes Geschichtsverständnis zum Teil dem gesunden Menschenverstand, weil gemäß dem Augenschein die großen Umbrüche der Weltgeschichte von großen Ideen, großen Männern oder großen Erfindungen verursacht werden. Ihr Auftreten
scheint dem Zufall geschuldet. Wirklich groß werden Ideen aber erst, wenn
sie Ausdruck der bereits bestehenden Entwicklungstendenz von Wirtschaft
und Gesellschaft sind – wie Maynard Keynesʼ antizyklische Fiskalpolitik
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eine zwingende Antwort auf die Dauerkrise des Monopolkapitalismus war;
nicht wenn sie hinter der progressiven Zivilisationsrichtung zurückbleiben –
wie der Neoliberalismus der 1980er Jahre – oder ihr utopisch vorauseilen
wollen – wie der reale „Sozialismus“ des 20. Jahrhunderts. Groß wirken
Frauen und Männer erst, wenn ihre Taten die wegweisenden Aufgaben angehen, die gesellschaftliche Konflikte historisch auf die Tagesordnung stellen – wie Mahatma Gandhis indischer Antikolonialismus oder Nelson Mandelas Anti-Apartheidskampf; nicht aber wenn sie nur darin groß sind, fälschlich Konflikte auszutreten – wie Friedrich Ebert die Novemberrevolution –
oder anzuheizen – wie Kennedy den Vietnamkrieg. Groß werden Innovationen erst, wenn sie viele kleine, schon bestehende Entdeckungen der Gesellschaft zu einem radikal neuen Ganzen zusammenfügen – wie Tim BernersLees World-Wide-Web-Konzept; nicht aber, wenn sie Sackgassen der Technologieentwicklung noch zementieren – wie die Co2-Abscheidung oder das
Fracking.
Um zu verstehen, warum bestimmte Ideen, bestimmte Führer und bestimmte
Entdeckungen nur zu bestimmten Zeiten auftreten, müßten Historiker Gesellschaften gemäß der Entwicklungshöhe ihrer Arbeitsteilung und ihrer entsprechenden sozialen Hierarchie verstehen. Sie müßten auch unsinnliche
Sachverhalte aufspüren wie den unausrottbaren Antagonismus des Kapitals
und abstrakte Systemanalysen zur Wechselwirkung selbstregulativer versus
steuerbarer Systeme leisten wie etwa des Gegensatzes Markt versus Staat.
Systeme, die kein Mensch erfindet, die vielmehr rein sachlich durch den
Höhegrad gesellschaftlicher Arbeitsteilung sich etablieren. Dann erschienen
deplazierte Ideologien wie vom Bereicherungstrieb des Menschen und von
der unsichtbaren Hand, die stets das volkswirtschaftliche Optimum erbringe,
als das, was sie sind: als naheliegender Ausfluß eines jeweiligen Zeitgeistes.
In ihrer Mehrheit lassen Historiker bis heute jede Fähigkeit zur Analyse globaler Widersprüche vermissen. Zuallererst hätten sie offene Gegensätze –
zwischen Regierung und Volk, Wirtschaft und Politik, Arm und Reich, Tradition und Moderne usw. –, die in den Übergangsgesellschaften entstanden
sind, aufzudecken; sie hätten festzustellen, ob diese sich ausgleichen oder
zuspitzen; und sie hätten durch Vergleich der vielen geschichtlichen Strömungen – z. B. bezüglich Kooperation versus Konkurrenz der Arbeit in der
Gesellschaft, bezüglich der durch das Volk kontrollierten versus nicht kontrollierten Herrschaft, bezüglich der regionalen versus der nationalen versus
der supranationalen Zusammenarbeit – die letztendliche Richtung der globalen Entwicklung aufzuspüren. Diese Fähigkeit zur Unterscheidung von Wesen und Erscheinung, von langfristigen Rahmenbedingungen und ephemeren
Ereignissen ist allerdings so lange nicht zu erwarten, wie die Methode der
Geschichtswissenschaft primär im Atomisieren von großen Zusammenhän-
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gen besteht und daher bei der bloßen Aneinanderreihung von Einzelursachen
stehenbleibt.
Gleichzeitig widerspricht ein Geschichtsverständnis, das Zufall und Nichtvorhersehbarkeit verabsolutiert, glücklicherweise dem gesunden Menschenverstand. Denn daß seit dem Entstehen der Landwirtschaft trotz zigfacher
Sonderentwicklungen sich letztendlich auf der ganzen Welt eine kapitalistische Hightech-Gesellschaft abzeichnet, daß überall die kommunikative und
kooperative Vernetzung wächst, überall Sozialstaatsleistungen zur Norm
werden – diese allgemeinen Tendenzen in der neueren Geschichte sind kaum
zu leugnen. Wie sind nun solche – und viele andere – Entwicklungsrichtungen mit dem Dogma vereinbar, daß Geschichte grundsätzlich nicht prognostizierbar wäre, es keine mehr oder minder ausgeprägten Gesellschaftstendenzen gäbe?
Tatsächlich weist die gesamte Weltgeschichte noch weit mehr Merkmale der
Regelhaftigkeit auf als nur offen zutage liegenden Trends: Nämlich Schlüsselperioden, die keineswegs beliebig aufeinanderfolgen, die eine innere
Funktionslogik aufweisen, welche sich wiederum in einem zusehends gerichteten Entwicklungszwang äußert. Ich verkneife mir den Begriff des Entwicklungs„gesetzes“, weil der Begriff Gesetz gemeinhin mit der Vorstellung
von absolut und zeitlos gültig assoziiert wird, während es in der Geschichte
nur um ein – selbst veränderliches – „Gesetz“ der Wahrscheinlichkeit gehen
kann. Soll heißen: Geschichte könnte zumindest im besonderen immer auch
völlig anders verlaufen, als sie es tat. Worauf es ankommt, sind zukunftsweisende Gewichtsverlagerungen bei Klassen und Schichten: von der Mehrzahl
der Bauern zu den Industriearbeitern, zu den Angestellten und heute zu weitestgehender Lohnabhängigkeit. Worauf es ankommt, sind sich abzeichnende Kooperationen von ehemals souveränen Nationalstaaten – siehe entstehende Staaten-Unionen – sowie große Richtungen der Kommunikations- und
Staatsformentwicklung – wie Internet und direkte Formen der Demokratie.
Die tonangebende Historiographie hat bisher stets eine nahezu beliebige Offenheit der Geschichte betont, ja verabsolutiert. Sie sah wie mancher Laie
primär Zufälle walten, nur krudeste Ideologien herrschen, die zur Massenhysterie wurden, Rück- oder Sonderentwicklungen, unvorhersehbare Erfindungen – kurz: keinen verläßlichen Fortschritt im vielfältigen Wirbel widersprüchlichster Geschichtskuriosa. Sie war nie bereit, durch die Oberfläche,
den Schein und das regelmäßige Chaos zu dringen, um eventuell allgemeinere Entwicklungstendenzen und deren immanente Logik aufzuspüren. Solch
eine immanente Logik – vor allem in der Geschichte der Arbeit – läßt zwar
eine verwirrende Vielfalt an disparaten Interessen zu, wird aber indirekt doch
durch die widersprüchliche Entwicklung gesellschaftlicher Arbeit realisiert.
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*
Nicht nur die Wissenschaftler erst recht die Politiker heute und gestern lassen jedes Verständnis für die jeweils neuen Gesellschaftsstrukturen vermissen, die sich unter der brodelnden Oberfläche von widersprüchlichsten Interessenskonflikten durch die stumme Gewalt der Technologie- und Arbeitsentwicklung anbahnen. Weil dem so ist, lautet auch heute wieder die für die
Wohlfahrt der Menschen ausschlaggebende Frage: Kommt die Einsicht der
Völker und ihrer Eliten vor der Explosion der sozialen Widersprüche oder
weiterhin erst hinterher – wie 1918 und 1945?
Jeder kennt das Paradebeispiel für diese Alternative: Die Französische Revolution vollzog nur als erste in Europa den radikalen Bruch der aufstrebenden
bürgerlichen Gesellschaft mit der Feudalherrschaft. Mit dem Verfassungsstaat und der Formulierung allgemeiner Menschenrechte verlieh sie der Gesellschaft zwar eine neue Gestalt – doch damit hatten weder Verfassung noch
Gesetz bereits die bürgerliche Enge überwunden. Nach dem imperialen
Hegemoniestreben Napoleons und der folgenden Reaktion in Gestalt der
Heiligen Allianz flammte dafür 1848 erneut der bürgerliche Kampf um Liberalismus und Demokratie auf – diesmal ganz Europa erfassend. Dies zeigte
unmißverständlich:
Bei der „ersten“ radikal bürgerlichen Revolution handelte es sich um kein
zufälliges, landesspezifisches Ereignis, sondern sie kündigte einen allgemeinen, zwangsläufigen Prozeß der gesellschaftlichen Entwicklung an. Aus vielerlei Gründen scheiterte diese europäische Revolution auf ganzer Linie: Das
große Bürgertum sah seine Interessen durch eine Monarchie bereits besser
gewahrt und genoß aristokratische Privilegien, das kleine Bürgertum
schwelgte in zünftigen Utopien, die entstehende Arbeiterschaft war noch zu
schwach und die Angst des Bürgertums vor deren kommender Stärke zu
groß. Ganz allgemein waren die gesellschaftlichen Produktivkräfte des industriellen Kapitalismus noch viel zu unterentwickelt. In der Folge taten die
feudalstaatlichen Reformen von oben das ihre, um das Bürgertum zur Identifikation mit den imperialen Monarchien zu verhelfen und die Arbeiterbewegung mit Zuckerbrot und Peitsche handsam zu machen.
Als daher endlich die historische Stunde schlug – 1914 –, da die mächtige,
europäische Arbeiterbewegung geführt von ihren sozialdemokratischen Parteien die bürgerliche Revolution vollenden und ihr eine soziale Richtung hätte geben können, da versagte sie bodenlos. Jahrzehntelang hatte vor allem
die deutsche Sozialdemokratie, die für alle sozialistischen Parteien Europas
zum großen Vorbild geworden war, gegen jeden bürgerlichen Nationalismus,
gegen Imperialismus und Militarismus gekämpft, hatte vorbildlich die chauvinistische Annexion Elsaß-Lothringens von 1871 verurteilt und eine demo-
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kratische Abstimmung über dessen Zukunft angekündigt. Einzig der französische Arbeiterführer Jean Jaures – der dafür mit seinem Leben bezahlte –
hielt die Fahne des sozialistischen Antimilitarismus hoch, der zu folgen, der
geschichtliche Auftrag der SPD gewesen wäre.
Als sie endlich ihrer Bestimmung hätte gerecht werden müssen, dem imperialen Wahnwitz verfaulter, militärdespotischer Autokratien ein Ende zu bereiten, einem tumben, geschichtsblinden Schwadroneur wie Kaiser Wilhelm
II. und seiner Kamarilla in den Arm zu fallen, da verkauft sie ihre Seele und
stimmt den Kriegskrediten zu; da fällt sie auf den dummdreisten Bauernfängertrick vulgo „Vaterlandsverteidigung“ herein: Ein säbelrasselndes, andere
Völker schmähendes „Vaterland“, das dem Vielvölkergefängnis Habsburg
gegen das finstere Imperium des Zaren hilft, freiheitssuchende Völker niederzuhalten und dessen „Verteidigung“ im Überfall auf neutrale Länder besteht.
Zweifelsohne hätte die deutsche Sozialdemokratie bei einer Verweigerung
der Kriegskredite und einem zivilen Widerstand gegen Mobilisierung und
gegen jede Kriegsproduktion einen Bürgerkrieg riskiert. Doch kein Bürgerkrieg, weder der schreckliche der Französischen Revolution noch der russische nach der Oktoberrevolution, nahm je die infernalischen Ausmaße an
wie der Erste und Zweite Weltkrieg. Beide gehören zusammen, denn der
Zweite Weltkrieg war nichts als der faschistisch-atavistische Versuch, die
Weltherrschaftspläne, die dem halbfeudalen Wilhelminischen Despotismus
mißlungen waren, noch barbarischer umzusetzen. Beide gebaren auf dem
Katastrophenwege das, was sie verabscheuten: Die soziale Republik – zwar
eine bürgerliche, aber immerhin sozial. Daß ein Weltkrieg, ein die Arbeiterbewegung demoralisierendes Massenschlachten drohte, davor aber war seit
Jahrzehnten gewarnt worden. Nicht genug: Indem die SPD nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg Arm in Arm mit dem Rest der desolaten, reaktionären Kräfte ihre eigene Anhängerschaft und damit die entstandene, soziale
Revolution füsilierte, verhalf sie ihren Todfeinden auf den Weg in die rassistisch-antihumane Diktatur des Faschismus. Ursache für diese Kastration der
sozialistischen Bewegung war, daß die Führung der Sozialdemokratie endlich anerkanntes Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft sein und ihre errungenen Privilegien nicht mehr missen wollte. – Inzwischen hält sie die Kapitalherrschaft nicht mal mehr in Worten für überwindenswert. (Siehe dagegen
die Rechtfertigung sozialdemokratischer Anpassungshaltung bei H. A.
Winkler in „Geschichte des Westens“).
Von dieser Selbstentmannung – beginnend mit der Absegnung der Kriegskredite 1914 – hat sich die SPD nie mehr erholt. An allen historisch entscheidenden Stationen der deutschen Geschichte versagte sie fürderhin, indem sie ihre ursprüngliche, sozialistische Bestimmung verriet: In der No-
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vemberrevolution 1918, beim Kapp-Putsch und dem folgenden Ruhraufstand
1920, nach der Weltwirtschaftskrise 1929, vor der Machtergreifung Hitlers
1933, während der Naziherrschaft und nach dem Krieg in der Frage Westbindung oder Neutralität der BRD; heute indem sie globalem Neoliberalismus und einer Bankendiktatur zur Seite steht. Stets war ihre wegweisende
Haltung: Den politischen Gegner nur nicht zu sehr reizen, keine Konfrontation, wenn es kritisch wird: Entgegenkommen. Mit dieser Strategie hat sie
den Leidensweg der europäischen Völker und speziell der Arbeiterschaft um
fast ein Jahrhundert verlängert.
Doch nicht nur die deutsche, wenn auch hauptverantwortlich, sondern die
ganze europäische Arbeiterbewegung hat 1914 die einmalige Gelegenheit
verpaßt, der Welt zwei Weltkriege zu ersparen. Durch entschlossene Friedenspolitik dem Chauvinismus maroder Dynastien widerstehend hätte die
europäische Sozialdemokratie eine wahrhaft soziale Republik mit demokratisch kontrollierter Wirtschaft und wehrhaften, rechtsstaatlichen Kräften begründen können. Europaweit wurde diese Tür erst ab 1989 wieder geöffnet –
und wieder nicht genutzt. Inzwischen aber ist die Periode nationaler, sozialistischer Revolutionen im Großen Ganzen vorbei. Eine kommende, sozial
und kreativ arbeitende Gesellschaft kann nur mehr auf zumindest europäischer Ebene durch Entmachtung der Finanz- und Marktdiktatur errungen
werden. Allerdings wird die verbliebene industrielle Arbeiterschaft unmöglich noch emanzipatorisches Subjekt sein. Heute gebietet der nächste Entwicklungsschritt: Die große, produktive Mehrheit lohnabhängiger Menschen
muß den Profitterror des globalen Bankensystems überwinden. Die internetbasierten Bewegungen der „Entrüsteten“ in aller Welt sind Vorboten davon.
Denn nur, wenn die Lebenswürde aller Menschen vor jeder Ideologie des
Marktes oder Privateigentums rangiert, statt als Almosen spärlich nachgereicht zu werden, kann dieses erste Menschenrecht erfüllt werden.
Eine Geschichtsschreibung, die nur am Detail und an der politischen Konformität klebt, wird nie weiter reichen, als dem unverstandenen Wahnwitz
totalitärer Systeme abstrakt die hohe Moral der Menschenrechte entgegenzusetzen. Denn ihr bleibt das rein machtpolitische Verschleppen einer unvermeidlichen Revolutionierung der Gesellschaft unverständlich, die gemäß der
Technologieentwicklung jeweils notwendig gewesen wäre. Doch sowohl
1815 bis 1848 (Vormärz der europäischen Revolution), wie 1848 bis 1914
(Siegestaumel des entstehenden Deutschen Kaiserreiches) und selbst 1918
bis 1945 (Faschismus nutzt das Revolutionsversagen) blieb eine progressive
Neuordnung aus. Eben dies repressive Aufrechterhalten der jeweils alten
Gesellschaft löste die Zivilisationskatastrophen aus – nicht das soziale Programm der aufstrebenden Gesellschaft.
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Der affirmativen Geschichtsschreibung entgegen wird die folgende Darstellung zeigen – hoffentlich überzeugend –, daß Weltgeschichte zunehmend
einen wahrscheinlichen, gerichteten Verlauf nimmt. Ihm hätte zeitgemäße
Politik zu entsprechen. Auch wenn die politischen Systeme der Erde heute
noch sehr verschieden sind – von Militärdiktaturen bis zu sozial-liberalen
Demokratien –, längst ist klar, daß ökonomisch die bürgerliche, kapitalistische Wirtschaftsweise die wahre Macht ausübt oder noch vollständig erringen wird. Auf Dauer nämlich sind die sozialen Folgen wissenschaftlichtechnologischen Fortschritts ohne Rechtsstaat, ohne zumindest parlamentarische Demokratie und ohne eine soziale Komponente von Marktwirtschaft
nicht kompensierbar – was im 21.Jahrhundert Rußland, China, Indien und
selbst die USA noch schmerzhaft erfahren werden.
Der Gewinnzwang, der jede dieser Marktwirtschaften durchdringt, fördert
darüber hinaus nicht nur zunehmend eine soziale Spaltung und treibt in
kaum vermeidbaren, periodischen Krisen Mensch und Umwelt an den Abgrund. Er zwingt gleichzeitig zum immer umfassenderen und gründlicheren
Einsatz interdisziplinärer Wissenschaft und bewußt kooperierenden Technologien, die vereint zu guter Letzt sogar den globalen Markt entmachten werden. Daher wird Weltgeschichte wegen des zunehmenden Höhegrades der
global kontrollierten Teilung der Arbeit – sprich wegen der informationsgesteuerten Vergesellschaftung der Arbeit – sukzessive in eine klassenlose,
gemeinwirtschaftliche und direkt-demokratische Weltrepublik münden. Erneut kann nur eine wahrhaft globale Katastrophe dies noch verhindern.
Schließlich wird sich die entscheidende Frage stellen: Wer alles will eine
solche Apokalypse auf sich nehmen, nur um die fortgesetzten sozialen, ökologischen und politischen Ungleichgewichte fortzusetzen?
Von der Einsicht in diese heraufziehende Alternative sollte auch die heutige
Quartals-Politik profitieren und sich von kurzsichtiger Interessenverfolgung
weg zu einem am menschheitlichen Nutzen statt am Bankenprofit orientierten Handeln bewegen. Erst dann wird eine Entwicklung der Menschheit
möglich, die friedlich vermittelnd Konflikte vorwegnimmt.
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I
Schlüsselbegriffe
Für das Verständnis von Geschichte
Zum Stellenwert
von sieben Schlüsselbegriffen
Wer sich mit Welt- und Menschheitsgeschichte gründlicher auseinandersetzt,
wird nicht umhin kommen, bestimmte Begriffe immer wieder verwenden zu
müssen wie etwa Bewußtheit, Arbeitsteilung, Menschenrechte usw. Ich nenne
dies Schlüsselbegriffe, weil ohne ihren Gehalt präzise zu bestimmen, auch
Weltgeschichte nicht treffend analysiert werden kann. Unter vielen solcher
Begriffe, die von Historikern allgemein verwendet werden, habe ich sieben
besonders wichtige ausgewählt, die meist diffus gebraucht werden. Darunter
sind auch Begriffe – wie der des Antagonismus des Kapitals und der der
Umwälzung einer Produktionsweise –, die selten verwendet werden, deren
Kenntnis aber für ein richtiges Verständnis gerade der jüngeren Geschichte
unerläßlich ist.
Warum überhaupt Bewußtheit als Schlüsselbegriff? Ist die Bewußtheit des
Menschen in einer Theorie der Weltgeschichte nicht selbstverständlich? Um
die geschichtlichen Folgen verstehen zu können, die das Einwirken des
Menschen auf die Natur offenbar hat, muß jedoch nicht nur die Prozeßweise
der Natur, sondern auch die davon sich abhebende des Menschen erkannt
sein. Bis heute wird in der Wissenschaft ernsthaft darüber gerätselt, ob der
Mensch vor allem Tier sei und daher wie alle lebendige Natur funktioniere,
oder ob er nicht über das Tier hinaus eine die biologische Evolution übersteigende, radikal neue Stufe des Lebens vorstelle. Doch selbst die, die in der
menschlichen Geschichte eine völlig unvergleichliche Entwicklungsform
jenseits biologischer Evolution erkennen, sind sich unklar darüber, was den
Menschen vor jedem Tier auszeichne: Sprache, Sozialverhalten, Werkzeuggebrauch, höhere Intelligenz oder Bewußtsein? Und selbst die, die mehr oder
minder zufällig auf das Richtige tippen – nämlich Bewußtsein – vermögen
nicht, wissenschaftlich exakt zu erklären, worin Bewußtsein besteht, wie es
funktioniere und daher allen andren genannten Merkmalen des Menschen
eine unvergleichlich effizientere Form verleihe als bei Tieren. Umso wichtiger, diesen Begriff hier erstmals anhand aller nicht ganz offensichtlichen
Phänomene menschlicher Psyche präzise zu bestimmen.
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70 000 Jahre lange zumindest reproduzierte sich der Mensch als Jäger und
Sammler auf der gleichen Stufenleiter. Es mußte also zur Bewußtheit ein
weiteres entscheidendes Ingrediens hinzukommen, damit die Menschheit sich
dynamisch und progressiv entwickeln konnte: Arbeit. Versteht sich nicht
auch Arbeit als Grundbedingung der Weltgeschichte von selbst? Und arbeiteten nicht schon Jäger und Sammler, indem sie sich mühen mußten, ihr
Überleben zu sichern?
(in progess)
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1
Bewußtheit
– bedeutet als Anlage fortschreitendes Dienstbarmachen der Natur
Jede Weltgeschichtsschreibung, die ernstgenommen werden will, muß von
der Sonderstellung des Menschen gegenüber der Natur ausgehen und diese
erklären.
Der Mensch ist keinesfalls nur ein sehr viel intelligenteres Tier. Er ist vielmehr das einzige „Tier“, das bewußt, daher extrem flexibel und vorausschauend handelt. Seine bewußte Denkfähigkeit verleiht ihm aber nicht nur
eine weit höhere Intelligenz als jedem Tier, sondern seine Intelligenzfähigkeit hat eine qualitativ höhere Stufe erreicht. Nur deswegen nehmen diese
Intelligenzleistungen während seiner Geschichte beschleunigt zu – obwohl
sein Gehirn wesentlich gleich bleibt –, während Tiere nie ein bestimmtes
Niveau überschreiten. Genau dieses außerbiologische Vermögen vergrößert
die Kluft zum Tier immer mehr. Deswegen paßt sich auch der Mensch nicht
mehr der Natur an – nicht primär –, sondern er benutzt und formt die Natur
radikal zu seinen Gunsten.
Entscheidende Frage, die nirgends beantwortet wird, muß daher sein: Was
macht den wesentlichen Qualitätsunterschied zwischen tierischem und
menschlichem Gehirn aus? Antwort: Kern ist der Autonomie-Charakter seiner Bewußtheit. Bewußtheit besteht nicht etwa im Hören, Sehen, Fühlen
usw. oder welcher Kognition auch immer – wie das Gros der Hirnforscher
bis dato steif und fest behauptet. Bewußtheit zeigt sich an der Möglichkeit,
sich Beliebiges beliebig lange vorzustellen. Dies Vermögen beruht auf einer relativen Autonomie der Gedanken, die unendlich flexibel und von einem bewußten Ich steuerbar sind. Dazu ist kein Tier auf Dauer fähig.
Diese Fähigkeit des Menschen wurzelt in der Verselbständigung eines winzigen Teils von überwiegend unbewußter Wahrnehmung (als Attraktoren
neuronaler Muster), der zunächst fürs Überleben besonders wichtig ist. Ansonsten geht alles Unbewußte primär spontan weil selbstorganisierend vonstatten und erbringt so die meisten hoch effektiven kognitiven Leistungen
wie Intuition, Assoziation, Kombination etc. Autonom geworden als „inneres Auge“ des Menschen wird aber das bewußt Vorgestellte steuerungsfähig,
indem es auf das Unbewußte zurückwirkt. All das bedeutet: Denk-Ziele
können nicht etwa gegen eine sich selbst regelnde Basis – sei es des Unbewußten oder der materiellen Außenwelt – durchgesetzt werden, sondern
letztlich nur in weitgehender Übereinstimmung mit ihr. Zusätzlich gebiert
die jetzt mögliche Wechselwirkung von Bewußtem (kausal arbeitend) mit
Unbewußtem (chaotisch prozessierend), die permanent stattfindet, auch ein
Kreativitäts-, Innovativ- und daher Entwicklungs-Potential der Menschheit,
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das absolut unbegrenzt ist. Warum? Durch diese Wechselwirkung wird die
„Schöpferkraft“ von Evolution auf rein informationeller Ebene imitiert.
Zur Grenze des Menschen wird allein die eigene Natur und Existenz – und
sogar die wird heute bereits zusehends in Frage gestellt.
*
Heißt das nun, daß mit dem Erscheinen des Homo sapiens, sofort „Wirtschaft und Gesellschaft“ permanent revolutioniert würden, wie seit Beginn
der Neuzeit? Offenkundig nicht. Denn Potential bedeutet nur eine Anlage!
Während des Großteils der Zeit, seit er Bewußtheit erlangt und Afrika verlassen hat (ca. 80 000 v. Chr.), lebte der Mensch mehr oder minder gleichförmig in kleinen Jagd- und Sammelgemeinschaften, indem er lediglich am
Überfluß der Naturprodukte sich bediente. Während mindestens 70 000 Jahre bis zum sporadischen, punktuellen Einsetzen landwirtschaftlicher Produktion setzte er sich also mit der Natur keineswegs systematisch, planmäßig
und fortschreitend auseinander – indem er Naturstoffe Tag für Tag zerlegt,
umgeformt und neu behandelt hätte –, sondern er profitierte vor allem von
seiner Naturbeobachtung. Auch wenn der frühe Mensch bereits die meisten
Großwildtiere Australiens und Amerikas ausrottete, so eignete er sich doch
nur fertige Produkte der Natur an. Damit also ein zunehmend progressiver
Stoffwechsel mit der Natur in Gang kommen konnte, mußte erst eine völlig
neue Weise der Auseinandersetzung mit der Natur gefunden werden: gesellschaftliche Arbeit.
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Arbeit
– die sukzessive Natur und Gesellschaft umwälzt
Vor der neolithischen Revolution – seit der Ausbreitung des Menschen über
Afrika hinaus – vollzogen die Jagd- und Sammelgemeinschaften keinerlei
Entwicklung. Warum?
Eben weil die Menschen noch nicht systematisch und geplant arbeiteten –
daher auch keine innovativen Nahrungsgüter und sonstige Produkte herstellten –, sondern sich vorwiegend den bestehenden Überfluß der Natur aneigneten. (Das schloß langsame Variationen auf gleicher Basis nicht aus.) Daher
der schier ewige Kreislauf dieser Reproduktionsweise. Jedenfalls konnte so
ein Markt und damit ein ökonomischer Wettbewerb gar nicht erst entstehen.
Ein solcher Kreislauf kann erst dadurch durchbrochen werden, daß erst einmal Landwirtschaft entsteht. Durch sie werden in einem regelmäßigen und
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planmäßigen Prozeß von Natur nicht vorgegebene Produkte hergestellt, also
auf effizientere Weise erarbeitet, so daß ein Überschuß gewonnen werden
kann. Trotzdem entwickeln sich auch frühe Formen der Landwirtschaft noch
sehr langsam.
Die geschichtsbestimmende Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur kann sich stofflich nur durch gesellschaftliche Arbeit entwickeln. Warum? Weil sich der Mensch gerade nicht mittels äußerst leistungsfähiger
Sinnesorgane der Natur anpaßt wie das Tier. Vielmehr macht er sich nach
und nach die Natur mittels eines unbegrenzt kommunikationsfähigen Gehirns zu eigen, das kooperatives Handeln erzwingt. Diese Aneignung der
Natur gelingt wesentlich durch die unendliche Variabilität der Wechselwirkung zwischen kreativer Kopf- und hochflexibler Handarbeit; eine Wechselwirkung die erst gemeinschaftlich optimal gefördert und genutzt wird.
Daher ist es unerläßlich, die widersprüchlichen Prozeßebenen von Arbeit
zu analysieren – will man die entstehende Richtung der Weltgeschichte erklären –, weil erst sie das unendliche Potential menschheitlicher Zukunft
verrät.
Arbeit weist von Anbeginn vier Gegensätze auf: erstens körperlich-geistig,
zweitens nützlich-energetisch, drittens geteilt-ungeteilt; und schließlich
kommt innerhalb der geistigen Arbeit noch der Gegensatz von irrationalrational bzw. phantasievoll-verstandesmäßig hinzu. Alle diese Gegensätze
der Arbeit werden großteils ganz unbewußt, nur zu einem geringen Teil auch
bewußt vollzogen. Gerade aufgrund der Bewußtheit des Menschen können
aber diese vier Gegensätze der Arbeit im krassen Unterschied zu jeder tierischen Aktivität extremst polarisiert werden – bis dahin, wie wir noch sehen
werden, wo Arbeit wieder aufhört, Arbeit zu sein.
Denn körperliche Arbeit kann durch geistige ersetzt werden bis hin zum Automaten, der nur noch der Kontrolle und Wartung bedarf; Arbeitsenergie
kann dabei mehr und mehr durch qualifiziert-nützliche Arbeit ersetzt werden, so daß sie gegen Null tendiert. Zwar verwandelt sich ursprünglich ungeteilte zunehmend in gesellschaftlich geteilte Arbeit – von der Dorfgemeinschaft zum städtischen Gewerbe; aber viele über die Gesellschaft verteilte
Arbeiten können auch wieder in einer Fabrik, ja letztlich mittels neuer Technologien in einem Automaten zusammengefaßt oder ersetzt werden. Und
schließlich gibt es Arbeiten, bei denen Phantasie den absoluten Vorrang hat,
der Verstand fast ausgeblendet werden muß – z.B. bei der Intuition des
Künstlers, Forschers oder Erfinders – wie es entgegengesetzt Arbeiten gibt,
bei denen die Phantasie geradezu unterdrückt werden muß – wie z.B. bei der
vorschriftsmäßigen Bedienung einer Werkzeugmaschine. Es ist dieser Widerspruch der sich heute in einem Entwicklungsgesetz äußerst: Die moderne
Zivilisation wird umso effizienter und innovativer, je stärker ein Höchstmaß
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an Phantasie mit einem Höchstmaß an Verstand wechselwirkend verbunden
ist.
All dieses dialektisch-logische Entwicklungspotential, das mit den ersten
Menschen gegeben ist, bleibt aber solange eine bloße Anlage, als keine natürlichen und kulturellen Rahmenbedingungen entstehen, die die Menschen
unabsichtlich verleiten, dieses Potential auch zu nutzen. Von Natur ist die
menschliche Gemeinschaft weit stärker veranlagt, Tradition zu bewahren
(siehe das Beharrungsvermögen der Naturvölker wie auch der antiken Hochkulturen bis zur Veränderungsscheu von Rechtspopulisten oder auch der
etablierten Technologien von heute – z.B. betreffs Atom, Kohle, Benzinmotor, Kommunikation) als sich in neue, unsichere Welten zu stürzen. Absichtlich und bewußt revolutioniert der vormoderne Mensch überkommene Arbeitstechniken so gut wie nie. Dies geschieht lange Zeit hinter seinem Rücken und bis heute oft wider Willen (siehe aktuell Bergleute, Kohlekraftwerke, Textilindustrie, Werftarbeiter usw.).
Wenn aber gemeinschaftliche Arbeit beginnt, die Naturstoffe, die Techniken
und damit die jeweilige Gesellschaft radikal umzugestalten – inbesondere
eine Arbeitsfunktion in viele, verschiedene aufzuteilen –, dann setzt das immer voraus, daß der Widerspruch zwischen Phantasie und Verstand unvorhersehbare Innovationen überhaupt erst ermöglicht. Darin gründet der
essentielle Unterschied zwischen Mensch und Tier: Nur mittels des autonomen Charakters von Bewußtheit vermag der Mensch phantastische Einfälle
des Unbewußten verständig aufzugreifen, ja vernünftig zu optimieren. Mit
diesem Widerspruch innerhalb der Kopfarbeit haben wir den ersten der Widersprüche in der Arbeit des Menschen ausgemacht. Sein kreatives Potential
erst, vermag auch die andern drei Widersprüche in Bewegung zu versetzen,
sie zu entwickeln; nicht zwingend aber der Substanz nach.
Diese kreative Denkarbeit führt deshalb – und dies ist ausschlaggebend –
unter geeigneten kulturellen oder zivilisatorischen Rahmenbedingungen zu
einem nützlichen Effekt; Rahmenbedingungen, die zum Teil erst geschichtlich entwickelt werden müssen – wie zum Beispiel in England der Klassenkompromiß in parlamentarischer Form zwischen niederem Landadel und
Bürgertum (Glorious Revolution) idealer Rahmen für den ungebremsten
Aufstieg des industriellen Kapitals wie auch der materialistischen Philosophie des Empirismus und Rationalismus war.
Schauen wir uns die andern drei Gegensätze menschlicher Arbeit etwas genauer an: Die mit den ersten Hochkulturen beginnende Abstraktion der
Denkarbeit (von der Vorstellung reiner Zahlen und abstrakter Schriftzeichen
bis hin zu der von dem einen Gott, dann geometrischer Abstraktionen, und
abstrakt-logischer Schlüsse etc.) äußert sich rückwirkend in einer größeren
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Differenzierung der körperlich-geistigen Arbeit – dem zweiten Widerspruch.
In der bis heute unauslotbaren Wechselwirkung zwischen theoretischer Abstraktion und Spezialisierung praktischer Arbeit liegt gleichzeitig das Entwicklungspotential des dritten Widerspruchs der Arbeit zwischen ihrer
nützlichen und ihrer energetischen Seite: Wird der Nutzen einer Arbeit durch
ihre Qualifikation gesteigert – zum Beispiel das Getreide statt per Hand per
Wasser- oder Windmühle zu mahlen –, dann sinkt umgekehrt der Energieaufwand dieser Arbeit. Die Zuspitzung dieses Widerspruchs impliziert daher
das mögliche Ende von Arbeit zwecks Reproduktion. Es ist die Zuspitzung
dieses Widerspruches, die in absehbarer Zeit die Profitbasis kapitalistischer
Produktion zersetzen wird, weil den Völkern immer weniger einleuchtet,
trotz gigantischer Überschußproduktion für den Profit von Großkonzernen
und Finanzkapital nicht nur die eigene Physis und Psyche zu zerrütten, sondern sogar ihre Lebensquelle – die Erde – zu zerstören.
Unmittelbar gesamtgesellschaftlich wirkt sich schließlich der vierte Widerspruch der Arbeit aus: Die beginnende Differenzierung und weitergehend
die Spezialisierung von geistiger und körperlicher Arbeit bedingt, daß in den
frühen Dorf- und Stammesgemeinschaften eine innere Teilung der Arbeit
sich abzeichnet (Schmied, Zimmermann, Töpfer etc.), deren gesteigerte Produktivität als Überschuß über das Lebensnotwendige hinaus, einen Produktentausch mit anderen Produktionsgemeinschaften bedingt. Überschüssige
Produkte verwandeln sich zum Teil in Waren und der sich ausweitende
Tauschhandel fördert rückwirkend latent eine weitere gesellschaftliche Teilung der Arbeit. Das heißt: Die ursprünglich autarken Gemeinwesen werden
von einer speziellen Rohstoffzufuhr, Schmiedeprodukten, Technikleistungen
etc. des äußeren Marktes abhängig, so daß latent über den Markt ein übergeordneter gesellschaftlicher Zusammenhang entsteht. Religiöse Kultstätten
und Handelsknotenpunkte werden zu Städten mit sozialen Hierarchien und
aus Stadtstaaten werden Staaten oder gar Reiche. – In diesem Lichte stellt
der Weltmarkt – als künftiges Endstadium dieses Entwicklungsganges –
nichts anderes als die verdrehte Vorform der inhaltlich-bewußten Vergesellschaftung globaler Arbeit dar.
Daß es sich um vier Widersprüche der Arbeit handelt und nicht um drei oder
fünf, ist keineswegs dem Zufall geschuldet. Wenn wir ihr Ineinandergreifen
untersuchen, stellen wir fest, daß sie einen Funktionsraum umschließen. Das
heißt: Sie erfassen jeden Winkel und jede Ebene der Auseinandersetzung
zwischen menschlicher Gesellschaft und Natur. Nicht nur die Denkarbeit
entwickelt sich, sondern auch die Körperarbeit und beide stehen in widersprüchlicher Wechselwirkung zueinander, sind beliebig entwicklungsfähig.
Das gilt aber nicht nur für das Individuum, sondern für die Gemeinschaftsar-
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beit als Ganzes. Individuelle wie gemeinschaftliche Arbeit ergeben einen
qualitativen Nutzen, der in einer widersprüchlichen Beziehung zur Verausgabung von Energie steht – sei´s die Energie von Menschen oder der Natur:
Wird nützliche Arbeit effizienter, entstehen mehr und mehr Produkte. Die
Gemeinschaftsarbeit wiederum weist über sich hinaus, wenn ihre innere,
kontrollierte Arbeitsteilung in wechselwirkenden Widerspruch zu einer äußeren, unkontrollierten Arbeitsteilung gerät. Die gesamtgesellschaftliche, letztlich globale Teilung der Arbeit ist Resultat der andern drei Widersprüche
der Arbeit und umfaßt sie gleichzeitig: Wird kreative Arbeit geleistet – sei´s
durch Phantasie oder Verstand – entwickelt das die spezifische Qualität der
Arbeit, damit sowohl die Effizienz kooperativer Arbeit wie die Ausdehnung
der gesamtgesellschaftlichen, also markterweiternden Arbeit. Kurz: Wenn
die vier Widersprüche der Arbeit virulent werden, versetzen sie vom Gehirn
zum Körper des Menschen, vom Individuum zur Gesellschaft und von beiden zur Natur reichend den vollständigen Funktionsraum zur Weiterentwicklung toter wie lebendiger Materie in tendenzielle Bewegung.
Im Besondern heißt das: Der erste, innere Widerspruch zwischen phantasievoller und verstandesmäßiger Denkarbeit bildet offenkundig das kreative
Feuer jeder kulturellen und zivilisatorischen Entwicklung – das allerdings
von veränderten als auch gegebenen Rahmenbedingungen gezündet werden
muß (Klimawandel, Bevölkerungsdichte, neue Flora und Fauna, Flüsse, Inseln und Halbinseln, Mineralien usw.; später sich zuspitzende Motive des
Wirtschaftssystems). Fortschritte in der Denkarbeit – ob bewußt oder unbewußt – äußern sich in der Spezialisierung insbesondere manueller Arbeit. Im
Maße als sich damit die Effizienz oder Produktivität der Gesamtarbeit erhöht, sinkt umgekehrt die aufzuwendende Arbeitsenergie. Unter Kapitalbedingungen drohen Arbeitslosigkeit und Verarmung immer stärker, während
der gesellschaftliche Reichtum exponentiell anschwillt. Da ausgerechnet die
relativ sinkende Arbeitsenergie im Durchschnitt den Markt-Wert der Waren
bildet, muß aber im Verlauf der kapitalistischen Produktion die Produktivkraft exponentiell gesteigert werden, um überhaupt noch Profit zu erwirtschaften. Daß der entsprechend exponentielle Konsum gleichzeitig die begrenzten Naturressourcen zerstört und die Erde unbewohnbar zu machen
droht, davon wird die emanzipiertere Gesellschaft gerade Zeuge. Auf Wertbasis sind diese Antagonismen auf Dauer nicht beherrschbar.
Daher muß der wechselweise Funktionszusammenhang dieser vier Widersprüche verstanden sein – wie eben die Verringerung der körperlichen durch
effizientere, geistige Arbeit oder die Verwandlung der ungeteilten in geteilte
und wiederum gegenläufig der geteilten in ungeteilte Arbeit –, um die
menschheitliche Evolution der Arbeit zu verstehen. Denn ihre acht Extreme
sind in den Jahrtausenden des Entstehens der Landwirtschaft kaum ausge-
21
prägt, bilden noch eine harmonische Einheit. So sehr der Widerspruch von
innerer zu äußerer Teilung der Arbeit sich später entwickelt, so sehr spitzen
sich gesellschaftliche Widersprüche in vorhersehbarer Weise zu, ja verselbständigen sich gegeneinander. Dies geschieht aber nicht automatisch.
*
Auch das Bestehen von landwirtschaftlicher, ja sogar handwerklicher Arbeit
genügt noch keineswegs um zivilisatorischen Fortschritt zu gewährleisten.
Jahrtausendelang fand keine Vertiefung und Ausweitung gesellschaftlicher Arbeitsteilung statt, so daß die kleinen, dörflichen Wirtschaftsgemeinschaften sich wie die vorangegangenen Jäger- und Sammlergemeinschaften
zirkulär reproduzierten. Es wird also zu klären sein, wie die innere Arbeitsteilung zunehmen konnte und warum äußere Arbeitsteilung die Wirtschaftsdynamik revolutionierte.
3
Arbeitsteilung
– kann antagonistisch oder harmonisch wirken –
je nach System
Konfliktfreie, kooperative Arbeit allein führt zu keinem zivilisatorischen
Fortschritt. Dazu muß gesellschaftliche Arbeitsteilung einsetzen – die allerdings ein zweischneidiges Schwert bildet.
Eine sukzessive Entwicklung kann auf der dörflichen Vorstufe von Gesellschaft offenbar erst einsetzen, wenn die ursprünglich gemeinschaftliche
Form der landwirtschaftlichen Arbeit im Zuge vertiefter Arbeitsteilung immer gravierender durch ihre blinde, marktgeprägte Form zersetzt wird. Dabei
tritt zunehmend der Antagonismus einer gesellschaftlichen Teilung der Arbeit hervor, die die Einheit des gegensätzlichen Charakters von jedem Produkt – zwischen Nützlichkeit und enthaltener Arbeitskraft aufspaltet und
verkehrt. Das liegt daran, daß die Veräußerung eines Teils vom Überschuß
eines Gemeinwesens aus diesen nützlichen Produkten Waren macht, Träger
von nur quantitativ relevantem Wert.
Verfolgen wir zunächst, wie aus rein gemeinwirtschaftlicher Landwirtschaft
zuerst ein Markt zwischen Gemeinwesen punktuell entsteht: Aufgrund des
unter günstigen Umständen (reiche Flora und Fauna, kein extremes Klima,
genügend Wasser) langsam wachsenden Überschusses, können einige spezielle Arbeiten, aufwendiger und differenzierter ausgeführt werden (Keramik,
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Holz- und besonders Metallverarbeitung). Gleichzeitig kommen zumindest
einige Gemeinwesen in den Genuß besonderer Naturvorkommen – Edelsteine, Metalle, besondere Gewürze oder Öle. Gemeinwesen beginnen – anknüpfend an den rituellen und kulturellen „Tausch“ von Geschenken während der Frühgeschichte – ganz wenige, besondere Produkte mit anderen
Gemeinwesen zu tauschen. Für Jahrhunderte, ja Jahrtausende (ca. 11 000 – 5
000 v. Chr.) findet solch einfacher Warentausch lediglich sporadisch statt.
Es ist dieser unabsichtliche, naturwüchsige Prozeß, der die Menschen vom
rituellen, symbolischen zum immer gewohnheitsmäßigeren Warenverkehr
gelangen läßt, kein anthropologisch bedingter Hang zum Tausch á la Adam
Smith oder eine rationale Orientierung am Gewinn á la Max Weber. Bis heute hat die Nationalökonomie, die den Warentausch verewigen will, versäumt,
die Elementarform jeder Marktwirtschaft, die Ware, wissenschaftlich zu behandeln – das heißt sowohl analytisch wie historisch. Wo aber käme der moderne Physiker hin, der versäumte das Atom, wo der Biologe, der versäumte,
die Zelle zu analysieren? Wie die Entwicklung des Atoms sich innerhalb des
Widerspruchs von positivem Kern und negativer Elektronenhülle vollzieht
und die Evolution der Organismen innerhalb des Widerspruchs von Genotyp
und Phänotyp, so entwickelt sich die Warenwelt innerhalb des Widerspruchs
von qualitativem Nutzen und quantitativem Wert.
Um diesen grundlegenden Antagonismus jeder Warenproduktion zu verstehen, muß geklärt werden, worin der Wesensunterschied von beginnender
Teilung der Arbeit innerhalb eines landwirtschaftlichen Gemeinwesens gegenüber Teilung der Arbeit zwischen Gesellschaften besteht. Unmerklich für
die in diesen geschichtlichen Prozeß involvierten Gemeinschaften, nimmt
die Zahl der getauschten Produkte zu, differenzieren sich auch Facharbeiten
innerhalb der Gemeinwesen. Je mehr sich diese Tauschvorgänge häufen und
eine gewisse Regelmäßigkeit annehmen, desto deutlicher tritt ein radikaler
Wandel im Verhältnis zwischen den Menschen und ihrem Produkt ein. Ein
Wandel, der augenscheinlich bis heute trotz der Aufklärungsarbeit von Marx
nicht verstanden ist – oder nicht verstanden werden soll:
Solange in frühen, bäuerlichen Dorfgemeinschaften nahezu alles produziert
wird, was die Menschen für ihr Leben brauchen – von den Nahrungs- und
Unterhaltsmitteln über verschiedene Rohstoffe zur Weiterverarbeitung bis
hin zu ihren noch einfachen Werkzeugen –, solange wird ihre meist gemeinschaftliche Arbeit voll und ganz von einem nützlichen Zweck geleitet. Die
durch die Zahl der Arbeitsfähigen verfügbare Arbeitszeit ist dabei bloßes
Mittel zu dem jeweiligen Zweck und wird auf alle notwendigen Arbeiten in
sinnvoller Weise verteilt. Jahrtausendelang nahm deshalb der gesellschaftliche Nutzen der Arbeit gegenüber der verfügbaren Arbeitszeit die führende
und sinngebende Rolle im Wirtschaftsprozeß ein. Den Mitgliedern dieser
23
Arbeitsgemeinschaften wäre es als gänzlich absurd, grotesk, ja irrsinnig erschienen, hätte einer von ihnen den Vorschlag gemacht, die Arbeitszeit aller
doch zu verlängern, um den erzielten Überschuß als Symbol dieser Arbeitszeit immerfort anzuhäufen. Doch sollte der erste Schritt hin zu solchem „Irrsinn“ – der heute den Weltmarkt beherrscht – mittels der kleinen Überschüsse gemacht werden, die die frühen, bäuerlichen Dorfgemeinschaften erwirtschafteten.
Einen Teil dieser Überschüsse begann man – wie gesagt – nach und nach zu
tauschen; und zwar nicht zuletzt gegen Naturgüter, mit denen fernerliegende
Regionen und dort ansässige Stämme und Dorfgemeinschaften zufällig gesegnet waren – wie Edelsteine, Metall, Salz oder Gewürze. Über Jahrtausende entstand auf diese Weise völlig unbeabsichtigt und von den Rändern verschiedener Gemeinschaften ausgehend ein Tauschhandel, der nur sehr langsam an Regelmäßigkeit und Dichte zunahm und das ganz überwiegende
Gros der Gesellschaft – selbstwirtschaftende Bauern – kaum tangierte. Die
dadurch entstandene, äußere Teilung der Arbeit zwischen verschiedenen
Gemeinschaften, die einen Handelsverkehr erzeugte, verstärkte rückwirkend
nach und nach auch eine innere Teilung der Arbeit, die sich im Entstehen
von Berufen niederschlug. Der damit notwendig werdende Austausch von
Produkten, stellte allerdings eine schleichende, gesellschaftliche Revolution
dar, indem aus Produkten Waren wurden und ein wenn auch noch embryonaler Markt entstand. Warum?
Sobald ein Warenbesitzer auf einem Markt verkaufen will, verkehrt sich sein
ursprüngliches Verhältnis zu seinem Produkt ins glatte Gegenteil und das
Produkt, das er bei seiner Herstellung kontrollierte, beginnt jetzt ihn zu beherrschen, stellt sich ihm gegenüber auf den Kopf. Inwiefern? Beim Verkauf
seines Produkts rückt für ihn mit einem Mal dessen Nutzen, der bei der Herstellung handlungsleitend war, in den Hintergrund. Umgekehrt rückt seine
geleistete Arbeitszeit, die bei der Herstellung reines Mittel zum Zweck war,
urplötzlich in den Mittelpunkt des Tausches. Wodurch?
Dadurch, daß beide Warenbesitzer nicht umsonst gearbeitet haben wollen
und daher ihre Gebrauchswerte vergleichen. Die sind aber aufgrund ihrer
notwendig qualitativen Verschiedenheit nicht vergleichbar – außer in ihrer
gemeinsamen Eigenschaft, als bloße Verkörperung der in ihnen enthaltenen
Arbeitsenergie zu gelten. Arbeitszeit mißt die verausgabte Arbeitsenergie
oder Arbeitskraft. Je mehr Warenbesitzer mit vergleichbaren Produkten den
Markt betreten, desto genauer wird durch Angebot und Nachfrage die durchschnittlich notwendige und daher gesellschaftlich gültige Arbeitszeit für jede
dieser Waren ermittelt. Da dieser Prozeß in der einzelnen Ware gerinnt und
die gültige Arbeitszeit dem Produkt nicht anzusehen ist, nimmt sie die geheimnisvolle Gestalt des Werts der Ware an. Diese Werteigenschaft scheint
24
der Ware von Natur aus anzuhaften, während sie doch Resultat einer gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der daraus folgenden Tauschbewegungen ist.
Wo nun im Laufe der Geschichte, die äußere Teilung der gesellschaftlichen
Arbeit sich ausweitet und die innere sich vertieft, dort nimmt auch die Macht
des Marktes in Gestalt des Wertes und seiner weiterentwickelten Formen des
Geldes, des Zinses und des Kapitalprofites über die Gesellschaft und über
die Arbeit zu. Die Kaufleute, die Händler, die Geldverleiher und die in der
Renaissance entstehenden Bankkapitale interessiert nicht mehr in erster Linie die Qualität der Produkte und ihr Nutzen – wie jahrtausendelang alle
Subsistenz- und Naturalwirtschaften sowie alle Produzenten, soweit sie für
den eigenen Bedarf arbeiteten. Für alle diese Protagonisten des Marktes wird
absolut vorrangig das Wertquantum der Dinge und der Arbeit, dreht sich alles um Vermehrung des puren Geldes als Kapital, das sich sogar selbst zu
verwerten scheint. Die gesellschaftliche Arbeitszeit ist in Gestalt des Geldkapitals aus einem Mittel zum Zweck vernünftiger Produktion zum rücksichtslosen Selbstzweck entartet.
Endgültig ab 1500, wenn in Europa das Geldkapital beginnt, sich die Produktion und damit die eigentliche Quelle allen Werts einzuverleiben, steht
nicht mehr nur für eine dünne Schicht der Händler und weniger Warenproduzenten Mittel und Zweck der Arbeit auf dem Kopf; von da an beginnt die
gesamte gesellschaftliche Arbeit in Form von Lohnarbeit die Kontrolle über
das eigene Produkt zu verlieren. Stattdessen beutet heute nahezu umfassend
das ganze produktive Kapital die kooperative Arbeit und die Natur gegen
jeden Sinn und Verstand aus, zerstört die eigenen Lebensgrundlagen, um den
erwirtschafteten Reichtum in der abstrakten Gestalt des Kapitals bei den
Großbanken und Großkonzernen der Welt zwanghaft immer schneller zu
akkumulieren. Die Absurdität und Paradoxie, die mit der Verkehrung von
Arbeitsenergie und Produktnutzen beim Entstehen der Ware und des Marktes sich ankündigte, vollendet sich in der Irrsinnsherrschaft von Weltmarkt
und Weltkapital über die existenziellen Sorgen und Bedürfnisse der Werktätigen der ganzen Menschheit.
Diese Totalherrschaft des Wertes in Gestalt des Profits über die gesellschaftlichen Erfordernisse stellt somit nichts weniger dar als eine für alle Zeit gültige, menschliche Weise „rationellen Wirtschaftens“– wie oberflächen- und
detailverliebte Subjektivisten vom Schlage Max Webers, Jürgen Kockas
oder Nikolaus Pipers stereotyp widerkäuen. Vielmehr enthüllt die historischkritische Analyse den Industriekapitalismus als den relativ kurzlebigen, antagonistischen Klimax in der Entfaltung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, der vor gerade mal 200 Jahren angefangen hat, zuerst die feudale und
schließlich die bürgerliche Gesellschaft durch eine hochtechnologische
Weltgemeinschaft zu ersetzen.
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Nochmals: Nur soweit die innere, kontrollierte Teilung der Arbeit einer Gemeinschaft zur äußeren, gesamtgesellschaftlichen wird, entsteht ein Markt
und werden Produkte zu Waren. Damit aber beginnt der grundlegende Antagonismus zwischen Gebrauchswert (Nutzen) und Wert der Waren zu keimen. Und worin besteht der Antagonismus zwischen Gebrauchswert und
Wert? Darin, daß die private Akkumulation des bloßen Wertquantums den
hemmungslosen Vorrang gegenüber jeden noch so wichtigen gesellschaftlichen Nutzen erhält. Wodurch wird dieser Vorrang unvermeidbar? Durch den
historisch erreichten Höhegrad gesellschaftlich nicht regelbarer Arbeitsteilung. Dieser Antagonismus gipfelt nach einem verlustreichen Inkubationsprozeß in der Profitdiktatur eines entfesselten Finanzkapitals von heute, weil
die Wertform (Geld, Kapital, Gewinn) nach dem absoluten Primat vor den
gesellschaftlichen Bedürfnissen und der Arbeit verlangt. Es ist die ungeregelte, gesellschaftliche Arbeitsteilung, die das in dörflichen Wirtschaftsgemeinschaften bewußt geregelte Verhältnis zwischen Nutzen und Arbeitsenergie auf den Kopf stellt. Und es ist dieser entwickelte Antagonismus eines immens arbeitsteiligen Wirtschaftssystems, der als Profitzwang die Menschen und ihre Produktivkräfte voranpeitscht und die perversesten Blüten
treibt – und nicht etwa eine allgemein menschliche Gier. Eine solche Gier
wird vielmehr erst durch die geheimnisvolle, fetischhafte Magie des Geldes
– nämlich über jede beliebige Ware verfügen zu können – geweckt.
Heißt das nun zwangsläufig, daß ab der Zunahme gesellschaftlicher Arbeitsteilung vor 6 000 Jahren und damit dem Entstehen von Stadtstaaten gemeinschaftliche Arbeit sich dynamisch entwickelt hätte? Keineswegs! „Arbeit“
wurde trotz Marktentfaltung sage und schreibe bis zur ersten Industriellen
Revolution um 1800 bestenfalls als unveränderliche Naturnotwendigkeit verstanden, keinesfalls aber als das entscheidende Movens von Gesellschaft und
ihrem Wohlstand – ja von Geschichte überhaupt. Das heißt: Arbeit wurde
keineswegs als der Ursprung und entscheidende Hebel angesehen, Reichtum
und Gewinn zu erwirtschaften – von Technologie-, Wissenschafts- und Erkenntnisfortschritt ganz abgesehen. Und warum? Weil jahrtausendelang der
Markt unter der Last von monarchischem Staat und Sklaven- bzw. Feudalwirtschaft ein Randphänomen blieb – allen Seidenstraßen und allem antiken
Seehandel zum Trotz.
Kein kreatives Denken, keine wissenschaftliche Erkenntnis und keine religiöse oder politische Ideologie trieb während Jahrtausenden der Sklavenhaltergesellschaft und des Feudalismus die Entwicklung der Arbeit, ihre
schlummernde Innovationskraft pausenlos voran. Mit dieser schlichten Tatsache fällt der populäre Schein – dem die Historiographie bis heute anhängt
–, große Ideen lösten erst wichtige gesellschaftliche Schritte aus, in sich zusammen. Daß einzig und allein mittels gesamtgesellschaftlicher Arbeit und
26
experimenteller Wissenschaft die uferlosen Potenzen der Natur zu erschließen sind, wurde sogar bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts nicht erkannt.
Wieder wurde ein revolutionärer Schritt in der Geschichte der Menschheit
unabsichtlich, hinter dem Rücken bewußt denkender Menschen vollzogen.
Wodurch also wurden die Produktivkräfte kooperativer Arbeit entfesselt?
Es war die durch den Markt des Fernhandels langsam vorangetriebene, gesellschaftliche Arbeitsteilung, die in der Renaissance begann, den kleinen
Bauern, Handwerksbetrieben und Selbständigen nach und nach die letzten
Produktionsmittel zu entreißen. Damit entstand massenhaft Lohnarbeit, die
dem freien Kapital für zuerst manufakturelle dann industrielle Produktion
zur Verfügung stand. Die äußere Arbeitsteilung zwischen Produktionsgemeinschaften und ganzen Völkern etablierte also durch den wachsenden
Markt das Primat des Handelsgewinns gegenüber allen sonstigen gesellschaftlichen Belangen. Und trotzdem nahmen die gesellschaftlichen Produktivkräfte über 300 Jahre bis zur industriellen Revolution nur mäßig zu. Immer noch machten feudale und unabhängige Landwirtschaft 80 % der westeuropäischen Wirtschaftsleistung aus.
Es mußte also endlich das in Europa immer mächtiger werdende Handelskapital den Ort sich einverleiben, an dem ein Gewinn als Überschuß tatsächlich
erzielt wurde: den Ort der Produktion. Und dieser Ort bestand in jeder Form
der Proto-Industrie wie Hausgewerbe, kleine Handwerksbetriebe, Hörigenindustrie usw. Endlich vermochte die bisher fehlende Verbindung der bloßen
Kapitalform mit der materiellen Produktion alle Potenzen, die in den Widersprüchen der Arbeit schlummern, freizusetzen. Denn erst durch den marktbedingten Gewinnzwang wurden – zumal in der Krise – Unternehmer periodisch motiviert, zunächst durch Technik dann zusätzlich durch Wissenschaft
die Effizienz ihrer Betriebe zu steigern. Und erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann der bürgerliche Staat weitgehend unabhängig vom Unternehmertum Grundlagenforschung aus „rein“ gesellschaftlichem, sprich nationalistischem Forschungsinteresse zu fördern.
*
Weil aber auch der Staat mehr und mehr zum willfährigen Erfüllungsgehilfen von Konzern-, Banken- und Börseninteressen wurde, dient heute auch
die angeblich reine Wissenschaft zuallererst den Profitzwängen des Marktes
und keineswegs primär, wie es sein sollte, den Bedürfnissen der Gesellschaft. Nach Jahrtausenden weitgehenden Stillstands war der Systemzwang
zur unaufhörlichen Steigerung der Wirtschaftsleistung ein Marktresultat und
mit ihm das Bedürfnis, Technologie und Wissenschaft stetig voranzutreiben
27
– damit aber auch den Antagonismus des Kapitals gegenüber Arbeit und
Natur. Wohin wird dieser unheilvolle Antagonismus führen?
4
Antagonismus
– des Weltkapitalismus,
der sich in einem Katastrophenszenario entlädt
Was die klassische Nationalökonomie oder Volkswirtschaftslehre wie auch
die modernen Neoliberalen oder Keynesianer bis heute nicht verstanden haben oder zuzugestehen wagen, ist, daß Kapitalismus sich per se antagonistisch also katastrophenhaft zuspitzen muß. Krisen – ob des Wirtschaftswachstums, der Finanzen, des Arbeitsmarktes, der sozialen Lage, des Medizinwesens, der Umwelt, der Ein- und Auswanderung usw. – sind periodisch
in seiner Funktionsweise angelegt. Denn das simple Prinzip des industriellen
Kapitals lautet:
Alles Mehrprodukt über die jeweils erforderliche Reproduktion des Lohnarbeiters und seiner Produktionsmittel hinaus, macht den Gewinn des Kapitaleigners aus: Auf der einen Seite wird konkret gearbeitet, auf der entgegengesetzten verwandelt sich das Ergebnis abstrakt in Geld und fordert als akkumuliertes Kapital von der kooperativen Arbeit vermehrten Gewinn. Solange
dieses Prinzip sich realisieren läßt – was immer sozialpolitische Umverteilung daran historisch-spezifisch modifizieren mag –, solange muß die Kluft
zwischen Arm und Reich, zwischen Arbeitenden und Aneignenden, zwischen Hightech- und Entwicklungsstaaten größer werden. Und selbst in
Deutschland – inzwischen einem der reichsten Länder, noch dazu mit „sozialer“ Marktwirtschaft – ist dies bis heute so; 7 – 8 Millionen offizielle und
verdeckte Arbeitslose (Umgeschulte, Aufgestockte, Zeit-und Leiharbeiter,
Mini-Löhner, Harz IV-Empfänger usw.) und eine Million Kinder an der Armutsgrenze bei ca. 80 Millionen Einwohner sprechen eine deutliche Sprache
– von der sozialen Kluft in den USA ganz zu schweigen. Auch wenn dies
drei Viertel der Bevölkerung, die saturiert sind, gleichgültig läßt: Kann diese
absurde Umverteilung endlos zugespitzt werden, ohne daß es irgendwann zu
einer sozialen, schließlich politischen Explosion kommt? Daß eine Revolution dieses globalen Wirtschaftssystems unvermeidlich kommen muß, ist bei
tatsächlich unentwegt steigendem sachlichem Reichtum nicht mehr das Auschlaggebende, sondern die Frage der Entscheidungsbefugnis: Soll in letzter
Instanz immerzu das blinde Profitinteresse einer winzigen Oligarchie über
das Schicksal der Menschheit und des Planeten Erde entscheiden oder nicht
28
doch das soziale, humane und zivilisatorische Interesse der Milliarden, zunehmend qualifizierter Werktätiger?
Unmittelbar zeigt sich der systemimmanente Antagonismus der Kapitalform,
seit das Finanzkapital gegen Ende des 20. Jahrhunderts über das Industriekapital die Herrschaft angetreten hat, noch krasser: Ein industriell erzeugtes
Mehrprodukt, das sich abstrakt als Kapitalgewinn niederschlägt, muß im
weiteren gar nicht erst geschaffen werden. Denn auf jeder Bank wird aufgrund des Zinsgebots ganz automatisch aus Geld mehr Geld, also Kapital.
Existiert nun wegen dieses formellen Anspruchs ganz ebenso automatisch
das entsprechende Mehrprodukt? Keine Wirtschaft kann das im Vorhinein
garantieren. Der drohende Anspruch aber bleibt bestehen.
Inzwischen wurde der Antagonismus noch grotesker! Ursprünglich und auch
heute noch mag ja ein verkauftes Mehrprodukt in Form von Geldkapital den
Banken anvertraut worden sein. Wenn aber dieses in den Banken angelegte
Kapital von diesen für Währungs-, Termin- oder sonstige Börsenspekulationsgeschäfte eingesetzt wird und gewaltige Profite abwirft – wer produziert
dann und wo das Mehrprodukt, das diesem Profit entspricht? Es wird, wenn
irgend möglich, aus der realen Produktion herausgequetscht – durch Firmenaufkäufe, Filetieren der Firmen, durch Schuldüberschreibungen, Intensivierung der Arbeit usw.
Der Gipfel der Absurdität des kapitalistischen Antagonismus ist damit allerdings noch nicht erreicht: Die Banken sammeln längst nicht mehr bloß das
erwirtschaftete Kapital der Gesellschaft ein, sondern sie schöpfen aus dem
Nichts Buchungskapital, das sie als Kredit vergeben, um aber ganz real Zins
einzufordern. Ganz analog machen das schon immer staatliche Zentralbanken wie heute an vorderster Front die FED (Federal Reserve System) der
USA und die EZB Europas – meist ohne dies virtuelle Kapital jemals wieder
einzuziehen: Sie drucken einfach Geld, das dann als Bankenkapital Zins erzwingt, oder verteilen einfach Milliardenkredite – Kapital, dem also nie ein
erwirtschaftetes Mehrprodukt vorausging, das aber gleichwohl sofort einen
Zins erheischt, spätestens, wenn damit bankrotte Banken „gerettet“ werden.
Den Erfolg dieser grotesken Verselbständigung des abstrakten Kapitalprinzips – aus Geld muß mehr Geld werden –, können wir heute weltweit bewundern: Eine immer mehr anwachsende Flut an Kapital in Form von Billionen Dollars und Euros schwirrt elektronisch um den Globus, sucht nach
Anlage, sucht diese erst gar nicht mehr in der „unrentablen“ Industrie – die
folglich fehlende Nachfrage erklärt übrigens die wundersamer Weise ausbleibende Inflation –, sondern findet sie in immer waghalsigeren Spekulations-, Kredit- und Anleihegeschäften. Rein elektronisch wächst dieses Zinseszins-Kapital immer schneller an – doch gibt es keine reale Industrie, die
diese Profite je erwirtschaften könnte. Schließlich zirkuliert ca. 18-mal mehr
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nominelles Kapital (72 Bill. Dollar) an den Finanzmärkten als die reale
Weltproduktion jährlich erwirtschaftet (4 Bill. Dollar). Dafür aber wird die
Verschuldungszwangsjacke und das daraus abgeleitete Ausquetschen aller
einfachen Lohnarbeiter, Rentner und Kranken, kurz aller Wehrlosen, ebenso
drastisch verstärkt.
Das heißt, Kapitalismus muß zwangsläufig – ob als Handels-, Industrie- oder
Finanzkapital – auf mittlere oder längere Sicht periodisch politische und
ökonomische Exzesse des sozialen Ungleichgewichts und daher Katastrophen hervorrufen. Die herrschende, akademisch etablierte Wirtschaftslehre
mag sich aber nicht selbst das Wasser abgraben, sondern vertritt verbohrt –
trotz jahrzehntelanger gegenteiliger Erfahrungen (denken wir nur an an die
Großkrisen von 1873, 1929, 1987, 2008) – die Ideologie, das kapitalistische
Wirtschaftssystem wäre, richtig gehandhabt, auch ohne große Katastrophen
zu managen.
Sie verbringt Jahrzehnte nutzlos damit, darüber zu streiten, ob eine richtige
Finanzpolitik – Erhöhen oder Senken des Leitzinses oder der Geldmenge
durch die Zentralbanken – oder eine gezielte Investitionspolitik – antizyklisches Ausgeben bzw. Ansparen durch den Staat – Wirtschafts-, Finanz- und
demzufolge Sozialkrisen vorbeugen könne. Praktisch dagegen ist Wirtschaftspolitik ständig damit beschäftigt, Inflations-, Rezessions-, Verschuldungs- und Staatsbankrottgefahr zu bekämpfen – von den fortschreitenden,
sozialen und ökologischen Antagonismen und ihren Desastern zu schweigen.
Die herrschende, affirmative Kapitalideologie hat nie auch nur einen Gedanken darauf verschwendet, den unausrottbar keimenden Antagonismus kapitalistischer Wirtschaftsweise kritisch zu analysieren, weil sie eigentlich nur
aufs Tagesgeschäft fixiert ist, nur will, daß die kapitalistische Wirtschaftsweise irgendwie sich perpetuiert.
Aus welchem tieferen Grunde muß früher oder später Kapitalismus stets destruktiv wirken – was seine Geschichte nebenbei regelmäßig belegt? Weil
die zentrale Größe und Basis seines Wirtschaftens eben nicht der gesellschaftliche Nutzen ist, nicht die wahren, gesellschaftlichen Bedürfnisse sind,
sondern die bloße Akkumulation von Wert, respektive Geld als Kapital. Alle
Welt – vor allem aber die etablierte Wirtschaftswissenschaft, die herrschende
Politik und die öffentliche Meinung – hält virtuell geschaffenes Geld, Kapital und Gewinnzwang, Kreditwesen und Bankenprofit für geradezu naturgegeben, unausweichlich und eine Lebensbedingung der modernen Gesellschaft. In Wahrheit sind früheste Warenproduktion und anfänglich nur temporärer Markt in ca. 80 000 Jahren Menschheitsgeschichte eine ziemlich
junge Erscheinung, die erst mit vorwiegend landwirtschaftlicher Produktion
ab ca. 6 000 v. Chr. am Rande der Dorfgemeinschaften an Bedeutung gewinnt. Aber auch danach blieben mindestens 90 % der Gesamtproduktion
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Natural- und Subsistenzwirtschaft, eine Zahl die bis in die Epoche der großen antiken Reiche hinein nur wenig absank. „Natürliches“ Wirtschaften –
wenn man das so nennen mag – bestand für Jahrtausende darin, daß die verfügbare Arbeitskraft einer Gemeinschaft gemessen durch die Arbeitszeit –
ganz unbewußt – als bloßes Hilfsmittel diente, nützliche Arbeitsfunktionen
sinnvoll einzusetzen. „Unnatürlich“ wäre dagegen gewesen – um nicht zu
sagen idiotisch –, wenn x-beliebige Arbeiten einzig dazu gedient hätten, die
aufgewandte Arbeitsleistung so viel wie möglich zu steigern und dann ihre
Anhäufung symbolisch zu akkumulieren.
Nicht-antagonistisch funktioniert also jede Wirtschaftsweise, in der die verfügbare Arbeitsfähigkeit aller ein bloßes Mittel ist, sinnvolle Bedürfnisse der
Gemeinschaft zu erfüllen und nicht zum Selbstzweck wird. Das gilt sogar
noch – bezogen nur auf das Quantum der Warenwerte –, solange das Geld
bloßes Tauschmittel bleibt: Es vermittelt lediglich einen äquivalenten Tausch
– bleibt an keiner Hand hängen. Antagonistisch und daher destruktiv dagegen muß eine Wirtschaftsweise wirken, wenn selbst die schädlichsten, gefährlichsten und lebensfeindlichsten Produkte einzig und allein dazu dienen,
alle zu leistende Arbeitsenergie verselbständigt als „Geldsymbol“ möglichst
in einer Hand uferlos zu akkumulieren. Die Konkurrenz des anonymen
Marktes erzwingt den Fokus auf die Steigerung rein quantitativen Profites,
so daß es seinen Handlangern egal wird, mit welchen Waffenverkäufen, welchem Naturraubbau und welchen menschenverachtenden Arbeits- und Lebensbedingungen dieses Motiv kurzzeitig erfüllt wird.
Haargenau dazu kommt es auf Grundlage der Warenproduktion, wenn das
ursprüngliche Tauschmittel Geld durch Vertiefung der Arbeitsteilung und
Ausdehnung des Marktes die Eigenschaft von Kapital annimmt. Indem nämlich ein Produkt auf dem Markt sich in Ware verwandelt, wird die Beziehung
zwischen dem Nutzen des Produkts und der in ihm enthaltenen (gemeinschaftlichen) Arbeitszeit schlicht auf den Kopf gestellt: Denn zur Tauschbasis, zum Mittelpunkt des Tauschaktes wird für Käufer wie Verkäufer das
Äquivalent der in ihren Produkten enthaltenen Arbeitszeit – schließlich will
keiner umsonst gearbeitet haben. Beim Tauschakt rücken also Qualität und
Nutzen des Produkts in den Hintergrund, die pure Quantität des Warenwerts
dagegen in den Vordergrund. Vollends, wenn mit der Verselbständigung des
Geldes Kaufmann ein Beruf wird: Für diesen ist völlig gleichgültig, womit er
handelt – ob mit Gold oder Lumpen, Nahrungsmittel oder Gift, Geräten oder
Abfall, Arbeitsgütern oder Raubgut, Eigentum oder Gestohlenem –, Hauptsache seine Waren lassen sich auf dem Markt versilbern.
Daß mit der marktbedingten Wertform der (gemeinschaftlichen) Arbeitsenergie der ursprüngliche Sinn nützlicher Arbeiten auf den Kopf gestellt, ja
zur perversen Absurdität entartet, wird endgültig mit dem Bank- und mehr
31
noch mit dem Finanzkapital zur gesellschaftsbeherrschenden Normalität:
Geld als Kapital als Kredit als Anleihe etc. erzeugt rein formell, dazu
zwanghaft und automatisch Zins – also Profit. Dieser Profit, dieses Kapital,
das rein formell, auf dem Papier, als abstrakte Buchungsgröße exponentiell
anschwillt, macht allerdings nur Sinn, wenn es irgendwann, irgendwo, irgendwie über ganz konkreten Reichtum, über Güter und Dienstleistungen
tatsächlich verfügen kann. Dieser sachliche und geistige Reichtum der Gesellschaft und die ihn hervorbringende, gemeinschaftliche Arbeit befinden
sich aber befremdlicher Weise getrennt vom Finanzkapital, ihm diametral
gegenüber, genauer gesagt in hilfloser Abhängigkeit:
Demzufolge könnte das auf diese absurde Weise kreierte und ständig wachsende, schier unermeßliche, globale Finanzkapital so gut wie jedes Unternehmen, ganze Ländereien, ja Volkswirtschaften aufkaufen. Und wenn nicht
direkt kaufen, dann eben unter sein Kuratel zwingen. Genau das geschieht
heute in immer unglaublicherem Maße. In einem Satz: Warenproduzierende,
gesellschaftliche Arbeit, sinnvolle wie unsinnige, bringt in Gestalt von Geld,
das als selbstvermehrendes Kapital eigenmächtig wird, selber die ökonomische Supermacht hervor, die als unkontrollierbare Selbstverwertungsmaschinerie über die gesamte konkret-nützliche Arbeitswelt eine erpresserische
Diktatur errichtet. Oder bildhafter: Der Großteil des sachlichen und geistigen
Reichtums der produzierenden Gesellschaft hat sich als alles verschlingendes
Schwarzes Loch des nichts produzierenden Finanzkapitals verselbständigt,
das der produktiven Arbeit ständig aggressiv fordernd gegenübersteht. Das
sich selbst vermehrende Symbol Geld besitzt die totale Verfügungsgewalt
und das Besitzrecht über alle konkreten Früchte gesellschaftlicher Arbeit –
statt bloß Tauschmittel bestimmter Warenprodukte zu sein.
Praktisch äußert sich das heute so: Der anonymisierte, vollkommen abstrakte
Gewinn rangiert absolut vor einem menschenwürdigen Lohn, vor humanen
Arbeitsbedingungen, vor Pestizidverbot, vor Überdüngungs- und Antibiotikagrenzwerten in der Landwirtschaft, vor Schutz der Natur gegen Ölverseuchung, vor Verhinderung einer Gift-Vermüllung von Landschaft und
Weltmeeren, vor dem Verbot der Abholzung überlebenswichtiger Regenwälder – und so ließe sich diese Liste nahezu beliebig fortsetzen. Daß die
Politik mit ihren Palliativmittelchen in den Klauen der Wirtschaftslobbies
hilflos ist, beweist exemplarisch allein die leere Ankündigungspolitik gegen
den globalen Klimawandel oder gegen die Regenwaldvernichtung oder gegen Umweltgifte oder gegen überteuerte Medikamente oder gegen Arbeitssklaven in der Dritten Welt usw. usf.
Dabei fehlt die Einsicht in Gestalt wissenschaftlicher Sachkritik keineswegs
– sie ist längst auf allen Schadensgebieten überreich vorhanden. Hochindustrialisierte Länder, in denen es die Extraprofite des Kapitals erlauben, große
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Teile qualifizierter Lohnarbeiter ein wenig am überbordenden Reichtum partizipieren zu lassen, um sie so mit dem System zu versöhnen, verdeutlichen
inzwischen, daß keineswegs eine gerechtere Verteilung des Mehrprodukts
den Kern der gesellschaftlichen Misere ausmacht. Auch eine sozialistische
Gesellschaft kann ihr Mehrprodukt nicht bloß konsumieren. Der Springpunkt
ist, was über Inhalte und Ziele der wissenschaftlichen, technologischen und
wirtschaftlichen Entwicklung in letzter Instanz entscheidet: Ein anonymer
Profitzwang der Märkte oder die vernünftig und demokratisch eruierten Bedürfnisse und Aufgaben der Völker. Eine zukunftsfähige Politik kann sich
aber solange per Kopf nicht durchsetzen, solange der Antagonismus strukturell im globalen Wirtschaftssystem selbst steckt.
*
Gleichzeitig bedeutet die globale Finanzdiktatur bereits die formell vollzogene Vergesellschaftung der globalen Wirtschaft – allerdings in pervertierter
und antagonistischer Form (0,1 % der Weltbevölkerung verfügen über 21
Billionen Dollar, ca. 10 % der Weltwirtschaftleistung, 1 % über unfaßbare
50 %). Pervertiert, weil die Wert- also Geld- oder Kapitalform der geleisteten Arbeit über die nützlichen Erfordernisse der Weltgesellschaft obsiegt.
Für die Profitwirtschaft alles kein Problem, für die Menschheit Überlebensfrage: Profit rangiert wegen der Warenform der gesellschaftlichen Produkte
letztlich zu oft vor den sinnvollen Erfordernissen von Gesellschaft und Natur
– wie sozialen und psychologischen Pflegekräften, genügend Lehr-und Ausbildungsstellen, nachhaltiger Land- und Energiewirtschaft, Reduzierung und
Recycling des Mülls, am Patienten orientiertes Kranken- und Pharmaziewesen usw. Antagonistischen Charakter beweist diese Diktatur des Profits, weil
nachweislich keine Reform, keine Auflage oder Kontrolle verhindern kann,
daß der Abstand zwischen Monopolen und Volk, zwischen Profitinteresse
und sozialem Nutzen immer größer wird – selbst wenn der Prozeß sich verlangsamt –, solange das System nicht vom Kopf auf die Füße gestellt wird.
Nur apokalyptische Kriege und desaströse Wirtschaftskrisen haben bezeichnenderweise diese Trends bisher unterbrochen.
Darum werden unumgänglich die sinnvollen Interessen der Gesellschaft in
absehbarer Zukunft die Verwendung der Arbeitskapazität bestimmen müssen, nicht umgekehrt. Das heißt: Der Maßstab Arbeitsenergie vergegenständlicht als Geldkapital muß politisch kontrolliert aus der zwangsdiktatorischen
in eine dienende Funktion überführt werden. Gesellschaftliche Bedürfnisse
und Notwendigkeiten müssen den grundgesetzlich gesicherten Primat vor
privatem Gewinn besitzen. Die Effizienz aller Produktion und auch des Konsums muß der Wohlfahrt der Menschheit dienen – statt umgekehrt.
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Genau dorthin entwickeln sich nämlich auch die Potenzen der durch Wissenschaft und Hochtechnologie zunehmend global vergesellschafteten Produktivkräfte: Die sachlich gebotene, supranationale Zusammenarbeit bei der zur
Norm gewordenen, globalen Infrastruktur (Flugverkehr), Wissenschaft
(Orbitnutzung) und Forschung (AIDS, BSE usw.) wie bei den globalen Katastrophenfeldern (Klima, Migration, Atomenergie usw.) schreitet von Jahr
zu Jahr voran. Schließlich nimmt auch die Datenmenge, die zur funktionsgerechten Lenkung der Wirtschaft weltweit massenhaft erhoben wird und die
Rechnerleistung, sie zu verarbeiten, jährlich zu. Die Finanzdiktatur muß also
früher oder später durch eine gesellschaftlich – keinesfalls staatlich – kontrollierte „Finanz“-Dienstleistung ersetzt werden.
Die politischen Hauptakteure sollten sich nur bald entscheiden: Entweder ein
radikaler Systemwandel – angestoßen von unten (durch neue Volksparteien,
Attac, NGOs, Greenpeace, WWF, Human Right Watch, Amnesty International usw.) – und zumindest partiell flankiert durch endliche Einsicht von oben
oder der gleiche Systemwandel durch einen Weltbürgerkrieg in einer Orgie
von Gewalt, Zerstörung und Grausamkeit! Vielleicht fiele der hohen Politik
die vernünftige Wahl leichter, wenn sie verstehen würde, daß nicht willkürliche Ideen diesen Systemwandel auslösen, sondern objektive Rahmenbedingungen den Lauf der Weltgeschichte schon lange immer dezidierter in
eben diese Richtung lenken.
5
Rahmenbedingungen
– in Natur und Gesellschaft –
lenken unmerklich das Oberflächengeschehen
Wir konnten sehen: Entgegen den Geschichtsideologen des alles beherrschenden Zufalls, des undurchdringlichen Chaos oder gar der angeblich von
oben nach unten durchgesetzten normativen Werte wie der allgemeinen
Menschenrechte existiert tatsächlich ein natürlicher wie auch kulturell gegebener Faktor, der den weltgeschichtlichen Ereignissen immer wieder, ja
sogar beschleunigt eine Richtung verleiht: Und das sind historisch wechselnde Rahmenbedingungen. Sie sind groß, stabil, mächtig und wirken ganz
objektiv, ohne daß die subjektiv agierenden Menschen dies merken.
Zwar wird in vielen Geschichtswerken und vor allem Geschichtstheorien von
Rahmenbedingungen wie Klima, Topographie, Biosphäre, Bodenschätze,
Kultur und Tradition gesprochen, aber diese werden einseitig aufgefaßt.
Rahmenbedingungen werden allermeist bloß als kausale Gegebenheiten für
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eine bestimmte geschichtliche Entwicklung verstanden. Zum Beispiel die
Kohle- und Eisenlager Englands als notwendige Rahmenbedingung für die
dort im 18. Jahrhundert einsetzende industrielle Revolution. Solch ein Verständnis ist zu kurz gegriffen. Allerdings können wichtige Rahmenbedingungen gegeben sein, die aber nicht hinreichend sind, um eine bestimmte Entwicklung auszulösen; so ist Landwirtschaft für das Entstehen einer Hochkultur eine zwingende Grundvoraussetzung, aber nicht hinreichend.
Daß aber Rahmenbedingungen den geschichtlichen Prozeß, den sie einrahmen, gerade dadurch in eine bestimmte Richtung lenken, fehlt in allen Darstellungen der Weltgeschichte, die ereignisorientiert sind und an den Motiven der Akteure hängen. Ist dies erkannt, stellt sich die spezifischere Frage,
wie bestimmte Rahmenbedingungen während bestimmter Schlüsselperioden
der Weltgeschichte rein sachlich und selbstregulierend die Entwicklung
meist entgegen der bewußten Absichten der Menschen in eine bestimmte
Richtung lenken?
Was sind die Rahmenbedingungen für das steinzeitliche Entstehen von spezialisiertem Werkzeug? An erster, überragender Stelle steht natürlich die
Bewußtheit des Menschen. Erschwerte Reproduktionsbedingungen wie in
Mitteleuropa oder Australien beförderten in der Jungsteinzeit wahrscheinlich
zusätzlich die schnellere Entwicklung von differenziertem Werkzeug. Aber
die Bewußtheit des Menschen ist darüber hinaus die entscheidende Rahmenbedingung, daß die Menschheit sich überhaupt der Natur nicht mehr vorwiegend anpaßt, sondern entgegengesetzt Natur sich immer radikaler dienstbar
macht; daß die Weltgeschichte ab den antiken Hochkulturen sich langsam
kulturell höher entwickelt und seit dem Beginn der Neuzeit immer beschleunigter. Bewußtheit ist auf diesem Wege nicht nur Grundvoraussetzung, um
die Produktionsleistung immer schneller zu steigern, sondern um quasi nebenbei mit der kreativen Verbindung von experimenteller Wissenschaft und
Technologie nicht nur die globale Vergesellschaftung einer sich radikal
wandelnden Arbeit durchzusetzen, sondern um mit dem Entwickeln einer
Kunstnatur, die Menschheit auf einen höheren Entwicklungspfad zu hieven.
Zusätzliche Rahmenbedingungen für das Entstehen von Landwirtschaft waren: langsame Bevölkerungszunahme, damit Zunahme der Zahl von nomadisierenden Stämmen von Jägern und Sammlern, dadurch häufigeres Aufsuchen gleicher Sommer- und Winterquartiere, gemäßigtes Klima, Selbstdomestikation von Wildpflanzen und –tieren; zuchtfähige Tiere und Pflanzen.
Ohne die geeigneten, natürlichen Rahmenbedingungen des „Fruchtbaren
Halbmonds“ – wie mildes Klima, Savannenlandschaft, domestizierbare Tiere und Pflanzen – hätten die Jäger und Sammler auch nicht spontan auf die
Anpassungsleistungen in Flora und Fauna verstärkend reagieren können.
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So führt die Rahmenbedingung des landwirtschaftlichen Überschusses mit
einer gewissen Wahrscheinlichkeit zur ersten Ausdifferenzierung von Arbeit,
so daß in der Tendenz spezialisierte Berufe entstehen können. Diese tendenzielle Richtung des Arbeitsprozesses durch Überschuß wiederum führt keineswegs zwangsläufig zum Entstehen von Städten, Stadtstaaten oder gar
Hochkulturen. Dazu müssen mehrere Rahmenbedingungen gegeben sein, die
zusammenwirken, um die gesellschaftliche Entwicklung in eine solche Richtung zu lenken. Hinzu kommt, daß sich der Charakter von Rahmenbedingungen selbst geschichtlich verändert, indem vor allem aus natürlichen
Rahmenbedingungen wirtschaftliche, politische und kulturelle werden, die
sehr viel konziser die gesellschaftliche Entwicklung lenken.
Wie weit das Entwicklungspotential der Arbeit ausgeschöpft wird, hängt jedoch ganz von den natürlichen Rahmenbedingungen und dem gegebenen
gesellschaftlichen Entwicklungsgrad ab. Ohne die Flüsse- und Schwemmlandschaften von Euphrat und Tigris keine Bewässerungstechniken und demzufolge nicht die Hochkulturen der Sumerer und Babylonier. Ohne die jährlichen Überschwemmungen der Wüste durch den Nil, ohne seine mineralischen Ablagerungen keine doppelten und dreifachen Ernten und keine ägyptische Hochkultur. Langsam steigende landwirtschaftliche Überschüsse,
langsam sich differenzierende innere Teilung der Arbeit, die sich in entstehenden Städten manifestierte und mit dem regelmäßig werdenden äußeren
Handel Geld und Geldzirkulation entstehen ließ, wenn auch weitgehend nur
an den Rändern der Gesellschaften – damit entstand der lange ruhende
Keim eines ökonomischen Systems, das künftige Gesellschaften von den Beinen auf den Kopf stellen sollte.
Zu guter Letzt ist festzustellen: Je spezifischer und abstrakter Rahmenbedingungen werden – man denke an kulturelle, religiöse oder politische Dogmen
– desto stärker nimmt ihr gesellschaftlich lenkender einen steuernden Charakter an, der dem geschichtlichen Prozeß mehr oder minder vorübergehend
zumindest eine konzise Richtung gibt. Mit dem sich ausweitenden und vertiefenden Markt ist außerdem eine wirtschaftliche Rahmenbedingung entstanden, die, ohne daß die Menschen dies verstehen, das gesamte Denken
und Tun von Gesellschaften unter das exakt fokussierte Diktat des Wert- und
Gewinnzwanges stellen.
Ohne die topographische Diversität Europas keine entstehende Marktdominanz.
Rahmenbedingungen für das Entstehen von gesellschaftsbeherrschendem
Handels- und Bankenkapital: ein viele Gesellschaften durchdringender
Markt, daher: Kleinräumigkeit, konkurrierende Herrschaftsbereiche, konkurrierende Stadtstaaten, mannigfaltige Kulturen auf engem Raum
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Ohne das Bewahren antiker Wissenschaft durch die arabische Hochkultur
keine industrielle Revolution.
Rahmenbedingungen für das Entstehen von produktivem, industriellem Kapitalismus: entwickeltes Handwerk, seine Verbindung mit abstrakter Wissenschaft, Kohle als Industrieträger, Handelsnation
Meist werden in politischen oder soziologischen Gegenwartsanalysen die
allgemeinen Rahmenbedingungen vergessen – wie heute vor allem die Digitalisierung und damit Kommunizierbarkeit und Steuerbarkeit des Lebens von
der Produktion bis zur Konsumtion –, die scheinbar rein chaotische politische Prozesse letztlich doch in eine dezidierte Richtung dirigieren.
Rahmenbedingungen für das Entstehen einer geeinten, sozialen Weltrepublik: hochqualifizierte Lohnarbeiterschaft, Technologien für globale Kooperation und Kommunikation, Rechtsstaatlichkeit, direktere, demokratische Kontrolle des Staates von unten
Trotz all dieser Tatsachen bleibt meist die leidige Frage nach der „Ursache“
für eine behauptete Entwicklungsrichtung der Menschheit? Absolute und
eindeutige Ursachen gibt es aber nicht, da ständig die Wechselwirkung vieler
veränderlicher Faktoren herrscht. Am nächsten kommt einer Antwort: Es
sind die allgemeinen, grundlegenden Rahmenbedingungen in Natur und Gesellschaft – wie geographische und geologische Besonderheiten, Umweltgegebenheiten, kulturelle Zufälle, zivilisatorische Höhegrade –, die den chaotischen Strom der gesellschaftlichen Tätigkeit in eine wahrscheinliche Richtung lenken. Sie stellen aber lediglich eine sehr indirekte Lenkung von außen
dar, die später durch eine innergesellschaftliche, unbewußte Steuerung verstärkt wird. Diese entsteht als erstes langsam an den Rändern von Imperien
durch den anonymen gesellschaftlichen Zusammenhalt in Gestalt des Marktes und seinem abstrakten Leitmotiv des Geldes. Diese indirekte Lenkung in
eine allgemeine Richtung – die Verwandlung von Produkten in Waren –
kulminiert in eine zielgerichtete Steuerung jeder Produktion mit dem systemischen Zwang zum Kapitalgewinn.
*
Die beginnende Herrschaft des freien Marktes im 17. und 18. Jahrhundert
gebar mit dem Freihandelsideal des äquivalenten Tausches gleich gestellter
Bürger – unbehindert von feudalen Privilegien – auch das Ideal der Menschenrechte, wobei die Autonomie der Gedanken weit über die erreichte
Klassenwirklichkeit hinausschoß. Nicht die urplötzliche Idee der Menschenrechte hat die gesellschaftliche Teilung der Arbeit, damit einen äquivalenten
Warentausch und weiter das Bedürfnis nach einem freien Markt geschaffen,
Es war die Verwandlung der Welt in vorgeblich gleiche Warenbesitzer durch
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den unaufhaltsamen Weltmarkt, der die Idee der Menschenrechte seit dem
17. Jahrhundert immer mehr hat Gehör finden lassen.
6
Menschenrechte
– werden nur gemäß dem Höhegrad
der Vergesellschaftung der Arbeit verwirklicht
Geschichte bleibt unverständlich, solange man sie weitgehend als kunterbunte Ereignis- und Ideengeschichte abhandelt. Bestimmte Ideen wie die allgemeinen Menschenrechte fallen nicht zufällig zu beliebiger Zeit vom Himmel
und stellen auch keine ein für allemal feststehende Norm dar – wie die
pragmatische Interpretation des Asylrechts je nach Migrationsgeschehen augenscheinlich enthüllt –, sondern sind Resultat des bestimmten Höhegrads
einer Zivilisation.
Zeitgemäße Ideen brauchen nährende Fakten, einen handfesten Untergrund
und treten nicht voraussetzungslos auf. Was dagegen die Entwicklung der
menschlichen Gesellschaft langfristig und unabsichtlich strukturiert, das ist
die Form und das System ihrer Arbeit. Denn ehe Menschen Zeit finden, um
aufwendig Kultur und tiefgründig Ideen zu entwickeln, muß ihre Arbeit
mehr und mehr Überschuß, das heißt materielle Mittel der Zivilisierung liefern. Die Technologien, die Menschen hierzu anwenden und die Erfahrungen, die sie dabei mit der Natur machen, gestalten jede Gesellschaft neu und
dementsprechend ihre geistigen Produkte. Natürlich wirken Theorien und
Ideologien auf die Gesellschaft zurück – kurzfristig sogar dominant –, aber
langfristig und wirkmächtiger setzt sich die jeweilige gesellschaftliche Form
der Arbeit und ihrer Produkte beim Kreieren neuer Ideen durch. Die Idee des
Gottesgnadentums der Herrscher hatte keinen Bestand, aber die Entwicklung
des Widerspruchs zwischen Nutzen und Wert der Ware aufgrund der gesellschaftlichen Arbeitsteilung charakterisiert die Gesellschaft heute noch – und
führt zu den „Ideen“ des Grundeinkommens für alle, der TeilhabeÖkonomie, der sozialen Netzwerke usw.
Es war die zunehmende Teilung der gesellschaftlichen Arbeit, die einen immer ausgedehnteren Markt und mit ihm nach und nach den freien Unternehmer und die „freie“ Lohnarbeit hervorbrachte. Dementsprechend war es eine
Gesellschaft des zur „Norm“ werdenden freien Marktes, die aus der zwingend erforderlichen, freien Konkurrenz des Kapitals auch den freien Bürger
als allgemeine Idee ableitete. Und diese schon ökonomisch gebotene Ungebundenheit des Denkens erlaubte es auch, rein deduktiv zu „allgemeinen
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Menschenrechten“ fortzuschreiten – wenn dem auch die historische Praxis
widersprach (Zensuswahl, Frauendiskriminierung, Sklaverei). Es war demnach eine immer arbeitsteiligere Gesellschaft die erst solche abstrakte Ideen
ermöglichte und nicht etwa umgekehrt ein aufgeklärter König oder ein Prof.
Kant, die eine unentwickelte Gesellschaft zur Freiheit des Marktes und der
Bürger verdonnerten.
Genau das aber versuchen uns zeitgenössische Historiker (wie H. A. Winkler) einzureden, die behaupten, der Westen betreibe mit den allgemeinen
Menschenrechten „das normative Projekt der Moderne“. Weder existiert irgendwo eine wirksame Instanz, die ein solches Projekt durchsetzen möchte.
Im Gegenteil: Die Vorreiter der Menschenrechte, die USA, boykottieren den
Internationalen Gerichtshof und nutzen weidlich ihr Vetorecht in der UNO.
Noch besitzen die Verfassungen von 1776 und 1789 normativen Charakter.
Deswegen wird an solchen „Grundgesetzen“ auch regelmäßig aus opportunen Gründen herumgedoktert – siehe die „Amendments“ zur amerikanischen
Verfassung (z. B. zum Besitz und Tragen von Waffen) oder die aushöhlenden Ergänzungen zum deutschen Asylrecht. Denn weder Freiheit noch Würde des Menschen sind endgültig definierte Rechtsbegriffe – und können dies
auch nicht sein. Nicht unerhebliche Teile der öffentlichen Meinung verstehen bis heute unter Freiheit vor allem die Freiheit des Marktes, der Unternehmer gegenüber dem Staat und des Monopols der Staatsgewalt gegenüber
dem Einzelnen. Die Verfassungsgerichte dieser Welt streiten bis heute darüber, welcher Begriffsinhalt jeweils politisch und sozial gelegen sei (siehe
Religionsfreiheit, gleichgeschlechtliche Ehe, Leihmütterschaft oder – wie in
den USA – Freiheit des Waffenbesitzes, also zur Selbstjustiz usw.). Vollends
verraten die Menschenrechte von 1776 und 1789 ihre bürgerliche Herkunft,
weil darunter das Menschenrecht auf die Verfügungsgewalt über die eigenen
Arbeitsprodukte auffällig fehlt.
Und so waren im Mutterland der verfaßten Menschenrechte, den USA, auch
100 Jahre nach der Sklavenbefreiung Rassentrennung und -diskriminierung
noch Gesetz, entfernen sich die USA, seit sie die Souveränität Vietnams
niederzubomben versuchten, mit jedem Antiterrorkrieg und -gesetz weiter
vom angeblich normativen Projekt ihrer freiheitlichen Verfassung. Inzwischen sind die USA an dem Punkt angelangt, wo die Enthüller der Staatskriminalität und wahren Verteidiger der Verfassung zu Staatsfeinden erklärt
werden; und zwar von einem oligarchischen und plutokratischen Staat, der
mittels der Wahl korrumpierter Kandidaten kaum mehr zu bändigen ist (96
% der Senatoren sind von großen Geldgebern abhängig). Kurz: Je mehr sich
in den USA die Finanzdiktatur über ein halbbarbarisches Volk festigt (siehe
die breite Basis für Todesstrafe, Folter, Rache- und Vergeltungsideologie,
Sozialdarwinismus, evangelikalen Fundamentalismus) und je mehr sich die
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soziale Spaltung des Landes vertieft, desto häufiger müssen weltweite Kapitalinteressen gegen irgendeinen Terrorismus verteidigt werden.
Die historischen Gründe und geographischen Rahmenbedingungen für zivilisatorische Rückständigkeit mögen sehr verschieden sein: Diese an der Arbeits- und Wissensentwicklung orientierte Analyse der Weltgeschichte zeigt
aber, daß zumindest das bürgerliche Niveau eines Rechtsstaates und der Demokratie erreicht sein muß, ehe eine Gesellschaft auch zu einem sozial gerechteren Rechtsstaat und zu einer direkteren Demokratie fortschreiten kann.
Wo aber – wie in vielen Entwicklungsländern – noch nicht mal ein industrieller Kapitalismus und daher kein Bürgertum den Staat beherrscht, da kann
auch kein bürgerlicher Rechtsstaat und keine repräsentative Demokratie
herrschen. In Rußland andererseits besteht der Hemmschuh in den nationalistischen Folgen der verpatzten Wende der Staatswirtschaft in eine soziale
Marktwirtschaft, die stattdessen in eine Oligarchie mündete; in China in der
Usurpation auch der bürgerlichen Fortschritte durch eine Parteidiktatur und
in den USA in der Diktatur des Großkapitals mittels Usurpation des bürgerlichen Staates.
So sehr also eine Realisierung der Menschenrechte vom politisch-ökonomisch erreichten Entwicklungsstand einer Gesellschaft abhängt, sowenig
sind allgemeine Menschenrechte ein normativ oder transzendental feststehender Kanon absoluter Moral, den man beliebigen Gesellschaftszuständen
zu beliebigem Zeitpunkt überstülpen kann. Menschenrechte sind keine bloße
Idee oder austauschbare Eigentümlichkeit einer zufälligen Kultur des Westens. Auch die Menschenrechte besitzen eine innere Logik und Notwendigkeit, die allerdings erst durch eine entsprechende, politisch und sozial gefestigte Staatsform sukzessive umgesetzt werden kann. Sie sind deshalb nicht
allein moralisch oder aus Empathie verpflichtend, sondern tatsächlich funktional sinnvoll, weil ihre stete Mißachtung nicht nur einen ethischen wie
sachlichen Fortschritt der Menschheit verhindern würde, sondern letztlich
Rückschritt bewirkte. Warum?
Alle bisherigen Fortschritte von Gesellschaften beruhten grundlegend auf
den Vorteilen von Zusammenarbeit und gegenseitigem Lernen ansonsten
unterschiedlicher Menschen, während Konkurrenz, Streit oder Kampf nur
Abwegiges, Rückständiges und Überholtes beiseite räumen, soweit dies gespaltenen Gesellschaften friedlich nicht gelingt. Entsprechend lehrt die Erfahrung: Solange allgemeinste Lebensbedürfnisse – wie Unversehrtheit des
Leibes und der Seele, Freiheit, Arbeit, Nahrung, Behausung und Privatheit –
nicht jedem Menschen zugebilligt werden, solange schadet auch dies dem
Fortschritt der Gesellschaft, ja der ganzen Menschheit. – Wie weit also das
abstrakte Prinzip der Menschenrechte konkret und spezifisch umgesetzt wer-
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den kann, hängt nicht allein vom subjektiven Willen, sondern vom historisch
erreichten Niveau einer Gesellschaft ab.
Der heute möglich gewordene Höhegrad der Arbeitstechnologie, der gesamtgesellschaftlichen Kooperation und Kommunikation, der zugrundeliegenden wissenschaftlichen Ausbildung, beruflichen Qualifikation und entsprechenden Allgemeinbildung treibt inzwischen in den höchst entwickelten
Gesellschaften bereits über die bürgerliche Norm von Rechtsstaat und Demokratie hinaus, die sich primär am Geld mißt – siehe die lobbyverseuchten
Parlamente von USA, Deutschland, Japan usw. Für alle Staaten mit entsprechendem Defizit stellt sich daher anhand der Lehren der Geschichte die
schlichte Alternative: kontinuierliche, soziale Reformen von oben oder gewalttätiger Umbruch durch Krieg und Revolution von unten. Es wird in Zukunft von der Reife der jeweiligen politischen Führung und einer emanzipierten Massenbewegung abhängen, ob der Weg in die Weltgemeinschaft
über eine Apokalypse – gewaltiger als die beiden Weltkriege – oder friedlich
im demokratischen Diskurs erfolgt.
Protestbewegungen müssen nicht unmittelbar erfolgreich sein und sind es
meist nicht gewesen. Es ist von ihnen auch nicht zu erwarten, daß sie all das
richtig machen, was die professionelle, politische Elite falsch macht. Aber
sie üben meist den Druck in die richtige Richtung aus: Osterbewegung, AntiAtomkraftbewegung, globale 68-er Bewegung, grüne Bewegung, Prager
Frühling bis zur friedlichen Wendebewegung, Anti-Apartheid- und
Antirassismusbewegung, Demokratiebewegungen in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts von Griechenland über Spanien, Portugal, Brasilien, Argentinien, Philippinen, Südkorea, Chile, Indonesien bis hin zu Myanmar und
Tunesien im 21.Jahrhundert. Je mehr der erwirtschaftete, gesellschaftliche
Reichtum in Gestalt von Großbanken, Schattenbanken, Finanzgesellschaften
aller Art und ihrer Schuldanleihen sich auf der einen Seite häuft und auf der
andern Seite die Masse zunehmend qualifizierter, einfacher Lohnempfänger
– die all diesen Reichtum in Wirklichkeit produziert – dieses Monstrum unentwegt füttert, während für die schreienden Probleme der Gesellschaften
kein Geld vorhanden ist, desto unduldsamer wird diese zunehmend aufgeklärte Masse werden. Desto größer aber auch die Gefahr, daß rechtpopulistische Bewegungen Krisen nutzen, um Sündenböcke (wie 2015 Kriegs- und
Diktaturflüchtlinge nach Europa) für jede Malaise an den Pranger zu stellen.
*
Heute gibt es – in einer bis zum Zerreißen gespannten Welt – nur mehr ein
wirksames Mittel, Freiheit und Würde einer schließlich nur geschriebenen
Verfassung tatsächlich für alle Bürger zu verwirklichen: Die sozialen Inte-
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ressen aller abhängigen Arbeit müssen den verfassungsmäßigen Vorrang vor
den Interessen des Kapitals erlangen. Oder umgekehrt: Den gesamtgesellschaftlichen Interessen der Arbeit werden sich die Profitinteressen des Kapitals unterordnen müssen. Allerdings verlöre damit das alte Kapital seine Seele, es würde vom Herrn zum Diener. Gelingt dies in der kommenden, demokratischen Auseinandersetzung zumindest Europas nicht, wird die letztlich
unvermeidliche Umwälzung des Wirtschafts-und Gesellschaftsystem nicht
angegangen – was zu befürchten ist –, so wird der innere oder äußere Krieg
die unvermeidliche Folge sein.
7
Umwälzung
– der kapitalistischen Nationalstaaten in eine soziale Weltrepublik
Wir stecken mitten in einer gewaltigen, sozialen Transformation des Weltkapitalismus, ohne daß die radikal bürgerlichen wie die radikal linken Intellektuellen sie als solche erkennen würden.
Das Aufkommen progressiver, gemeinnütziger Lebens- und Produktionsformen, ihr sukzessives Hineinwachsen in die kapitalistische Gesellschaft, ja
das Unterwandern derselben, all das vollzieht sich hautnah unter dem Kuratel des allgemeinen Profitzwangs oder zumindest in seinem Schatten. Genau
deswegen spitzen sich kulturelle, soziale, ökonomische, politische und ökologische Antagonismen unaufhaltsam zu – sich äußernd in Fundamentalismus, Migrationsdruck, Schuldenkrise, Neonationalismus und Umweltdesaster. Antagonismen, die sich als nicht reformierbar erweisen. Der Zeitpunkt,
da Zufälle oder entstandenes Chaos die sich anhäufenden, globalen Pulverfässer zur Entladung bringen werden – wie dies 1914 bis 1945 geschah –,
rückt ganz objektiv heran – nur von der Hoffnung auf Wohlstandserhalt
verdrängt. Es bleibt abzuwarten, ob bei einer auf die Menschheit zukommenden, analogen Konfliktsituation wie 1914, alle progressiven Parteien,
Bewegungen und Persönlichkeiten dieses Mal im entscheidenden Augenblick das einzig Richtige tun: Nämlich entschieden Nein zu sagen und dafür
– wenn unvermeidbar – auch zu kämpfen.
Die dogmatische Linke klebt an der Illusion der einmaligen, politischen
Machtergreifung, worauf der Kapitalismus abgeschafft wird. Geschichtliche
Erfahrungen dazu, wie sich etwa die Umwälzung von der feudalen in die
kapitalistische Produktionsweise über Jahrhunderte im kunterbunten Hin und
Her, im Auf und Ab hinzog, straft sie mit ignoranter Verachtung. Daß eine
sozialpolitische Revolution sich erst behaupten kann, wenn die materiellen
Bedingungen der neuen Produktionsweise hinreichend tief und weit entstan-
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den sind – wie ihre Theorie-Vorbilder unermüdlich anmahnten – leugnen sie
mit der Phrase von einer vorgeblich ahistorischen Logik des Kapitals. Entsprechend sehen die ökonomischen Erfolge aus, sobald Linksradikale bisher
an die Macht kamen: Statt durch Innovation und Investition in Technologie
und Bildung besser als das Bürgertum zu wirtschaften: Bürokratie, Desorganisation und Talfahrt bei der Produktivität ohne Ende.
Die dogmatische Rechte dagegen behauptet wider alle geschichtliche Erfahrung, Kapitalismus liege in der Natur des Menschen und erweise sich für
immer als jeder anderen Produktionsweise überlegen. Das assistierende, sozialdemokratische Bürgertum – das etwa ein Sozialwissenschaftler wie Prof.
Kocka vertritt – will die Auswüchse und Schäden an Mensch und Natur
durch die Profitwirtschaft zwar nicht leugnen, hängt aber der allem Augenschein spottenden Illusion an, die hochdynamischen Antagonismen des Kapitalismus und seine Folgen ließen sich durch Reformen stets und grundlegend reparieren. Man sieht, auch der Reformglaube wirkt auf die Verewigung des Kapitalprinzips hin. Es lautet: Profit geht im Zweifelsfall vor gesellschaftlichen Nutzen, gemeinschaftlich, ja gesamtgesellschaftlich wird
produziert, aber privates Kapital verfügt über diesen Reichtum. Glücklicherweise zeigt uns die Geschichte, daß sozioökonomische Antagonismen
ihren eigenen Untergang bewirken – bisher allerdings stets in Kataklysmen.
Wie sah der “Zusammenbruch“ des Feudalismus aus?
Erinnern wir uns: In der Vergangenheit konnten die Intentionen der gescheiterten, bürgerlichen Revolution Europas von 1848 erst mittels der Destruktivkräfte des Ersten und Zweiten Weltkrieges realisiert werden. Wenn nun
die letzte große Transformation der menschheitlichen Produktionsweise aufgrund der tiefen Antagonismen der arbeitsteiligen Weltwirtschaft wieder nur
mittels infernalischer Katastrophen vollzogen werden kann, so zeugt das nur
von der inzwischen verinnerlichten Macht der globalen Kapitalinteressen
auch bei einer mehr oder minder aufgeklärten Elite.
Vorhersehbar ist dennoch: Von allen Produktionsweisen der Menschheitsgeschichte wird der Kapitalismus die kürzeste Zeitspanne bestehen, weil er
seine eigene Umwälzung ständig beschleunigt. Vielleicht macht ein zeitlicher Vergleich nachdenklich: Jagd- und Sammelgemeinschaften bestanden
mindestens 70 000 Jahre – eine Ewigkeit; Landwirtschaft dominierte immerhin über 6 000 Jahre; die Dominanz des Handelskapitals behauptete sich nur
noch 300 Jahre; der industrielle Kapitalismus zeigt nach läppischen 200 Jahren bereits deutliche Symptome der Selbstdestruktion (Ressourcenerschöpfung, steigende Arbeitslosigkeit, Finanzdiktatur, neoimperiale Kriegs- und
Kulturschockfolgen wie Migration und religiöser Fundamentalismus).
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Umso mehr muß verwundern, wenn von der herrschenden Gesellschafts- und
Wirtschaftswissenschaft sowohl die parlamentarisch-repäsentative Demokratieform – in Westeuropa längst unzureichend – als auch vor allem die kapitalistische, marktwirtschaftliche Produktionsweise als die normative, unveränderliche ultima ratio verstanden werden. Diese Verblendung herrscht weithin, während Wissenschaft und Technologie die gesellschaftliche Teilung
der Arbeit in einem Tempo wie nie zuvor periodisch revolutionieren. Und
zwar, indem eine bisher ungeplante, unkontrollierte und unverstandene
Selbstregulation von geteilter (also: den Markt konstituierender) Arbeit
durch Datenerhebung (Speicher, Sensoren) und -verarbeitung zusehends in
gesamtgesellschaftlich bewußt gelenkte (also: den Markt unterminierende)
Arbeitsteilung übergeht.
Allerdings setzte eine solche Einsicht in den transitorischen Charakter des
Weltkapitalismus voraus, daß die innere wie äußere Teilung der Arbeit als
das revolutionierende System- und Strukturprinzip der modernen Gesellschaft schlechthin erkannt würde. (Tatsächlich bildet gesellschaftliche Arbeitsteilung und ihr Systemwandel kaum einen Forschungsgegenstand.)
Handwerkliche Arbeitsteilung kannte schon die Antike – aber kein industrielles Kapital. (Die äußerst seltenen Ausnahmen bestätigen die Regel.) Erst
die zunehmende Differenzierung der Produkte und damit die zunehmende
Spezialisierung der Arbeitstechniken überforderten die ursprünglich bäuerlichen Familienwirtschaften und ließen zuerst manufakturelle, dann fabrikmäßige Produktion entstehen. Deren immer leistungsfähigere Maschinerie war nur durch immer größeres Kapital finanzierbar und ruinierte die kleinen Familienbetriebe im Wettbewerb. Der weitere Fortschritt der Arbeitsteilung in der Industrie sonderte immer neue Produkte und spezifische Produktionsbereiche ab, ließ damit den Weltmarkt immer größer, undurchsichtiger
und chaotischer werden.
Gleichzeitig aber verlagert inzwischen der Fortschritt von Wissenschaften
und neuen Technologien mehr und mehr Arbeiten in die Maschine, ja in die
Robotik; führt sogar zur automatischen Verarbeitung der Informationen zwischen Menschen, dann zwischen Maschinen wie auch zwischen Mensch und
Maschine. Was viele Linke nun abtun: Wenn einerseits eine ungeregelte und
blinde Arbeitsteilung einen sich ständig ausdehnenden Markt und immer
brutalere Konkurrenz schufen, so führen andererseits immer leistungsfähigere Techniken der Kooperation und Kommunikation – gipfelnd in der globalen Datenverarbeitung – die hochdifferenzierte, moderne Gesellschaft auch
immer bewußter wieder zusammen. Daß die mißbräuchlichen Monopole sozialer Technologien wie Google, Amazon, Facebook und Big Data deshalb
früher oder später unabhängiger, gesellschaftlicher – keinesfalls staatlicher –
Kontrolle von unten unterworfen werden müssen, ist unvermeidlich. Diese
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Entwicklungstendenz zeigt sich am deutlichsten an den großen Fragen der
modernen Gesellschaft – wie zum Beispiel nachhaltiger Energiesysteme,
Migrationsströme durch Spaltung von Gesellschaften, Epidemien, Schuldenwirtschaft – die allesamt globalen Charakter annehmen und nur noch in
Übereinkunft nach ideologiefreien Kriterien zu bewältigen sind.
Hineinwachsen von demokratisch assoziierten Produktionsformen in die kapitalistische Produktionsweise, ihr Zersetzen und Untergraben durch gemeinwirtschaftliche, gemeinnützige und demokratisch kontrollierte, kooperative Gesellschaftsformen
Summa summarum: Kein Entwicklungsstadium gilt absolut – erst recht das
kapitalistische nicht –, keine Wirtschaftsform oder gar Politikform vermag
auf Dauer zu bestehen.
Politische Indikatoren der globalen Vergesellschaftung sind beispielsweise
das Abschmelzen der Souveränität der Nationalstaaten in der EU (ein typisches Nachhutgefecht war der freigesetzte Nationalismus der Serben, die
inzwischen vor dem Anschluß an die EU stehen; einen weitreichenderen
Nachholfall sehen wir heute in der Ukraine respektive Rußland), die europäische Energiewende hin zu vollständig regenerativen Energien, ein Weltklimaabkommen zuletzt auch mit Unterstützung von China und USA, das Begrenzen der Fangquoten in den Weltmeeren, die weltweite Ächtung von
Kinderarbeit, die Bußgelder gegen große Konzerne wegen Marktmißbrauch
und Verbraucherschädigung, die beginnende internationale Bankenkontrolle
und nicht zuletzt internationale Forschungsvorhaben (CERN) und wissenschaftliche Zusammenarbeit (ITER) usw. Natürlich schließen diese Entwicklungstendenzen partielle, ja sogar gravierende Rückschritte nicht aus – vom
Stillstand zu schweigen. Wer über die oft eher propagandistischen Fortschritte demokratischer Kontrolle lästert, irrt sich: Auch die Kontrolle des absoluten Herrschers durch die Stände begann homöopathisch.
Bei aller Ungleichzeitigkeit der internationalen Entwicklung: Die Epoche
des Nationalstaats (beginnend mit dem Absolutismus) neigt sich ihrem Ende
zu. Die Europäische Union ist kein Sonderfall, sondern weist nur den Weg
beim weltweiten Souveränitätsverlust der alten Nationalstaaten. Wie weitere
Zusammenschlüsse anzeigen, gehen nach und nach auch andere Nationalstaaten notgedrungen zu Staatenbünden über (MERCOSUR, ASEAN,
NAFTA, BRICS, AFRIKANISCHE UNION). Allgemeinster Grund ist die
fortschreitende, globale Vergesellschaftung der Arbeit – zuerst nur formal
durch den Weltmarkt dann inhaltlich durch immer effizientere Informations-,
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Kommunikations- und damit Kooperationstechnologien. Früher oder später
kann kein Staat mehr alleine vor den Riesenaufgaben der modernen Weltzivilisation bestehen.
Die letztlich vergeblichen Widerstände gegen diesen unvermeidlichen Souveränitätsverlust werden enorm sein; gerade in mächtigen Staaten wie Rußland und China, die ihre nationale Identität noch nie richtig finden konnten
oder wie in den USA, die in ihrem bürgerlichen Gründungsmythos gefangen
sind. Die zwangsläufige Ungleichzeitigkeit der geschichtlichen Entwicklung
bewirkt, daß selbst große Völker, Nationen und Staaten nicht einmal einen
vollwertig bürgerlichen Rechtsstaat und keine vollwertige parlamentarische
Demokratie errungen haben.
Die gewaltigsten Konfliktherde der Zukunft bilden daher absehbar Rußland,
China und Indien; seit jüngerer Zeit zählen auch die USA dazu – siehe finanzielle und staatliche Wahlmanipulation, korrupte Spendenwahlen, fortschreitende soziale Spaltung, legalisierte Folter, nichtlegitimierte Hinrichtungen (Drohnen), unkontrollierte, geheimdienstliche Totalüberwachung,
rechtsfreie Räume (Guantanamo, NSA, CIA) usw. Es ist daher keineswegs
abwegig, zu vermuten, daß die innere, ideologische Spaltung der USA eher
durch einen neuen, großen Bürgerkrieg, als durch außenpolitische Konflikte
überwunden werden könnte.
*
Die Umwälzung der bürgerlichen Nationalstaaten und ihres neoimperialistischen Weltmarktes in eine wahrhaft soziale Weltrepublik wird sich also in
gewaltigen, sozio-politischen Richtungskämpfen vollziehen. Und sei es erst
durch die erneute, traumatische Lehre eines globalen, zivilisatorischen Kollapses.
46
Resümee
Alle aufgeführten, elementaren Schlüsselbegriffe der Geschichte besitzen
grundlegenden Widerspruchscharakter. Diese Widersprüche präzise festzustellen und zu analysieren war unbedingt erforderlich. Denn werden diese
Widersprüche durch äußere Rahmenbedingungen in Bewegung versetzt, gar
antagonistisch zugespitzt, und dabei ein inneres Bewegungsgesetz verselbständigt, so steht die weitere Richtung mit hoher Wahrscheinlichkeit fest.
Gerade an der stufenweisen Entwicklung der Widersprüche der Arbeit zeigt
sich der Fortschritt der Menschheits- und Weltgeschichte.
Die Bewußtheit des Menschen steht im diametralen Gegensatz zur bewußtlosen Evolution der Natur.
Da Bewußtheit auf der relativen Autonomie des Denkvermögens, beliebig
lange Beliebiges zu denken, beruht, vermag sie auch die Widersprüche
menschlichen Denkens zu erkennen: bewußt versus unbewußt; rational, logisch und verstandesmäßig versus emotional, paradox, phantasievoll.
Wie wir gesehen haben, ist die Denk-Arbeit ein wesentlicher Teil menschlicher Arbeit. Ihre Widersprüche werden also wechselwirkend mit den drei
anderen Widersprüchen der Arbeit weiterentwickelt – falls Arbeit in der Geschichte entsteht und überhaupt Gelegenheit bekommt, sich zu wandeln.
Die wirtschaftliche Entwicklung des Gegensatzes zwischen ungeteilter und
geteilter oder zwischen innerer und äußerer Arbeitsteilung führt zum offenen Widerspruch zwischen Gebrauchswertproduktion für die Bedürfnisse
der Gesellschaft und der privaten Gewinnmaximierung. Da die gesellschaftliche Arbeitsteilung eine Fernwirkung ähnlich der Gravitation entwickelt,
erfaßt sie schließlich die gesamte Welt.
Solange aber globale Arbeitsteilung herrscht, ist der Antagonismus des Kapitalprinzips nicht auszurotten. Dieser Antagonismus nimmt viele Gesichter
an: arm – reich, Entwicklungsländer – Metropolen, Arbeitsplatz – Arbeitslosigkeit, Technik – Umwelt, Unwissen – Wissen usw.
Die geschichtliche Entwicklung des Menschen und seiner Arbeit wird gelenkt von Rahmenbedingungen, die selbst eine gegensätzliche Natur aufweisen. Nord – Süd, Land – Wasser, Großräumigkeit – Kleinräumigkeit,
Monokulturen - Multikulturell
Abhängig von der Entwicklung gesellschaftlicher Arbeit entwickeln sich
auch das Denken der Menschen und somit ihre Ideen. Die Gegensätze der
Ideen in einer Gesellschaft reflektieren die Gegensätze im sozialen Status
der Menschen. Trotzdem besteht eine Entwicklungsrichtung, was das Bild
des Menschen betrifft – es tendiert zur Vorstellung von der Gleichwertigkeit
aller Menschen. Doch selbst die seit der Aufklärung formulierte Allgemein-
47
heit der Menschenrechte wird den Widerspruchscharakter aller Dinge nicht
los.
Abschließend oder vorneweg den realen Widerspruch erklären im Gegensatz
zum logischen Widerspruch.
3 Arbeitsteilung –
wirkt antagonistisch oder harmonisch – je nach System
4 Antagonismus – des Weltkapitalismus: entlädt sich in einem Katastrophenszenario
6 Menschenrechte – werden nur im Maße des Entwicklungsniveaus gesellschaftlicher Arbeit verwirklicht
7 Umwälzung – der Nationalstaaten in eine soziale Weltrepublik
48
II
Entstehen eines Sinns der Weltgeschichte
Zur wissenschaftlichen Methode
Der zeitgenössische Hoheitsanspruch des Positivismus gründet darauf, jede
allgemeine Gesetzmäßigkeit von Geschichte zu leugnen. Angeblich wäre ein
Bewegungsgesetz unvereinbar mit den mehr oder minder zufälligen Besonderheiten, die notwendigerweise in einem vielschichtigen Entwicklungsprozeß wie der Menschheitsgeschichte auftreten.
Aufgrund seiner soziologischen Methode, das Augenmerk geradezu ausschließlich auf die Spezifik jeder nationalen Wirtschaft und jeder historischen Phase zu lenken, schreibt der Positivismus jedem nebensächlichen
Faktum den gleichen Stellenwert zu. Auf diese Weise verkennt oder verleugnet er die allgemeine Entwicklungslogik, die unter vielen, ähnlichen aber
variierenden Phänomenen verborgen liegt. Daß diese Entwicklungslogik in
den Widersprüchen gesellschaftlicher Arbeit begründet ist, werden wir anhand der Schlüsselperioden der folgenden Weltgeschichtsanalyse nachvollziehen können. Eine aussagekräftige Analyse verlangt aber von ephemeren
Erscheinungen wie Schlachten, Anschlägen, dynastischen Hochzeiten, Verträgen etc. weitgehend abzusehen, um den fundamentalen Wandel von Arbeits- und Gesellschaftsstrukturen aufzudecken, die weit tiefer liegen und
daher richtungsweisend sind.
Gleichzeitig ignoriert oder mißversteht der Positivismus die qualitativen
Sprünge, die geschichtlichen Fortschritt ausmachen – wie zum Beispiel den
Sprung vom Handels- zum Industriekapital. Seine einzige Theorie besteht
darin, daß der Mensch sich im wesentlichen immer gleich und bloß graduell
verändere und die immer neuen Facetten der Geschichte nur zufällige, daher
nie vorhersehbare Variationen dieses grundlegenden Verhaltens wären. Dieses Verhaltensmerkmal wäre der Egoismus des Menschen und daher sein
Hang zum Gewinnstreben. Daß einem solchen ideologiegetränkten Biologismus mindestens 5 000 Jahre des Übergangs von den jahrzehntausendelangen
Jagd- und Sammelgemeinschaften in vorwiegend landwirtschaftliche Dorfgemeinschaften vehement widersprechen, rührt die herrschende Wissenschaft nicht. Die Langsamkeit der geschichtlichen Veränderungen machte
jedoch diesen Übergang für jede Generation unmerklich und ungewollt. Jede
Generation einer neolithischen Kultur wollte ihre Traditionen bewahren und
glaubte schon immer wie die Ahnen gelebt zu haben.
49
Außerdem gibt es Hinweise genug, nach den verborgenen Gesetzmäßigkeiten geschichtlicher Entwicklung zu suchen: Geschichte beschleunigt sich
fortwährend; die gesellschaftlichen Größenordnungen wachsen unentwegt
an; Wissen und Wissenschaft gewinnen ständig an Bedeutung; Naturkontrolle und sachlicher Reichtum nehmen mehr und mehr zu. Solche allgemeinen
Entwicklungstendenzen gelten für die Menschheitsgeschichte als Ganzes,
können nicht durch regionale und phasenweise Abweichungen in Frage gestellt werden. Die zeitgenössische Geschichtswissenschaft oder historische
Soziologie kann aber aufgrund ihrer positivistischen Vorgehensweise große,
zusammenhängende Muster, Strukturen und Gegensätze erst gar nicht erkennen, weil sie nicht bereit ist, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden. Vor allem aber kann sie auf diesem Wege die tatsächliche Entwicklung nicht erklären, sondern bestenfalls impressionistisch nacherzählen.
Eine Analyse der Weltgeschichte, die deren flirrende Oberfläche durchdringen will, darf sich also nicht in lokalen Eigenheiten und regionalen Besonderheiten erschöpfen, sie darf nicht nur Abweichungen, Sonderentwicklungen und Sackgassen aufzählen – kurz: sie darf sich nicht nur auf die Unberechenbarkeit chaotischer Zustände und die daraus hervorgehenden Zufälle
kaprizieren, sondern sie muß gerade umgekehrt vom rein Zufälligen abstrahieren, muß zwischen den Chaoszuständen die Tendenz einer Entwicklungsrichtung aufspüren, ohne jeden Ansatz dazu für absolut zu nehmen. Und sie
muß vor allem die innere Logik der qualitativen Schritte ergründen, die aufeinander folgen.
Kurz: Eine wahre Wissenschaft muß auch eine stringente Theorie der geschichtlichen Entwicklung liefern. Dieser theoretische Sinn wie auch die Fähigkeit zur abstrakten Analyse sind aber der spätbürgerlichen Wissenschaft
seit Beginn des 20. Jahrhunderts nahezu komplett verloren gegangen. Im
selben Maße als Waren und ihre bloßen Wertgrößen jeden Winkel der Gesellschaft erfaßten, als mathematische Formeln mit Verständnis der Wirklichkeit verwechselt wurden, erkannte auch die Wissenschaft der Soziologie
nur noch meßbare Fakten an, beschäftigte sie sich nur noch mit dem Gleißen
und Schillern der Oberfläche, um im gleichen Atemzug jede geschichtliche,
abstrakt-allgemeine Entwicklungsrichtung zu verwerfen, weil dieser tausenderlei Eigentümlichkeiten widersprechen – scheinbar. Während aber die moderne Astronomie, Physik und Chemie immerhin neben einem angeblich
widerspruchsfreien Standardmodell auch ein Modell der Kosmosevolution
zumindest bis hin zu Sonnen- und Planetensystemen zu entwerfen suchen,
bleiben Historiker, Soziologen und Geistesgeschichtler bei dem rein positivistischen Sammeln, Aufzählen und Nebeneinanderstellen unterschiedlichster Fakten beliebiger Größenordnung stehen. Heutige Biologen und Anthropologen nehmen eine Zwidderposition ein, indem sie einem erklärungsunfä-
50
higen, weil verabsolutierten Gradualismus frönen: Als genügte die Aufeinanderfolge kleiner, rein quantitativer Schritte derselben Qualität, um radikale, qualitative Sprünge zu erklären. Immer mehr Handel erklärt nicht die
Gewinnmaschine des Industriekapitalismus; und immer mehr soziale Reformen beseitigen nicht den grundlegenden Antagonismus des Profitprimats.
Um eine widersprüchliche Höherentwicklung des Gesamtprozesses zu erkennen, darf Geschichtswissenschaft daher nicht nur monoton fragen: warum? Warum blieb der Mensch jahrzehntausendelang Jäger und Sammler?
Warum entstand Landwirtschaft? Warum nur in einigen Regionen der Erde?
Warum ging das Römische Imperium unter? Warum nahm der Kolonialismus von Europa seinen Ausgang und die Industrielle Revolution von England usw.? So wichtig die Antworten auf solche Fragen sein mögen, monokausale Antworten helfen ohnehin nicht weiter, weil in der Geschichte immer viele, verschieden gewichtige Faktoren wechselwirken und daher stets
nur Wahrscheinlichkeiten gelten. Vor allem aber läßt sich auf diese Weise
nicht zeigen, welche innere Logik die Entwicklungsrichtung einer neuen
Produktionsweise bestimmt. Ein insgesamt chaotisch scheinendes Geschehen läßt sich durch noch so viele Einzelursachen nicht aufdröseln. Und
Weltgeschichte wird nicht mittels einer endlosen Kette von angeblich absolut wirkenden Ursachen einsichtig.
Wer Menschheitsgeschichte trotz ihres mäandernden Verlaufs, trotz paradoxer Mannigfaltigkeit verstehen, ja durchschauen will, muß darüber hinaus
ganz andere Fragen stellen. Fragen nach den konkreten Widersprüchen, die
eine Produktionsweise und ihre entsprechende Gesellschaftsverfassung begründen. Fragen nach dem fundamentalen Zusammenhang zwischen objektiven und subjektiven Faktoren der Weltgeschichte. Fragen nach den unerläßlichen Katalysatoren für die progressive Entwicklung einer Zivilisation –
wie Überschuß der Landwirtschaft, Wissenschaftsdenken, formalen Gewinnzwang, Kapitalisierung der Produktion und kommunikationsbasierte Globalisierung. Vor allem aber Fragen nach der Zuspitzung von Widersprüchen
einer bestimmten Produktionsweise, einer entsprechenden Gesellschaft und
ihren politischen Kämpfen. Offenkundig ist die jeweils progressive oder regressive oder statische Funktion, die eine spezifische Form der Gesellschaft
in der Geschichte ausübt – ob autark oder imperial, ob merkantil oder produktiv – veränderlich, muß je nach Entwicklungsstand richtig bestimmt werden.
Die Antwort auf den Antagonismus gesellschaftlicher Arbeit in der Epoche
des globalen Finanzkapitals, mündet in eine strategische Frage an die zeitgenössische Politik: Will sie in der bloß reaktiven Verwaltung von SystemKrisen verharren angesichts einer permanenten technologischen Revolution,
die einen bestimmten, radikalen Wandel der Wirtschafts- und Gesellschafts-
51
verfassung unausweichlich macht? Oder verhindert sie endlich die Großkatastrophen der Geschichte, indem sie der seit der ersten Industriellen Revolution immer offenkundiger werdenden Entwicklungstendenz der Wirtschaft
folgt, der Emanzipation der Arbeit in jeder Hinsicht – durch deren Demokratisierung, deren soziale Absicherung, deren unaufhörliche Qualifizierung,
deren informationsbasierte Vergesellschaftung. Folge dieser Sach- und Wissensrevolutionen ist zu guter Letzt ein über Jahrhunderte wachsendes Selbstbewußtsein der Massen (entgegen Ortega y Gasset).
*
Auch wenn die bekannten, großen Perioden der Weltgeschichte nicht überall
zur selben Zeit durchlaufen wurden, wichtig ist, daß die Menschheit als
Ganzes – unter gegebenen Rahmenbedingungen – sie nicht anders als in dieser Reihenfolge absolvieren konnte: Jagdgemeinschaften mit Naturreligionen, Landwirtschaft mit Stadtstaaten und Fernhandel, antike Hochkulturen
mit Sklavenwirtschaft und Philosophie, Feudalismus mit Leibeigenschaft
und Marktausweitung, beginnender Weltmarkt mit Handels- und Bankenkapital, bürgerliche Gesellschaft mit industriellem Kapitalismus. Zufälligkeiten
hätten jede dieser Perioden sehr viel anders verlaufen lassen können als geschehen. Aber an der unausweichlichen, inneren Logik dieser Entwicklungsstufen käme keine Variation vorbei. Gemäß dieser Widerspruchslogik fangen
die hochqualifizierten Lohnabhängigen von heute bereits erkennbar an, in
Konfrontation zum globalen Finanzleviathan mittels kooperativer und kommunikativer Technologien eine nutzenorientierte, soziale Weltwirtschaft zu
etablieren.
Jede der genannten Perioden zeichnet zumindest eine wesentliche Eigenschaft aus, darunter fundamental die Landwirtschaft ein steigerungsfähiger
Überschuß. Welche Wesenseigenschaft die weltgeschichtliche Periode von
heute charakterisiert, wird abschließend von größtem Interesse sein. Ist das
Charakteristikum jeder Periode erkannt, dann wird die weitere Analyse zeigen, daß deren Aufeinanderfolge einen inneren Widerspruch – eine Dialektik
– zwischen Natur und Mensch entwickelt. Diese Aufeinanderfolge ist lediglich systemlogischer Art, bedeutet nicht zwangsläufig ihre gleichzeitige
Verwirklichung in einer Region oder an allen Orten der Erde.
Die Realisation der Logik dieser Entwicklung stellt also keineswegs eine
absolute Notwendigkeit dar. Nicht jedes Volk, jede Region oder jede Nation
muß jede der genannten Schlüsselperioden akkurat nacheinander absolvieren. Aber irgendwo und -wann mußte jede dieser Schlüsselperioden – weil
von progressivem Charakter – zumindest einmal vollzogen werden. Exemplarisch dafür: Abstrakte Wissenschaft entstand einzig im antiken Griechen-
52
land. Nur dadurch konnte in einer anderen Region – wie in Mitteleuropa –
durch die sukzessive Verbindung von Mathematik, Handwerk und Handelskapital die immanent folgende Schlüsselperiode des Industriekapitalismus
entwickelt werden. Erst damit war die allgemeine Richtung höherer Effizienz der Arbeit gewährleistet. Allgemeinste Entwicklungsbedingung ist nur,
daß ausreichend vielfältige Voraussetzungen gegeben sind, die unter anderem einen progressiven Pfad eröffnen, dann wird dieser durch alle geschichtlichen Zufälle hindurch auch gefunden.
Die wesentlichste Aufgabe muß folglich sein, den roten, funktionalen Faden
in der Entwicklung gesellschaftlicher Arbeit herauszuschälen. Arbeit mit
ihren realen Widersprüchen treibt die Geschichte konkret und tatsächlich
voran – wenn auch ohne bewußte Absicht der Menschen. Menschen interessiert vorrangig Sicherheit, Wohlstand oder Gewinn. Die unbewußte, widersprüchliche Entwicklung der gesellschaftlichen Form von Arbeit muß daher
im Zentrum jeder in die Tiefe gehenden Geschichtsschreibung stehen und
nicht etwa der soziale Reflex der Arbeit in den Ideologien ínteressenbedingter Politik mit ihren Haupt- und Staatsaktionen, welche allermeist einen
überholten Entwicklungsstand erhalten oder gar noch weiter zurückdrehen
wollen. Die unbewußte Emanzipation der Arbeit vollzieht sich in den genannten sieben Schlüsselperioden, deren jeweilige Funktion auch deren historischen Stellenwert festlegt.
Arbeit – als typische Form der Auseinandersetzung mit der Natur zwecks
Subsistenz – entstand erst mit der landwirtschaftlichen Revolution, um jahrtausendelang zu stagnieren, ohne daß große Religionen und Philosophien an
den gesellschaftlichen Verfassungen wesentliches änderten. Doch eine kaum
merkliche Vertiefung und Ausweitung gesellschaftlicher Arbeitsteilung begann in Europa nicht nur das Wirtschaftssystem, sondern auch Religion, Philosophie und Herrschaftsverhältnisse umzustürzen. Seit der arbeitsteilige
Weltmarkt das Industriekapital inthronisiert hat, wird Arbeit als profitbildendes Element mit jeder neuen wissenschaftlich-technologischen Revolution mehr pulverisiert – ja letztlich wieder zum Verschwinden gebracht, was
sich heute bereits abzeichnet.
Somit stellt sich die Kernfrage: Wie revolutioniert die konkrete, widersprüchliche Entwicklung der Arbeit das Verhältnis des Menschen zur Natur,
welche Folgen hat sie für die soziale Zukunft der Menschheit? Darauf wird
die kommende Analyse eine provokante Antwort liefern.
53
1
Sieben Schlüsselperioden
verraten eine immanente Tendenz
Erste Schlüsselperiode und damit Ausgangsstufe der Menschheitsgeschichte nach der letzten Verbreitung von Homo sapiens über seinen Herkunftskontinent Afrika hinaus (ab 80 000 v. Chr.) sind die weltweit verstreuten
Jäger- und Sammlergemeinschaften. In ihnen arbeitet der Mensch noch nicht
im ökonomischen Sinne, sondern entnimmt lediglich der Natur etwas von
ihrem Überfluß – allerdings schon auf herausragend intelligente Weise. Zwar
paßt sich der Mensch immer noch weitgehend der Natur an, aber er beweist
bereits sein kreatives und dynamisches Potential beim Optimieren seiner
Werkzeuge und Waffen; allerdings über so lange Zeiträume hin, daß er diese
Entwicklung unmöglich bewußt vollzogen haben kann. Wenn also der
Mensch auch anfänglich seine Lebensweise jahrzehntausendelang nicht wesentlich verändert, weil er die Natur nicht systematisch und regelmäßig umformt, so steht er dennoch in einem fundamentalen Widerspruch zu ihr:
durch seine Bewußtheit. Denn Bewußtheit versetzt sein Denken in einen Zustand relativer Unabhängigkeit, deren Potential unerschöpflich ist – insbesondere wenn sie dazu dient, den Widerspruch zwischen geistiger und körperlicher Aktivität zu entfalten, indem körperliche Anstrengung durch geistige Leichtigkeit ersetzt wird.
Alle, die im Geist des Menschen die allererste Antriebskraft seines kreativen
Handelns erkennen, müßten sich eigentlich wundern, warum der Mensch
nicht sehr viel früher die Landwirtschaft „erfand“. Der populäre Universalhistoriker Harari konstatiert sogar eine „kognitive Revolution“, führt allen
künftigen Fortschritt auf sie zurück – aber jahrzehntausendelang bleibt die
Lebensweise wesentlich unverändert. Offenkundig war es eine Frage der
Zeit und der entstandenen Gelegenheit, bis in Wechselwirkung mit der Natur, die äußerst stabile Reproduktionsweise der Jäger und Sammler in eine
dynamischere überging – die der naturmanipulierenden Arbeit nämlich. Erst
ein Überschuß, den letztlich die entstehende landwirtschaftliche Arbeit ermöglichte, ermöglichte auch die Weiterentwicklung von Gemeinschaften zu
arbeitsteiligen Zivilisationen.
Aborigines und heute verbliebene Naturvölker
Ein aufschlußreicher Vergleich: Was menschheitsgeschichtlich zu erklären
ist, wird überdeutlich, wenn wir dieser ca. 70 000 Jahre anhaltenden Periode
gleicher Subsistenzweise – und zwar des bloßen Aneignens der Früchte der
Natur – die heute erreichte Schlüsselperiode gegenüberstellen: In ihr werden
54
nicht nur künstliche Produkte aus den Rohstoffen der Natur hergestellt, die
Produktion steigert sich nicht nur signifikant von Jahrzehnt zu Jahrzehnt,
sondern die Produktionsweise des industriellen Kapitalismus führte – in nur
200 Jahren – zu bisher vier technologischen Revolutionen; jede radikaler,
tiefgreifender und umfassender als die vorangegangene.
Längst steht mit der Landwirtschaft nicht mehr bloß die Subsistenz im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Interesses, vielmehr ersetzt der Mensch immer zuverlässiger menschliche Arbeits- durch Naturenergie, ja er läßt selbst
spezialisierte Tätigkeiten zunehmend von Maschinen verrichten, er baut dazu
sowohl die lebendige Natur ständig innovativ um (Züchtung, synthetische
Biologie, Gentechnik); wie er auch die tote Natur ständig innovativ umbaut
(organische und anorganische Chemie, Materialdesign, Nanotechnologie,
elektronische Prothesen, Organdesign, Elektro- und Computertechnik, Festkörperphysik usw.); und gleichzeitig revolutioniert der Mensch dadurch die
gesamte Gesellschaft: Von früher 90 % Bauern bleiben bisher 4 %; von einmal 50 % Industriearbeitern zu Beginn des 20. Jahrhunderts bleiben heute
gut 10 %; die damals unter 5 % Akademiker machen heute die Hälfte der
Gesellschaft aus. Entsprechend wurde das gesellschaftliche Bewußtsein aufgeklärter. Der Mensch verlängert auch die menschliche Lebenszeit fortlaufend durch immer gründlichere Beherrschung vor allem der großen epidemischen Krankheiten und qualitative Kontrolle der Lebensumstände. Wer sich
dazu die jüngste, wissenschaftlich-technologische Revolution mit globalem
Internet und entsprechender Speichertechnologie, regenerativen Energiequellen, Stammzellforschung und Sensortechnologie vor Augen führt, der kann
eigentlich nicht umhin, eine vollkommen phantastische, vom Menschen geschaffene, künstlich geschaffene Einheit von Mensch und Natur am Horizont
der absehbaren Zukunft aufscheinen zu sehen. – Kapitalbedingt geschieht all
dies aber immer noch äußerst gegensätzlich und mit höchst ungerechten Folgen, so daß die Systemfrage zur Menschheitsfrage wird: Orientieren sich
moderne Gesellschaften weiterhin am blanken Profitinteresse des Kapitals
oder an den sinnvollen, inhaltlichen und nützlichen Interessen der Menschheit?
Solch ein Vergleich von Beginn und Gegenwart der Menschheitsgeschichte
schließt eine rein zufällige Entwicklung als äußerst unwahrscheinlich aus, da
durch die vielen Sackgassen, Mannigfaltigkeiten und chaotischen Phasen der
Weltgeschichte hindurch sich dem analytischen Blick viele verräterische
Trends erschließen: Als Durchschnittsresultante steigt die Produktivkraft der
Wirtschaft zuerst langsam, dann immer schneller an; nimmt die Informationsverarbeitung ausgehend von der Schrift zuerst langsam dann immer
schneller einen abstrakteren und wissenschaftlicheren Charakter an: wird die
menschliche Arbeit zuerst langsam, dann immer schneller durch Naturener-
55
gien und Technik ersetzt; nimmt die Lebenserwartung zuerst langsam, dann
immer schneller zu; steigt die Weltbevölkerung zuerst langsam, dann immer
schneller an usw.usf. Diese analogen Entwicklungskurven trotz aller nicht
bestreitbarer Zufälle und Chaoszustände der Weltgeschichte sind ein starkes
Indiz für einen verborgenen, wahrscheinlichen Entwicklungstrend der
Menschheit.
Auch wird heute ersichtlich, daß sukzessiv große Schwellenländer und selbst
rückständige Entwicklungsländer einen analogen Weg in die Hightech-Zivilisation gehen. Diese allgemeine Tendenz wirft daher die grundlegende Frage auf, welche funktionalen Schritte prinzipiell unerläßlich waren, um in unsere realutopische Gegenwart zu gelangen? Daran schließt sich die unvermeidliche Folgefrage, ob die funktional-notwendigen Schritte der allgemeinen Gesellschaftsentwicklung – landwirtschaftliche Revolution, Marktentstehung, Industriekapitalismus, Verwissenschaftlichung, Informationsgesellschaft – nicht eine innere Logik aufweisen, die die Stellung des Menschen
im Kosmos spezifisch beleuchtet?
Daher der analytische Blick auf die weiteren Stufen der Weltgeschichte:
Als nächste Schlüsselperiode tritt uns nun nicht etwa die der Hochkulturen
oder des Feudalismus oder des beginnenden Weltmarktes entgegen – was auf
eine rein zufällige Entwicklung hindeuten würde. Vielmehr entsteht zuerst
Landwirtschaft – nacheinander in verschiedenen dafür prädestinierten Regionen der Erde und unabhängig voneinander (vor allem Fruchtbarer Halbmond, Südchina, Mittelamerika). Mit dieser neolithischen Revolution – die
sich über 5 000 Jahre hinzieht, also keine einmalige, bewußte Erfindung war
– wird aus dem bloßen Aneignen fertiger Naturprodukte durch Jagd und
Sammelei eine systematische, regelmäßige und geplante Arbeit zur Herstellung von Nahrungsprodukten, die die Natur so nie hervorbringt. Das aber
heißt nicht mehr und nicht weniger, als daß die unverzichtbare Prozeßform,
die spezifische Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur gefunden wurde, die Natur und Gesellschaft permanent zu verändern vermag, ja die dereinst sowohl die Gesellschaft als auch die Natur revolutionieren wird. Warum? Weil zuerst Arbeit in die Natur tätig eingreift, Naturstoffe zerlegt, verwandelt, kombiniert und neu zusammensetzt; erst viel später kommt das systematische Experiment hinzu. Sie tut dies aber nicht automatisch bewußt und
fortschreitend, der Mensch verändert keineswegs von Anfang an zielstrebig
die Naturstoffe und entwickelt zielstrebig neue Arbeitsmittel, wie wir das
heute kennen.
Göbekli Tepe, Gilgameschepos, Bibel: Überschuß versus Kultur, Religion
56
Tatsächlich bleibt die agrikulturelle Arbeit über die Jahrtausende der antiken
Hochkulturen – dies die dritte Schlüsselperiode – sich weitgehend gleich
und überwiegt alle sonstigen gesellschaftlichen Arbeiten bei weitem. (Die
Kulturleistungen besonders der griechischen Antike konnten sich erst 1 000
Jahre später in Westeuropa mit einer arbeitsteiligen Produktion verbinden,
die leicht zunahm.) Der Überschuß den eine unentwickelte Landwirtschaft
ermöglicht, reicht gerade hin, um die Anfänge eines nicht sehr differenzierten Handwerks (Zimmerer, Bauleute, Schmiede etc.) und eines einfachen
Staatsapparates (Priester, Beamte, Schreiber etc.) zu unterhalten. Dementsprechend ist – entgegen sonstiger Darstellungen der antiken Wirtschaft –
der Markt nur rudimentär entwickelt, überwiegt der Fernhandel mit Luxusund Naturprodukten und besteht der Markt im Innern überwiegend lokal
(Stadt – Umland), weil Großteils Subsistenz- und Naturalwirtschaft herrscht.
Handelswege über Land sind zu kostspielig, die Produktpalette äußerst überschaubar und die Kaufkraft minimal. Es ist vor allem die Sklavenwirtschaft
auf den großen Latifundien, die eine technische Entwicklung und Ausweitung des Marktes verhindert. Personifizierte Produktivkraft, deren Größe für
weitgehend naturgegeben gehalten wird, ist der Sklave. Er stellt den leibhaftigen, zählbaren Reichtum dar. Folglich werden körperliche Arbeit und
selbst das Handwerk vom herrschenden Patriziat gering geschätzt. – All das
bedeutet zusammengenommen: Es existiert in den Hochkulturen der Antike
kein gesamtgesellschaftlicher Antrieb oder gar Zwang periodisch die Arbeit
zu effektivieren. Man wußte auch gar nicht, wie das gehen sollte, denn alle
technischen Innovationen waren die spielerischen Erfindungen einzelner, die
keinerlei sozialökonomischen Widerhall finden konnten. Diese Feststellungen gelten für alle Sklavenhaltergesellschaften in West wie Ost.
Es ist demnach zwar die Arbeit an sich gefunden, die zur Weiterentwicklung
des Widerspruches zwischen Mensch und Natur unerläßlich ist, aber ihr Potential ist nicht erkannt. Arbeit wird in der gesamten Antike überall auf der
Welt als unveränderliche, von Natur begrenzte Kraftquelle verstanden. Die
antiken Reiche sollen auch keineswegs vor allem mit den Mitteln der Arbeit,
gar ihrer Entwicklung vergrößert und gestärkt werden, sondern mit den Mitteln der Waffen, der Kriegsgeräte, der Masse an Soldaten, der Gewalt, das
heißt der staatlichen Macht. Was zum fortschreitenden Erfassen und Verwandeln der Natur demnach fehlte, war ein objektives, gesellschaftliches
Motiv, um zuerst die Intensität, dann aber die Effektivität der Arbeit grenzenlos zu steigern. Denn nur mittels der schlummernden Potenzen der vier
Widersprüche der Arbeit kann die Natur immer weiter entschlüsselt und ihre
neue Verschmelzung mit dem Menschen erreicht werden. (Wie diese vier
Widersprüche die Entwicklung der Gesellschaft ermöglichen, haben wir
57
oben unter I. 2 gesehen.) Wie jedoch konnte ein solches Zwangsmotiv entstehen?
Es gab nun eine gesellschaftliche Sphäre, die zwar noch nicht sehr ausgeprägt und machtvoll war, in der die Arbeit immerhin unerkannt eine regelnde
Rolle spielte: Das war die Sphäre des Marktes – vor allem des Fernhandels.
Wo nämlich regelmäßig die gleichen Waren getauscht werden, werden sie
mehr oder minder äquivalent nach ihrem Wert getauscht. Diesen Wert bildet
die für die jeweilige Ware gesellschaftlich gültige Arbeitskraft, denn kein
Bauer oder Handwerker würde sein Produkt gegen ein anderes veräußern,
das nicht gemessen in Arbeitszeit in etwa die gleiche Arbeitskraft enthielte.
Wenn also ein Bauer oder Landwirt seine Oliven unter schlechteren Bedingungen anbaut als andere Anbieter, dann wird er entweder sein Werkzeug,
seinen Boden, seine Bewässerung etc. verbessern, sofern sie nicht auf dem
allgemein gebotenen Stand sind oder seinen Arbeitern mehr Fleiß abverlangen. In jedem Fall wird er direkt oder indirekt auf seine Verausgabung von
Arbeitskraft Einfluß nehmen. Es ist also kein gesellschaftlich verankerter
Innovationsgeist der über Jahrhunderte gegen Tradition und Naturideologie
partielle Verbesserungen der Produktionstechnik erzielt. Es handelte sich
vielmehr um unbewußt angesammelten Erfahrungsgewinn und seine Bewertung durch den Markt. Was zu einem gesamtgesellschaftlichen Antrieb fehlte, war die Konkurrenz von vielen Produzenten untereinander und ein in die
Tiefe des Reiches ausgeweiteter Markt.
Maschine von Kythera, Archimedes, Schriften zur Agrikultur (Latifundien,
technische Erfindungen) Kulturselektion
Gerade die Einheit und staatliche Macht des Römischen Reiches, was Verwaltung, Recht und Militär betrifft, sowie der Großgrundbesitz mit Sklavenbewirtschaftung hatten aber ein Fortschreiten der Teilung der Arbeit und
damit der Ausweitung des Marktes verhindert. Der Untergang einer antiken
Zivilisation – wie des Römischen Reiches – war folglich die unbedingte Voraussetzung, um eine neue Grundlage für ökonomische, politische und kulturelle Konkurrenz zu schaffen. Dies geschah – vierte Schlüsselperiode – am
funktionellsten in Westeuropa und seinem spezifischen Feudalismus aufgrund zufällig günstiger Rahmenbedingungen. Mehrere Schübe der Völkerwanderungen wirbelten die neu entstehenden Lehnsherrschaften, die Fürsten-, Herzog- und Königtümer vieler Kulturen durcheinander; die geographisch äußerst diversifizierte Kleinräumigkeit – die vielen Halbinseln, die
Binnenmeere und die großen Flußläufe, die Regionen miteinander verbanden
– verhinderten eine dauerhafte Zentralmacht, förderten stattdessen den allgemeinen Konkurrenzkampf. So wurde Mitteleuropa zur einzigen feudalen
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Region der Erde, wo nicht nur große Städte mit entwickeltem Handwerk,
sondern dem Reich gegenüber relativ freie, reiche und mächtige Bürgerstädte entstanden; wo nicht nur ein ausgedehnter Markt und eine mehr oder minder entwickelte Geldwirtschaft, sondern vor allem ein das ganze wirtschaftliche System und selbst die Reichspolitik indirekt bestimmendes Großhandelsund Bankenkapital entstand. – Weltgeschichtliche Schlüsselfunktion des
(mitteleuropäischen) Feudalismus war somit, Arbeit, Markt und Kapitalform
klammheimlich zur Dreh- und Angelposition der weiteren gesellschaftlichen
Entwicklung werden zu lassen – wider Willen der Feudalherren.
Denn die sehr betuliche Zunahme der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit
während des feudalistischen Mittelalters – allerdings um die entscheidende
Größenordnung tiefgreifender als während 4 000 Jahre antiker Hochkultur –,
etablierte doch einen so mächtigen Markt, daß der Gewinnzwang, der aus
seinem Handels- und Bankenkapital sich ableitete, erstmals tendenziell die
gesamte Gesellschaft beherrschte.
Freie Reichsstädte, technische Revolution des MAs, konkurrierende Königsund Fürstenhäuser (u. a. Spanien und Portugal, Italien und Deutschland,
Deutschland und Frankreich und Niederlande, Frankreich und England –
vor Welthandel, Kolonialismus und Weltmarkt)
Wir sind damit bei den 300 Jahren von Renaissance, Reformation und Aufklärung als der fünften Schlüsselperiode der Weltgeschichte angelangt. In
dem Maße als vor allem in Mitteleuropa die Ausdehnung des Marktes in die
Regionen das Handels-und Bankenkapitals und damit den Profitzwang zu
einer die ganze Gesellschaft, Politik und Kultur durchdringenden Macht erhob, in dem Maße nahm auch die Geschichte der dadurch entstehenden Nationalstaaten eine immer dezidiertere Richtung an: Hin zum Konkurrenzkampf um politische Macht mittels eines gewinnträchtigen, wachsenden
Handels (Merkantilismus). Aus den ersten Entdeckungs- und weltweiten Erkundungsfahrten – die von Anfang an mit Handelsbeziehungen und blankem
Raub einhergingen – waren der ein ganzes Zeitalter charakterisierende Kolonialismus der Handelsniederlassungen, der Annexion und Plünderung von
Land geworden. Doch je mehr sagenhafte Gewinne und Verluste die Kaufmanns- und Kapitalgesellschaften von der mit Bangen erhofften Rückkehr
der Schiffsflotten erwarten konnten, desto mehr stellte sich die Frage, wie
das angehäufte oder verlorene Kapital sicher angelegt werden sollte. Zunächst schufen der Luxuskonsum und die sich gegenseitig überbietende Repräsentationslust der europäischen Herrscherhäuser die Gelegenheit für
Staatsanleihen. Doch daß diese Schulden je beglichen würden, war fast noch
unsicherer wie eine unbehelligte Überquerung der Weltmeere.
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Inzwischen aber hatte sich der äußere Markt so sehr ausgeweitet und der innere so sehr vertieft, daß das Kaufmannskapital nicht nur zum städtischen
Handwerk, sondern auch zur ländlichen Hausindustrie wachsende Handelsbeziehungen geknüpft hatte. Nahm man anfangs nur die Rohstoffe ab, so
kamen mit der Zeit Halbfabrikate wie Garn, Leinen oder sonstige Stoffe hinzu. Die Marktmacht der Kaufleute ließ sie die Preise diktieren und so verarmte die große Masse der Hausproduzenten. Zuerst begannen die städtischen Geschäftsleute den halbruinierten Bauern die zu teuren Webstühle und
sonstige Technik zu stellen, um schließlich als die kleinen, ländlichen Produzenten gänzlich ruiniert waren, auch die Rohstoffe zu liefern, so daß sie
sich die Produktionsstätten sparten. Das Verlagssystem war geboren. Doch
im Maße, als der Markt wuchs, die Nachfrage und der Absatz größer wurden, den die bäuerlichen Lohnarbeiter nur häppchenweise beliefern konnten,
lag der nächste Schritt nicht mehr fern: Etliche Kaufleute gründeten große
Manufakturen und verwandelten sich damit in industrielle Kapitalisten, während die ruinierten Bauern als Lohnarbeiter in die Städte zogen.
Mit der mehr und mehr flächendeckenden Konkurrenz der kapitalistischen
Produzenten gleicher Produkte stellte sich regelmäßig Überproduktion und
damit eine Überschwemmung des Marktes ein. Ebenso regelmäßig gab es
also zu viele Arbeitskräfte. Unter das Minimum zum Überleben, ja zum bloßen Vegetieren ließ sich der Lohn auf Dauer auch nicht drücken. Da kamen
die seit der Renaissance immer häufiger auftretenden Techniker, Ingenieure
und experimentellen Wissenschaftler gerade recht, die in der Lage waren,
durch die Anwendung der Mathematik auf Erfahrungswerte maschinelle
Verbesserungen, eine Optimierung des Produktionsverfahrens oder alternative Rohstoffe vorzuschlagen. Die risikofreudigsten Unternehmer ließen sich
auf dieses Wagnis ein, scheiterten nicht selten, auf daß die vorsichtigeren
daraus lernend die Vorteile innovativer Techniken einheimsten. Im Hintergrund dieses immer häufigeren Wechselspiels zwischen kapitalistischen Manufakturen und innovativen Technikern und Wissenschaftlern, entwickelten
sich die verschiedenen Forschungsinitiativen – zunehmend unterstützt von
aufgeklärten Monarchen – zu wissenschaftlichen Disziplinen die immer systematischer mittels des präzisen, dokumentierten und jederzeit wiederholbaren Experiments offene Fragen der jeweiligen Wissenschaft lösten.
Die ersten Ansätze zum Industriekapitalismus waren wie gesagt bereits seit
der Renaissance entstanden, so daß unter seinem Gewinnzwang der Anreiz
zur Verringerung der kostentreibenden Arbeitskraft immer stärker wurde.
Unter diesen Bedingungen wurde das schon lange bekannte Wissen um die
Kraft des heißen Wasserdampfes in kleinen Besserungsschritten technologisch angewandt, um schließlich 1712 in der ersten wirtschaftlich praktikablen Dampfmaschine von Thomas Newcomen zu münden. Damit beschleu-
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nigte sich die schon bestehende industrielle Produktion zu einer industriellen
Revolution, die innerhalb nur hundert Jahren (von ca. 1800 – 1900) das Angesicht von Wirtschaft und Gesellschaft ganz Westeuropas und Nordamerikas radikal modernisierte.
Abhängigwerden der Feudalherren von Fugger, Welser und Medici, Verlagssystem, technische Innovationen zuhauf, Gewalt des feudalen Staates,
der der bürgerlichen Wirtschaftsmacht freie Bahn verschaffte (Kolonialismus)
Der industrielle Kapitalismus und seine periodischen, technologischen Revolutionen stellen die sechste Schlüsselperiode der Weltgeschichte dar. In ihr
formen bisher vier wissenschaftlich-technologische Revolutionen die zersplitterten Völker und Nationen mehr und mehr zu einer einheitlichen Weltgemeinschaft um, die einen nützlich funktionierenden, kontrollierbaren Gesellschaftskörper erhält. Auf diesem Wege werden bislang unbekannte Natureigenschaften und -energien erschlossen werden, die in der letzten Schlüsselperiode sowohl die Natur wie den Menschen radikal verwandeln. Eine
neue, höhere Einheit aus Mensch und Natur wird so vorbereitet. Daß dies die
innere Tendenz der Weltgeschichte ist, verraten uns die folgenden Etappen
progressiver Umwälzungen in Wissenschaft und Technik. Denn der Weltmarkt, den sie dem Kapital eröffnen, erfaßt alle Nationen und Völker der
Erde:
Die erste Industrielle Revolution, zu der nicht nur die Dampfmaschine und
damit die Eisenbahn, sondern zu der auch die Telegraphie gehört, pflügt bereits die ganze Welt um, läßt die Reaktionszeiten enorm schrumpfen. Sie ist
aber noch grobschlächtig, wirkt noch recht mechanisch wie ein gewaltiges
Knochengerüst, wenn sie auch erstmals die ganze Welt nicht nur formell,
sondern bereits in großen Zügen der Sache nach vergesellschaftet.
Die zweite Industrielle Revolution um 1900 mit der Entwicklung des
Kraftstoff- und Elektromotors, dem Telefon, dem Funk, dem Film und der
Kunststoffchemie individualisiert die Motorisierung, beschleunigt und versinnlicht den Informationsaustausch und verwandelt Naturstoffe bis zur
Atomebene. Kurz: Zum Knochengerüst der Weltgesellschaft sind Muskeln,
Sehnen, Blutbahnen und Organe hinzugekommen.
Durch die dritte Industrielle Revolution um 1950 werden die bisherigen
technologischen Errungenschaften zur breiten Basis für eine Massengesellschaft. Hinzu kommen aber mit der Entschlüsselung des Strukturaufbaus
allen Erbguts und der elektronischen Rechenmaschine – dem Computer –
Innovationen, deren Potential weit in die Zukunft strahlt. Mit der beginnenden Gen-Technologie tauchte am Horizont der Eingriff ins menschliche Erb-
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gut auf; mit der Miniaturisierung des Zentral-Computers zum Personalcomputer war eine durchdringende Datenerfassung und -verarbeitung sowie deren gesellschaftliche Vernetzung bereits strukturell angelegt. Eine wissenschaftliche Bio-Technologie bei Pflanze und Tier gab bereits einen Vorgeschmack auf ein radikal neues Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Kurz:
Zu Muskeln, Sehnen und Blutbahnen des Weltgesellschaftskörpers kamen
elektronische Neuronen und erste Nervenbahnen, ja Ganglien hinzu und eine
künstliche Evolution des menschlichen Organismus vollzog ihre ersten
Schritte.
Inzwischen wurde um 2 000 die vierte Industrielle Revolution eingeleitet,
deren künftige Folgen noch längst nicht abzusehen sind. Vor allem hängt
diese gesellschaftliche Revolution nicht mehr von einer, zwei oder drei
Schlüsselinnovationen ab, sondern die permanente wissenschaftlichtechnologische Revolution auf allen denkbaren Gebieten, treibt die soziale Umwälzung der Weltgesellschaft ebenso permanent voran: so die regenerative Energietechnik, die Sensortechnik, die Lichttechnologie, die Lasertechnik, die Robotisierung, die vielfältige Elektronik, die Satellitentechnik,
die Gen-Technologie (Veränderung des menschlichen, tierischen und pflanzlichen Erbguts) usw.
Damit tritt die revolutionäre Potenz der gesellschaftlichen Arbeit, die jahrtausendelang auf einem fast gleichbleibenden, agrikulturellen und bescheiden handwerklichen Niveau verharrte, endgültig zutage. Doch keineswegs
gesellschaftliche Einsicht oder die weise Führerschaft von Königen, Kanzlern oder Ministern spornten den gesamtgesellschaftlichen Willen zur zunehmend wissenschaftlich-technologischen Produktion, zur unentwegten
Qualifizierung der menschlichen Arbeit an: Das leistete der abstrakte Gewinnzwang, der durch die fortschreitende gesellschaftliche Teilung der Arbeit diesem Wirtschaftssystem inhärent ist und sich über die allgegenwärtige
Konkurrenz vermittelt.
Konnte es selbst die ersten Jahrhunderte seit der Renaissance noch scheinen,
als vollzöge sich die Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur im
ewig gleichen Kreislauf der Jahreszeiten, als sei die Mühsal vor allem der
Landarbeit eine naturgegebene Konstante, so wurde danach offenbar, daß
nicht der Stillstand vielmehr die unaufhörliche Fortentwicklung der Arbeitsteilung den Geschichtsverlauf prägen würde; denn erst durch die zunehmende Arbeitsteilung entwickeln sich die Struktur der Gesellschaft, ihre Klassen
und Schichten, sowie deren impliziten, politischen Kämpfe um die ihnen
gemäße Staats- und Verfassungsform.
Je ein Beispiel der vier industriellen Revolutionen
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Wir stehen heute an der Schwelle zur siebten Schlüsselperiode. Ihre spezifische Funktion für die Weltgeschichte kündigt sich dadurch an, daß mittels
angewandter Wissenschaft und Technik Menschen, Staaten und Nationen
sich voll inhaltlich immer unmittelbarer austauschen, dadurch verbunden
und ihre gemeinsamen Bedürfnisse und Ziele berechenbar also immer bewußter vergesellschaftet werden. Die qualitative Summe und Weiterführung
der bisherigen vier industriellen Revolutionen kann – durch welche Weltwirtschaftskrisen, Kriege und sonstige Katastrophen auch immer – nur zu
einer in Frieden geeinten Weltgemeinschaft führen, die nicht mehr dem Profitdiktat des Kapitals unterworfen ist. Ist aber der globale Profitzwang abgeschüttelt – bei Strafe der Selbstzerstörung, sollte dies nicht gelingen –, so
werden Bedürfnisse, Interessen und Sinnsuche der Menschheit – aufgrund
des weit über jede Reproduktionsnotwendigkeit hinausreichenden Verständnisses der schlummernden Potenzen der Natur – vom bloßen Konsum und
Wachstum weg auf eine höhere Symbiose von Mensch und Natur gerichtet werden.
Der entscheidende Umwälzungsfaktor ist heute die grenzenlose Produktivkraft: Welchen Sinn macht es dann noch, abstrakte Arbeit zu akkumulieren,
von der immer weniger im Produkt steckt, um uferlos gleiches Produktwachstum zu erzielen? In Zukunft wird es um qualitatives Wachstum gehen,
also im Grunde nicht mehr um Wachstum des Gleichen, sondern um ständig
erneuernde Entwicklung, um wissenschaftlich-technologisches, also zivilisatorisches Fortschreiten.
*
Von akademischer Seite wird bis heute bestritten, daß die fundamental verschiedenen Produktionsweisen, die die Weltgeschichte kennt – Gemeinwirtschaft, Sklavenwirtschaft, Leibeigenschaft, Lohnarbeit – einer inneren Entwicklungslogik folgen. Dazu werden die bekannten Ausnahmen ins Feld geführt. So mögen frühbürgerliche Gesellschaften – wie England, Frankreich
und die USA – die Sklaverei im 17. Jahrhundert nochmals als ultimative
Ausbeutungsform zum Geschäftsmodell erhoben haben. So mögen einzelne
Gesellschaften oder Nationen in jüngerer Zeit (zum Beispiel Kasachstan,
Tibet, Namibia) aufgrund besonderer Umstände von einer rein
agrikulturellen oder gar wildbeuterischen Produktionsweise mehr oder minder unmittelbar in eine industriekapitalistische geschleudert worden sein. So
mögen Gesellschaften auf dem Weg in das bürgerliche Stadium (Laos,
Kambodscha) wieder auf eine agrikulturelle Basis zurückgeworfen worden
sein. Doch für die Menschheit als Ganzes wäre das unmöglich gewesen.
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Die Menschheit als solche mußte bestimmte Stufen von Produktionsweisen,
soweit sie zur modernen, spätkapitalistischen Hightech-Gesellschaft führen,
in bestimmter Reihenfolge durchlaufen: Von der Wildbeuterei zur Landwirtschaft, dann zur Merkantilgesellschaft und weiter zur Industriegesellschaft
zur informationsgelenkten Hightech-Gesellschaft von heute; vom einfachen
Warenaustausch, zur Geldwirtschaft, zum Handelskapital, weiter zum Industriekapital und schließlich zum jetzt dominanten Finanzkapital – denn
jede Stufe baute funktional-notwendig auf der vorherigen auf. Weltweit reine
Landwirtschaft konnte nicht unmittelbar Finanzkapital hervorbringen. Weltweit reiner Handelskapitalismus konnte nicht unmittelbar in organisierten
Industriekapitalismus und soziale Marktwirtschaft umschlagen. Daher hat
Geschichtswissenschaft, die diese Bezeichnung verdient, die Pflicht, die innere Funktion aller großen Schlüsselperioden der Menschheitsgeschichte zu
erhellen, die jeweils für den global gesehen nächsten Schritt unverzichtbar
waren.
Objektiv erwiesene Funktion der Jäger- und Sammlerperiode war, das effiziente Werkzeug zu schaffen, das eine kommende Landwirtschaft überhaupt
erst ermöglichte. Geschichtliche Funktion der Jahrtausende, in denen Landwirtschaft entstand, war ganz unbeabsichtigt, so viel Überschuß stabil zu
erzielen, daß eine Teilung der gemeinschaftlichen Arbeit möglich wurde.
Unbeabsichtigte Funktion der arbeitsteiligen Hochkulturen der Antike war,
die Wissenschaftsmethode zu finden, die künftig die Revolutionierung der
gesellschaftlichen Arbeit möglich machte. Funktion der feudalen Übergangsperiode war, der Arbeit immerhin so viel Spielraum zu gewähren, daß
ein sich ausdehnender Markt Handels- und Bankkapital in eine gesellschaftsdominierende Stellung hieven konnte. Funktion des aufstrebenden
Bürgertums war, durch die Verbindung von Kapital, Produktion und Wissenschaft eine industrielle Revolution auszulösen. Ungewollte Funktion des
Industriekapitalismus war, die wissenschaftlich-technologischen Revolutionen unter Gewinnzwang soweit voranzutreiben, daß sie in eine globale Vergesellschaftung der Arbeit führen. Damit wird auch das Auflösen des Nationalstaates und das Entstehen eines universellen Rechte- und Wertekanons in
Gang gesetzt. Zu guter Letzt wird als Wichtigstes der globale Nutzen Vorrang vor privatem Profit erhalten – erstmals mit voller Einsicht.
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Die progressive Funktion jeder Schlüsselperiode
Über alle kulturellen Eigentümlichkeiten verschiedenster Regionen hinweg
kommt es wesentlich darauf an, daß diese Schlüsselperioden eine progressive Entwicklung ermöglichten – aber nur in einander voraussetzenden Funktionsschritten. Worin bestand die jeweils spezifische Funktion dieser Schlüsselperioden der Weltgeschichte, so daß sie funktional ineinandergreifend die
mit der Bewußtheit des Menschen angelegte neue Einheit mit der Natur herbeiführen werden?
Während der Periode der Jäger und Sammler herrschte vorwiegend reine
Subsistenzsicherung. Die menschlichen Gemeinschaften reproduzierten sich
zirkulär, weil sie keinen regelmäßigen Überschuß „produzieren“ konnten,
sondern sich den Überschuß der Natur ohne systematische und regelmäßige
Arbeit bloß sporadisch aneigneten. Deshalb blieb diese Reproduktionsweise
selbst unter stark wechselnden Naturbedingungen über Jahrzehntausende
stabil – gefestigt durch Ahnenkult und Animismus. Der frühe Mensch verfügte zwar über Bewußtheit, ohne die die Natur weder zu erkennen, geschweige denn umzugestalten wäre, aber er arbeitete noch nicht im ökonomischen Sinne. – Die progressive Funktion dieser langen Periode der
Jäger und Sammler bestand daher darin, die Werkzeuge und Techniken zu
entwickeln (Axt, Hammer, Nadel, Säge, Bohrer usw.), die ein Entstehen von
Landwirtschaft überhaupt erst möglich, wenn auch nicht notwendig machten.
Mit dem Entstehen der Landwirtschaft entwickelte der Mensch zwar seine
gemeinwirtschaftliche Arbeitsfähigkeit, aber sein Arbeitsüberschuß diente
lediglich der Überwindung eines unsteten, den Naturwidrigkeiten ausgelieferten Daseins, durch eine vorausschauende, geregelte und durch Vorräte
besser gesicherte Reproduktion. Daher bleiben ohne äußere Anstöße auch
selbstversorgende Dorfgemeinschaften selbst über Jahrtausende stabil. Weder diente der Überschuß primär der Erforschung und Umgestaltung der Natur noch bestand irgendein Anlaß die Leistungsfähigkeit der Arbeit zu steigern. Und doch werden beide Erfordernisse für eine zivilisierende Zukunft
der Menschen hinter ihrem Rücken erfüllt werden. – Immerhin konnte diese
planbare Produktion eines Überschusses durch landwirtschaftliche Arbeit den bisherigen Kreislauf durchbrechen und eine gesellschaftliche
Fortentwicklung ermöglichen, indem auch spezialisierte Arbeitsfunktionen
unterhalten werden konnten. Darin vor allem bestand die progressive Funktion dieser Schlüsselperiode der Weltgeschichte.
Mit dem landwirtschaftlichen Überschuß, das heißt einer steigerungsfähigen
Produktion im Gegensatz zum sporadischen Jagderfolg, wurde die Quelle,
weil zentrale Größe geschaffen – nämlich Arbeitsteilung –, deren Dynamisierung elementar für Erforschung und vertiefte Nutzung der Natur ist. Zwar
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steigerte sich der landwirtschaftliche Überschuß durch unbewußt gesammelte Erfahrung über Jahrtausende nur geringfügig, aber er bewirkte unabsichtlich gesellschaftliche Veränderungen, die erneut indirekt und unbeabsichtigt
der immanenten Tendenz dienten: Dieser Überschuß ermöglichte erst eine
Differenzierung und schließlich Spezialisierung der gemeinschaftlichen Arbeit, damit eine zwischen getrennten Gemeinschaften geteilte Arbeit. Berufe entstanden, die abseits der Landwirtschaft ausgeübt werden konnten,
rückwirkend aber auch die Effektivität der Landwirtschaft langsam erhöhten.
– Insgesamt hatte diese leicht gesteigerte Effektivität der gesellschaftlichen
Arbeit unter anderem exakt die zwei Folgen, die für die künftige Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur entscheidende Auswirkungen zeigte:
– Die Anfangsgründe eines vielfältigen und kontinuierlichen Marktes und
ein wenn auch praxisfernes Wissenschaftsdenken waren die beiden progressiven Funktionen der antiken Schlüsselperiode schlechthin. Doch beides
half nicht unmittelbar die Produktivität der Arbeit permanent zu steigern.
Dazu wären Erforschung und Indienststellung der Natur und ihrer Kräfte
nötig gewesen, was aber mit einer von der handwerklichen Erfahrung getrennten, rein philosophischen Wissenschaftsmethode nur rudimentär möglich war.
Gut zwei Jahrtausende lang – von Pythagoras bis James Watt – änderte sich
an dieser Entwicklungsstufe der gesellschaftlichen Arbeit, insbesondere ihrer
Antriebslosigkeit, sehr wenig. Auch um 1500 waren die Techniken kaum
entwickelter als in der Antike, waren immer noch 85 % der arbeitenden Bevölkerung Bauern. Und doch hatte sich durch vorwiegend quantitative Ausweitung des bekannten Handels etwas Entscheidendes ereignet, war ein qualitativer Umschlag eingetreten, der endlich einen permanenten, dynamischen
Ansporn zu Wachstum implementierte: wenn auch nur des bloßen Geldgewinns. Behäbig fortschreitende Arbeitsteilung und vielfache, wirtschaftliche
Konkurrenz – von den Handelshäusern über die Bürgerstädte bis zu den zersplitterten Herrschaftsbereichen – brachten zumindest im Europa der Renaissance ein die Gesellschaft immer tiefer durchdringendes Bankenkapital hervor. Es wurde auch der große Finanzier des beginnenden Kolonialismus, der
märchenhafte Gewinne versprach. – Ein vorerst nur den Handel unaufhaltsam beherrschender Gewinn- und damit Wachstumszwang wurde sachlich
implementiert – wenn auch diese abstrakte Kapitalakkumulation kaum die
Produktion und damit die Arbeit erfaßte. Darin bestand die progressive
Funktion der spätfeudalistischen Schlüsselperiode.
Dieser im aufstrebenden Bürgertum personalisierte Gewinnzwang, führte
nun rückwirkend zur schrittweisen Verbindung von Handwerk und Mathematik. Ohne die abstrakt reduktionistische Wissenschaftsmethode der
alten Griechen, hätte auch ein spezialisiertes Handwerk den westeuropäi-
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schen Innovationsstrom nicht zuwege gebracht; siehe konkret das kommerziell-industrielle Verfolgen von Buchdruck, Mikroskop, Fernrohr, Taschenuhr usw. Der Gewinn wurde zwar im Handel und von Banken erzielt, aber
realisiert werden konnte er nur durch eine Verbesserung der Produktionsbedingungen – wenn wir mal von ungleichen, kolonialen Handelsbeziehungen
absehen. (Das hochzivilisierte Großreich China konnte dagegen nicht zum
Ursprung der Neuzeit werden, weil seine Kultur des ganzheitlichen Denkens
eine reduktionistische Wissenschaftsmethode und seine Zentralmacht eine
Konkurrenz vieler Märkte gar nicht erst entstehen ließen.) Indem das Handelskapital zunehmend die Ingredienzien zur unmittelbaren Produktion des
Gewinns an sich riß – Rohstoffe und Arbeitsmittel –, begann es mit dem
Verlags- und Manufaktursystem eine industrielle Produktion vorzubereiten, statt den Gewinn nur indirekt über Handel oder Verleih abzuschöpfen. –
Darin also zeigte sich die progressive Funktion dieser Schlüsselperiode:
Das Gewinnmotiv des Marktes, das schon lange bestand, aber nur indirekt
eine leichte Steigerung des sachlichen Reichtums bewirkte, auf das zu lenken, was einzig und allein die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft unbegrenzt steigern konnte: auf die materielle Produktion – und damit auf die
Verbindung von körperlicher und geistiger Arbeit.
War der industrielle Kapitalismus einmal in Fahrt, so waren die Märkte
schnell periodisch überfüllt. Wie aber sollten ohne Wachstum ein Gewinn
und eine steigende Profitrate gesichert werden? Um in der immer heftigeren
Konkurrenz zu bestehen, waren Preise zu senken, was letztlich nur möglich
war, indem mehr und mehr der Einsatz von Arbeitskraft reduziert wurde.
Das aber konnte nur gelingen – sobald alle handfesten Methoden ausgereizt
waren –, wenn die Verbindung des Handwerks mit dem entstehenden
Wissenschaftssystem zur Steigerung der Produktivkräfte gesellschaftlicher Arbeit zunehmend genutzt wurde. Nachdem viele kleine technische
Verbesserungen mit der Entwicklung einer zuverlässigen und serienmäßig
herzustellenden Dampfmaschine einen technologischen Sprung vollzogen
hatten, trat die erste industrielle Revolution ab ca. 1800 von England ausgehend ihren unaufhaltsamen Siegeszug an. Allerdings vernichtete die rastlose Steigerung der Konsum-, Verkehrs- und Vergnügungsmittel – um ebenso rastlos die Gewinne des Industrie- und die Profite des Finanzkapitals
sprudeln zu lassen – weit mehr die Ressourcen des Planeten Erde, als daß sie
eine höhere Einheit des Menschen mit der Natur herstellte. – Objektiv nicht
zu leugnen ist also die geschichtlich progressive Funktion des global sich
durchsetzenden industriellen Gewinnzwanges. Denn die zur konkurrenzbedingten Akkumulation unerläßliche Produktivitätssteigerung läßt sich rein
sachlich bedingt nur perpetuieren, wenn die Ergebnisse experimenteller Wissenschaft in eine zunehmend verwissenschaftlichte Technologie einfließen.
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Im Zuge dieser Entwicklungstendenz wachsen alle Wissenschaften von
Natur und Gesellschaft mehr und mehr zu einem globalen Entwicklungssystem zusammen. Und demzufolge verlangen die durch ihre Qualifikation und ihre wissenschaftliche Einsicht immer unmittelbarer kommunizierenden und kooperierenden Lohnabhängigen immer vernehmbarer, ihre
Gesellschaft nach sozial-ökologischen Kriterien zu lenken – statt wie bisher
der Knute des Profitzwangs der Banken zu gehorchen. Analog dazu gewinnt
die Informationsverarbeitung in der Gesellschaft wachsende Autonomie.
Mechanische Prozesse in Produktion, Distribution und Dienstleistung der
Gesellschaft werden fortschreitend durch digitalisierte Informationsprozesse
und deren Algorithmen ersetzt. Damit aber werden sie für die Gesellschaft
nach sachlichen Kriterien anstelle rein quantitativer Kriterien des Marktes
kontrollier-, lenk- ja steuerbar.
Bedenken wir abschließend: Arbeit war schon seit dem Entstehen der Landwirtschaft als unerläßliches Mittel zur Zergliederung der Natur gefunden –
bewahrte aber für Jahrtausende weitgehend zirkulär eine Subsistenzwirtschaft, blieb traditionsverhaftet. Auch der spät entstandene direkte Zwang zu
Industriegewinn bedeutete keineswegs einen gleichzeitigen Zwang zur Herstellung einer neuen Einheit von Mensch und Natur – jedoch indirekt. Denn
dadurch war ein machtvoller, rein objektiver und gesamtgesellschaftlicher
Antrieb zur permanentem Produktivitätssteigerung gefunden. Die Entwicklung des Widerspruchs zwischen geistiger und körperlicher Arbeit nahm erst
mit den vier industriellen Revolutionen des produzierenden Kapitalismus
Fahrt auf. Sie erst verlagerten mehr und mehr das Schwergewicht von der
körperlichen zur Kopf-Arbeit und von der phantastischen zur verstandesmäßigen Weltsicht. Die auf diesem kurzen Weg erzielten, gigantischen Produktivitätssteigerungen der gesellschaftlichen Arbeit konnten aber nur erreicht
werden, indem zuerst alle Arbeiten bis in die letzten Feinheiten zergliedert
und spezialisiert wurden, was die Sach- und Profitzwänge des Marktes schier
unüberwindlich werden ließ.
Gleichzeitig aber begann auch die gegensätzliche Bewegung der Verwandlung geteilter in bewußt gemeinschaftliche Arbeit stärker und stärker zu
werden: angefangen von kontinentalen Eisenbahnen, weltumspannender Informationstechnik bis hin zu Automation, Robotik und Internet. Mögen im
21. Jahrhundert auch alle direkt gesellschaftlichen Produktions- und Kommunikationsmittel noch vorwiegend kapitalistische Form besitzen – sie fördern gleichzeitig Aufklärung, Wissen und Emanzipation und befinden sich
faktisch in den Händen der immer stärker anwachsenden Masse hochqualifizierter, hochvernetzter und problembewußt arbeitender, einfacher Lohnempfänger. Daß ihr zunehmendes Übergewicht sich mehr und mehr auch politisch im eigenen, zukunftsorientierten Interesse niederschlägt, ist unvermeid-
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lich. Daß aber dieser global stattfindende Prozeß äußerst widersprüchlich,
mit vielen Schritten vor, zurück und auch seitwärts verlaufen wird, sollte für
jeden differenziert denkenden Menschen selbstverständlich sein.
Aber noch ist der letzte funktionale Schritt zu einer zielstrebigen Auseinandersetzung der Menschheit mit der Natur zu finden – und auch der kann anscheinend nur hinter ihrem Rücken vollzogen werden. Denn der Mensch
bleibt solange blind, wie er sich vom Weltmarkt jagen läßt und gleichzeitig
eine positivistisch verseuchte Wissenschaft jede umfassende Entwicklungstheorie scheucht, wie der Teufel das Weihwasser.
*
Ich fasse zusammen, um die progressiven Funktionen dieser Schlüsselperioden der Weltgeschichte auf ihren jeweiligen Nenner zu bringen:
Die Periode der Jäger und Sammler entwickelte soweit effizientes Werkzeug,
daß ein Übergang zur Entwicklung von Landwirtschaft möglich wurde.
Die Periode der Entstehung und Durchsetzung der Landwirtschaft entwickelte die stabilen Überschüsse, daß äußerer Handel, innere Teilung der
Arbeit (Berufe) und damit Städte und Stadtstaaten entstehen konnten.
Die Periode der antiken Reiche und Hochkulturen entwickelten mit einem
rudimentären inneren wie äußeren Markt die, wenn auch kraftlosen, Ansätze
zur Kapitalform (Geldwesen, Schuldenwirtschaft, Kredit, Zins usw.) und den
geistigen Fortschritt von monotheistischer Religion zur Philosophie und
punktuell weiter zu abstraktem wissenschaftlichem Denken.
Die Periode der feudalen Reiche verhalf der Arbeit als leibeigene und zünftige zu einem kleinen Spielraum, entwickelte dadurch die Technologien innovativ weiter und stärkte die Marktkräfte (erstarkendes Bürgertum in freien
Reichsstädten).
Die Periode der Renaissance und des explodierenden Welthandels von
Westeuropa aus verhalf dem Handels- und Bankenkapital zum sozialen
Durchbruch, pflanzte der Gesellschaft einen unwiderstehlichen ökonomischen Antrieb ein, indem es handwerkliche Erfahrung und Wissenschaft mit
der Kapitalform verband und zu diesem Behuf begann, Religion und Staat zu
trennen.
Die Periode des industriellen Kapitalismus revolutionierte in vier großen
technologischen Revolutionen (Dampfmaschine und Telegraphie, Elektround Ottomotor, Automatisierung und Elektronik, Gentechnologie und Internet) – gepeitscht durch den allgemeinen Profitzwang – die Vergesellschaftungstendenz der globalen Arbeit, indem sie den Zwang zu internationaler
Kooperation und Kommunikation hervorrief.
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Die kommende Periode der globalen Krisen muß und wird eine einige, soziale Weltrepublik bringen – oder als selbstmörderische Apokalypse der
Menschheit enden.
Das ganze Geheimnis der zirkulären Subsistenzweise der frühen Jäger- und
Sammlergemeinschaften und heute verbliebenen Naturvölker besteht in ihrem Verhältnis zur Natur, das nicht auf zergliedernder, kontrollierender Arbeit beruht, sondern auf gemeinschaftlichem Respekt vor der Einheit mit der
Natur, von der man entschuldigend Gaben erbat.
**
Die Richtung, welche die Weltgeschichte immer offenkundiger annimmt, lag
nie in der Absicht der Menschen, obwohl die Evolution den Menschen bewußt gemacht hatte. Die künftig wiederzugewinnende, aber höhere Einheit
des Menschen mit der Natur, die in der konfrontativen Auseinandersetzung
mit ihr angelegt ist, wird vielmehr hinter dem Rücken der Menschen in entwicklungsbedingten und damit funktionsgerechten Schritten vollzogen. Es
handelt sich um geschichtliche Schritte, die zuallererst Arbeit, welche allein
diese neue Einheit vorbereiten kann, einem gesamtgesellschaftlichen
Zwangsverhältnis unterwerfen mußte – anders kein Vorwärtsschreiten. Nur
dieses durch Arbeitsteilung bedingte Zwangsverhältnis, das zunächst bloß
die grenzenlose Akkumulation rein abstrakt-quantitativen, privaten Reichtums impliziert, führt höchst indirekt – mittels vieler, irregeleiteter Kämpfe –
zu einer sozial geeinten Weltrepublik. Danach wird der Mensch – zum ersten
Mal in voller Absicht – mittels seiner bewußt forcierten, wissenschaftlichen
und technologischen Potenzen seine progressive Verschmelzung mit der Natur vollziehen. – Bleibt im folgenden Abschnitt zu zeigen, daß die charakterisierten Schlüsselperioden kein bloßer Zufall waren. Denn aus den vielen,
gegebenen Varianten der Weiterentwicklung wurde auf jeder Stufe der Geschichte je eine spezielle Variante ausgesiebt, die allein eine progressive
Richtung gewährleistete.
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2
Chaotische und zufällige Wege –
suchen und finden das Nadelöhr möglicher Höherentwicklung
Für zeitgenössische Historiker, die in der Weltgeschichte keinerlei Richtungstendenz ausmachen können, scheint die früheste und so lange Periode
der Jäger und Sammler die beste Bestätigung: Ohne jede Richtung entstehen
je nach Region die verschiedensten Stämme sowohl was ihre Mythen und
Riten als was ihre Stammesorganisation betrifft. Zwar handelt es sich durchgehend um Jäger und Sammler, aber auch ihre Reproduktionsweisen sind je
nach Fauna und Flora sowie Klima etc. durchaus unterschiedlich. Daher
scheint es, als wäre der langsame Übergang zur Landwirtschaft in einigen
wenigen Regionen der Erde ebenfalls nur eine zufällige Variation. Doch dieser Schein trügt.
Eine allgemeine Tendenz der Entwicklung innerhalb der so unterschiedlichen Stammesgesellschaften zeigt schon die über Jahrzehntausende sich hinziehende Optimierung der Steinwerkzeuge und Waffen: Kaum bei den Nahrungs- doch immerhin bei den Reproduktionsmitteln wird Natur in künstlicher Form den menschlichen Zielen angepaßt. Außerdem wird die Effizienz
menschlichen Handelns kontinuierlich erhöht, womit eine Richtung angezeigt ist, deren Tendenz geschichtlich gesehen sich zunehmend verstärkt. Mit
einem groben Faustkeil und einigen Schabern allein, wie wir sie ab der Verbreitung des Menschen über Afrika hinaus kennen, ließe sich auch keine
Landwirtschaft betreiben. Mit Steinäxten, Hämmern, Bohrern und Nadeln
sehr wohl.
Die innere Logik aller künftigen, menschheitlichen Entwicklung verrät sich
im Keim also bereits bei den frühesten Menschen: Anpassung an die und
Gestaltung der Natur stehen in – noch verdecktem – Widerspruch zueinander. Mit der Optimierung seiner ersten Werkzeuge formt der Mensch Naturstoffe neu, kontrolliert und steuert diesen Prozeß. Genau dadurch verringert
er die unmittelbare, tierische Form der Anpassung an die Natur, paßt sie
vielmehr in unmerklichen Ansätzen seinen sich entwickelnden Bedürfnissen
an. Dieser anfänglich noch sehr harmonisch anmutende Widerspruch wird
die ganze Menschheitsgeschichte hindurch bis zum schreienden Antagonismus entfaltet. Doch zunehmende Kontrolle der Natur stellt nur eine indirekte
und höhere Form der Anpassung dar. Wir werden schließlich sehen, wie die
zugespitzteste Form des Antagonismus zwischen Mensch und Natur in eine
neue, höhere Form ihrer Einheit umschlägt, also auch eine höhere Stufe der
gegenseitigen Angepaßtheit.
Allerdings genügen zur konkreten Überwindung des Stadiums der Jäger und
Sammler die technologischen Mittel alleine nicht. Hinzukommen muß eine
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Wahrscheinlichkeit zur Veränderung der Reproduktionsweise aufgrund der
langsam wachsenden Bevölkerungsdichte, die ohne Konflikte keine beliebigen Wanderungsbewegungen mehr zuläßt. Das Stammesrevier wird daher
langsam eingeschränkt, die gleichen Winter- und Sommerunterkünfte häufiger benutzt, so daß eine langsame Anpassung einiger Pflanzen und Tiere auf
das veränderte Verhalten der Menschen erfolgen kann.
Die Vielfalt und Menge der Stammesorganisationen und Kulturen von Jägerund Sammlergemeinschaften auf der Erde verhindert folglich die Entwicklungstendenz der Menschheit nicht nur nicht – sie ermöglicht geradezu notwendig den Durchbruch zur weiterführenden Landwirtschaft. Eine Erde, deren mannigfaltige Umweltbedingungen alle möglichen Voraussetzungen und
Varianten für das Entstehen von Landwirtschaft liefern, macht dieses unabsichtliche Entstehen sehr wahrscheinlich. So wahrscheinlich, daß in mindestens drei Regionen der Erde (Fruchtbarer Halbmond, Mesoamerika, und
Süd-China) Landwirtschaft in teils großen Zeitabständen und unabhängig
voneinander in unterschiedlicher Form entstand. Die forcierte Entwicklung
von Artefakten im Zuge der landwirtschaftlichen Entwicklung verweist auf
eine innere Notwendigkeit dieser Richtung. Umgekehrt wäre Landwirtschaft
ohne den zuvor erreichten Spezialisierungsgrad des Werkzeugs ebenfalls
unmöglich gewesen.
Angesichts der Vielfalt der unterschiedlichsten Formen der Landwirtschaft –
Getreide, Reis, Mais, Bewässerung, Pflug, verschiedene Nutztiere –, wie sie
sich auf den so mannigfaltig gestalteten Kontinenten ausbreiteten – außer in
Australien, dem Wüstenkontinent –, kommt der faktenversessene Historiker
zu dem Kurzschluß, es gäbe keine bevorzugte, weitere Entwicklungsrichtung. Daß neben vielen regional begrenzten, kleinen Kulturen einige Hochkulturen den Weg zu Religion, Schrift, Mathematik und Wissenschaft bahnten, sei Zufall oder kein notwendiger Schritt der Weiterentwicklung. Daß
bestimmte Hochkulturen in Vorderasien und dann des Mittelmeerraumes den
Weg in die Neuzeit bahnten, sei ebenso Zufall. Andere Hochkulturen wie in
China hätten zufällig genauso gut Sprungbrett für eine ähnliche oder ganz
andere Entwicklung sein können. Erneut wird verkannt, daß die Unterschiedlichkeit der Klein- und der Hochkulturen keineswegs die Beliebigkeit der
Weiterentwicklung belegt. Ganz im Gegenteil: Denn bei hinreichender Mannigfaltigkeit der Varianten muß mit entsprechend hoher Wahrscheinlichkeit
auch die Variante auftreten, die den Durchbruch zum immanent angelegten
Fortschritt ermöglicht.
Ein langsam wachsender Überschuß durch die Landwirtschaft hat in vielen
Regionen das Entstehen von Arbeitsteilung, damit von sozialer Differenzierung, diese das Entstehen der Stadt und weiter des Staates ermöglicht. Der
Zusammenschluß oder häufiger die Eroberung von Stadtstaaten führte darü-
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ber hinaus zu mächtigen Imperien sowie zu deren Aufstieg und Fall. Dieses
Phänomen verführt oberflächenfixierte Historiker erneut dazu, keinerlei
Richtungstendenz zu erkennen. Wie die Geschichte der Neuzeit gezeigt hat,
ist aber eine zivilisatorische Fortentwicklung – das heißt, die vertiefte Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur – nur möglich, wenn – früher
oder später – die landwirtschaftliche Produktion mehr und mehr von Industrie ersetzt und abgelöst wird. Für diesen progressiven Entwicklungsweg sind
im Vorfeld dreierlei Faktoren unabdingbar: Das Entstehen einer abstraktformalen Wissenschaft; das Entstehen eines die ganze Gesellschaft durchdringenden Marktes, also ein mächtiges Handels- und Bankkapital; und drittens die Trennung von Kirche (respektive Religion) und Staat.
Um auf das am heftigsten reklamierte Gegenargument „China“ einzugehen:
Der meist intakte, übermächtige Zentralstaat China konnte keinen heftigen,
multifaktoriellen Kulturwettstreit hervorbringen. Die abstrakte Wissenschaftsmethode konnte nur dort herausdestilliert werden, wo auf vielen Ebenen kulturelle Konkurrenz bestand: zwischen Stadtstaaten, zwischen vielen
Hochkulturen, zwischen verschiedenen Religionen. Diese einzigartige Konstellation war weltweit nur in der Ägäis des antiken Griechenland gegeben.
Ähnliches gilt für das Entstehen eines sich unaufhaltsam vertiefenden und
ausweitenden Marktes in Mitteleuropa. In einer Sklavenhaltergesellschaft
kann er nicht entstehen. Aber auch ein feudales Großreich wie das alte China
erstickte immer wieder aufkeimende Marktmächte. Ganz in diesem Sinne
schloß sich das Reich der Mitte gegen Einflüsse von außen ab – wofür die
Große Chinesische Mauer das selbststrangulierende Symbol ist –, glaubte
nicht von anderen Zivilisationen lernen zu müssen, war sich selbst in seiner
Pracht und Größe genug. So sehr, daß der Kaiser selbst Chinas großartige
und erfolgreiche Expeditionsflotte stilllegte. Es mußten die profit- und konkurrenzgetriebenen Kolonialmächte des Westens im 20. Jahrhundert einfallen, und die Öffnung des chinesischen Marktes mit Waffengewalt erzwingen.
Nur dort, wo eine antike Großmacht untergeht und dabei viele, unterschiedliche und in Konkurrenz stehende Feudalismen generiert, kann die Fronarbeit Freiheitsgrade gewinnen und damit eine sich ausweitende Arbeitsteilung
und einen Markt entstehen lassen. Genau das widerfuhr dem Römischen
Reich und wurde im weiteren Verlauf durch die geographische Vielgestaltigkeit Mitteleuropas begünstigt. Und schließlich war unter den vielen Religionen der Erde das dualistisch geprägte Christentum am ehesten prädestiniert, einmal Gott und Kaiser, Kirche und Staat zu trennen. – Wieder also hat
die erstaunliche Vielfalt diesmal an Hochkulturen der Erde eine Weiterentwicklung nicht etwa beliebig gemacht, sondern gerade umgekehrt die Wahr-
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scheinlichkeit erhöht, daß der Durchbruch zu einer effizienteren, dynamischeren Gesellschafts- und Wirtschaftsform gefunden werden konnte.
Heute verleitet political correctness die etablierte Geschichtssoziologie dazu,
ebenfalls keine Richtungstendenz hinter den vielen, historisch bedingt variablen Kapitalismen der Erde zu erkennen. Ob der sozial organisierte Kapitalismus Mitteleuropas, ob der neoliberale der USA, ob der aufstrebende Kapitalismus der Schwellenländer, ob der Staatskapitalismus Chinas usw. – stets
sieht man nur eine nicht vorhersehbare Konkurrenzsituation beim Verfolgen
nationaler Interessen um Macht und Einfluß. Jede Kapitalismusform könne
sich als überlegen erweisen und neben anderen Supermächten für Dezennien
die globale Politik beherrschen. So kann nur daherreden, wer, ohne die Folgen des allgemeinen Widerspruchs zwischen technologischer Vergesellschaftungstendenz und repressiver oder pseudodemokratischer oder plutokratischer Staatsform abzusehen, eine scheinbar wertneutrale, soziologische
Brille trägt, die stets nur das ganz Spezifische sieht, das keinen allgemein
progressiven Charakter besitze.
Die historische und dialektische Analyse der Kapitalform enthüllt ganz anderes: Waren- und Kapitalform entstehen aus dem Fortschreiten der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Es ist der Antagonismus der gesellschaftlich geteilten, daher unregulierten Arbeit, der die Paradoxien der Kapitalentwicklung hervorbringt. Aber diese Entwicklung ist nicht endlos fortsetzbar, sondern stößt an ihre immanenten Grenzen. Welche? Die gesellschaftliche Nützlichkeit des Gebrauchswertes der Waren kann nicht endlos mit Füßen getreten werden, wenn nicht die unhintergehbaren Erfordernisse der Menschen
und die Weltökologie ruiniert werden sollen. Die Profitrate kann nicht grenzenlos gesteigert werden, denn die tägliche Arbeitszeit und das Existenzminimum sind von Natur jeweils limitiert. Das Kapital kann nicht grenzenlos
weiter akkumuliert und zentralisiert werden, weil jedes entstehende Monopol
den Markt – die Existenzgrundlage des Kapitals – ausschaltet.
Allerdings sind das rein formale Schranken, die historisch durch konkrete
Gegenmittel immer wieder verschoben werden konnten: Der Staat – selbst
der bürgerliche – erläßt die Gesundheit, Umwelt und Ressourcen schützende
Gesetze im Gesamtinteresse des Systems. Ebenso werden Gesetze zum
Schutz der Arbeit erlassen – sei dieser auch noch so unzulänglich. Und Kartellbehörden schreiten gegen den extremsten Mißbrauch des Monopols ein –
wie absolutes Monopol, Preisabsprachen, Korruption, offene Verquickung
von Staat und Kapital usw. Daher gilt: Solange neue Märkte erschlossen
werden können, solange die globale Teilung der Arbeit vertieft werden kann,
solange (Zentral-)Banken den sinkenden Gewinn durch ungedecktes Geld in
Billionenhöhe kompensieren können, solange stirbt die Kapitalform nicht ab.
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Doch welche unterschiedlichen Bastarde bürgerlicher Gesellschaft der Mix
von eigenmächtiger Politik und fundamentalen Kapitalzwängen immer hervorbringt – bedingt durch Spätentwicklung, durch Stillstand bei Militärdiktaturen, durch Nationalitätenkonflikte, durch religiöse Kämpfe usw. – die
Konkurrenz des Weltmarktes erzwingt früher oder später überall das Primat
des Kapitals – in welcher historisch spezifischen Form auch immer. Das jüngere Schicksal Sowjetrußlands, Rotchinas, der Volksrepublik Vietnams aber
auch des antikolonialen Indiens, Angolas und Namibias demonstriert diese
Wahrheit als historisches Exempel. Und auch die Gottesstaaten Iran und
Saudi-Arabien werden früher oder später folgen, wie heute schon an den
Widersprüchen zwischen Marktentfaltung und religiösen Dogmen abzulesen
ist.
Die klügsten Sonderkorrespondenten des Westens, die nur die fundamentalistische und neoimperiale Trostlosigkeit rückständiger Gesellschaften beklagen, vergessen gerne: Auch das so aufgeklärte Abendland durchlitt seit
der Reformation Jahrhunderte der Religions- und Nationalkriege – ehe die
alles entscheidende Basismacht der Technologieentwicklung in Gestalt des
Kapitals diese ideologischen Mäntel durch die neuen des Sozialdarwinismus
und Neoliberalismus ersetzte. Aus allen noch so gewalttätigen Wirren ging
letztlich die globale Tendenz zu einem sozialstaatlichen Kapitalismus hervor.
Was demgegenüber vor allem dogmatisch Linke nicht erkennen und verstehen: Es entstehen mit und durch die Wertproduktion neben den formalen
zunehmend auch konkrete, qualitative Grenzen, ja Gegenkräfte zur endlosen
Profitakkumulation. Und warum? Weil das industrielle Kapital selbst auf die
immanenten Schranken seiner Gewinnsteigerung innovativ reagieren muß!
Wenn der Druck auf die Arbeitskraft, den Gewinn zu erhöhen, je nach
Marktlage und politischen Rahmenbedingungen nicht weiter erhöht werden
kann, bedient sich das industrielle Kapital periodisch progressiver Technologien – das heißt des gesamtgesellschaftlichen Wissenschaftssystems –, um
die Produktivität zu steigern – das heißt die aufgewendete Arbeit zu verringern. Doch welche verschiedenartigen Produkte, Techniken, Maschinen und
Energiequellen in den vielen Nationen und Kulturkreisen immer entwickelt
wurden und entwickelt werden mögen, zwei allgemeinste Trends werden
zwecks Reduktion der aufzuwendenden Arbeit sich überall durchsetzen: Der
Ersatz von Arbeits- durch Naturenergie und der Ersatz von mechanischen
durch informationelle Prozesse.
Und neue Produkte
75
Konkurrenz spezifischer Technologien
Wir haben gesehen: Eine unkontrolliert globale Arbeitsteilung, die den
Zwang des Weltkapitalismus zur Profitmaximierung etabliert, stellt den äußeren wie inneren Rahmen dar, der die Menschheit – trotz Finanzkrisen,
Regionalkriegen, Naturkatastrophen und Migrationsflut – in eine tendenzielle Richtung lenkt: Einerseits besteht die Tendenz zu sozialen Katastrophen
aller Art andererseits die allgemeine Richtung zur informationellen und kooperativen Vergesellschaftung der Welt. Insofern ist die neuere Weltgeschichte gegenüber der frühen Menschheitsgeschichte leichter durchschaubar geworden.
Kurz: Die innere Logik des Widerspruchs zwischen Mensch und Natur, zwischen Herrschaft und Knechtschaft, zwischen Lohnarbeit und Kapital für
sich genommen erzwingt gar nichts. Wo aber konkrete Vielfalt herrschte, da
war die Wahrscheinlichkeit groß, daß sich der immanent-logische nächste
Schritt des geschichtlichen Fortschritts vollzog.
Die herrschende Wissenschaft stellt zurecht überall Zufälle fest: Quantensprünge, Mutationen, Erfindungen, Naturkatastrophen usw. Doch dabei
bleibt sie gebannt wie das Kaninchen vor der Schlange stehen. Was unsere
heutige Wissenschaft nicht einmal zu fragen wagt, ist doch naheliegend:
Woher kommen dann all die sich ständig entwickelnden Gestalten der Ordnung?
76
Entscheidende Schritte
bei der geschichtlichen Selektion progressiver Elemente
zur Entwicklung der Menschheit
Die Homininen-Evolution selektierte Bewußtheit.
Damit bestand folgende menschheitsgeschichtliche Alternative: Paßt sich
der Mensch weiterhin der Natur an oder paßt der Mensch die Natur in
wachsendem Maße sich an. Da der seiner Umwelt bewußte Mensch beginnt,
die Natur sich anzupassen, stellen sich folgende Fragen: Wie kann es dem
Menschen gelingen, sich die übermächtige Natur immer umfänglicher und
tiefgreifender anzupassen und sie zu nutzen? Und nimmt dieser Entwicklungsprozeß letztlich eine dezidierte Richtung an und warum?
Mittels der Bewußtheit der Jäger und Sammler wurde unabsichtlich, weil
über lange Zeiträume, spezialisiertes Werkzeug entwickelt – Voraussetzung
für potentielle Landwirtschaft.
Solange noch so feinsinniges Werkzeug nur dem Aneignen fertiger Naturprodukte dient und nicht einer Arbeit, die Naturstoffe zerlegt und neu zusammensetzt, solange wird auch keine progressive Kulturentwicklung stattfinden. Es muß also die neue Reproduktionsform der Arbeit entstehen – das
heißt die systematische und kontinuierliche Umgestaltung der Naturstoffe.
Die Vielfalt der Reproduktionsbedingungen der Erde führte mittelbar zur
Dominanz von Landwirtschaft – und damit von Arbeit.
Der Natur ist nicht rein geistig beizukommen. Mit der Arbeit ist die praktische Handlungsform gefunden, tiefer also bloße Beobachtung in die Naturstoffe einzudringen. Doch auf niedrigem Niveau, dient sie gerade mal dazu,
die Existenz zu fristen. Was also steigert die Arbeitsleistung, wenn der Wille
dazu fehlt?
Der erste, geringe Überschuß durch Arbeit generierte unbeabsichtigt Arbeitsteilung – damit längerfristig Warentausch, Markt und Hochkultur.
Wo die entsprechenden Voraussetzungen gegeben sind – vielfältige Naturvorkommen, Wasserwege zum Transport usw. – bringt Arbeitsteilung mehr
oder minder zwangsläufig einen Fernhandel, Binnenmarkt und Berufe hervor. Je nach Vorgeschichte gehen aus diesem Prozeß unterschiedlichste
Hochkulturen hervor – wie die Mesopotamiens, Persiens, Indiens, Chinas,
Mesoamerikas. Aber ohne eine reduktionistische Wissenschaftsmethode
werden sie sich alle als Sackgassen der Geschichte erweisen.
Unter einer Vielfalt von Hochkulturen mit ihren jeweiligen Besonderheiten
befand sich mit ziemlicher, topographischer etc. Wahrscheinlichkeit auch
eine Kultur, die Religion über die Philosophie zu einer abstrakten Wissenschaftsmethode weiterentwickelte: eine gewissermaßen kulturelle Selektion.
77
Gemeinschaftliche Arbeit ohne gesellschaftlichen Systemzwang stagniert.
Handwerkliche Erfahrung wird gegen alle Tradition nur äußerst langsam
akkumuliert und kommt an eine qualitative Schranke. Eine rein abstrakte
Wissenschaftsmethode abgetrennt von Arbeit, Empirie und Wirtschaft kann
nur in Scholastik enden. Woher also soll Arbeit, handwerkliche Praxis und
gesellschaftliches Handeln den allgemeinen, dauerhaften Antrieb erwerben,
tiefer und tiefer in die Natur einzudringen?
Aus der Vielfalt der Zivilisationen mit mehr oder minder entwickeltem
Tausch entsprang auf Grundlage geographischer, klimatischer und politischer Besonderheiten eine Zivilisation, in der ein dynamischer Markt und
sein Gewinnzwang in Form von Geldkapital die ganze Gesellschaft zu beherrschen begann.
Von da an ist der Wachstumszwang in der Gesellschaft implementiert – aber
immer noch getrennt von produktiver Arbeit und Wissenschaft, bezogen nur
auf den Handels- und Bankengewinn.
Die Vielfalt der kapitaldominierten Gesellschaften Westeuropas half ganz
mittelbar das Land zu auszusondern, das aufgrund der vorteilhaftesten Bedingungen – historisch, geographisch, politisch – dem industriellen Kapitalismus zum Durchbruch verhalf.
Jetzt dringt zwar die industrielle Produktion immer tiefer und vielfältiger in
die Natur ein, aber die Potenzen der Natur werden vorwiegend entschlüsselt,
um dem Zwang zum Kapitalgewinn Genüge zu tun.
Die Vielfalt der technischen Innovationen garantierte auf absehbare Zeit revolutionäre Technologien – der Energieerzeugung, der Robotik, der Mobilität, der Natureingriffe, der informationellen Vernetzung –, die die Vereinigung der Nationalstaaten zu einer sozialen Weltrepublik unausweichlich
machen.
Im Wettstreit der forschenden, innovationsfreudigen und Sinn gewinnenden
Menschheit wird die effektivste Form der Verschmelzung von Mensch und
Künstlicher Intelligenz favorisiert werden. Die gezielte Entwicklung einer
Kunstnatur wird die Folge sein.
78
3
Antrieb, Richtung und Progression
als Merkmale der Weltgeschichte
Erstens
Was treibt den Verlauf der Weltgeschichte
stets von neuem an?
Bis die Menschheit als Ganzes Bewußtheit entwickelt, bis sie bewußt als
richtig erkannte Ziele anstrebt, erfolgt der Anstoß zu jeder Schlüsselperiode
unbeabsichtigt und indirekt. Mehrere Faktoren zusammenwirkend lösen
die Selbstdomestikation von Pflanzen und Tieren und damit unbeabsichtigt
Landwirtschaft aus. Landwirtschaft ermöglicht zwar Überschuß und Teilung der Arbeit, aber beides entwickelt sich unbeabsichtigt weiter zu Staat
und Zivilisation. Auch Schrift und Wissenschaft wurden nicht gezielt erfunden. Genauso wenig Geld. So geht das bis zum Entstehen des kapitalistischen Produktionsmotors, der unbeabsichtigt aus dem System marktvermittelter Teilung der gesellschaftlichen Arbeit hervorgeht.
Letztlich der unauslöschliche Widerspruchscharakter der Welt auf welchem
Entwicklungsstand immer.
Evolutionär und dann geschichtlich ist darüber hinaus die Tendenz weg von
Zufällen innerhalb selbstregulativer Prozessen hin zu immer direkter steuernden Motiven festzustellen: Religion, Philosophie, Herrschermacht, Wert,
Geld, Zins, industrielles Kapital, wissenschaftliches Erkenntnisinteresse. Sie
beginnen die selbstregulativen Prozesse von unten immer stärker und umfassender von oben zu steuern.
79
Zweitens
Was gibt dem Verlauf der Menschheitsgeschichte
die bekannte Richtung und ein tendenzielles „Ziel“?
Warum soll und muß sich – ganz objektiv, unabhängig von bewußter Absicht – die menschliche Gesellschaft überhaupt weiterentwickeln? Gäbe es
dazu nicht viele Richtungen statt nur die der Steigerung gesellschaftlicher
Produktivkräfte? Die richtige Antwort fußt auf der allgemeinen Einsicht, daß
progressive Entwicklung nicht erst mit der menschlichen Gesellschaft auftritt, sondern schon für die biologische, die chemische und die physikalische
Evolution seit der Wasserstoffentstehung im Urknall festzustellen ist. Offenkundig konnte von Beginn an kein absoluter Gleichgewichtszustand erhalten
bleiben, stets fand ein Symmetriebruch statt und sei es nur, weil im Urknall
Zufall und Notwendigkeit eine nicht trennbare Einheit bilden. Der Zufall ist
auf allen Stufen der Materieevolution real und objektiv wirksam, bricht also
jede Symmetrie oder jedes Gleichgewicht. Somit ist Entwicklung unvermeidlich – fragt sich nur in welche Richtung? Doch gibt es da so viel Auswahl?
Für den Beginn der Menschheitsgeschichte heißt das konkret: Wieso verblieben die Jäger- und Sammlergemeinschaften nicht in einem Gleichgewichtszustand mit der Natur, den sie immerhin weit über 70 000 Jahre erhalten hatten? Tatsächlich ist eher erstaunlich, daß dermaßen komplexe Systeme wie Mensch und Natur untereinander so lange ein Fließgleichgewicht
bewahren konnten, denn es ist keineswegs eine einzige „Ursache“ auszumachen, durch die dieses Gleichgewicht zu kippen begann. Wir müssen vielmehr mehrere Ungleichgewichte feststellen, die die labile Balance der Jägerund Sammlergemeinschaften mit der Natur gefährdeten:
Da ist zum einen der Überschuß an Energie – ein entropischer Vorgang – der
das Leben auf der Erde und erst recht den Menschen überhaupt möglich
macht; da ist zum zweiten der Überfluß von Flora und Fauna, den menschliche Arbeit systematisch zu steigern vermag; zum dritten der Überschuß den
davon abhängig der Mensch mit seinem, wenn auch äußerst langsamen, Bevölkerungszuwachs liefert; und da ist schließlich der Überfluß, den das rationale plus phantasievolle Denken des Menschen liefert (Mythen, Legenden,
Religionen, Kultur, Wissenschaft). Dieser äußert sich nur deswegen als Kreativität, weil der Mensch im Gegensatz zum Tier über Bewußtheit verfügt:
Das heißt, er allein kann den unbewußten Denküberfluß partiell autonom
steuern also rationalisieren. All diese Ungleichgewichte und daher Überschüsse stellen in geeigneter Kombination einen permanenten Antrieb zur
Weiterentwicklung dar.
80
D.h. allgemein – abstrakt, viele Symmetriebrüche.
Weil zufällig auf der Erde die passenden Rahmenbedingungen herrschen.
Das heißt: Vielfältigste Bedingungen geographischer, geologischer, biologischer etc. Art. So war Australien ungeeignet für eine progressive Entwicklung, da es den Prozeß des Entstehens von Landwirtschaft nicht zuließ. Im
Fruchtbaren Halbmond dagegen lieferten sowohl das ausgewogene Klima,
als auch die Flora und Fauna mit gut domestizierbaren Wildpflanzen und
Wildtieren bei zunehmender Bevölkerungsdichte die objektiv besten Voraussetzungen dazu.
81
Drittens
Worin besteht die Progression evolutionärer Prozesse?
Vorausgeschickt werden muß, was nicht unter „progressiv“ zu verstehen ist.
Der Begriff “progressiv“ darf nicht als eine positive Wertung verstanden
werden. Mit ihm ist keine Moral und auch keine verpflichtende Ethik verbunden. Mit „progressiv“ wird also keine subjektive, gefühlsmäßige oder
ideologische Ebene des Geschichtsprozesses bezeichnet, sondern das objektive, faktische Phänomen der Fortentwicklung von immer mehr Gesellschaften, die zuvor getrennt waren, in eine tendenzielle Richtung. Negativ formuliert: Progressiv sind Entwicklungen, die nicht früher oder später in Sackgassen führen.
Progressiv ist zunächst die Entwicklung zu komplexeren Zivilisationen, die
zusehends die Natur besser verstehen, sie daher immer stärker für sich nutzen können. Progressiv ist der dadurch zunehmende Wohlstand von Gesellschaften. Progressiv ist darauf bauend die Zunahme von Wissen, Ausbildung
und Gerechtigkeit in einer Gesellschaft. Kurz: Als faktisch „progressiv“ muß
die Richtung unter vielen, verschiedenen geschichtlichen Entwicklungen
bezeichnet werden, die sich auf lange Sicht allgemein durchsetzt. Entgegen
einem voluntaristischen Geschichtsverständnis kann sich aber keine xbeliebige Gesellschaftsentwicklung durchsetzen, die nicht auch das Tor für
eine weitere, höhere Stufe öffnete. Denn die innere, dialektische Logik von
kosmischer, biologischer und hier geschichtlicher „Evolution“ läßt grundsätzlich nur ein Nadelöhr, eine neue, qualitative Stufe zu, die zu keiner
Sackgasse wird.
Symmetriebruch
Das anfängliche, weitgehend harmonische Gleichgewicht, das solange gewahrt bleibt, als sich der Mensch der übermächtigen Natur vor allem anpaßt,
erleidet von dem Moment an einen Symmetriebruch, da die Menschen per
Landwirtschaft einen Überschuß erwirtschaften.
Das Fließgleichgewicht der Natur in Gestalt der biologischen Evolution erleidet mit dem Entstehen des Menschen einen Symmetriebruch, der latent
antagonistischen Charakter besitzt. Und zwar bricht der Widerspruch auf
zwischen vorwiegend selbstorganisatorischer Entwicklung und gelenkter, ja
gesteuerter. Der Mensch ist das erste Produkt der Materieevolution, das primär steuernd auf die Natur, aus der er kommt, zurückwirken kann. Von da
an verstärkt sich das Steuerungselement aufgrund seiner Bewußtheit im Zu-
82
ge seiner Zivilisationsgeschichte immer mehr. Bis zum Auftreten des Menschen lenkten die ökologischen Rahmenbedingungen den evolutionären Prozeß, der mit dem Gehirn ein zunehmend stärker steuerndes Element hervorbrachte. Ein physikalisches, chemisches, biologisches oder geschichtliches
System, das sich in vollkommenem Gleichgewicht befände, entwickelte sich
auch nicht. Jeder Symmetriebruch – wie uranfänglich zwischen Materie und
Antimaterie, aber auch zwischen toter und lebendiger Materie und dann eben
zwischen unbewußten und bewußten Tieren – bringt eine Entwicklungsrichtung vom einen Gegensatz zum andern mit sich.
Indem der Mensch sich mit der Natur immer intensiver auseinandersetzt,
bringt er auch seine Bewußtheit immer mehr zur Geltung, was sich in der
Zunahme immer komplexerer und effektiverer Artefakte niederschlägt. Mit
dem Entstehen von Landwirtschaft und damit gemeinschaftlicher Arbeit tritt
als neuer Symmetriebruch der zwischen einfacher Reproduktion und Überschuß auf, der sich lange Jahrtausende äußerst langsam, dann immer beschleunigter hin zum Übergewicht des Überschusses über die einfache Reproduktion entwickelte. Mit den Hochkulturen etabliert sich der Symmetriebruch zwischen Stadt und Land wie auch zwischen körperlicher und geistiger Arbeit und mit dem Markt der zwischen Ware und Geld. Das Entstehen
des industriellen Kapitalismus bracht den Symmetriebruch zwischen Arbeit
und Kapital mit sich wie auch zwischen Wissenschaft und Kultur – um nur
die wichtigsten Symmetriebrüche zu nennen. Denn jedem denkenden Menschen werden daneben noch viele andere Symmetriebrüche und neu auftretende Gegensätze einfallen.
Wichtig für uns hier ist: Die mit einem Symmetriebruch eingeleitete Entwicklung kann nur in zwei Richtungen gehen: in eine progressive, das heißt
eine effektivere Ordnung bildende oder eine regressive, das heißt eine
entropische oder Unordnung vermehrende. Progressiv ist zunächst stets die
Entwicklung weg vom Gleichgewicht.
Qualitativer Sprung
Nadelöhr
Progressive Entwicklung gab es offenkundig vom kosmologischen Anfang
an in aufeinander folgenden Stufen: siehe die physikalische, die chemische
und dann die biologische Evolution. Natürlich kann man geschichtliche
Entwicklung als bloßen Haufen zufälliger Veränderungen, verschiedenster
Variationen von Gemeinschaften, Kulturen, Imperien und Zivilisationen jeweils bloß als einen undurchdringlichen Busch verstehen. Nur: Warum wird
dann immer wieder der scheinbar rein zufällige Entwicklungsbusch einer
83
Komplexitätsstufe durch den Entwicklungsbusch der nächstkomplexeren
Stufe abgelöst: so wirbellose Tiere von Wirbeltieren, Fische von Landtieren,
Reptilien von Säugern, Primaten von Homininen, Jagd von Landwirtschaft,
dörfliche Gemeinschaften von Stadtstaaten, Stadtstaaten von Hochkulturen?
Muß man daher Evolution wie Geschichte nicht weit mehr als Weiter- ja
Fortentwicklung verstehen, während der haarscharf das Nadelöhr gefunden
wird, durch das jede Entwicklung hindurch muß, wenn sie fortgesetzt
werden soll.
In der kosmischen Evolution steht am Anfang der Symmetriebruch zwischen Materie und Antimaterie, dann die Entkoppelung von Strahlung und
ihr Nadelöhr ist dabei die entstandene Masse (unter Materie muß man Strahlung wie auch Masse verstehen), danach die Galaxienbildung und schließlich
die Supernovae.
In der chemischen Evolution ist dies Nadelöhr die Entstehung von Makromolekülen und dann von Aminosäuren.
In der biologischen Evolution sind das reproduktionsfähige Moleküle und
die Proteinbildung.
In der tierischen Evolution ist das Nadelöhr einer Fortentwicklung das Entstehen einer Nervenzelle und dann das Gehirn.
In der Säugetierevolution das Entstehen des Großhirns.
Und schließlich in der Primatenevolution das Entstehen von Bewußtheit
beim Menschen. Damit verliert die genetische Variation ihren bestimmenden
Charakter, weil die kulturelle und zivilisatorische Geschichte vermittels Bewußtheit für eine relevante biologische Selektion viel zu schnell und gravierend abläuft. Die Evolution, sprich Kreation revolutionär neuer Qualitäten,
übernimmt das menschliche Gehirn.
Uns geht es hier aber vor allem um die qualitativen Sprünge und damit Nadelöhre, die einen insgesamt progressiven Verlauf der Menschheitsgeschichte anzeigen.
Die grundlegende qualitative Umbruch, ohne den die jahrzehntausendlange
Kreislaufbewegung der Jäger- und Sammlergemeinschaften nie sich zur progressiven Spirale einer Geschichte der Menschheit hätte entwickeln können,
ist die langsame Durchsetzung der landwirtschaftlichen Reproduktionsmethode. Der Symmetriebruch, der mit der Landwirtschaft Fortschritt ermöglicht, besteht in der Produktion eines Überschusses. Die Erweiterung dieses
Überschusses ist das Nadelöhr durch das die Menschheit hindurch muß, soll
ihre weitere Geschichte eine Entwicklung aufweisen. Dieser Überschuß führt
unter günstigen Umständen immanent logisch zur Entfaltung sowohl der äußeren gesellschaftlichen Teilung der Arbeit, die sich als ausdehnender Markt
darstellt, als auch der inneren Teilung der Arbeit, die zur Ausbildung immer
mehr spezialisierter Berufe führt. Wohlgemerkt: Nicht zwangsläufig und
84
bloß logisch bedingt, sondern dort wo die reichhaltigen Voraussetzungen
bestehen, die eine solche Entwicklung zulassen, ja befördern (fruchtbares
Schwemmland, große Flüsse, geeignete Pflanzen und Tiere zur Züchtung,
Bodenschätze etc.).
Doch die Vielzahl unterschiedlichster Hochkulturen, die unter solchen ähnlichen Bedingungen entstehen, garantieren allesamt keine weitere zivilisatorische Höherentwicklung. Ein weiterer qualitativer Sprung ist erforderlich, ein
ganz bestimmtes Nadelöhr muß durchschritten werden, damit antike Hochkulturen sich progressiv weiterentwickeln können: Neben der Religion – und
sei es die höhere Form des Monotheismus – muß die revolutionär neue Erkenntnismethode einer dualistischen, abstrakt reduktionistischen Wissenschaft entstehen. Damit sie entstehen konnte, waren sehr spezielle Rahmenbedingungen vonnöten, so daß sie nur im antiken Griechenland entwickelt
wurde. Das heißt aber keineswegs, daß ohne diese kulturelle Revolution die
künftige Geschichte der Menschheit zum Stillstand verurteilt gewesen wäre.
Es mag noch andere, mühsamere Wege geben – z. B. den über eine sehr
langsame, hindernisreiche, weil durch vielfache Krisen erzwungene Entwicklung in China. Aber sie sind nicht gefunden worden, weil die abendländische Wissenschaft zuvor bereits dem weiteren Fortschritt den Weg ebnete.
Allerdings entstand die antike Wissenschaftsmethode durch eine relativ fortgeschrittene Teilung der Arbeit verselbständigt als geistige im offenen Gegensatz zur körperlichen Arbeit. Es ist aber empirisch wie immanent-logisch
ersichtlich, daß keine vertiefte Aneignung und Nutzung der Natur möglich
ist, ohne daß die geistige und die körperliche Arbeit auf gesellschaftlicher
Ebene eine direkte, wechselwirkende Verbindung eingehen. Eine neue Einheit von geistiger und körperlicher Arbeit auf höherer gesellschaftlicher
Entwicklungsstufe mußte also erreicht werden. Aber wie?
Die Arbeit mußte aus ihrem sozialen Gefängnis befreit werden. Dazu mußte
ein Imperium basierend auf Sklavenwirtschaft untergehen und zwar ganz
sachlich an seinen inneren Widersprüchen, weil die Sklavenhaltergesellschaft aus sich heraus kein progressives Element entwickeln konnte.
Effizienz
oder Energieersparnis durch Kooperation und Information
Im Laufe des weltgeschichtlichen Prozesses wurde erstens das Informationssystem DNA durch das flexiblere Informationssystem Schrift, Mathematik und Wissenschaft und heute maschinelle Datenverarbeitung überwölbt.
Damit wurde im Grunde die biologische Evolution nur direkter und schneller
fortgesetzt, indem sie ihrem Informationsspeicher DNA auf einem einzigen
85
Entwicklungszweig – dem der Säugetiere und Primaten – nach und nach ein
zunehmend flexibleres und zielfähiges Großhirn entgegensetzte. Zweitens
wurde Arbeitsenergie als notwendiger Treibstoff progressiver Geschichte in
Gestalt der Wertsubstanz verselbständigt und – im Maße als die Naturenergien verstanden wurden – durch diese ersetzt.
*
Die positivistische Wissenschaft macht den Erzfehler, daß sie nur die zufällige Seite des jeweiligen Evolutionsbusches zur Kenntnis nimmt – Teilchenzoo, Stern- und Planetentypen verschiedenster Kategorie, 92 Elemente,
viele verschiedene Makromoleküle, viele Bakterienarten, verschiedenste
Mehrzeller, bis hin zu vielen Primaten- und Homoarten –, weil sie dogmatisch jede Besonderheit als gleichwertig behandelt. Sie übersieht dabei,
daß alle Variationen bis auf eine eine Sackgasse bilden, was die Weiterentwicklung betrifft. Neben der scheinbar rein zufälligen Vielfalt existiert stets
eine entscheidende Variante, die den Durchbruch zu einer progressiven,
sagen wir mal zumindest weiterschreitenden Entwicklung bilden.
Andersrum gilt: Alle mittleren Sterntypen des Universums, die nicht in
Supernovae enden und daher keine schwereren Elemente erbrüten, stellen
zumindest unmittelbar eine Sackgasse dar, tragen nichts direkt zur Weiterentwicklung bei; alle Organismen, die keine Wirbelsäule hervorbringen,
können die Evolution nicht weiterführen; von allen Tieren, die kein Großhirn
entwickeln, gilt das gleiche; und nur von den Primaten, die den aufrechten
Gang favorisieren, kann die Evolution von Bewußtheit ausgehen. Analoges
gilt für die menschliche Geschichte.
Was charakterisiert nun ganz allgemein die jeweilige Variation, die den entscheidenden Durchbruchscharakter oder die Nadelöhrqualität besitzt? Sie
stellt allgemeinst einen Zustand der relativen Autonomie und tendenziell
der Verselbständigung von Information als Information her, so daß diese
relativ autonome Informationsform regelnd, ja steuernd auf ihre Umwelt
rückwirken kann. Zumindest gilt das mit dem Beginn von Leben, mit der
Verdichtung von Information zu Reproduktion und zur Reaktion auf die
Umwelt in Gestalt der Erbsubstanz DNA. Dies gilt für ein Zentralnervensystem mit Gehirn, noch mehr mit Großhirn und dies findet seine höchste Steigerung in der Ausbildung von Bewußtheit im menschlichen Großhirn.
Damit war im Ansatz bereits die Frage beantwortet, inwiefern diese Eigenschaft der Verselbständigung von Information bzw. der Herstellung von relativer Autonomie eine progressive Entwicklung ermöglicht: Weil nur diese
Progressivität einer inneren Logik folgt
86
Abschließende Frage: Diese periodischen Tendenzen und Ziele, die durch
eine chaotische Entwicklung hervorgerufen worden sind – sind sie damit
bloß zufälliges Selektionsergebnis oder folgen sie einer objektiven, immanenten Widerspruchslogik? Und wenn letzteres zutrifft: Wie ließe sich eine
immanente, dialektische Logik des Fortschreitens erklären und worin besteht
sie? Kurz: Woher rührt diese dialektische Logik?
Beschleunigung
87
4
Entwicklungslogik der Weltgeschichte
wurzelnd im Widerspruchssystem von Natur und Mensch
Bevor ich die innere, dialektische Logik der menschlichen Geschichte näher
beleuchte, muß methodisch folgendes klar sein: Wir müssen streng zwischen
den konkreten, multifaktoriellen und oft chaotischen Bedingungen der Weltgeschichte einerseits und andererseits ihrer etwaigen, inneren Entwicklungslogik unterscheiden. Denn eine solche Logik besteht nicht von vornherein,
sondern wird erst vom stattfindenden, ständig sich modifizierenden Prozeß
abgeleitet. Auch wenn diese Entwicklungslogik plausibel erscheint, sie bleibt
zunächst einmal abstrakt, ist keine Zwangsläufigkeit. Sie kann überhaupt nur
dann annäherungsweise bestätigt werden, wenn die dazu nötigen, reichhaltigen und vielfältigen Bedingungen auf der Erde wie in Kultur und Geschichte
konkret gegeben sind und erhalten bleiben. Nur unter dieser Voraussetzung
kann die verborgene Entwicklungslogik sich mittels Selektion unter vielen
Geschichtsvarianten durchsetzen. Selektiert werden Schlüsselperioden der
Weltgeschichte, die auf je einer Entwicklungsstufe eine progressive Funktion auszeichnet, – wie landwirtschaftlicher Überschuß, Arbeitsteilung, wissenschaftlicher Reduktionismus, Gewinn- und Wachstumszwang sowie experimentelles Wissenschaftssystem. Diese unumgänglichen Funktionen
schaffen das Nadelöhr zu einer progressiven Entwicklung.
Dialektische Logik ist eine Logik der Entwicklung, keine kausale oder formale Logik des Gleichgewichts. Nach kausaler Logik folgt auf eine absolute
Ursache eine ebenso absolute und eindeutige Wirkung. Dies ist schon bei
Naturprozessen eine ideale Annahme, ein hilfreiches Modell, das in Wirklichkeit nirgends zutrifft und wenn dann nur näherungsweise. In Wirklichkeit
herrscht auch bei simplen, mechanischen Kausalprozessen stets Wechselwirkung aller beteiligten Faktoren. Die analoge Einschränkung gilt für alle Subjekte aber auch Objekte des geschichtlichen Prozesses, da wir für sie keine
absolute Identität unterstellen können und dürfen wie für die formale Logik.
Gerade in der Geschichte gibt es also weder absolute Ursachen noch absolute
Wirkungen, sondern in allen wesentlichen Fragen treffen wir auf hochkomplexe, weil multifaktorielle Prozesse, die nur wahrscheinliche Resultate zeitigen. Da wir es aber mit der permanenten Wechselwirkung ungleichgewichtiger Größen zu tun haben – wie Mensch und Natur, Stadt und Land, körperliche und geistige Arbeit, Lohnarbeit und Kapital – entstehen dadurch Richtungen der historischen Entwicklung, die je nach Widerspruchsebene verschieden sind. – Inwiefern müssen wir darüber hinaus bei der Menschheitsgeschichte auch noch von einer Logik der Entwicklung sprechen?
88
*
Zur inneren, dialektischen Logik von Geschichte gehören folgende Eigenschaften:
Widerspruch
Als Ausgangsebene die Etablierung eines fundamentalen, konkreten Widerspruchs. Im Falle der Menschheit ist es der Widerspruch zwischen dem bewußten, steuerungsfähigen Menschen und einer unbewußten, selbstregulativen aber reichhaltigen Natur. In diesem Widerspruch ist bereits angelegt,
welche Möglichkeiten der Entwicklung für das System Mensch-Natur prinzipiell bestehen.
Prinzipiell sind für die Menschheitsgeschichte nur drei Möglichkeiten der
Entwicklung gegeben: Entweder eine Nicht-Entwicklung, weil Natur und
Mensch wesentlich in einem Gleichgewicht verbleiben; oder die übrige Natur wird für den Menschen übermächtig, so daß er nach und nach wieder verschwindet; und drittens besteht die Möglichkeit, daß der Mensch anfängt, die
Natur sich anzupassen, sie immer umfänglicher nutzt und damit seine Fähigkeiten unaufhörlich erweitert und vertieft. Diese dritte Möglichkeit soll uns
im weiteren beschäftigen zusammen mit der Frage, wodurch diese allgemeine Entwicklungsrichtung angelegt oder fundiert ist?
Konkrete Entwicklung
durchläuft das Spektrum zwischen den Extremen
Die entscheidende Durchbruchsgröße braucht zu ihrem evolutionären Erfolg die anderen, abweichenden Variationen. Besonders deutlich wird das bei
der spezifischen Variation der Sinnesorgane, ohne die der allgemein verarbeitende Charakter des Gehirns keinen Sinn macht. Analoges gilt für die Variation der Fortbewegungsformen (darunter: aufrecht) der Vordergliedmaßen
(darunter: Hände mit opponierbarem Daumen und Fingernägeln) oder der
Haut (darunter: fehlende Behaarung wegen Schweißdrüsen), so daß der Widerspruch und die Wechselwirkung Körper-Geist, Kopf-Hand weiter zugespitzt werden kann bis hin zum Nadelöhr „Bewußtheit“.
Und auch die Bewußtheit gewährleistet nicht per se schon Fortschritt, liefert
lediglich die Plattform eines erheblichen Freiheitsgrades – aber wofür? Die
Bewußtheit braucht für ihren Einsatz, Wahrnehmungs-, Denk- und Gefühlsinhalte. Die wichtigsten darunter sind die kunterbunten Variationen der
89
Phantasie des Unbewußten, woraus erst die verstandesmäßige Selektionsarbeit des Bewußten die jeweilige Variante mit progressiver Funktion filtert.
Innerhalb des bewußten Denkens kennen wir den Widerspruch zwischen
konkret-besonderen und abstrakt-allgemeinen Denkformen. Das abstraktallgemeine Denken kann nur deswegen bis hin zur rein formalen Logik und
rein abstrakten Mathematik autonomisiert werden, weil die spezifischen und
konkreten Erfahrungen gesellschaftlichen Handelns mehr und mehr diversifiziert wurden.
Innerhalb einer bestimmten Widerspruchsebene ist die progressive Entwicklungsrichtung klar: Zum Beispiel mit der Evolution von Sinnesorganen
(Sensoren, spezialisierte Zellen) die Spezialisierung der Nervenzelle und ihre
Kooperation als Gehirn bis hin zur Bewußtheit; zum Beispiel konkrete, spezielle Erfahrungen als Stoff eines anschaulichen Denkens, das zum symbolischen, dann begrifflichen, schließlich abstrakten, formallogischen und mathematischen Denken evolutioniert; zum Beispiel Arbeitsteilung, Handwerk,
Berufe und ihre Differenzierung entwickeln Schrift, Priester, Beamte, Staat,
Militär, gottähnliche Herrscher und sonstige Diktatoren. – Aber von wo an,
welcher qualitative Sprung erfolgt, wie der konkret aussieht, das ist grundsätzlich unvorhersehbar.
Vier Widersprüche der Arbeit (Arbeit vollzieht den Wechselwirkungsprozeß
zwischen Mensch und Natur – wann progressiv?)
Verselbständigung eines Gegensatzes
90
Neue Synthese
Wiedervereinigung der auseinander getretenen Extreme
in höherer Qualität
geistige und körperliche Arbeit
Abstrakte Wissenschaft und Experiment
Phantasie und Verstand
Geteilte und ungeteilte Arbeit
Selbstregulation und Steuerung gesellschaftlicher Prozesse
Klassen und Schichten der arbeitsteiligen Gesellschaft
Arm und Reich
Mensch und Natur
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Resümee
Die immanente Widerspruchsentwicklung
der Weltgeschichte
Die biologische Evolution brachte den alles überwölbenden Widerspruch
zwischen Mensch und Natur hervor. Denn hinter dem extremen Gegensatz
der Lebensform von Mensch und Natur – von bewußt versus unbewußt –,
verbirgt sich latent ein zuvor unbekannter Antagonismus: nämlich der, der
aktiven, gezielten Kontrolle über die Umwelt – ganz im Gegensatz zu flexibler, passiver Anpassung an eine Umwelt. Die Entfaltung dieses Widerspruchs in Gestalt der Kreativität und Dynamik menschlicher Geschichte
beweist rückblickend den fatalen Irrtum, in der Mannigfaltigkeit der Artenevolution einen bloß zufälligen Busch der Abstammung zu sehen, der an jeder Stelle gleichwertig wäre. In Wahrheit erweist sich der Mensch unter allen Tieren als das einzig mögliche Nadelöhr durch das hindurch alle bisherige Evolution der Materie ihre höhere Fortsetzung findet. Die gesamte Geschichte der Menschheit wird zur gewaltigen Bühne der Materialisierung
und geistigen Zuspitzung dieses Widerspruchs werden. Damit es dazu wirklich kommt, müssen jedoch nacheinander verschiedene Anstöße von außen
erfolgen – wie zuallererst der der Selbstdomestikation von Pflanze und Tier
–, denn sogar der eben bewußt gewordene Mensch paßt sich zunächst weitgehend der Natur an.
Äußerlich betrachtet befinden sich der frühe Mensch und die Natur in einem
vorwiegend harmonischen Gleichgewichtszustand. Tatsächlich ändert sich
an der Subsistenzweise der Jäger- und Sammlergemeinschaften während
mindestens 70 000 Jahre (seitdem Homo sapiens Afrika verließ) recht wenig.
Allein diese erstaunliche Tatsache widerspricht dem hartnäckigen Subjektivismus, „der zentrale Antrieb jeglichen wirtschaftlichen, technischen, politischen und gesellschaftlichen Fortschritts“ wäre „der unermüdliche Drang des
Menschen, die ihm von der Natur gesetzten Grenzen zu überwinden.“ (H.
Parzinger, Kinder des Prometheus S. 731) Vielmehr war alles Bemühen der
frühen Menschen mittels Ahnenkulte und Geisterriten darauf gerichtet, integraler Bestandteil einer übermächtigen Natur zu werden und zu bleiben.
Gerade gegen seinen erklärten Willen, geriet der Mensch in zunehmend offeneren Gegensatz zur Natur.
Natur regelt sich selbst. Der einzelne Mensch dagegen steuert auf Ziele zu,
die gedanklich bewußt eruiert werden – oder vermag dies zumindest. Umgekehrt erfordert die Natur, daß Tiere sich ihrem Gesamtsystem anpassen.
Das „Tier“ Mensch vermag entgegengesetzt in der Tendenz die Naturstoffe –
und letztlich die Natur als Ganzes – sich und seinen geschichtlich wachsen-
92
den Zielen, dem also erst entstehenden Sinn seines Daseins – anzupassen.
Wie soll dieser Antagonismus gelöst werden, wie sollte der Winzling
Mensch eine allgewaltige Natur mit ihren Myriaden an Facetten und Rätseln
jemals im Detail oder gar als Ganzes seinem Willen gefügig machen?
Unmöglich kann ihm dies rein geistig gelingen. Er muß die Natur zuerst
kennenlernen, muß sie erkunden, erforschen. Dies kann nur erfolgreich sein,
wenn er in sie eingreift, zuerst zaghaft, mehr anpassend, nur sehr partiell und
äußerlich. Dies geschieht zwangsläufig mittels seiner so unterschiedlichen
Weisen der Reproduktion: unvorstellbar lange als Wildbeuter, immer noch
sehr lange als Bauer und Handwerker, jüngst erst als Fabrikarbeiter und experimenteller Wissenschaftler. Er weiß aber nicht, daß die Umwälzung der
Natur seine Bestimmung ist, sofern sein Wesen – das unbegrenzte Vermögen, die Natur nach eigenen Zielen zu gestalten – verwirklicht werden soll.
Die einzige Möglichkeit, auf diesem Weg ohne jede bewußte Absicht – rein
sachlich – voranzukommen, ist, daß seine Reproduktionsweise sich ändert,
ja revolutioniert. Indem er in einem zufallsbestimmten, naturwüchsigen Prozeß beginnt, Pflanze und Tier weiter zu domestizieren, wird aus seiner bloßen Aneignung von Nahrungsmitteln ein Produktions- also Herstellungsprozeß. Es entsteht über Jahrtausende ganz ungewollt landwirtschaftliche Arbeit.
Mit gemeinschaftlicher Arbeit ist schließlich das revolutionäre Mittel
schlechthin gefunden, das große Einfallstor zu allen Geheimnissen der Natur. Doch wie gesagt: Der vorgeschichtliche Mensch kennt sein eigenes Wesen und auch seine geschichtliche Bestimmung nicht. Der Zugang zum
Reichtum der Natureigenschaften wird mit den ersten Handwerkstechniken
landwirtschaftlicher Arbeit nur einen Spaltbreit geöffnet. Wieder kann bloß
sehr indirekt ein erneuter Anstoß entstehen, die ungeheuren Potenzen der
gesellschaftlichen Arbeit weiter und weiter auszuloten – und damit die Kräfte der Natur.
Zwar ist mit der Arbeit rein objektiv das entscheidende Mittel gefunden, das
eine gründlichere Auseinandersetzung mit der Natur ermöglicht. Aber auch
der Bauer der neolithischen Revolution weiß nichts von seiner geschichtlichen Rolle, erkennt erst recht nicht die revolutionäre Potenz gemeinschaftlicher Arbeit, erfährt Arbeit nur als unvermeidliche, biblische Mühsal. Dementsprechend dient jahrtausendelang traditionsgeprägte Arbeit unmittelbar
nur der einfachen Reproduktion des Menschen. Selbst gesellschaftlich geteilte Arbeit, deren Marktform – in ferner Zukunft – eine weltumstürzende
Rolle spielen wird, kann sich bis zu den ersten Hochkulturen nur langsam,
am Rande und unvermerkt in die Gemeinwirtschaft hineindrängen.
Tatsächlich ermöglicht überwiegend landwirtschaftliche Arbeit im Unterschied zum Wildbeutertum einen regelmäßigen, zwar kleinen, vor allem aber
93
steigerbaren Überschuß. Dieser Überschuß erlaubt es nach und nach,
spezialisiertere Arbeiten wie die des Schmiedens, des Zimmerns oder des
Töpferns herausgehoben auszuüben. Und diese Entwicklung führt – angestoßen vom beginnenden Handel – sowohl zu einer ansatzweisen Teilung
gemeinschaftlicher Arbeit wie sie auch die Produktivität aller Arbeit erhöht. Zwar zieht nun eine bescheidene, erfahrungsbedingte Steigerung gesellschaftlicher Produktivität auf dominant agrikultureller Basis eine soziale
Schichtung nach sich, bedingt auch Herrschaft und ermöglicht Hochkulturen.
Während dadurch jedoch eine intellektuelle Höherentwicklung stattfindet –
beginnend mit dem Entstehen der Schrift –, bleibt das erreichte Niveau der
Arbeitsteilung sich trotzdem über Jahrtausende im wesentlichen gleich. Ohne die Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur zu intensivieren –
durch sich differenzierende und komplexer werdende Arbeit –, könnte aber
auch fürderhin weder die Lebenssicherheit erhöht noch die Natur kontrolliert
werden.
Und tatsächlich entwickeln diese frühesten Ansätze innerer wie äußerer
Arbeitsteilung sowohl die ökonomische Form eines gesamtgesellschaftlichen Antriebsmotivs, um dereinst die Produktivität permanent zu steigern,
als auch eine exakte Wissenschaftsmethode, um dereinst den Rätseln der
Natur auf die Schliche zu kommen und gleichzeitig ihre Kräfte immer effizienter nützen zu können.
Mit dem vor allem an den Rändern von Gemeinschaften zunehmenden Austausch entsteht ein Markt und aus den mehr und mehr zirkulierenden Waren
ihre Geldform. Ausgedehntere Teilung von unterschiedlichen Arbeiten zwischen Gesellschaften bringt mit dem Beruf des Kaufmanns zudem die Kapitalform hervor – aus Geld muß unmittelbar mehr Geld werden. Doch damit
wird auch der wirkliche Ursprungsort allen Gewinns, die materielle Produktion, für gut 2 000 Jahre verhüllt. Denn aufgrund mangelnder innerer Teilung
der Arbeit und der Ferne des Marktes, bleiben unmittelbare Produktion und
Kapitalform getrennt. Das rein arbeitsteilig bedingte Gewinn- und damit
Wachstumsmotiv ist zwar geboren – aber es erfaßt bei weitem nicht die
ganze Gesellschaft, vor allem nicht ihre vorherrschende, auf Sklaven und
später auf Fronarbeit basierende Naturalwirtschaft.
Die frühe Teilung gemeinschaftlicher Arbeit trennt jedoch nicht nur Produktion und Markt, damit Arbeit und Geld, sondern mit der Ausdifferenzierung verschiedenster Berufe auch körperliche und geistige Arbeit. Eine
unentwickelte und sich kaum merklich vertiefende Teilung der Arbeit kettet
zudem von Natur aus, ja gottgewollt – so der Schein – die Menschen an ihre
Berufe und zementiert eine steile Hierarchie der Gesellschaft: Oben gottgleich der Herrscher, darunter wenige Priester, Beamte und Schreibkundige;
ganz unten die weit überwiegende Masse aller körperlich Schuftenden, der
94
einfachen Bauern und Sklaven, die einzig dazu da sind, den kultivierten Luxus einer Aristokratie zu gewährleisten. Trotz peripheren Marktes bleiben
daher antike Hochkulturen in einen statischen Rahmen gepfercht.
Aufgrund der Antriebslosigkeit ihrer Sklavenwirtschaft konkurrierten die so
entstehenden Hochkulturen, Stadtstaaten und Imperien nicht etwa um ökonomische Hegemonie, sondern waren machtpolitisch, religiös und kulturell
motiviert. Aus demselben Grund aber konnte unter den vorteilhaften Voraussetzungen der Ägäis, an diesem Schnittpunkt verschiedener Religionen und
im Schmelztiegel vieler antiker Kulturen die altgriechische Philosophie entstehen und mit ihr eine abstrakt-dualistische Wissenschaftsmethode. Dabei erweist sich geschichtlich gesehen die Ausbeutung der Sklaven- und
Fronarbeit als historisch unerläßlich, um mit den geringen Überschüssen die
Kulturleistungen hervorzubringen, die für eine künftige Entfesselung der
gesellschaftlichen Produktivkräfte und damit für das wissenschaftliche
Durchdringen der Natur unabdingbar waren.
Die Voraussetzungen dafür, daß der Mensch die Natur einmal vollumfänglich in seinen Dienst stellen könnte, gar mit ihr eine neue, höhere Einheit
eingehen werde, waren dennoch denkbar ungünstig. Geistige und körperliche Arbeit waren erstens sozial tief getrennt, zementiert durch die aristokratische Kultur der Verachtung körperlicher Arbeit. Zweitens war auch das
Gewinnmotiv des bescheidenen Marktes der Antike getrennt von der materiellen Produktion, die ganz überwiegend in gemeinwirtschaftlicher Subsistenz- und Naturalwirtschaft bestand. Und drittens war die Arbeit des
Sklaven unfrei und blieb es weitgehend mit der Fronarbeit der Leibeigenen
des Mittelalters und der Arbeit in der Handwerkszunft.
Wir aber wissen heute: Nur wenn geistige Arbeit unter anderem als exakte
Mathematik und die Erfahrung körperlicher Arbeit im Handwerk sich befruchten, kann die Produktivität gesellschaftlicher Arbeit sprunghaft steigen; nur wenn das Gewinnmotiv des Marktes in Gestalt des Kapitals die unmittelbare Produktion ergreift, kann die Verbindung von körperlicher und
geistiger Arbeit zum gesellschaftlichen Zwangsgesetz werden; und nur
wenn die Arbeitskraft von allen persönlichen Formen der Abhängigkeit befreit ist, wenn sie zur ausschließlichen Lohnarbeit und somit zur Ware wird,
kann das Handelskapital zum industriellen Kapital mutieren, so daß bloßer
Gewinnzwang und Produktion von Gewinn eins werden.
Wir wissen inzwischen darüber hinaus, daß erst unter diesen drei Voraussetzungen die revolutionären Potenzen eines Gesamtsystems von Wissenschaft und Technologie auch das Verhältnis des Menschen zur Natur revolutionieren. Vor Beginn der Neuzeit hatte weder ein Kaiser oder König und
erst recht nicht die Masse der geknechteten Menschen die Absicht, die mate-
95
rielle Produktion unentwegt zu steigern und damit die Mittel zur Ausübung
von Wissenschaft und Experiment im großen, gesellschaftlichen Maßstab.
Also fand sich ein indirekter, selbstregulativer Weg, auf dem diese drei unerläßlichen Voraussetzungen zu einem tieferen Eindringen in die Natur und
zur Manipulation ihrer Eigenschaften geschaffen werden konnten. Dieser
naturwüchsige Weg verlief im unbeabsichtigten Wechselspiel von Vertiefung der inneren Teilung gemeinschaftlicher Arbeit einerseits – Ausweitung des auswärtigen Handels andererseits – somit Arbeitsteilung zwischen
Gesellschaften –, so daß Volumen und Macht des wachsenden Marktes die
feudalen Herrschaften zersetzten. Dies geschah ohne Wissen und Wollen der
geschichtlichen Akteure – und zuerst im spätmittelalterlichen Europa, weil
dessen vielfältige Topographie einer politisch-ökonomischen Konkurrenz
vieler unterschiedlicher Kulturen und Herrschaftsbereiche den nahrhaftesten
Boden bereitete.
Stimuliert durch das global expandierende Handelskapital räumte schließlich
der industrielle Kapitalismus – zuerst Mitteleuropas, heute der ganzen Welt
– alle Hindernisse für eine universale Auseinandersetzung des Menschen
mit der Natur aus dem Wege: Er verband das bisher bloß kaufmännische
Profitmotiv mit der materiellen Produktion und in ihr immer systematischer Wissenschaft und Technik, sobald Überproduktionskrisen eine Verbilligung der Waren und innovative Produkte zwingend notwendig machten.
Und er schuf auf diesem Wege immer neue Massen von Lohnarbeitern, die
sowohl von jeder Arbeit wie von ihren Produktionsmitteln „befreit“ wurden
– die wahrhaft frei verfügbare Ware Arbeitskraft. Diese mit den Produktivitätsfortschritten immer höher qualifizierten Lohnabhängigen sind trotz ihrer
entfremdeten Warengestalt die Vorboten der nicht mehr so fernen sozialen Weltgemeinschaft. Denn für sie werden sukzessive Experiment, Wissenschaft und Umgestaltung der Welt aus einem ursprünglich bloßen Mittel
des Gewinns zum eigentlichen Zweck und Sinn ihres Werdens.
Inzwischen stellen Abermillionen Lohnabhängige durch die von ihnen gemeinschaftlich geschaffene Technik ein koordiniertes Fabrik- oder Konzernkollektiv dar, das seine Produktion planmäßig kontrolliert und heute dessen gesellschaftliche Folgen erkennen kann. Denn sie schufen zum
Zwecke der Produktivitätssteigerung auch Technologien der globalen Kooperation und Kommunikation, die über den anonymen Markt hinaus Herkunft der Produktionsmittel und sozial-ökologische Wirkung ihrer Produkte
einsichtig werden lassen. Abermillionen Lohnabhängige sind also die ureigentlichen Produzenten des zusehends überbordenden – aber extrem ungerecht verteilten – Reichtums der Gesellschaften.
Im Rückblick müssen wir nur bereit sein, uns nicht von der irreführenden,
zufallsgeprägten Oberfläche von Kultur, Politik und Ideologie täuschen zu
96
lassen: Dann erschließt sich uns die verborgene, innere Logik in der Entwicklung der ökonomischen Gegensätze von Gesellschaft. Sie wird realisiert nicht abseits, sondern gerade mittels unterschiedlichster Kulturformen,
mittels divergierender Hochkulturen, mittels zivilisatorischer Sackgassen
und scheinbar rein zufällig ausgelöster „sinnloser“ Kriege, Völkermorde und
Zerstörungen, die die unerläßlich gewordenen Umwälzungen vollziehen helfen. Und es wird klar: Die Getrenntheit unzählig vieler, kleiner, Stammesgesellschaften, die sich mittels entstehender Landwirtschaft – welche die
Arbeitsteilung fördert – unmittelbar gemeinschaftlich reproduzieren, wird
summa summarum ersetzt durch die gesellschaftliche Einheit weniger, hierarchisch, weil arbeitsteilig strukturierter Hochkulturen der Antike. Diese
Einheit antiker Imperien, zerfällt und muß zerfallen, um durch die Konkurrenz vieler feudaler Gemeinschaften, die Teilung der Arbeit innerhalb vieler Gesellschaften und mit dem Markt die Konkurrenz vieler, frühbürgerlicher Stadtstaaten und Kommunen zu befeuern. Aber auch auf dieser Stufe des in viele Einzelproduzenten und -konkurrenten geteilten nationalen,
schließlich globalen Marktes bleibt die Entwicklung der Weltwirtschaft und
-geschichte nicht stehen.
Eine kontrollierte Vergesellschaftung der globalen Gesamtarbeit wird
durch die zunehmende, telekommunikative und computerbasierte Kooperation generiert und muß sich in wachsendem Maße an den Sachproblemen orientieren – bloßem Verwertungsinteresse entgegen. Gegenüber dieser globalen Vergesellschaftung entpuppt sich die blind auf rein quantitativen Profit
fixierte, kapitalistische Produktionsweise, endgültig als zur allgemeinen Verschuldungsdiktatur pervertierte Ökonomie; als absurdes System des nur
mehr sich selbst genügenden, unaufhörlichen Mißbrauchs von Wirtschaft
und Gesellschaft. Die mehr und mehr global, nach stichhaltigen Kriterien
vernetzte Gesellschaft muß und wird sich schließlich – ihrer sachgebundenen
Aufgaben bewußtwerdend – ein neues, konstruktives Leitmotiv geben: nämlich die emanzipierten Bedürfnisse und Erfordernisse der Menschheit, denen
sich eine kritische Kontrolle der Effektivität aller gesellschaftlichen Tätigkeiten hilfreich unterordnet. Nur so wird eine nicht-antagonistische, harmonische Reproduktion und Weiterentwicklung der Globalgesellschaft möglich.
*
Zeit, diese immanente Dialektik der Weltgeschichte aufs Wesentliche zu reduzieren: Der durch die Evolution erzeugte, in der Bewußtheit wurzelnde
Widerspruch zwischen Mensch und Natur führt früher oder später zu gesellschaftlicher Arbeit. Zivilisierende Arbeit entfesselt während der Geschichte
97
der Menschheit die immanenten Potenzen dieses Widerspruchs, bis schließlich Mensch und Natur zu einer höheren Einheit verbunden werden. Mit diesem Widerspruch erlischt gegen Ende des Weges auch Arbeit als bisher unerläßlicher Vermittlungsprozeß. Wie kommt es dazu?
Erinnern wir uns: Im Maße als sich die Widersprüche der Arbeit entwickelten, entwickelten sich Widersprüche in der Gesellschaft und entwickelte sich
der Widerspruch zwischen Mensch und Natur. Diese Widersprüche sind
nicht bloß begrifflicher, sondern konkreter, praktischer Natur. Es handelt
sich um reale Widersprüche nicht nur um absolute, ideale Gegensätze, weil
diese Gegensätze – wie körperlich versus geistige oder spezielle versus allgemeine Arbeit – sich stets als untrennbar erweisen, sich gegenseitig bedingen und ineinander übergehen: aber auf immer höherer Stufenleiter.
Während der Reproduktion früher Gemeinwirtschaften begannen sich unvermerkt durch beginnende Arbeitsteilung die vier Widersprüche der Arbeit
zu regen: Der zwischen Phantasie und Verstand garantierte immer utopischere Innovationen – Züchtung, Töpferei, Rad, Metallurgie – wie sie die Natur
ohne Bewußtheit nie hätte hervorbringen können; der zwischen Körper und
Geist mündete in das Entstehen von Hochkulturen, ihrer sozialen Hierarchie
und damit von Wissenschaft; mittels dieser Wissenschaft ermöglichte der
Widerspruch zwischen der nützlichen und der energetischen Seite von Arbeit
die Steigerung ihrer Effizienz bis hin zum Automaten; und der Widerspruch
zwischen bewußt-kontrollierter Gemeinschaftsarbeit und Arbeit, die aufgrund eines Marktes zwischen Gemeinschaften naturwüchsig geteilt ist, lieferte ungewollt den systemischen, gesamtwirtschaftlichen Antriebszwang,
der mit dem Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital seine extremste Ausformung erreichte. Dieser Widerspruch findet sein Ende in der von ihm
selbst geschaffenen Organisationsform: der kontrollierten Kooperation einer
bedürfnis- statt profitorientierten Globalwirtschaft.
Mit ihr endet die – menschheitsgeschichtlich betrachtet – kurze nur einige
Jahrtausende währende revolutionäre Umbruchsära der Ausbeutung gemeinwirtschaftlicher Arbeit zugunsten zivilisatorischen Fortschritts. Sie beginnt mit Sklavenarbeit, wird fortgesetzt mit der etwas freieren Form leibeigener Fronarbeit und gipfelt in der nur formell freien Lohnarbeit. Das ursprünglich minimale, kollektive Mehrprodukt über die einfache Reproduktion der Arbeitenden hinaus, das letztlich abgepreßt wurde, um unter anderem
durch Förderung der Entwicklung von Wissenschaft und Technologie die
Produktivkräfte zu steigern – den Herrschenden selbst nicht bewußt –,
nimmt schließlich den weit überwiegenden Teil der gesellschaftlichen Gesamtproduktion ein. Denn im Maße als Arbeitskraft, also das pure Arbeitsvermögen, sich in der Person des Lohnarbeiters verselbständigt, wird die
Beherrschung der Naturenergien zum Schlüssel grenzenloser Steigerung ge-
98
sellschaftlicher Produktivkräfte. Da diese Beherrschung der Naturenergien
nur mittels einer gesamtwissenschaftlichen Qualifikation möglich ist, die
wiederum nur durch eine marktfreie Kooperation und Kommunikation immer größerer Gemeinschaften erreicht werden kann, ist das Abschütteln des
Kapitalverhältnisses letztlich nur noch mehr oder minder leidvoller, menschheitlicher Erfahrung geschuldet. Auf diesem Wege gerät das gesellschaftliche Mehrprodukt notgedrungen wieder unter die vernünftige Kontrolle der
dann globalen Gemeinschaft.
Es ist demnach über Jahrtausende die Arbeit, die – beginnend als landwirtschaftliche Reproduktionsweise – die bloß tätige Auseinandersetzung mit der
Natur durch Jäger und Sammler fortsetzt und schließlich angetrieben vom
Profitzwang in Gestalt von Technologie und Wissenschaft eine neue Vereinigung zwischen Mensch und Natur vorantreibt. Je mehr aber verwissenschaftlichte Technologie Naturstoffe und -energien zum Spielball des Menschen macht, desto mehr verschwindet Arbeit wieder als subsistenzbedingter
Vermittlungsprozeß zwischen Mensch und Natur. Aus anfänglich drückender Arbeit – notwendig geworden zur einfachen Reproduktion – erwächst
selbstbestimmtes Handeln zur Umgestaltung der Natur und damit zur Emanzipation des Menschen von Subsistenzsorgen, von Unwissenheit und allen
Schranken einer bewußtlosen, ziellosen Natur; einer Natur, die ihren Widerpart, den bewußten Menschen, dereinst selbst hervorbrachte.
Mensch und Menschheit entpuppen sich so durch ihre Fortschrittsgeschichte
als unerläßliches Nadelöhr zur unaufhörlichen Höherentwicklung aller Materie.
99
Altes Resümee
Die immanente Entwicklungslogik der Weltgeschichte
In Kurzform
Evolution selbst schuf den vorwärts treibenden Widerspruch Natur contra
Mensch: Dadurch, daß der Mensch der Natur und seiner selbst bewußt wurde, war sie seinem Denken und Tun potentiell ausgeliefert. Mit der konkretpraktischen nicht bloß abstrakt-geistigen Entwicklung dieses Widerspruchs entsteht letztendlich – wenn die Vielfalt der Erde dies zuläßt –, ein
Sinn der Menschheitsgeschichte. – Jedoch: Bewußtheit allein garantiert keine progressive Entwicklung.
Dieser Widerspruch Mensch–Natur ist nur durch systematische, planmäßige Arbeit zu entwickeln – Arbeit aber konnte nur langsam, unabsichtlich mit
Landwirtschaft entstehen. Ein wachsender Überschuß – den erstmals (landwirtschaftliche) Arbeit ermöglicht und soweit Arbeitsteilung ihn erhöht –
verrät die unbegrenzte Potenz zur Erschließung und Umwandlung der
Natur. Die Menschen wissen davon allerdings nichts, wünschen nur gesicherten Unterhalt. – Somit wird die künftige Steigerung dieses Überschusses
zur unerläßlichen Bedingung, für ein verständigeres Verhältnis der Menschheit zur Natur.
Weil dazu ein innerer Ansporn fehlte, stagnierte während Antike und Feudalismus für weitere Jahrtausende die Indienstnahme der Natur trotz reichhaltiger Arbeitserfahrung. Immerhin zeigt der landwirtschaftliche Überschuß
eine zweite, wegweisende Funktion: Er initiiert einen begrenzten Warentausch und damit eine rudimentäre Marktentwicklung. Allerdings erzeugte
selbst der ab der Renaissance primär gewordene, kaufmännische Gewinnzwang jahrhundertelang bloß nichtproduktive Wertakkumulation (vorwiegend Raub des Vorhandenen). – Qualitatives Wachstum und dabei künstliche Naturumformung wird aber erst möglich – auch wenn das Motiv schon
Geld ist –, wenn so gut wie aller Überschuß produktionsfördernd zurückfließt.
Und wirklich entstand ohne menschliche Absicht (durch fortschreitende Arbeitsteilung und Marktausweitung) ein permanenter Antrieb zum Wachstum der Produktion in Form des industriekapitalistischen Gewinnzwangs. Er verlangt konkurrenzbedingt die Steigerung der Leistungsfähigkeit durch die Verbindung von Wissenschaft und Technik. Sie allein erschließt nach und nach alle Potenzen der Natur über bloße, selbst gehobene
Reproduktion hinaus und bringt gesellschaftlichen Reichtum und massenhaf-
100
te Qualifikation zwingend in Abhängigkeit. Von da an kann sogar das Kapital ohne Sozialstaat nicht mehr bestehen.
Zug um Zug wird in diesem Prozeß die globale Teilung der Arbeit, der
Weltmarkt, die Bankendiktatur durch eben diese informationsgestützte Kooperation, durch vergesellschaftende, bedürfnisorientierte Vernetzung
überwunden werden – was in eine soziale Weltrepublik mündet. Zu guter
Letzt hebt die Funktionalisierung der Natur mittels Verschmelzung von
Wissenschafts- und Technikentwicklung den Widerspruch Mensch–Natur
durch die Kreation einer höheren Einheit von Mensch und Natur auf.
So wird das Ende der Menschheit, wie wir sie kennen, eingeläutet.
101
In Gegenüberstellung
Jeweiliger Entwicklungsstand und dessen Fortschritts-Manko
Mit der Landwirtschaft entsteht Arbeit – und damit die bloße, praktische
Potenz, die Natur zu erforschen und dienstbar zu machen.
Ein gesamtgesellschaftliches Motiv muß die Arbeit unter Druck setzen, wenn
die Natur praktisch erschlossen werden soll.
Der Überschuß der Landwirtschaft etabliert durch den Tausch ein Motiv –
den Wert als Maßstab –, der potentiell alle eigenständigen Wirtschaftsgemeinschaften zu einer übergreifenden Gesellschaft verbindet. Sein rein quantitativer Charakter läßt beliebiges Wachstum zu – wenn die geeigneten Bedingungen gegeben sind. – Der Markt zwingt also die Gesellschaft, regelmäßig per Arbeit auf die Natur systematisch und vorausschauend einzuwirken.
Das lediglich an den Rändern der antiken Wirtschaftseinheiten entstandene
Wert- und Gewinnmotiv müßte die Gesellschaften gänzlich durchdringen
und sie zwingen, permanent Gewinn zu machen. Dann würde auch die Intensität der praktischen Auseinandersetzung mit der Natur gesteigert.
Dies geschieht tatsächlich, nachdem in einer Region der Erde – in Europa –
die Konkurrenz von Wirtschafts- und Politikeinheiten gegenüber Zentralstaat
und unfreie Arbeit die Vorherrschaft gewann.
Das jetzt beschleunigt akkumulierte Geldkapital bräuchte allerdings eine
nachhaltige Quelle, um investiert zu werden und so einen adäquaten Nachschub an sachlichem Reichtum zu gewährleisten.
Als diese nachhaltige Quelle erweist sich die industrielle Produktion des Kapitals, indem es nicht nur einen bisher äußerst risikobehafteten Handelsgewinn sich aneignet, sondern die gesamte Wertmasse einschließlich des dem
Gewinn zugrundeliegenden Mehrprodukts „selbst“ produziert. – Mit der kapitalistischen Produktion durch systematische Lohnarbeit unterliegt also
erstmals – ganz nebenbei – die Auseinandersetzung mit der Natur ebenfalls
dem ökonomischen Steigerungszwang.
Solange Mehrarbeit – damit Mehrwert und also Gewinn – den Lohnarbeitern vor allem extensiv abgerungen wird, ändert das am Grad der Auseinandersetzung mit der Natur wenig. Damit dies geschieht, muß ein Motiv entstehen, Wissenschaft und handwerkliche Erfahrung zu verbinden.
102
In funktionalen Schritten
Evolution
führt zum Widerspruch
Natur versus Mensch
Der wird vermittelt durch (informationell omnipotente) Bewußtheit.
Die Spirale
Mensch – Arbeit – Natur – Überschuß
zeigt: Der dominante Mensch verwandelt Natur durch Überschuß erzielende
Arbeit.
Gesellschaftliche Arbeitsteilung erzeugt einen rein formalen Antrieb: Wert
akkumuliert als Geld. Die Spirale lautet:
Geld – Ware – mehr Geld
Ohne den Mittler Ware erzeugt dagegen Geld als Kapital direkt aus
Geld – mehr Geld
Dies Geld erzwingt (getrieben von fortschreitender Arbeitsteilung) indirekt
Gewinn per industrieller Produktion, die relativ bald den Umfang einfacher
Reproduktion (zwecks bloßen Lebensunterhalts) miniaturisiert. Das heißt:
Experimentelle Wissenschaft + Technologie –> Arbeitszeit tendenziell
gegen 0
Industriekapitalismus erzwingt also die kreative Verbindung eines Wissenschaftssystems mit Technologie, um den privaten Gewinn zu steigern, während der Wert aller Produkte sinkt.
Diese Schöpferkraft von verwissenschaftlichter Technologie äußert sich
notwendig in kommunikativ-kooperierender Vergesellschaftung.
Die durch Computer, Algorithmen, Internet, Smartphones etc. total
vernetzte und also regulierfähige Gesellschaft
Die bewußt gesellschaftliche Praxis nutzt in einem konfliktreichen Prozeß
die entschlüsselten Potenzen der Natur zur
Kreation einer neuen Gattung.
Eine nicht mehr allzu ferne Zukunft wird bringen: Die rasend beschleunigte,
bewußt-gelenkte Evolution des Kosmos.
103
In bloßen Formeln
Evolution
I (schlägt qualitativ um zu:)
Mensch <–> Natur (wechselwirkend)
I
Arbeit <–> (impliziert) Überschuß (Substanz des späteren Kapitals)
I
gesellschaftlicher Arbeitsteilung <–> Markt (äquivalenter Tausch)
I
formeller Gewinnzwang in Geldform (Kapital)
I
kapitalistische Produktion <–> direktem Mehrprodukt <–>
als Mehrwert <–> Kapitalakkumulation
I
Wissenschaft <-> Technik <–>
verwissenschaftlichte Technologie <–>
vergesellschafteter & eliminierter Arbeit
I
Untergrabung der Wertproduktion durch soziale Regulierung <—>
zunehmend regulierte Wertproduktion
I
vernetzte, vergesellschaftete, soziale Weltrepublik
eine vernetzte Weltgemeinschaft <–> fördert angewandte Wissenschaft
I
bis zur Kreation einer neuen Gattung
104
III
Weltgeschichte
als progressive Wechselwirkung
zwischen Mensch und Natur
1
Konfrontation
zwischen Mensch und Natur
– als prozessualer Rahmen der Menschheitsgeschichte
Oben wurde untersucht, welche charakteristische Funktion jede Schlüsselperiode innerhalb der Menschheitsgeschichte jeweils besitzt. Abschließend soll
nochmals der Gesamtrahmen der menschheitlichen Entwicklungslogik in
den Fokus rücken. Diese Entwicklungslogik entsteht selbst erst auf geschichtlichem Wege, steht keineswegs von vornherein fest. Sie kann sich,
wie wir gesehen haben, wegen Zufällen auf unterschiedlichste Weise realisieren oder sogar in ihrer Entstehung verhindert werden. Reichen aber die
Rahmenbedingungen hin – geographische, geologische, biologische, kulturelle und zivilisatorische Vielfalt –, so daß dem historischen Prozeß viele,
verschiedene Wege offenstehen, dann allerdings muß diese Logik ganz allgemein auch vollzogen werden.
Unser mehr oder minder willkürlich gesetzter Ausgangspunkt war die Entstehung des Menschen im Zuge der biologischen Evolution. Ihr ist analog
eine physikalische und dann chemische Evolution vorausgegangen, die als
entscheidende, qualitative Schritte zuerst organische, dann replikationsfähige
Moleküle hervorbrachte. Doch mit dem Menschen wurde ein vergleichbar
radikaler Schritt in der unaufhörlichen Evolution der Materie vollzogen.
Und tatsächlich: Die biologische Evolution hat im Menschen eine revolutionäre Lebensform geschaffen, die ihrem Wesen nach nicht mehr ausschließlich den Regeln der Biologie unterworfen ist. Konkreter: Durch den Autonomiecharakter seiner Bewußtheit steht der Mensch im Prinzip der Natur
diametral gegenüber – lange Zeit aber wirklich nur im Prinzip. Durch sein
unbeschränkt lernfähiges und kreatives Gehirn ist der Mensch der bloßen
Potenz nach aus eigener Kraft grenzenlos entwicklungsfähig. Dies zeigt sich
daran, daß er sich nicht mehr vorwiegend der natürlichen Umwelt anpassen
muß, vielmehr umgekehrt in der Lage ist, die Naturstoffe und ihre Eigenschaften primär sich anzupassen. Doch ist dies in seinen Anfängen lediglich
eine Potenz, die keineswegs zwangsläufig realisiert werden muß – wie die
Geschichte der Aborigines am eindrucksvollsten bewiesen hat, aber auch alle
anderen überlebenden Naturvölker bis heute beweisen.
105
Damit diese Potenz realisiert wird, müssen geeignete Rahmenbedingungen
bestehen: Zuerst die besonderen, unerläßlichen Eigenschaften des Planeten
Erde, damit überhaupt Leben, dann zusätzlich biotopische, damit der Mensch
entstehen kann. Ganz analog kann nicht überall auf der Erde und in einem
Klima zu beliebiger Zeit und bei beliebiger Flora und Fauna Landwirtschaft
entstehen. Es ist nicht die Erfindungsgabe des Menschen, die zu jeder Zeit an
jedem Ort in der Lage wäre, Pflanzen und Tiere zu domestizieren. Es sind
die geeigneten klimatischen und geographischen Naturgegebenheiten, es ist
die gegebene Zahl und Spezifik überhaupt domestizierbarer Pflanzen und
Tiere und es ist wahrscheinlich eine gewisse, erreichte Stammesdichte, die
eine Anpassung von einigen Pflanzen und Tieren an das Nutzungsverhalten
der Menschen auslöst. Erst nachdem die Selbstdomestikation einiger Pflanzen und Tiere begonnen hat, ist der Mensch aufgrund seiner Bewußtheit fähig, den unabsichtlich ausgelösten Prozeß zu verstärken und mehr und mehr
seiner Kontrolle zu unterwerfen.
Der Mensch steht also der toten und lebendigen Natur wie ein Pol dem andern gegenüber: Er ist bewußt, denkt und handelt zum Teil bewußt, steuert
seine Aktivitäten – die vormenschliche Natur dagegen kennt (so gut wie)
keine Bewußtheit, verändert und entwickelt sich fast ausschließlich selbstregulativ, kennt daher keine absichtliche Richtung oder gar das vorausbestimmte Ziel einer gesellschaftlichen Entwicklung. Andererseits muß der
Mensch keineswegs zwangsläufig die Natur zerlegen, erforschen und sich
dienstbar machen; zumindest nicht in systematisch gesteigertem Maße, wie
wir das spätestens seit Beginn der Neuzeit kennen.
So sind die Naturvölker ein weitgehend harmonisches Gleichgewicht mit der
Natur eingegangen und haben sich daher über Äonen hin nicht entwickelt –
wenn auch äußerlich verändert. Über 70 000 Jahre hat ein oft sehr diffiziles
Fließgleichgewicht bestanden, in dem der Mensch sich den stets schwankenden Naturgegebenheiten immer wieder kulturell anpassen mußte. Es war daher letztlich vor allem eine Frage der Zeit bzw. des Zusammentreffens geeigneter Rahmenbedingungen – wie Klimawandel, vielfältige Flora und
Fauna, fruchtbare Böden, zunehmende Bevölkerungsdichte – bis ein Symmetriebruch in diesem Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur auftreten
mußte.
Entsteht solch ein gravierendes Ungleichgewicht zwischen Mensch und Natur – und ist die Rückkehr zu einem neuen Fließgleichgewicht verwehrt –, so
bestehen prinzipiell zwei Möglichkeiten: Entweder dem Menschen gelingt es
nicht, sich der ständig ändernden Natur immer wieder neu anzupassen, dann
stirbt er aus. Oder er paßt sich der Natur nicht nur an, sondern paßt in steigendem Maße die Natur sich an, verändert dadurch sich, seine Gesellschafts-
106
form und die genutzte Natur mit dem Ergebnis permanent wachsender Synergie.
Genau diese Entwicklungsrichtung hat mit dem Entstehen der Landwirtschaft und einer sich teilenden Arbeit begonnen. Den Durchbruch gegenüber
allen anderen Sonderwegen bedeutete – wie z. B. die mittelamerikanischen
Hochkulturen – Jahrtausende später die teilweise Befreiung von der Sklavenarbeit in Form von Fronarbeit. Indem die Fronarbeit nach und nach alle
persönlichen Fesseln verlor, erschien sie als bloße Lohnarbeit dafür frei, nur
noch Gewinn zu produzieren. Hinter dem Gewinn verbirgt sich jedoch – was
bis heute meist unverstanden bleibt –, ein tatsächliches Mehrprodukt. Um
also den Gewinn uferlos zu steigern, müssen Wissenschaft und Technologie
unentwegt die Effizienz der Produktion steigern, um das dem Gewinn entsprechende tatsächliche Mehrprodukt zu erzielen. Diese jeder spezifischkulturellen Tradition überlegene Methode pulverisiert letztendlich die Arbeit
und vergesellschaftet zu guter Letzt absichtlich eine informationsgelenkte
Menschheit. Spätestens auf dieser Entwicklungsstufe, wird jede soziale Frage gelöst sein und die Menschheit sich erstmals bewußt eine neue Aufgabe
stellen.
Wird diese Entwicklungsrichtung nicht verlassen, dann wird die ehemals
übermächtige Natur immer radikaler ihr Gesicht wandeln. Aber auch der
Mensch verändert sich mit ihr, bis beide – wie vor der Entstehung des Menschen – wieder eine Einheit eingehen; jetzt aber eine andere, die quasi in einer intelligenten Kunstnatur bestünde mit allerdings heute unvorstellbar höheren Eigenschaften. Diese neue Einheit mit der Natur setzt zwingend die
globale Einheit der Menschheit voraus, weil zur Verschmelzung von Mensch
und Natur einzig die Kreativität kooperierender Menschen führt. Eine künstliche, bewußte „Evolution“ würde von da an einsetzen, gelenkt von einer
qualitativ unvergleichlichen Intelligenz, die den heutigen Menschen ablöste.
Mit ihr und durch sie würde alles, aber auch alles in Frage gestellt, was bisher Natur war.
*
Die innere Logik der Menschheitsgeschichte ist offenbar keine unveränderliche, formale, bereits gegebene, sondern eine historische, sich laufend entwickelnde Logik. Sie ist mit der Bewußtheit und Arbeitsfähigkeit des Menschen zwar angelegt, kann sich aber nur durchsetzen, wenn für jede ihrer
Entwicklungsstufen die passenden Rahmenbedingungen gegeben sind. „Zufällig“ (unter Abermilliarden Planeten der Milchstraße) lieferte die der Planet
Erde. Die realdialektische Logik der Geschichte des Menschen enthüllt, daß
seine Essenz – bewußt tätig zu sein – sich absichtslos aber immanent zwin-
107
gend über Jahrzehntausende hinweg als hyperintelligente Kunstnatur vergegenständlichen muß. Dies geschieht mittels der verdeckten Widersprüche
gesellschaftlicher Arbeit, die in Wechselwirkung mit der Natur beider Anlagen beliebig tief auslotet. Die ursprüngliche Vielfalt der Stämme, Völker,
Kulturen und Zivilisationen mit ihren mannigfachen Besonderheiten dienen
geschichtlich gesehen lediglich als Selektionsreservoir für die unbewußte
Richtungssuche der jungen Menschheit. Selektiert werden letztlich nicht nur
die gleiche Wohlfahrt, die gleichen Rechte und die globale Einheit. Darüber
hinaus wird mit der Verwandlung und Pulverisierung der Arbeit eine künstliche, Information bewußt steuernde Spezies entstehen, die den alten Naturstoff zwecks phantastischer Ziele beliebig formt.
2
Antriebsformen
– um den Widerspruch zwischen Mensch und Natur zu entfalten
und wie sie entstehen
Nochmals: Evolution, die wesentlich unbewußt ist, bringt mit dem bewußten
Menschen ihren eigenen, wesentlich antagonistischen Gegensatz hervor.
Dieser virulente Widerspruch kann nur durch seine progressive Entwicklung
gelöst werden. (Dieser Widerspruch ist real, keineswegs eine bloß philosophisch-begriffliche Konstruktion!) Der Anstoß dazu beginnt unmerklich mit
der praktischen Wechselwirkung zwischen Natur und Mensch in Form von
Arbeit – sprich Landwirtschaft –, die auf unbewußt-selbstregulativem Wege
nicht er-, sondern gefunden wird.
Die Menschen wissen jedoch nichts von einer solchen historischen Funktion
der Arbeit, halten Arbeit für eine feststehende, naturbedingte Größe. Unter
anderem deswegen entwickeln sich in den Jahrtausenden vor den Hochkulturen und auch während der Hochkulturen bis ins Hochmittelalter hinein die
Arbeitstechniken kaum, bleiben auf einfacher, mechanischer Ebene stehen
und bleibt Landwirtschaft die dominierende Produktionsweise. Gegen alle
wechselnd herrschenden Ideologien muß also die weltumstürzende Potenz
der Arbeit erst hinter dem Rücken von Menschen entdeckt werden, deren
Stammesherkommen sie an traditionale Vorstellungen fesselt. Dies geschieht
unverstanden, indem das künftig übermächtige Leitmotiv von Wirtschaft und
Gesellschaft – nämlich Geld – durch eine unentwickelte Teilung der Arbeit
in Form der genauso unentwickelten Wertform etabliert wird. (Zum Wert
gerinnt die durchschnittliche Arbeitsenergie, die beim Warentausch zum
verborgenen Maßstab des Tausches wird.) Zudem wird die für die Erschlie-
108
ßung von Naturstoffen und -kräften unerläßliche, abstrakte Wissenschaftsmethode durch einen kulturellen Schmelztiegel ausgefällt – ohne daß lange
Zeit ihre praktische Anwendung eine ökonomische Rolle spielte. (Die Ausnahme Thales bestätigt nur die Regel: „Hieronymos von Rhodos erzählt,
Thales habe, um zu zeigen, wie leicht man reich werden könne, die Ölpressen in Voraussicht einer guten Olivenernte gepachtet und so einen gewaltigen Gewinn gemacht.“ Diogenes Laertios: Über Leben und Lehren berühmter Philosophen)
Die nächste historisch progressive Funktion besteht darin, Arbeit zur dynamischen Größe zu machen, die die Gesellschaft umwandelt – gegen alle anders gerichteten politischen, kulturellen und religiösen Interessen. Dieser
Schritt erfolgt dort, wo der Markt sich bis zur dominanten Macht des Großhandels- und Bankenkapitals vertiefen kann – also den Gewinnzwang zum
insgeheimen Antriebsmotiv der ganzen Gesellschaft macht, ohne daß die
Menschen verstehen, wo der Gewinn der Sache nach entsteht. – Daß dieser
Raum Mitteleuropa war, ist kein Verdienst der Europäer, sondern den zufällig konkurrenzaffinen Bedingungen geschuldet.
Was die Menschen keineswegs anstreben, worin aber die progressive Lösung
des Widerspruchs zwischen Mensch und Natur besteht, das lehrt sie der
strukturelle und systemische Zwang zur Gewinnerzielung: Denn dieser richtet sich schließlich auf die eigentliche Quelle des Gewinns, auf die materielle
Produktion. Um nun den Gewinn – sprich dessen Wertmasse – zu steigern,
muß paradoxerweise die Arbeitszeit – der Maßstab der Wertbildung – gesenkt werden. Diese Paradoxie vollzieht ganz unabsichtlich der Markt, weil
er die Produzenten nur als Konkurrenten kennt. Auf dem Markt erzielt nämlich das gleiche Produkt bei geringerem Wert (der inkorporierten Arbeitszeit)
den größeren Absatz. Der Gewinn kann also bald nur noch gesteigert werden, wenn möglichst viel in möglichst wenig Zeit produziert wird. Damit
schlägt die Stunde der Verbindung von abstrakter Wissenschaft und technologischer Erfahrung. Denn nur sie ermöglicht, den eigenen Arbeitseinsatz
weiter zu senken, um so über den niedrigeren Preis einen Extra-Gewinn zu
erzielen.
Gleichzeitig wird nach und nach durch diese Verbindung von Wissenschaft
und Technologie die bisher einseitige Vorherrschaft des Gewinnzwanges
sich früher oder später auf die Seite der global-sinnhaften Produktionskontrolle zu verlagern. Dies geschieht unter der Markthülle durch die sukzessiv
entfalteten Potenzen der gesellschaftlichen Arbeit – nun aber zum qualitativen Nutzen der Gesellschaft statt für abstrakten Gewinn. Die Profite der Finanzkapitale können nämlich nur durch ständige Verringerung der Arbeit
und mit den Mitteln zunehmender Automation, weltweiter Information,
Kommunikation und Kooperation immerzu gesteigert werden – nehmen aber
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aller öffentlichen Einsicht zum Trotz immer noch die Zerstörung der Weltmeere, der Anbauböden, der Wasserreserven, der Atmosphäre, der natürlichen Ressourcen usw. in Kauf.
Was lehrt uns diese Parforce-Tour durch die richtungsweisenden Etappen der
Geschichte? Die Menschen beabsichtigten durchaus nicht, die mühelose Aneignung des Überflusses der Natur durch das schweißtreibende Korsett der
Arbeit zu ersetzen. Biotopische und demographische etc. Rahmenbedingungen lotsten sie unvermerkt in diese progressive Produktionsform. Die Menschen hatten auch keineswegs vor, durch Steigerung des landwirtschaftlichen
Überschusses eine Vertiefung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und damit das Entstehen von Stadtstaaten und Fernhandel zu fördern. Und erst
recht wollten sie sich nicht durch Entwicklung der Arbeit die gewaltigen Potenzen der Natur gefügig machen oder wollen sich gar mit der Natur zu einer
neuen Gattung vereinigen. Und doch war und ist diese immanente Entwicklungslogik in diesen Zwischenresultaten der Geschichte angelegt, denn:
Der langsam sich ausweitende Markt der Antike etablierte hinter dem Rücken der Warenbesitzer mit der Wert-, dann Geld- und schließlich Kapitalform (noch keine Kapitalproduktion) einen gesellschaftlichen Sachzwang,
den Überschuß in Form des Gewinns zu steigern – obwohl die materielle
Produktion noch zu 90 % aus Subsistenz- und Naturalwirtschaft bestand;
zudem selektierte die Konkurrenz der antiken Stadtstaaten in der Ägäis ohne
irgendeine Absicht der Protagonisten die unerläßliche Wissenschaftsmethode
– neben manchem anderen –, ohne die viel später ein noch so gewaltiger
Gewinnzwang keine wissenschaftliche Technologie zuwege gebracht hätte.
Verspürten aber die antiken Menschen das unstillbare Bedürfnis, formalen
Gewinnzwang mit der Produktion und Handwerk mit Mathematik effizient
zu verbinden? Alles andere als das. (Die Ausnahme Archimedes bestätigt die
Regel. Sie bestätigt aber auch die schier unglaubliche Potenz der Autonomie
menschlicher Bewußtheit, die sich beim Einzelnen über sämtliche kulturellen und historischen Schranken zu erheben vermag.)
Wieder mußte erst gegen die Bande der Tradition eine unaufhaltsame Macht
entstehen – und zwar die ökonomische Macht eines großen Handels- und
Bankenkapitals befördert durch die allgemeine Konkurrenz vieler Feudalherren Europas. Die Gewinnerwartung dieser Finanzmacht war früher oder später durch noch so ausschweifende Kolonialabenteuer nicht mehr zu erfüllen.
Daher unterwarf sich ein immer größerer Teil des Kaufmannskapitals die
unmittelbare Warenproduktion, deren Gewinn mühseliger und geringer aber
sicherer und beständiger war, um sich nach und nach in industrielles Kapital
zu verwandeln. Mit der beginnenden industriellen Produktion – ständig forciert durch gewinnsuchendes Kapital – war der Dornröschenschlaf gesellschaftlicher Arbeit endgültig beendet. Damit Kapital akkumuliert werden
110
konnte, mußte die Lohnarbeit ausgedehnt werden, wodurch die Natur und
ihre Rohstoffe mehr und mehr den funktionellen Angriffen der Arbeit ausgesetzt wurden.
Erstmals also – seit die neue Reproduktionsform „Arbeit“ mit der Landwirtschaft entstanden war, seit ihr Überschuß die Bildung von Stadtstaaten und
Hochzivilisationen ermöglicht hatte – wurde Arbeit in Form von Lohnarbeit,
die gesamtgesellschaftlich geworden war, zu einer dynamischen, sich beschleunigt ausweitenden Größe. Von nun an erfaßte fabrikmäßige Arbeit in
immer schnellerem Tempo mehr und mehr Facetten der Natur, um sie zu
nutzen. Doch war die Lohnarbeit, die zuallererst Wert bilden sollte, vor der
industriellen Revolution vor allem auf die Produktion von Konsum- und Luxusartikel gerichtet. Die Entwicklung von Wissenschaft und Technik unterlag weitgehend dem Mäzenatentum von Monarchen.
Hatten die Menschen etwa die Perspektive, durch die Verbindung von Wissenschaft und Technik eine über den Menschen hinausgehende künstliche
Natur zu schaffen? Keineswegs! Denn dem Kapital war lediglich daran gelegen, durch Senken der Arbeiterzahl und Steigerung der Produktivität, ExtraGewinn zu erzielen, indem es mit mehr und billigeren Produkten die Konkurrenz aus dem Feld schlug. Von 1800 an sind zunehmend die ganze Gesellschaft, der Staat, die Wissenschaft und die Technik Westeuropas vom
Kapitalzwang infiziert, zu akkumulieren. Die steigende Produktivität kommt
gegen Ende des 19.jahrhunderts nur deshalb auch einem steigenden Konsum
der Lohnarbeitermassen in Prosperitätsphasen zu Gute, weil der Massenkonsum relevanter Teil des Marktes wird. Und trotzdem vollzieht sich hinter
dem Rücken der Arbeitenden die latente und schleichende Entmachtung des
Profitzwanges und gleichzeitig die Vorbereitung einer neuen Einheit des
Menschen mit der Natur. Wie soll das möglich sein?
Dies ist nicht nur möglich, sondern wird immer notwendiger, weil die Gewinnakkumulation nicht unentwegt durch Verlängerung der Arbeitszeit,
durch Beschleunigung der Arbeitsvorgänge, durch kostenlosen Raubbau an
den Naturressourcen, durch spottbillige Kinder- und Frauenarbeit, durch
Senken der Löhne usw. gesichert werden kann. Im Gegenteil: Früher oder
später muß eine fortgeschrittene Technik wegen der Konkurrenz die Arbeitszeiten reduzieren, muß sie immer diffizilere Arbeiten in die Maschine bis hin
zum Automaten verlagern, müssen mechanische und physische Prozesse
durch Informationsverarbeitung ersetzt werden – kurz: Bislang getrennte,
gesellschaftliche Arbeiten werden durch Kommunikations-, Informationsund Datenverarbeitungstechniken dem Markt zunehmend wieder entzogen
und somit nach sozial nützlichen Kriterien steuerbar. Die internationale Wissenschaft stellt mit immer fundierteren Studien klar, wie die Überfischung
der Weltmeere, die uferlosen, schädlichen Abfallmengen, die klimabedrohli-
111
che Abholzung der Tropenwälder, die Vergeudung fossiler Energie usw. in
gesellschaftlich nachhaltiger Form geregelt werden könnten – während der
Zwang zu Kapitalwachstum jede lebenswerte Zukunft weiter untergräbt. Und
daher manövriert sich die kapitalistische Welt selbst unaufhaltsam in ein bekanntes Szenario:
Wie um 1900 die Arroganz der historisch überfälligen Dynastien, so herrscht
heute die Arroganz der noch perverseren, in allen Gesellschaftsbereichen
Konflikte provozierenden Finanz- und Bankendiktatur. Und daher ist es wie
nach 1848 nur eine Frage der sozialen Revolten, Kriege und inzwischen auch
Naturkatastrophen, die der fundamentale Widerspruch zwischen privaten
Profitexzessen und gesamtgesellschaftlichen Bedürfnissen periodisch hervorbringt, durch die dies antagonistische System der Vergewaltigung gesellschaftlicher Arbeit entmachtet wird; zumindest solange die gewählten Regierungen den unvermeidlichen Systemwandel nicht wagen.
3
Schlüsselperioden
der Weltgeschichte
– und wie sie folgerichtig Sinn ergeben
Wir müssen den Ausgangspunkt vertiefen: Das erste Auftreten des Menschen bedeutet aufgrund seiner Bewußtheit eine neue, radikale Zäsur in der
bisherigen Evolution der Materie – die phantastischerweise ohne steuerndes
Subjekt vom Entstehen des Wasserstoffs bis zum Großhirn reichte. Mit der
Bewußtheit nämlich, die eine relative Autonomie gegenüber den Automatismen des unbewußten Verhaltens ermöglicht, wird erstmals ein Produkt der
biologischen Evolution der gesamten Natur entgegengestellt. Inwiefern? Insofern Evolution nicht mehr selbstregulativ von zufälligen Variationen des
Erbguts abhängig ist, sondern partiell zumindest vom Denken gesteuert werden kann. Damit nimmt biologische Evolution in Gestalt menschlicher Gesellschaft die unvergleichlich stärker beschleunigte und gerichtete Prozeßform der Geschichte an.
Wie aber vermag menschliches Denken gegenüber tierischem ähnlich kreativ
zu sein wie zuvor manche Variation des Erbguts? Weil die rein kausale, determinierende und rationale Denkform, die durch Bewußtheit erstmals möglich wird, sich mit den ziellosen Phantasmen des Unbewußten wechselwirkend, kreativ und zielführend verbindet. Eine unbewußte Psyche kann zwar
aufgrund vorangegangener Erfahrungen neuronale Attraktoren als vorteilhafte Verhaltensregeln ausbilden; und sie kann eine Unzahl mehr oder minder
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zufälliger Denk- und Verhaltensvarianten kreieren – aber sie kann unmöglich
Pläne, Projekte und abstrakte Ziele weit vorausschauend gegen alle Widerstände dauerhaft verfolgen. Beim Menschen ergänzen sich somit erstmals
innovativer Gedankenüberfluß und dessen bewußte, rationale Kontrolle. Auf
diese Weise kann im Prinzip jede Eigenschaft und jedes Produkt der Natur
mittels Denken erfaßt und darüber hinaus jedes unmögliche aber auch jedes
real mögliche Kunstprodukt entworfen werden – was Ungeheuerliches bedeutet: Nämlich das Ablösen des evolutionären Charakters der bisherigen
Naturentwicklung durch gezielte, gesteuerte Entwicklung von vermenschlichter und vergesellschafteter Natur.
Doch diese bloße Anlage des frühen Menschen erzwingt keineswegs deren
praktische Verwirklichung mittels der Potenzen der Natur. Durch die Zufälle, Wirrnisse und Sackgassen der bisherigen Menschheitsgeschichte hindurch haben wir folgendes verstehen gelernt: In ihren zentralen Schlüsselperioden finden wir nichts anderes als die notwendigen, funktionalen Schritte
vor, die unerläßlich sind, um eine lange völlig unbewußt, selbstreguliert sich
entwickelnde Menschheit in die praktische und gezielt-kreative Auseinandersetzung mit der Natur zu versetzen.
Die Evolution der Materie seit dem Urknall findet unaufhaltsam in verschiedensten Formen und auf verschiedensten Stufen statt. Sie kann über die biologische Evolution hinaus nur fortgesetzt werden, wenn ihr bislang höchstes
Produkt, der Mensch, nicht rein meditativ neben der Natur isoliert bleibt,
sondern wenn er mit und in der Natur deren Evolution in Form seiner Geschichte, seiner Zivilisation weitertreibt. Dies kann nur in tätiger Auseinandersetzung mit der Natur gelingen. Die verstreuten Jäger- und Sammlergemeinschaften der frühen Menschheit übten zwar per Mythen, Riten und in
Trance die Einheit mit der Natur aus, praktisch aber eigneten sie sich die fertigen Früchte der Natur nur an. Um in die Natur sachlich einzudringen, muß
sie, wie wir inzwischen wissen, systematisch zerlegt, analysiert und umgeformt werden. Die Jäger und Sammler hatten dazu jahrzehntausendelang
keinen Anlaß.
Die Möglichkeit der Landwirtschaft wurde dennoch gefunden und mußte
mehr oder weniger wahrscheinlich gefunden werden. Mit der Landwirtschaft
wiederum entstand statt dem bloßen Aneignen von Naturprodukten die
künstliche Herstellung neuer Nahrungsmittel und Artefakte – durch regelmäßige, geplante Arbeit. Diese Arbeit war natürlich keineswegs darauf angelegt, die Auseinandersetzung mit der Natur und ihre Erforschung voranzutreiben. Doch war sie die endlich gefundene Prozeßform, das unerläßliche
Mittel dazu. Sie gewährleistete anfangs lediglich eine nachhaltigere Reproduktion. Es bestand keinerlei Motiv, mit ihrer Hilfe tiefer in die Geheimnisse
der Natur einzudringen. Das einzige Motiv war spirituell, die Götter durch
113
Opfergaben und Beschwörung günstig zu stimmen, war die Versicherung,
den göttlichen Naturverlauf nicht stören zu wollen.
Heute erkennen wir: Erstens garantiert Arbeit allein keinen gesellschaftlichen Fortschritt – wie 6 000 Jahre gleichbleibende Dominanz der Landwirtschaft bezeugen. Und – zweitens: Durch industriekapitalistisches Wachstum
überschlägt sich zwar der materielle Reichtum der bürgerlichen Gesellschaft
– noch dazu erzwungen durch periodische Katastrophen und höchst ungerecht verteilt –, aber dieses Wachstum intendiert keineswegs vorzüglich eine
neue, vertiefte Einheit mit der Natur – eher im Gegenteil. Drittens: Selbst
die systematische und allseitige Entwicklung vieler Technologien und Wissenschaften im Dienste der Steigerung der Arbeitseffizienz und damit des
Gewinns, läßt eine höhere Einheit des Menschen mit der Natur bestenfalls in
der Grundlagenforschung erahnen. – Unmittelbar befördert exzessive Kapitalakkumulation vor allem den nahenden Kollaps des globalen Ökosystems
und sabotiert die konstruktive Zusammenarbeit der Gesellschaften. Nichtsdestotrotz sind diese drei elementaren Phasen der Geschichte unerläßlich,
bringen sie doch die entscheidenden Faktoren – Arbeit, steigendes Mehrprodukt und Hochtechnologie – für das Erreichen einer geeinten Weltgemeinschaft und der Entwicklung einer höheren Einheit des Menschen mit der Natur hervor.
Wie also konnte landwirtschaftliche Arbeit, die vorwiegend auf die Subsistenz ausgerichtet war, jemals ein dynamisches Wirtschaftsmotiv hervorbringen? Wie sollte ein bloßer Zwang zu Handelsgewinn Technologie und Wissenschaft verbinden? Und wie sollte uferloses Wachstum der industriellen
Produktion durch Wissenschaft und Technologie zu einer sozial vereinten
Weltgemeinschaft führen, die sich eine höhere Einheit mit der Natur zum
Ziel setzt? Die führenden Persönlichkeiten der Weltgeschichte waren von
allen möglichen Motiven beherrscht – von der Gründung einer neuen Religion, der Schaffung eines Weltreiches, der Überlegenheit der eigenen Nation
oder gar einer Rasse, der Überlegenheit des kapitalistischen Wirtschaftssystems; aber nie trat als gesellschaftsbeherrschendes Motiv in Erscheinung,
Technologie und Wissenschaft selbstzweckhaft so lang zu revolutionieren,
bis der Mensch an seine biologische Schranke gelangen würde. Die List der
Geschichte mußte daher rein objektive, strukturell verankerte Motive implantieren, denen die Menschen folgten, ohne ihrer Folgen bewußt zu werden.
Das erste, unbewußte Handlungsmotiv der Gesellschaft, das eine fortschreitende Auseinandersetzung mit der Natur implizierte, entstand mit dem Überschuß, den vor allem die Landwirtschaft der Antike erwirtschaftete. Warum?
Weil sich erst ein landwirtschaftliches Mehrprodukt dauerhaft in Waren
verwandelte und gleichzeitig eine langsam fortschreitende, gesellschaftliche
114
Teilung der Arbeit ermöglichte. Eine künftige Steigerung des Mehrprodukts
war aber der Dreh-und Angelpunkt, den inneren Widerspruch zwischen
Mensch und Natur praktisch auf eine höhere Ebene zu transferieren. Zunächst bedeutete der landwirtschaftliche Überschuß zweierlei:
Einmal zwang die Wertform der Waren die Produzenten, zumindest diesen
Überschuß dauerhaft zu garantieren, ja die entstehende Geld- und Zinsform
des Wertes steigerte sogar diesen Zwang – wenn auch nur geringfügig, da
Warenproduktion bloß eine marginale Rolle spielte. Zum andern waren es
dieser geringe materielle Überschuß der antiken Gesellschaften und die
durch ihn ermöglichte Differenzierung und Spezialisierung des Handwerks,
die unter günstigen Umständen – wie in der Ägäis – die geistige Elite der
Gesellschaft bewegten, von der Religion als Welterklärung zur Entwicklung
einer formallogischen Wissenschaftsmethode fortzuschreiten. Kurz: Mit dem
landwirtschaftlichen Überschuß in Form von Ware wurde erstmals die Notwendigkeit, mit so viel Produktivität zu arbeiten, daß ein gewisses Mehrprodukt abfiel, zum Marktzwang. Davon nicht ganz unabhängig wurde die formale Methode abstrakten Denkens gefunden –, die sich als unabdingbar erweisen sollte, die praktische Erforschung der Natur unentwegt zu vertiefen.
Bezeichnenderweise nahm ein Handelsvolk wie die Phönizier die Funktion
des Mittlers bei der Entwicklung einer sehr formalen, abstrahierenden Schrift
ein.
Inzwischen wissen wir: Mit der Trennung von Wirtschaft und Wissensschaft
war die historische Aufgabe gestellt, diese beiden getrennten Ebenen zusammenzuführen, auch wenn die Menschen dies nicht anstrebten, sofern sich
die Geschichte der Menschheit weiterentwickeln sollte. Was brachte die
Menschen dazu, Theorie und Praxis bei der Erforschung der Natur zusammenzuführen, obwohl jahrtausendelang die einzige, regelmäßige Konfrontation mit der Natur – die landwirtschaftliche und handwerkliche Körperarbeit,
die noch dazu geringgeschätzt wurden – und der geistige Umgang mit der
Welt und den Fragen, die er aufwarf, durch eine tiefe soziale Kluft getrennt
waren? Wieder war der Anstoß hierzu ganz indirekt, kam nicht von oben aus
dem bewußten Denken von Bildungsträgern, sondern ganz unbewußt von
unten, indem die Statik der tradierten Arbeitsweisen – das Zunftwesen – ins
Wanken geriet.
Wie wir gesehen haben, wurden im Hochmittelalter Europas (aufgrund besonderer Rahmenbedingungen) Markt und Geldwirtschaft in der gesamten
Gesellschaft übermächtig und das entstehende große Handels- und Bankenkapital etablierte den allgemeinen Zwang, aus Geld ständig mehr Geld zu
machen. Dieser strukturelle Gewinnzwang erfaßte zwar noch nicht die allgemeine materielle Produktion, aber es war das unstillbare, gesamtgesellschaftliche Motiv entstanden, ständig den Handelsüberschuß und damit den
115
Kapitalgewinn zu steigern. Etabliert war immerhin der pure Antrieb, ständig
den materiellen Reichtum in Form von Handelsgewinn zu erhöhen. Aber wo
sollte dieser unaufhörliche Zufluß an Reichtum herkommen? Und wie sollte
wachsender gesellschaftlicher Reichtum eine neue Einheit des Menschen mit
der Natur begünstigen? Tatsächlich sollten sich die reale Produktion und ihre
exponentielle Steigerung als die Schlüsselelemente für diese immanente
Richtung der Weltgeschichte erweisen.
Jahrhundertelang – von den Kreuzzügen bis zum Beginn der industriellen
Revolution – wurden die teils phantastischen Gewinnmargen der Handelsgesellschaften auf kolonialistischem Wege erzielt – also primär nicht durch
eigene Produktion. Die Methoden reichten dabei von mehr oder minder fairem Tausch mit indischen, chinesischen und arabischen Händlern bis zu offenem Raub durch Mord und Vertreibung sowie Sklavenarbeit in der Neuen
Welt und in Südostasien. Zwar hingen einerseits die politischen wie ökonomischen Protagonisten der Illusion an, der risikofreudige Handel bilde die
Wurzel des ständigen Reichtumsflusses; doch andererseits verlangte das
gleichzeitig wachsende Geldkapital immer dringlicher nach profitabler Anlage. Die zusammengerafften Gold- und Silbermassen vor allem in den Konsum von Luxusgütern zu stecken, ließ nur – wie vor allem auf der iberischen
Halbinsel – die Preise in die Höhe schnellen, während die produktive Wirtschaft einen Niedergang erlebte.
Es waren die entwickeltsten Bürger- und Handelsstädte wie Amsterdam,
London, Hamburg, Genua, Venedig etc. deren Kaufleute und Banker ihr anschwellendes, anlagesuchendes Kapital einerseits für Staatsanleihen hergaben und andererseits im Hinterland durch Verlagsproduktion in produktives,
zuerst manufakturelles, dann industrielles Kapital verwandelten.
Wir haben gesehen: Eine unkontrolliert globale Arbeitsteilung, die den
Zwang des Weltkapitalismus zur Profitmaximierung etabliert, stellt den äußeren wie inneren Rahmen dar, der die Menschheit – trotz Finanzkrisen,
Regionalkriegen, Naturkatastrophen und Migrationsgefahr – in eine tendenzielle Richtung lenkt: Einerseits besteht die Tendenz zu sozialen Katastrophen aller Art andererseits die allgemeine Richtung zur informationellen
und kooperativen Vergesellschaftung der Welt. Insofern ist die neuere Weltgeschichte gegenüber der frühen Menschheitsgeschichte leichter durchschaubar geworden.
(in progress)
116
4
Fortschritt
der Menschheitsgeschichte
und woran er sich erkennen läßt
Entgegen allen pessimistischen oder skeptizistischen Historikern der Moderne, die einzig einen chaotischen Verlauf der Weltgeschichte registrieren
können, gilt nach allem: Die äußere Geschichte der Menschheit verhüllt einen widersprüchlich-progressiven Entwicklungsprozeß. Progressiv meint
weder geradlinige Entwicklung noch ethische Widerspruchsfreiheit. Progressiv bedeutet ganz sachlich, daß die Menschheit ihre Reproduktionsweise zusehends bereichert und gesichert hat, ihre Gesellschaftsformen enorm differenzierte, ihre zivilisatorischen Mittel komplexer und effizienter gestaltete,
ihre Fähigkeiten im Nutzen und Verstehen der Natur sukzessive steigerte –
bei allen widersprüchlichen Gegentendenzen. Vor allem aber: Alle diese
progressiven Tendenzen der menschlichen Zivilisation verraten dem Unvoreingenommenen eine Gesamtrichtung, die Tendenz zu einem historischen
Attraktor – der geeinten Weltgesellschaft. Eine bewußtwerdende, sozial verfaßte Menschheit kann aber nur realisiert werden, weil menschliche Kreativität und Naturkräfte eine immer engere Verbindung eingehen. Wie kommt es
dazu?
Die Ausgangsebene bleibt der reale, konkrete Widerspruch zwischen
Mensch und Natur. Der Mensch erscheint anfänglich in der gewaltigen Natur
nur wie ein hilfloser Keimling. Und doch steht der Natur mit dem Menschen
erstmals eine radikal anders geartete Elementarform des Lebens diametral
gegenüber. Inwiefern? Sowohl die tote wie die lebende Natur vollzog bisher
über Jahrmilliarden ihre Evolution primär selbstregelnd, selbstorganisatorisch, kannte kein zentrales Oben, das auf diese Basis richtungsweisend zurückgewirkt hätte. Doch die biologische Evolution hat – angefangen bei der
ersten Nervenzelle – mit dem sich entwickelnden System der Informationsverarbeitung, mit der zunehmenden Differenzierung der Steuerzentrale Gehirn schließlich ein Lebewesen hervorgebracht – den Menschen –, dessen bis
dahin ganz überwiegend unbewußte Psyche zur Bewußtheit erwachte. Damit
war die biologische Evolution, was ihr höchstes Potential an Entwicklung
betrifft, beendet.
Worin besteht aber der ominöse Zustand, bewußt zu sein? Bewußtheit besteht einzig und allein in einer radikal neuen, zusätzlichen Eigenschaft des
neuronalen Systems. Und welcher? Ein winziger Teil des Unbewußten – anfangs nur das Überlebenswichtigste aller Wahrnehmung und Kognition –
wird zum latenten Richtungsgeber des psychischen Gesamtprozesses. Dieser
117
winzige Teil hat sich nämlich im Laufe der Gehirnevolution prozessual verselbständigt und kann durch den bewußten Denkprozeß beliebig lange in
beliebig neue Denkinhalte verwandelt werden. Sobald aber bestimmte Gedanken mittels Arbeit zur gesellschaftlichen Tat werden, ist die Natur dem
Menschen potentiell ausgeliefert. Keineswegs ist damit einem Idealismus
das Wort geredet. Denn diese Potenz wurde im frühen Stadium der Menschen während Jahrzehntausenden nicht produktiv genutzt und konnte es
entwicklungsbedingt nicht werden.
Praktisch kann der Mensch die Natur sich nur aneignen, wenn er sie zerlegt,
analysiert und wieder neu zusammensetzt. Die Tätigkeit der Jäger und
Sammler reicht dazu nicht hin. Mit der Landwirtschaft wird schließlich Arbeit als die gesellschaftliche Form gefunden, die die Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur immer tiefer und weiter zu treiben vermag. Das
Entwicklungspotential des Menschen beginnt damit langsam realisiert zu
werden. Inwiefern ist es gegenüber tierischer Leistungsfähigkeit extremst?
Beim Menschen hat die Evolution nicht primär die Körperorganisation, sondern die Informationsverarbeitung, das Großhirn selektiv optimiert und dabei
eine grundlegend neue Qualität erreicht: Seine Autonomie der Bewußtheit
befähigt den Menschen – zusätzlich zur instinktiven Lebenserfahrung –,
symbolische Informationsmuster zur konkreten Wirklichkeit in Form von
Gedanken zu optimieren. Dies geschieht, indem Gedanken unbewußt verglichen und selektiert werden, so daß sie gewissermaßen progressiv evolutionieren.
Wenn nun in der kommenden Geschichte der Arbeit körperliche durch geistige, konkrete durch abstrakte, mechanische durch informationelle Arbeit
ersetzt wird, wird stets auch die Reproduktion des Menschen einfacher,
leichter und effektiver: Die Leistung von Arbeit pro Zeit erhöht sich – und
zwar immer gewaltiger in qualitativen Schüben. Diese Fortschritte in der
Entwicklung der Arbeit bestehen keineswegs nur in quantitativer Leistungssteigerung, sondern durch eine jeweils qualitativ neue Produktionsweise revolutionieren sich auch Verfassung und Kultur der Gesellschaften.
Noch aber gibt es für die Menschen der frühen Hochkulturen keinerlei Motiv
über Reproduktion und Herrschaftsgestaltung hinaus, Arbeit zu effektivieren, ihre Hilfsmittel ständig gezielt zu verbessern. Als so unerläßlich sich die
gesellschaftliche Arbeit für den Zivilisationsprozeß der ganzen Menschheit
erweisen wird, eine so unbeachtete, minderwertige und hemmende Rolle
spielt sie während der Jahrtausende der Sklavengesellschaften und der Feudalismen. Es muß also ein Motiv hinzukommen und zwar ein gesamtgesellschaftliches, ja ein zwanghaftes, um der Natur über Generationen und Jahrhunderte immer tiefer und gründlicher zu Leibe zu rücken. Denn keine religiöse oder imperiale Ideologie war darauf aus, vor allem dem arbeitenden
118
Volk all die Entbehrungen dauerhaft abzuverlangen, all den permanenten
Innovationsgeist zu schüren, was beides notwendig war, Gesellschaft und
Natur fortwährend und immer beschleunigter zu revolutionieren.
Ein solch völlig unbeabsichtigtes Zwangsmotiv – das allerdings direkt nur
auf die Steigerung der Wertakkumulation gerichtet war, nicht etwa schon auf
die Entwicklung von Technologie und Wissenschaft – brachte ein immer
ausgedehnterer Markt selbstregelnd mit sich. Zwar entstand mit der beginnenden gesellschaftlichen Arbeitsteilung ein Markt bereits in den frühesten
Hochkulturen. Doch anfänglich nur an den Rändern der antiken Reiche als
Fernhandel und um die Städte herum, aber er durchdrang bei weitem nicht
die ganze Gesellschaft, berührte kaum das flache Land und die großen Latifundien. Zum ersten Mal begann im zersplitterten, zentrumslosen Europa des
Hochmittelalters und der beginnenden Renaissance der Markt dermaßen
große Handels- und mächtige Bankkapitale hervorzubringen, daß der gesamte Adel, die feudalen Dorfgemeinschaften und selbst die Kirchengüter in ihren Bann gerieten. Geldwirtschaft, Kapitalzins und in den ersten Manufakturen bereits industrieller Gewinn wurden mehr und mehr zum zwanghaften
Motiv allen gesellschaftlichen Handelns.
Der langsam ausgeweitete Markt des Warenhandels erweiterte auch die
Macht und Zugriffsgelegenheit des Kapitals, um im nationalen Binnenmarkt
zu investieren, so daß die bloßen Händler und Banker wieder an die Quelle
der Steigerung von Reichtum getrieben wurden: zur materiellen, jetzt industriellen Produktion. Damit war über das reine Motiv zur Steigerung von
Reichtum hinaus – der sich schließlich durch blanken Raub auch verwirklichen läßt – endlich die Stufe erreicht, auf der die Auseinandersetzung mit der
Natur – die das Denken des Menschen ideell schon lange vorwegnahm –
konkret, praktisch und empirisch entwickelt werden konnte. Der Handelsgewinn konnte ausgedehnt und verstärkt akkumuliert werden, dadurch, daß
eine wachsende, industrielle Produktion entstand. Aber selbst die industrielle
Produktion traf periodisch auf ihre Schranke, wenn nämlich die Konkurrenz
von Produzenten gleicher Waren den Markt trotz seines Wachstums überfüllte.
In diesem Stadium angelangt, zündete die vorletzte und wahrhaft produktive
Stufe der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur – was die industriellen Kapitalisten genauso wenig im Sinn hatten. Seit der Renaissance
setzten sie in Europa Technologie und Wissenschaft immer häufiger und systematischer ein, um die Vielfalt ihrer Produkte und deren Wohlfeilheit garantieren zu können. Spätestens im 19. Jahrhundert begann der Staat, der bis
dahin dem Merkantilismus gefrönt hatte, durch Infrastrukturmaßnahmen und
Bildungsförderung die industrielle Revolution des Kapitals zu unterstützen.
Schließlich war schwer zu übersehen, daß eine beschleunigte Kapitalakku-
119
mulation getragen von sich entwickelnder Wissenschaft und Technologie
auch Macht und Einfluß von Staat und Nation beförderte.
Gegen Ende des zweiten Jahrtausends haben globaler Markt-, Konkurrenzund Profitzwang bereits die vierte industrielle Revolution ausgelöst. Sie beinhaltet längst nicht mehr nur zwei oder drei technologische Sprünge, sondern treibt mehr oder minder auf allen Ebenen des Lebens eine zunehmend
sinnorientierte, dem Menschen verantwortliche Vergesellschaftung voran –
von ökologischer Landwirtschaft in der Stadt über vollautomatisierte Fabriken bis zur vernetzten, fahrerlosen Mobilität. So kann eine neue, konstruktive Einheit mit der Natur durch eine Energiewende hin zu vollständig regenerativen Energien nur gelingen, wenn die Bedürfnisse der Menschheit entschieden vor einem destruktiven Profitdiktat rangieren. So werden die fortschreitenden, neuen Möglichkeiten des Internets die grundlegenden Fragen
nach der Rolle des Staates und der Allmacht kapitalistischer Monopole nicht
mehr verstummen lassen. Auch hier werden die emanzipatorischen Bedürfnisse der Zivilgesellschaft in beiden Richtungen die Oberhand gewinnen –
bei Strafe der Selbstzerstörung.
Kurz: Die Allmacht des Profitzwanges – das heißt der schrankenlosen, rein
quantitativen Steigerung des Mehrprodukts über die bloße Subsistenz hinaus
– verletzte bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts die unverzichtbaren Bedürfnisse der arbeitenden Menschen so essentiell, daß sogar der Staat der
herrschenden Klassen sich gezwungen sah, per sozialer Gesetzgebung einzuschreiten. Heute – nachdem zwei Weltkriege und eine Weltwirtschaftskrise
den bürgerlichen Staat endlich bewogen, zumindest eine soziale Marktwirtschaft zu etablieren – ist das globale Profitdiktat des Finanzkapitals drauf
und dran nicht nur die bloße Subsistenz der einfachen Lohnarbeiter zu untergraben, sondern die Lebensadern der ganzen Menschheit zu ruinieren – ihre
Rohstoffquellen, ein verträgliches Klima und die physische Unversehrtheit –,
also den Planeten Erde menschenfeindlich zu machen.
Gleichzeitig aber ermöglichen die innovativen, technologischen Mittel – wie
Automation, Elektronik, Sensortechnik etc. –, um das industrielle Wachstum
nachhaltig zu steigern, auch die intelligenten Mittel – wie Computer, GPS,
Internet etc.–, um Maschinen mit Menschen, dann Maschinen mit Maschinen
und letztlich Menschen mit Menschen nicht nur auf Wertbasis, sondern wieder nach ihren qualitativen Bedürfnissen unmittelbar kommunizieren zu lassen. Bislang selbstregulatorische Wechselwirkungen des Marktes werden
gleichzeitig mehr und mehr kontrollierbar. Selber zunehmend kooperativer
werdende Technologien und Wissenschaften gewähren der Menschheit als
Ganzes sowohl die sachlichen Mittel als auch die Einsicht, wie die nützlichen Bedürfnisse und Absichten aller Menschen bei der erreichten, phantas-
120
tischen Produktivität vor rein quantitativem und daher destruktivem Profitwachstum rangieren können und müssen.
Wird diese Richtung der bedürfnisorientierten Vergesellschaftung durch
Technologie und Wissenschaft weiter vorangetrieben – und alles deutet darauf hin –, dann kann die nächste Stufe in der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur nur die letzte sein: In einer geeinten, sozial dominierten
Weltgemeinschaft, die keine Reproduktionssorgen mehr kennt, wird auch
kein Antrieb zu rein quantitativem Produkt- und Konsumwachstum mehr
von Interesse, sondern Bedürfnis der Menschheit wird die Vervollkommnung wissenschaftlicher Erkenntnisse und ihre praktische Umsetzung sein.
Da jede progressive Entwicklung von der bewußten, kreativen Weiterverarbeitung zunehmend kooperativer also vernetzter Informationen abhängt, muß
aus der organischen Wiedervereinigung von Mensch und Natur eine höhere,
unvergleichlich intelligentere Lebensform hervorgehen.
(Wer dabei von der Superintelligenz irgendwelcher Rechenmaschinen faselt,
die die Herrschaft über den Menschen ausüben könnten, besitzt weder ein
Verständnis von dem, was menschliche Intelligenz ausmacht noch eine wissenschaftliche Vorstellung von der Realdialektik zwischen Mensch und Natur: Der Mensch verwandelt die Natur und diese angewandte Natur verwandelt rückwirkend den Menschen – aber in seinem Sinne. Jede höhere Intelligenz über ihn hinaus muß grundlegend menschlicher Art sein, also vor allem
kreativ, das heißt zur Entwicklung von Unbekanntem, Weiterführendem fähig. Eine noch so hohe Rechenleistung vermag dies nie. Die Entstehung von
qualitativ neuen Zivilisationsschritten ist auf rein formal-logischen Wegen –
nur per Algorithmen – grundsätzlich nicht zu erreichen.)
121
Gesamtresümee
Lehren aus der Weltgeschichte für die Gegenwart
1
Das Krebsgeschwür der globalen Kapital- und Finanzdiktatur
und seine geschichtlichen Ursachen
Die Kapitalistische Produktionsweise wird von der akademisch etablierten
Wissenschaft für natürlich, zumindest für menschengemäß und daher für
ewig gehalten. Das Gegenteil ist wahr.
Nur wer verstanden hat, daß kapitalistischer Akkumulations- und Profitzwang alle menschengemäße Produktion geradezu auf den Kopf stellt, daß
sie nur einer eng begrenzten Periode gesellschaftlicher Arbeitsteilung entspringt und daher menschheitsgeschichtlich nur einen verschwindend geringen Zeitraum existieren wird, kann seinen Beitrag dazu leisten, die Welt vor
dem Abgrund zu retten.
Aber nicht erst der Kapitalismus, der in seiner industriellen, die Erde erobernden Form erst seit knapp 200 Jahren existiert, sondern schon die einfache Warenproduktion und der Markt verraten dem denkenden Menschen,
daß der menschliche Zweck der Produktion auf dem Kopf steht, pervertiert
ist: Denn mit ihr ist nicht mehr der unmittelbare, gemeinschaftliche Nutzen,
das notwendige, gesellschaftliche Interesse Leitfaden der Wirtschaft, sondern
nur mehr ein abstrakter Maßstab, der Wert. Dessen versteckter Inhalt, die
Arbeitskraft, war ursprünglich bloßes Mittel zum Zweck einer menschlich
sinnvollen Produktion – was eigentlich allein funktionell ist.
Grundlage für alles weitere: Radikale Umbrüche in der Weltgesellschaft
sind unvermeidlich betreffs Energiewende, Atomabbau, Arbeitslosigkeit,
Sozialstaat, Rechtsstaat, Korruption, biologische Landwirtschaft etc.
Wie aber sollen sie bei den bestehenden Machstrukturen und dem oberflächenfixierten Massenbewußtsein vollzogen werden?
122
2
Zahlreiche Varianten
eines Weges in die globale Apokalypse
Was die Juden im 3. Reich waren, könnten heute die Migranten werden: Erstarken des Rechtspopulismus in Europa und im Verbund mit der Schuldenkrise Renationalisierung und krisenhafter Zerfall der Union. – Könnte aber
auch einen Schub in Richtung europäische auch globale Solidarität geben,
eine Entnationalisierung. Wirtschaftliche, kulturelle und demokratische Vorteile durch Integration.
Aufkochender Nationalismus und Chauvinismus von Staaten, die entweder
nie primär Nationalstaaten sein konnten (Rußland – siehe Ukrainekonflikt)
oder wie das wilhelminische Deutschland sich lange als Spielball anderer
Mächte fühlen mußten (China, Indien).
Die brandgefährliche Gemengelage des rückständigen Nahen Ostens, wo
sich wie vor dem 1. Weltkrieg auf dem Balkan zig Konfliktlinien treffen.
Weltfinanz- und darauf folgende Weltwirtschaftskrise mit globaler Wirtschaftsrezession, hunderte Millionen Arbeitsloser und dementsprechend
mehr oder minder zielbewußter, sozialer und politischer Revolten.
Extreme soziale und politische Kräfte im Zuge gewaltiger Schäden von Klimakatastrophen. Wieder Auftreten von Nahrungsmittelknappheit aufgrund
von Mißernten, Überschwemmungen und Schädlingsepidemien.
Destabilisierung von Staaten aufgrund weiterer Atomkatastrophen, die über
Grenzen hinweg wirken.
Amoklauf eines fundamentalistischen Führers in einem der Atomstaaten:
Pakistan, Nordkorea, China, Israel, USA
Energie- und/oder Wasserkrise in diversen Regionen der Erde.
Blutige, gewaltige Bürgerkriege in Großmächten wie China, USA oder Rußland
Am wahrscheinlichsten aber: Eine irrationale Mixtur aus mehreren dieser
Gefahren.
123
3
Werktätige der Welt:
Entmachtet die Geisel des Profits!
Kritik an der bisherigen Linken und ihrem kompletten Versagen
124
Altes Resümee
Die biologische Evolution bringt mit dem Menschen Bewußtheit hervor.
Bewußtheit aber ist die entscheidend neue Qualität, die den Menschen aus
der biologischen Evolution katapultiert, indem er seine Entwicklung – als
Geschichte – fortan wesentlich selber vollzieht.
Keineswegs bedeutet das, daß er von Beginn an willentlich seine Gemeinschaft progressiv entwickelt. Als Jäger und Sammler arbeitet er noch nicht
einmal, sondern entnimmt der Natur lediglich einen Teil ihres Überflusses.
Seine Bewußtheit dient zunächst dem Ausspinnen von Mythen, Legenden
und Riten, um sich in der Welt zu verorten. Ganz unabsichtlich dient sie außerdem dazu, über Jahrzehntausende gewissermaßen hinter seinem Rücken
spezialisiertes Werkzeug entwickeln zu helfen, das einmal das Entstehen von
Landwirtschaft ermöglicht.
Mit dem ebenso ungewollten Entstehen von Landwirtschaft erneut über Jahrtausende hin, entwickelt sich schließlich auch regelmäßige, systematische
und geplante Arbeit. Die wiederum ist das entscheidende Mittel, den durch
die Bewußtheit aufgerissenen Gegensatz des Menschen zur Natur dereinst
durch eine neue, höhere Einheit mit ihr zu überwinden.
Allerdings fehlt der frühen landwirtschaftlichen und dann auch handwerklichen Arbeit trotz ihrer Bewußtheit jede gesellschaftliche Dynamik, sich und
die Gesellschaft weiter zu entwickeln. Sie trägt weitgehend eine Kreislaufwirtschaft und so bleibt die Landwirtschaft für weitere Jahrtausende die alles
andere bestimmende Hauptbasis der Dorfgemeinschaften. Wenn in der Bewußtheit des Menschen latent ein antagonistischer Widerspruch zur Natur
liegt, dann stellt sie gleichzeitig auch das wesentliche Mittel dar, diesen Widerspruch durch die Herstellung einer höheren Einheit des Menschen mit der
Natur zu überwinden. Nur muß dazu die Omnipotenz der Bewußtheit, die
dem Menschen zur Verbindung von Phantasie mit Verstand verhilft, in der
gesellschaftlichen Arbeit wirksam werden.
Und das geschieht tatsächlich, aber wieder nicht durch menschliche Absicht,
sondern hinter dem Rücken der Menschen durch die in Etappen entstehende
Allmacht des Marktes. Ganz indirekt, weil der Markt die gesellschaftliche
Arbeit keineswegs sogleich durch die Verbindung von Phantasie mit Verstand dynamisiert. Zunächst bringt er nur Dynamik in die Warengesellschaft,
indem er ganz abstrakt den permanenten Zwang zum Gewinn, zur Akkumulation von Geld als Kapital hervorruft. Eine objektive List der Geschichte
wird wirksam, weil Geld lediglich das allgemeine Äquivalent von durchschnittlich verausgabter Arbeitsenergie ist. Verselbständigt sich aber das
Geld in der Hand des Kaufmanns als Kapital, das akkumuliert werden muß,
125
so muß auch der wertbildende Arbeitseinsatz ausgeweitet und intensiviert
werden.
Doch selbst die massenhaften Arbeiten vorwiegend für Konsum- und Luxusgüter, die die unentwegte Akkumulation von Wert ermöglichen, verschärfen durch Raubbau an der Natur eher ihren Gegensatz zum Menschen,
als daß sie deren neue Einheit vorbereiteten. Doch dieses Mal ist es der widersprüchliche Charakter der Arbeit, der gerade bei exzessivem Betreiben
der Wertproduktion gleichzeitig die Entwicklung von Naturwissenschaft und
Technik erforderlich macht, welche den Menschen mit der Natur in neuen
Einklang bringt. Indem der Mensch die Natur nämlich immer besser verstehen und nützen lernt, muß er Technologien entwickeln, die auch die Völker
und Nationen einander annähern.
*
Nochmals die Quintessenz: Auf menschheitlicher Ebene zeigt Weltgeschichte die Tendenz zur Wiedervereinigung des Menschen mit der Natur auf einer
unvorstellbar höheren Stufenleiter. Diese neue Einheit kann erst gezielt angestrebt werden, wenn eine ursprünglich zerstreute, unbewußt agierende
Menschheit irgendwann Arbeit, deren gesellschaftliche Teilung sich ganz
unabsichtlich progressiv entwickelte, als Stimulus und revolutionäres Mittel
zur Wohlfahrt und Emanzipation einer global vereinten Gesellschaft entdeckt: Erst die bürgerliche Gesellschaft bereitete den technologischen Boden
dafür. Diese schon mit den ersten Menschen in ihrem Systemgegensatz zur
Natur angelegte Aufgabe erforderte zu ihrer geschichtlichen Erfüllung eine
zwingende Folge funktionaler Schritte, die nicht überall gleichzeitig vollzogen werden konnten.
Ausgangsstadium war der von der Evolution freigesetzte, ja der Natur durch
seine Bewußtheit entgegengesetzte Mensch. Zuvor war alle Natur ein ganz
überwiegend selbstregulatives System. Dieses wurde mit der bewußten
Steuerungs- und Planungsfähigkeit des Menschen gesprengt – wenn auch
lange Zeit bloß in kümmerlichen Ansätzen – so lange als ganz überwiegend
Landwirtschaft die Gesellschaft bestimmte. Das seitherige, praktische Eindringen menschlicher Zivilisation in die Natur kann aber nur über ihre funktionale Durchdringung und damit Wiederaneignung fortgesetzt werden. Ohne Arbeit, das heißt, ohne Zerlegen, Umformen und Neuarrangieren der Naturstoffe, könnte dies nie gelingen. Die jahrtausendelange Epoche vom Entstehen der Arbeitsform überhaupt bis zu ihrer permanenten Revolutionierung
diente aus historischer Distanz gesehen zu nichts anderem, als durch die Arbeitsteilung hinter dem Rücken der Menschen eine gesellschaftliche Norm
zu installieren – den Gewinnzwang –, der eine solche Dynamik garantierte.
126
Freiwillig hätten die Menschen die Qualen der Zivilisationsumbrüche nie auf
sich genommen.
Genauso unbeabsichtigt führt dieser Zwang zur rein quantitativen Gewinnsteigerung aber auch zur nutzen- und bedürfnisorientierten Vergesellschaftung der Völker, Staaten und Nationen in einer geeinten Weltgemeinschaft.
Denn der Gewinn kann auf lange Sicht nur gesteigert werden, wenn um sich
greifende Automation die Effektivität der Arbeit unbegrenzt steigert. Das
aber impliziert aufgrund der dabei gesteigerten Rolle der Wissenschaft:
Wachstum kann nur noch erfolgen, wenn zunehmend innovative Kommunikationstechnik, Informationsverarbeitung und hochtechnologische Kooperationsformen den global-gesellschaftlichen Nutzen mehr und mehr vor einer
gewinngeleiteten Effizienz rangieren lassen. Politisch bedeutet das: Erst
wenn gesellschaftliche Kontrolle mittels Technologie und Wissenschaft die
Geißel des Gewinnzwangs soweit hemmt, daß weltweit die Zivilisationsschäden der Völker nachhaltig beseitigt sind, kann die soziale und politische
Einheit der Menschheit gelingen.
127
Anhang
Originäre Erkenntnisse zur Weltgeschichte,
die ihren letztlich gerichteten Verlauf erhellen
Das biologisch-revolutionäre Fundament:
Die Bewußtheit des Menschen
Sie versetzt ihn in offenen Gegensatz zur Natur,
ist aber nur ein Potential, das erst aktiviert werden muß
Durch das Entstehen des Menschen vollzieht sich in der biologischen Evolution ein radikaler Bruch: Denn Mensch und Gesellschaft funktionieren –
primär – nicht mehr nach den Regeln der biologischen Evolution. Die frühe
Menschheit verharrt lange auf demselben Entwicklungsniveau. Schließlich
zeigt sich jedoch, daß schon der frühe Mensch der Natur frontal gegenübersteht, indem er nicht mehr wie alle Lebewesen vor ihm sich primär per Mutation und Selektion den wechselnden Naturbedingungen anpaßt, sondern
umgekehrt sich der Natur bemächtigt, um ihre Stoffe und Eigenschaften in
wachsendem Maße sich und seinen mehr und mehr reproduktionsfernen
Zwecken anzupassen (wie Heiligtümer, rituelle Gegenstände, Schmuck etc.).
Der Mensch ist zwar peu à peu aus dem Tierreich heraus auf biologischem
Wege entstanden, aber er unterscheidet sich spätestens seit dem Verlassen
von Afrika in einzigartiger Weise von jedem Tier: Er entwickelt sich nämlich zunehmend aus sich selbst heraus geschichtlich immer weiter, während
Tiere manchmal jahrmillionenlang unverändert bleiben, ihre Lebensweise
nicht wesentlich ändern, außer die Umwelt begünstigt mutative Varianten.
Die evolutionäre Anthropologie und die zeitgenössische Hirnforschung widersprechen dieser Schlußfolgerung vehement, obwohl die Symptome, die
sie nicht bestreiten können, eindeutig sind: Der Mensch besitzt nicht nur eine
unendlich flexible Sprache, sondern schafft immer komplexere Kulturgüter,
entwickelt Schrift und Mathematik, dann Wissenschaften und Technologien
und ein Ende ist nicht abzusehen. Zumindest die Früchte der Zivilisation besitzen also einen gravierend qualitativen Unterschied zu denen der intelligentesten Tiere – vor allem bezüglich ihrer ständigen Fortentwicklung trotz
gleicher genetischer Grundlage ihres Verursachers. Dem gegenüber beruht
biologische Evolution gerade auf der Mutation der Gene, während der
gleichbleibende Mensch geschichtliche Umwälzungen vollzieht – aufgrund
seiner einzigartigen Bewußtheit. Trotzdem behaupten WissenschaftsAkademiker steif und fest, der Unterschied zum Tier wäre nur graduell,
wenn auch sehr groß, und erklären als seine Ursache die menschliche Spra-
128
che und eine biologisch gegeben sehr viel größere Intelligenz und soziale
Kompetenz. Selbst eine noch so große Intelligenz erklärt aber nichts, denn
ihr Begriff ist bloß eine andere Chiffre für die fraglichen, kulturellen und
technologischen Leistungen selbst. Vor allem erklärt eine wie auch immer
feststehende Intelligenz nicht, warum der Mensch seine Intelligenzleistungen
und ihre Produkte qualitativ immer höher zu schrauben vermag. Es fehlt also
die Erklärung dafür, was genau den Menschen sich immer intelligenter entwickeln läßt. Die gängige Erklärung durch hohe Intelligenz ist schlicht tautologisch. Anders gesagt: Die etablierte Forschung beschreibt bestenfalls die
Resultate von Intelligenz, weiß aber nicht im geringsten, worauf sie beruhen.
Dazu paßt, daß die oft als Erklärung favorisierte menschliche Sprache lediglich ein Hilfsmittel besonders für zivilisatorische Leistungen ist. Gerade bei
den aufs Individuum zielenden Intelligenztests muß – bezeichnenderweise –
Sprache bei mathematischen und räumlichen Aufgaben kaum bemüht werden. Selten wird klargestellt, daß Sprache vor allem ein symbolisches Transportmittel für Gedanken ist. Richtig ist nur, daß Sprache die Intelligenz der
Gedanken durch formale Präzisierung erst voll zur Geltung bringt – aber erst
rückwirkend. Die für menschliche Sprache entscheidende Syntax, Grammatik und Semantik entstehen nicht aus der Black Box eines Sprachgens, sondern sind spezifische Leistungen des Denkprozesses selbst – und zwar des
bewußten (wenn auch in unerläßlicher Wechselwirkung mit dem Unbewußten). Nicht in dem Sinne, daß der Mensch bewußt Syntax, Grammatik und
Semantik seiner Sprache austüftelte, sondern in der unbewußt gebildeten
Syntax, Grammatik und Semantik schlagen sich die spezifischen, kognitiven
Leistungen eines bewußten Denkens nieder: Nämlich die ihm
bewußtwerdende Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft, die ihm bewußtwerdende Feststellung von Kausalketten, die spezifisch gerichteten Beziehungen, die Menschen gegenüber Dingen und anderen
Menschen eingehen (Präpositionen), die offene Bedeutung und der vieldeutige Sinn, den das abwägende Denken den Wörtern zuweist.
Die zentralste, entscheidende Systemeigenschaft seines kognitiven „Apparats“, die den Menschen wesentlich zum Menschen macht, ist somit seine
Bewußtheit. Aus ihr allein erklären sich seine hochflexiblen, entwicklungsfähigen Sprach-, Denk- und Handlungsformen. Die zeitgenössische Wissenschaft hat diese Tatsache bis heute nicht erkannt, weil sie wie die meisten
Menschen nur fühlt oder ahnt, daß ihr sogenanntes „Bewußtsein“ etwas Eigentümliches ist, aber nie ergründen konnte, worin diese Eigentümlichkeit
besteht. Das konnte ihr auch nicht gelingen, weil sie stets phänomenologisch
den Zustand des Bewußten mit der Vielfalt der Wahrnehmungen und mit
Aufmerksamkeit identifizierte. Nach dem Motto: Ich sehe, höre, fühle – also
bin ich bewußt. Doch alle höheren Tiere verfügen genauso über Wahrneh-
129
mung und Aufmerksamkeit, ohne die typischen Merkmale von Bewußtheit
zu zeigen: nämlich ihre Gedanken sich vorstellen, sie beliebig lange beliebig
gestalten zu können. Daher entwickeln sie auch ihre Kultur nicht unentwegt
weiter, soweit sie eine besitzen und bleibt das Niveau ihrer Intelligenz in
engen Schranken.
Bemerkenswerterweise ist dagegen der Mensch selbst dann bewußt, wenn er
so gut wie nichts wahrnimmt und seine Aufmerksamkeit gegen Null geht.
Daran wird erkennbar, daß die Bewußtheit in einem ganz allgemeinen, elementaren Zustand besteht, der dem unbewußten diametral entgegensteht.
Dieser Zustand besteht offenbar unabhängig von jeder möglichen psychischen Leistung. Erst er führt zur Bildung eines dauerhaft steuernden Ichs.
Was muß nun diesen Zustand auszeichnen, um denken zu können, wie nur
der Mensch denkt? Der Mensch – mittels seines bewußten Ichs – macht nicht
nur wie das Tier spezifische Wahrnehmungen, sondern er reduziert Wahrnehmung zum Symbol; er hat nicht nur vorübergehend vage Gedanken, sondern er hält sie fest und verändert sie beliebig; er hält nicht nur kurz überlegend inne, sondern vermag beliebig lange, beliebig zerlegend und kombinierend seinen Gedankenpuzzles zu folgen; er ist nicht nur durch sinnliche Reize an Aufgaben interessiert, sondern verfolgt abstrakt-allgemeine Fragen und
Probleme aus rein ideellem Ansporn.
Kurzum: Des Menschen Geist unterscheidet eine unbegrenzt abstrakte
wie konkrete Gedankenarbeit bei beliebiger zeitlicher Dauer radikal
von jeder intelligenten Leistung der Tiere. Diese einzigartige Qualität ist
aber nur möglich, wenn einzelne Gedanken wie das Denken überhaupt
beliebig lange von jeder sinnlichen wie spontanen Aktivität losgelöst,
unabhängig also autonom bestehen können. Die Bewußtheit ermöglicht
somit eine beliebig lange Zäsur zwischen reinem Denken und Handeln,
das heißt eine relative Autonomie des Geistes.
Die Hirnforschung hätte sich daher zwei grundlegende Fragen stellen müssen: Wie können aus dem hyperkomplexen, kontinuierlichen Strom des unbewußten, psychischen Geschehens heraus relativ konsistente Einzelgedanken manifest werden – also bewußt? Und über welche, spezielle Gehirnarchitektur muß der Menschen verfügen, daß solche manifesten Gedankensplitter beliebig lange autonom bleiben können? (Die hypothetische Antwort
darauf würde allzu weit führen und ist in meinem Buch „Bewußtsein – Der
Abgrund zwischen Mensch und Tier“ zu finden.)
Mit dem Menschen tritt erstmals der Natur ein Lebewesen bewußt entgegen
– das aber nicht weiß, welch gewaltiges Werkzeug die Natur ihm mit der
Bewußtheit auf den Weg gegeben hat. Es verschleudert Kreativität gewissermaßen jahrzehntausendelang im uferlosen Ausspinnen von Ursprungsund Gründungsmythen, von Legenden und Riten. Denn das phantasievollste
130
Denken bleibt wirkungslos, wenn es sich nicht in Wechselwirkung mit gesellschaftlicher Arbeit begibt und nicht zusätzlich wissenschaftlichen Charakter gewinnt.
1
Das unabsichtlich optimierte Werkzeug der Jäger und Sammler
eröffnet erst die Möglichkeit zu landwirtschaftlicher Arbeit
Trotz ihrer Bewußtheit haben Jäger und Sammler mindestens 70 000 Jahre
(seit dem Verlassen von Afrika) sich auf mehr oder weniger gleiche Weise
reproduziert; nicht durch eigentliche Produktion, sondern durch das intelligente Aneignen fertiger Naturprodukte. Warum? Weil ein Motiv, ein Anstoß
oder Antrieb fehlte, ihre Produktenmasse zu steigern.
Die statische Periode der Jäger und Sammler dauerte so gewaltig lange, weil
kein innerer oder äußerer Anstoß bestand, diese Subsistenzweise zu ändern,
gar eine Wachstumswirtschaft zu schaffen. Im Gegenteil: Alle Mythen der
Naturvölker, ihr Animismus und Spiritualismus zeigen, daß die frühen Menschen in Übereinklag mit der Natur lebten, sie so wenig wie möglich verletzen wollten. – Wenn die menschliche Gesellschaft eine Entwicklung durchlaufen sollte, dann mußte eine adäquate, d. h. radikale Form der Auseinandersetzung mit der Natur entstehen. Das bewußte Denken und die Lebenserfahrung allein brachten sie trotz Werkzeugentwicklung nicht hervor.
Die entscheidenden Fragen, die sich die Geschichtswissenschaft bei diesem
Stand der Dinge stellen müßte – was aber nicht geschieht –, sind folgende:
Was allein kann das ungeheure kreative Potential, das mit der Bewußtheit
des Menschen gegeben ist wecken? Und wenn die Kreativität des Menschen
praktisch wird, was treibt sie dann weiter an? Und schließlich: Wenn eine
geschichtliche Entwicklung angetrieben wird, kann sie dann ewig mäandern
oder gibt es eine zukunftsweisende Richtung?
Essenz: Absichtslos, daher sehr langsam werden die sachlichen Bedingungen für künftige Geschichte geschaffen: in der Gestalt immer differenzierteren Werkzeuges. Die Menschheit entwickelt sich also nicht durch Mythen
und Riten fort. Zum entwickelten Werkzeug muß stattdessen noch die adäquate Form gesellschaftlicher Praxis gefunden werden, um der Natur ihre
inneren Geheimnisse nach und nach abringen zu können.
131
2
Der Überschuß landwirtschaftlicher Arbeit
erschließt den Weg zur arbeitsteiligen Zivilisation
Der Anstoß zur ersten Produktion – nämlich in Form von Landwirtschaft –
kam primär von außen: erstens durch die geeigneten Rahmenbedingungen
wie Pflanzen- und Tierreichtum, gemäßigtes Klima, lockere Bewaldung etc.,
zweitens durch die Selbstdomestikation von bevorzugten Pflanzen und Tieren, also deren Anpassung an das nomadenhafte Verhalten der Menschen,
ehe die Menschen bewußt begannen, durch künstliche Selektion die gewünschte Anpassung zu verstärken.
Landwirtschaft wurde also nicht von heute auf morgen oder in einem den
Menschen bewußten Zeitraum erfunden. Sie entstand hinter dem Rücken der
Jäger und Sammler über mehrere Jahrtausende, wurde von ihnen nicht als
neolithische Revolution empfunden. Es handelte sich der Sache nach insofern um eine Revolution, als mit der Landwirtschaft zur Reproduktion per
systematischer, regelmäßiger und geplanter Arbeit übergegangen wurde. Der
vor der neolithischen Revolution verpuffende „Überfluß“ des menschlichen
Denkens – in Form von Schöpfungsmythen, Ahnenkult, Schamanentum und
Riten – realisierte sich von da an materiell im Überschuß der Landwirtschaft.
Erst damit hat der Mensch die ihm gemäße Auseinandersetzungsform mit
der Natur gefunden, die Gesellschaft weiterentwickelt: die gesellschaftliche
Arbeit. Die entstehenden Städte und Staaten, die eine unbeabsichtigte Folge
einer beginnenden Arbeitsteilung waren, führten zu einer kulturellen Hierarchie, die die materielle Arbeit – ihre unverstandene Quelle – sogar verachtete.
Essenz: Mit der Reproduktion durch systematische, regelmäßige und geplante Arbeit war die spezifische Form der Wechselwirkung zwischen
Mensch und Natur gefunden, die eine progressive Weiterentwicklung ermöglichte. Die bloße Potenz dazu ergab aber keinen praktischen Zwang zur
fortlaufenden Innovation.
3
Ökonomisch stagnierende Kulturen der Antike hinterlassen
eine abstrakt-dualistische Wissenschaftsmethode –
für künftigen zivilisatorischen Fortschritt unverzichtbar
Überschuß und Arbeitsteilung bedingen sich gegenseitig und führen unabsichtlich zur Zivilisation (Staat, Schrift, Mathematik, Religion). Alles Poten-
132
tial liegt zwar in den vier Widersprüchen gesellschaftlicher Arbeit, die aber
werden kaum entwickelt.
Die vier Widersprüche der Arbeit
Auch der Handel entwickelt sich kaum, sondern Religion, Kultur und
Machtpolitik treiben in der Antike gesellschaftliche Veränderungen an – aber
nicht voran.
Während der 4 000 Jahre antiker Hochkulturen blieb die Landwirtschaft folgerichtig die dominante Produktionsweise, von der jeder Reichtum abhing,
weswegen alle ihre Reiche keine Entwicklung der Gesellschaftsverfassung
vollzogen. Die Landwirtschaft lieferte durchaus einen weitgehend gleichbleibenden Überschuß, der eine elementare Arbeitsteilung und damit den
Staat ermöglichte. Zumindest die Arbeitserfahrung ließ über Jahrhunderte
leicht verbessertes Werkzeug entstehen; aber obwohl eine in Ansätzen gesellschaftliche Arbeitsteilung an den Rändern der Gesellschaft einen Markt
schuf, zwang dieser nicht die gesamte Gesellschaft, die Arbeit zu revolutionieren.
Essenz: Die antiken Imperien mußten somit zerfallen, sofern ihr Fundament
der unfreien Arbeit in eine freiere Form verwandelt werden sollte. Sie verfielen oder erstarrten. Ihr noch unwirksamer Beitrag zum späteren Fortschritt
der menschlichen Zivilisation war das Hervorbringen der abstraktdualistischen Wissenschaftsmethode durch den kulturellen Wettbewerb in
der Ägäis.
4
Mit dem gesamtgesellschaftlich wirkenden Zwang zu Geldgewinn
entsteht erstmals auch ein Zwang zu Wachstum –
wenn auch nur eines formellen
Der mit dem Zerfall des Römischen Reiches entstandene Feudalismus war
objektiv gesehen die historische Chance, die relative Freiheit der Leibeigenschaft und Fronarbeit zur Entwicklung einer noch freieren Form der Arbeit
zu nutzen. Alle so unterschiedlichen Feudalismen der Erde wiesen aber trotz
einer langsamen Ausweitung des Marktes und Verbesserung des Handwerks
vielfache, äußere wie innere Hindernisse auf, die den Durchbruch zu einer
Dominanz des Marktes über die feudalen Mächte und Privilegien verhinderten. Nicht ganz zufällig bestanden in Westeuropa geeignete Rahmenbedingungen, die zu einer beginnenden Dominanz des Handels- und Bankkapitals
133
führten. – Damit war die Arbeitsenergie in Form von Warenwert, Geld und
Geldkapital ins Visier eines zunehmend systembedingten, gesellschaftlichen
Interesses geraten – nämlich des Gewinnmotivs. Der Zwang zum Handelsgewinn berührte aber nur indirekt die nützliche Seite der Arbeit. Wenn die
Gesellschaft sich dynamisch weiterentwickeln sollte, mußte etwas direkt und
gezielt auf die technische Seite der Arbeit einwirken.
Unbewußte Steigerung des Gewinns oder Steigerung der Produktion im gesamten System der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit erfolgte erstmals,
als der Markt dominant gegenüber Grundherrschaft, Staat und Religion wurde – und zwar nur in der europäischen Renaissance. Der ökonomische und
dann soziale Antagonismus schlich sich mit der fortschreitenden, gesellschaftlichen Arbeitsteilung ein und wurde mit dem darauf fußenden Markt
verstärkt.
Essenz: Aufgrund der nicht zufälligen Konkurrenzsituation im feudalen Europa entsteht erstmals ein dominanter Markt mit übermächtigen Handelsund Bankenkapital. Sein struktureller, statt persönlicher Gewinnzwang stellt
das bislang fehlende gesamtgesellschaftlich wirkende Antriebsmotiv dar.
Damit ist die Tür geöffnet, die nicht viel später den Zwang zur Steigerung
der Produktivität aller gesellschaftlichen Arbeit etabliert.
5
Beim Entdecken der Produktion als realer Quelle des Gewinns,
lernte das industrielle Kapital erst
die Verbindung von Mathematik und Handwerk zu schätzen
Das im Hochmittelalter mit den freien Bürgerstädten entstandene große
Handels- und Bankkapital allein genügte keineswegs zur fortschreitenden
und beschleunigten Gesellschaftsentwicklung. Auch das durch die Konquistadoren geraubte Gold und Silber und der beginnende Kolonialismus mittels
der großen Handelsgesellschaften samt allem angehäuften Sach- und Kapitalreichtum reichte dazu nicht hin. Die Realisierung des Profits vor allem
durch den Handel und seine Theorie des Merkantilismus zeigen, daß immer
noch nicht verstanden war, wo der Wert, wo der wahre, sachliche Reichtum
entsteht: In der Produktion durch Arbeit.
Zum umfassenden Entdeckergeist der Renaissance gehörte aber nicht nur die
Erkundung neuer See- und Handelswege, sondern mit der Wiedergeburt der
Antike auch das Wiederentdecken der wissenschaftliche Methode der alten
Griechen vermittelt durch Scholastik und Humanismus. So begann unter
dem Gewinndruck des Marktes das Verbinden von Mathematik mit der sich
134
entwickelnden handwerklichen Praxis. Die die feudale Gesellschaft nach und
nach zersetzende Gewinnerwartung des Handels- und Bankkapitals mochte
fürs erste durchaus mittels kolonialer Ausdehnung des Marktes erfüllt werden. Der weitere Fortschritt erfolgte aber, indem der Gewinn zunehmend
direkt in der Produktion erzielt wurde, die jetzt mittels Wissenschaft sukzessive verbessert werden konnte. Die Steigerung der Produktion im keimenden
Industriekapitalismus wurde somit höchst indirekt durch das Augenmerk auf
die Steigerung des formellen Gewinns erzwungen – was aber auf Dauer zur
ersten industriellen Revolution führt.
Essenz: Durch die keineswegs ganz zufällige Verbindung von Mathematik
und handwerklicher Erfahrung (im aufgeklärten Europa) entstehen erste Ansätze zu industriellem Kapitel, damit erstmals permanentes, produktives
Wachstum. Zwar ist nun die Produktion als eigentlicher Ort des Kapitalgewinns entdeckt, aber Mathematik und Handwerk verbinden sich primär, um
die materielle Produktion zu steigern, nicht um eine höhere Einheit des Menschen mit der Natur herzustellen.
6
Vier industrielle Revolutionen
– ausgelöst durch den Systemzwang zur Kapitalakkumulation –
bringen nach und nach alle sachlichen Bedingungen
für eine bedürfnisorientierte und gerechte Gesellschaft hervor
Das was die Gesellschaft stets weiterentwickelt hat, aber nicht in ihrem Visier stand, die Entfaltung der vier Widersprüche der Arbeit, wird erstmals
vom industriellen Kapital und Profitzwang direkt aufs Korn genommen –
zumindest periodisch in den Krisen. Die moderne Entfaltung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung – induziert vom Gewinnzwang – kulminiert in
vier industriellen Revolutionen, die die globale Einheit letztlich sachlich und
inhaltlich herstellen. Der Kopf wird folgen.
Die vier industriellen Revolutionen folgen einer organischen Entwicklungslogik, schaffen einen hoch differenzierten Gesellschaftskörper mit einem –
früher oder später – zentralen, künstlichen „Nervensystem“. Es handelt sich
also um keine x-beliebigen technologischen Innovationen, sondern solchen,
die systematisch aufeinander aufbauend eine zusehends technologisch, wissenschaftlich, informationell, rechtsstaatlich und demokratisch vereinte
Weltgesellschaft entstehen lassen. Den durchdringendsten Einfluß übt dabei
zweifelsohne die Vernetzung der immer leistungsfähigeren, miniaturisierten
Computer zum Internet aus. – Mit der zunehmenden Technologisierung und
135
Verwissenschaftlichung zuerst der Produktion und dann der sozialen Beziehungen vollzieht sich folgerichtig die Tendenz zur bewußten Vergesellschaftung einer geeinten Weltrepublik.
Essenz: Nicht absichtlich, nicht aus Einsicht oder Zielstrebigkeit, sondern
einzig unter dem Gewinnzwang des industriellen Kapitels wird eine wissenschaftlich-technologische Revolution nach der andern entfacht. Die bislang
vier industriellen Revolutionen aber bringen entwickelte Organe eines bewußt werdenden Gesellschaftskörpers hervor.
7
Die vereinte, soziale Weltrepublik
entsteht durch technologisch bedingte Vergesellschaftung,
deren Produktivität Profitzwang unsinnig
und die Verschmelzung von Mensch und Natur sinnvoll macht
Vom Entstehen der Stadtstaaten an bestand ein ideologisches Antriebsmotiv
darin, unterschiedlichste Stämme, Völker, Nationen zu einen – wenn auch
gewaltsam.
Nachdem die vier industriellen Revolutionen – gepuscht vom Profitzwang –
alle sachlichen Mittel hervorbrachten, die tradierten Völker und Nationen der
Welt demokratisch zu einen, stellt sich eine neue Entwicklungsform ein:
(in progress)
Essenz: Aufgrund beliebig hoher Produktivität schüttelt die Weltgemeinschaft den Profitzwang ab und operiert von der selbstverständlichen Basis
sozialer Gleichwertigkeit aller. Die Menschheit perpetuiert fortan die wissenschaftlich-technologischen Innovationen bewußt. In ihrem Fokus wird
stehen: die künstliche Weiterentwicklung der Gattung in Richtung einer neuen, höheren Einheit von Mensch und Natur.
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