Wer hat Angst vor einer Völkerwanderung?*

Wer hat Angst vor einer Völkerwanderung?*
Dirk Baecker
Schon die Frage ist falsch gestellt. Weder gab es in den fraglichen Jahrhunderten zwischen
Christi Geburt und dem Jahr 1000 die Völker, deren Wanderung behauptet wird, noch gab es
die große Wanderungsbewegung von Osten nach Westen, die dann auch gleich mit dem
Überrennen und Untergang des römischen Reiches assoziiert wird. Beides sind Erfindungen
einer Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert, die in erster Linie für Germanen, aber auch
für Franken und Slawen nach einem "völkischen" Ursprung ihrer andernfalls allzu arbiträren
"Nationen" suchte.
Dennoch ist die Frage interessant. Denn ein Blick darauf, was in diesen Jahrhunderten
tatsächlich geschah, enthält Lehren zum Verständnis dessen, was wir heute in Europa erleben.
Und die Angst, die sich mit dem Mythos der Völkerwanderung ihre Adresse sucht,
verschwindet nicht schon dann, wenn man diesen Mythos auflöst. Die Angst ist real. Wir
benötigen eine andere Erklärung für sie, wenn sie mit der Völkerwanderung nicht zu erklären
ist.
Was also geschah in den Jahrhunderten vor der ersten Jahrtausendwende und welche
Lehren könnten wir heute daraus ziehen?
Die neuere, vor allem angelsächsische Geschichtsschreibung spricht von dramatischen,
auch gewalttätigen Jahrhunderten, in denen sich an der Peripherie des römischen Reiches ein
tiefgreifender Wandel von kleinen, subsistenzwirtschaftlich organisierten politischen
Einheiten, die eher germanisch sprechen, zu größeren, kulturell relativ homogenen Einheiten,
die eher slawisch sprechen, vollzog. Die Quellenforschung ist schon aus sprachlichen
Gründen und auch deswegen, weil diese germanischen und slawischen Gruppen keine
eigenen Aufzeichnungen anfertigten, sondern wir auf römische und kirchliche Quellen
angewiesen sind, schwierig. Dennoch entsteht in dieser jüngeren Forschung ein relativ klares
Bild von Männergruppen, die kulturell heterogen zusammengesetzt waren, sich eher spontan,
also nicht dynastisch, Könige (warlords) wählten, und nicht etwa von Ost nach West
unterwegs waren, sondern die Peripherie des römischen Reiches kreuz und quer erkundeten.
Von Stämmen kann schon deswegen keine Rede sein, weil die kulturelle Homogenität und
auch Frauen meist fehlten. Abgesehen von Raubzügen zur Sicherung der Subsistenz war man
mit zwei Dingen beschäftigt, nämlich damit, sich der römischen Armee als Rekrut zu
*
Manuskript zum Vortrag an der Theaterakademie Hamburg im Rahmen des Theater Festivals Hamburg,
Deutsches Schauspielhaus Hamburg, 7. Oktober 2015.
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verdingen, und damit, den großen Landeigentümern am Rande des römischen Reiches einen
Schutz anzubieten, der mit geringeren Steuerabgaben verbunden war als jenen, die gegenüber
Rom zu entrichten waren. Das römische Reich wurde nicht überrannt, sondern seine
Finanzierungsschwäche wurde ausgebeutet, indem man billigere Soldaten und geringere
Steuerabgaben zu bieten hatte.
Interessanterweise spricht dieselbe historische Forschung trotz der Auflösung des Mythos
der Völkerwanderung dennoch davon, dass in diesen Jahrhunderten Europa geboren wurde.
Doch was ist Europa? Die erste Lehre, die man aus den Vorgängen an der Peripherie des
römischen Reiches ziehen kann, ist, dass Europa keine geographische, sondern eine
kulturelle, politische und ökonomische Einheit darstellt, die aus Zerfallsprodukten eines
Reiches besteht, die zu unterschiedlichen Formen der Machausübung, der wirtschaftlichen
Orientierung und der demographischen Reproduktion je nach Gelegenheiten und Umständen
zusammengesetzt werden konnten. Europa ist keine Einheit bestimmter Völker, kein
definiertes Territorium, sondern ein intelligentes Kalkül von Netzwerkeffekten zur
Ausbeutung des Zerfalls zentraler Macht.
Der kalifornische Politikwissenschaftler John W. Meyer hat bei Gelegenheit darauf
hingewiesen, dass der Wertekanon Europas an zwei Orten entstanden ist. In Rom entstand die
Idee der einen Macht, die im Zentrum behauptet wird und an den Rändern des Reiches
notwendigerweise bröckelt. Und in Athen entstand die Idee der einen Wahrheit, die
notwendigerweise umstritten ist, weil sie etwas mit der Aufdeckung des Verborgenen zu tun
hat und daher mit der Möglichkeit des Irrtums und der Interessen belastet ist. Die Wahrheit,
könnte man sagen, sucht den Streit, den die Macht nicht schlichten kann. Das ist der
kulturelle Code Europas. Und dieser kulturelle Code, so Meyer, diente nicht zuletzt dazu,
jener Erfindung an einem dritten Ort, Jerusalem, entgegenzutreten, an dem der eine Gott
erfunden wurde und dies gleich dreimal, durch die Juden, die Christen und die Moslems, die
seither mal im besten Einverständnis ihrer heiligen Schriften und mal im erbittertsten heiligen
Krieg miteinander leben. Angesichts der nicht zu klärenden und dennoch immer wieder neu
aufgeworfenen Frage, an welchen Gott zu glauben wäre, ist Europa die politische und
kulturelle Praxis des Verzichts auf die eine Wahrheit und die eine Macht. Meyer zögert nicht,
den von ihm untersuchten weltweiten Siegeszug der westlichen Werte auch mit diesem
doppelten Verzicht zu erklären, so sehr die lokalen Praktiken dank des Prinzips der losen
Kopplung von diesen weltweit adoptierten Werten auch wieder abweichen.
Ein Verständnis Europas als lebendige Heterogenität, als kulturelle und politische
Formation, deren Zentrum "leer" ist, würde Ernesto Laclau vielleicht sagen, ist die erste
Lehre aus einer Völkerwanderung, die nicht stattfand. An die Stelle der einen Wahrheit und
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der einen Macht treten eine politische Klugheit und Klugheitslehre, die nicht auf Blut und
Boden eines Volks (ethnos), sondern auf Entscheidungen bezüglich der Zugehörigkeit einer
bestimmten Gruppe von Bürgern (demos) referiert.
Eine zweite Lehre besteht darin, sich für historische Ereignisse jeglicher Art weniger mit
Mythen als vielmehr mit Netzwerkeffekten zu beschäftigen. Die keltischen, fränkischen,
germanischen und slawischen Stämme an der Peripherie des römischen Reiches sind eine
Suggestion dieses Reiches, das außerhalb seiner Grenzen zwar "Barbaren", aber doch
Barbaren mit der Tendenz oder dem Potential zur Bildung einer vergleichbaren politischen
Struktur, wie man sie aus Rom kannte, identifizierte und adressierte. Die Könige dieser
Stämme sind Leute, die mit römischen Generälen und Latifundienbesitzern auf Augenhöhe
kommunizieren konnten. Herumziehende Horden beobachten diese Entstehung politischer
Einheiten und geben sich eine ähnliche Struktur, um mithalten zu können. Die historische
Forschung spricht für diese Jahrhunderte von einem Elitentransfer, der die politische
Kommunikation sicherstellte. Dieser Netzwerkeffekt auf der Ebene von Makrostrukturen
musste jedoch von Netzwerkeffekten auf der Ebene von Mikrostrukturen begleitet werden,
das heißt es musste konkrete Anlässe für diese politische Kommunikation geben, und die fand
man im Austausch von Rekruten und steuerlichen Abgaben (Schutzgeldern).
Nahkausale und fernkausale Effekte müssen zusammentreffen. Erst beides zusammen
ergibt ein Netzwerk, an dem sich Handlungen orientieren und so zur Bildung von Strukturen
beitragen können. Das gilt auch für die aktuelle Völkerwanderung, die ebenfalls keine ist.
Auch heute sollte man sich für die auslösenden Effekte in den unzureichend finanzierten
Flüchtlingslagern des Nahen Ostens ebenso wie für die ausgelösten Effekte in den
Willkommenskulturen des Westens interessieren, um genauer untersuchen zu können, wer
wann mit welchen Erwartungen kommt und wie und wo von wem mit welchen
Versprechungen und Hilfestellungen aufgenommen werden kann.
Doch woher kommt diese Angst, die sich in der Völkerwanderung ihre Adresse sucht?
Diese Angst ist wegen ihrer menschlichen und politischen Effekte ernst zu nehmen, auch
wenn sie sich eine historisch falsche Begründung gibt. Vermutlich können wir diese Angst
nur erklären, wenn wir auch hier annehmen, dass nahkausale und fernkausale Effekte
zusammentreffen. Die Angst, die immer auch eine Faszination ist, wird nahkausal durch den
Anblick der Fremden ausgelöst und fernkausal entweder durch Annahmen einer verlorenen
Heimat, ihrer Arbeitsplätze, Kindergärtenplätze, Rentensicherheiten und politischen
Wiedererkennbarkeit, bestätigt oder durch Annahmen einer beweglichen, lebendigen und
wandlungsfähigen Gesellschaft aufgefangen. So oder so jedoch haben wir es, wenn wir nahund fernkausale Effekte zusammenrechnen, mit der Beobachtung der Heimatlosigkeit der
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anderen zu tun. Das ist es, was die Angst auslöst. Die Angst vor einer Völkerwanderung ist
nur oberflächlich eine Angst davor, überrannt und überfremdet zu werden. Viel tiefer reicht
die Angst, dass die eigenen Orientierungen nicht mehr stimmen, weil andere mit ihren
Orientierungen mindestens so erfolgreich oder erfolgreicher sind. Man kann das
Überfremdung nennen, aber entscheidend ist, dass man spürt, dass man nicht weiß, wie sich
Heimatlose an ihren Ankunftsorten verhalten werden, ja noch nicht einmal weiß, ob diese
Ankunftsorte Durchgangsorte auf der weiteren Flucht oder Orte der Niederlassung mit oder
ohne Familie sind. Man beobachtet Menschen, von denen man nicht weiß, was sie als
Nächstes tun. Sie überschwenglich willkommen zu heißen, ist eine Reaktion, die aus
derselben Unsicherheit stammt wie die spontane Ablehnung. Der Willkommensgruß ist eine
Form der sozialen Einbettung, wie es die Ablehnung ebenfalls ist, auch wenn das Vorzeichen
im einen Fall positiv und im anderen Fall negativ ist.
In beiden Fällen, das wäre hier die Lehre, bedarf es politischer, wirtschaftlicher und
kultureller Strategien der Aufnahme und Einbettung der Flüchtlinge und Migranten, wenn
man die Willkommenskultur in eine gewisse Kontinuität übersetzen und die Ängste vor der
Überfremdung widerlegen will. Das Schicksal nicht nur der Flüchtlinge, sondern auch ihrer
Freunde und Gegner entscheidet sich in Sprachkursen, in der weiteren Ausbildung bis hin
zum Besuch der Universität, auf dem Arbeitsmarkt, in Unternehmensgründungen, in der
politischen Teilnahme (mit und ohne Wahlrecht) und in der Anerkennung kultureller
Differenz und ihres künstlerischen Ausdrucks.
Die politische Klugheit Europas besteht erneut darin, auf die eine Wahrheit und die eine
Macht zu verzichten. Europa kann das, andernfalls bräuchte man von Demokratie und
Marktwirtschaft, freier Wissenschaft und autonomer Kunst, freier Religionsausübung und
gleichem Recht für alle nicht zu reden. Aber es mag nicht überflüssig sein, an diese politische
Klugheit und ihre Verankerung in einem kulturellen Code zu einem Zeitpunkt zu erinnern, an
dem viele befürchten, dass eine ganz andere, nämlich christliche kulturelle Einheit bedroht
sein könnte.
PS: Und was kann das Theater in dieser Situation ausrichten, um an einer Lösung der
Flüchtlingsfrage mitzuarbeiten? In akuten Situationen der Not kann das Theater Räume
anbieten, dank engagierter Schauspieler, Mitarbeiter und Praktikanten auch Hilfestellung bei
Behördengängen, bei der Kinderbetreuung, bei der kulturellen Beratung. Das versteht sich
von selbst. Darüber hinaus sollte das Theater jedoch tun, was es immer tut, vielleicht jedoch
mit einer entschlosseneren Öffnung gegenüber fremden Sprachen, kulturellen Gewohnheiten
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und ästhetischen Erwartungen. Es sollte den kulturellen Code Europas in seinen Stücken und
Inszenierungen erinnern, vorführen und stärken und dabei an Texten, Vorurteilen, Ängsten,
an Haut und Haar der Schauspieler auf der Bühne deutlich machen, welche Errungenschaft
dieser Code der politischen Klugheit eines Verzichts auf die eine Wahrheit und die eine
Macht darstellt und welche Ansprüche er an jeden einzelnen stellt. Intellektuell ebenso wie
emotional kann das Theater vorführen, dass die Arbeit im Kontext dieses Codes und die
Arbeit an diesem Code immer wieder einen kleinen oder großen Schritt über die Evidenz der
eigenen Neigungen, Gefühle und Reaktionen hinaus erfordert. Die Psychologen mögen uns
erklären, warum wir nahkausal immer wieder zu Ängsten neigen, hinter denen wir uns
barrikadieren, oder zu Willkommensgesten, die wir nicht durchhalten können. Dass diese
nahkausalen Effekte nur durch eine Form der Beobachtung und Reflexion in auch
längerfristige kluge Reaktionen umgesetzt werden können, kann man in einem Theater
erleben, das an Körper und Gemüt, an Gesten und Sprachen vorführen kann, dass die
intellektuelle Einsicht das eine, das Ernstnehmen und Mitnehmen unserer Affekte jedoch
etwas anderes ist.
Das Theater ist darauf spezialisiert, zu beobachten und erfahrbar zu machen, wie es uns
gelingt, andere und uns selber zu täuschen. Nicht umsonst ist es historisch zusammen mit
dem Markt entstanden, wie Jean-Christophe Agnew gezeigt hat, und jahrhundertelang auch
immer wieder nicht nur bei religiösen Ritualen, sondern eben auch auf Jahrmärkten gezeigt
worden. Das Theater ist eine Form der Aufklärung einer Gesellschaft über sich selbst, die
weiß, wie leicht und schnell es ihr immer wieder gelingt, sich über sich selbst zu täuschen.
Dieses Wissen ist und bleibt aktuell.
Literatur:
Jean-Christophe Agnew, Worlds Apart: The Market and the Theater in Anglo-American
Thought, 1550–1750, Cambridge: Cambridge University Press, 1986.
Dirk Baecker, Der unbestimmte Demos: Form und Krise der Demokratie im Prozess der
Selbstfindung Europas, in: Lettre International 100, Frühjahr 2013, S. 169-175.
Thomas S. Burns, Barbarians Within the Gates of Rome: A Study of Roman Military Policy
and the Barbarians, ca. 375–425 A.D., Bloomington, IN: Indiana University Press,
1994
Patrick J. Geary, Europäische Völker im frühen Mittelalter: Zur Legende vom Werden der
Nationen, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer Tb, 2002.
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Walter André Goffart, Barbarian Tides: The Migration Age and the later Roman Empire,
Philadelphia, PA: Pennsylvania University Press, 2006 (eine Überarbeitung des Buches
Barbarians and Romans A.D. 418–584: The Techniques of Accomodation, Princeton,
NJ: Princeton University Press, 1980)
Peter J. Heather, Empires and Barbarians, London: Macmillan, 2009, dt. Die Invasion der
Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus, Stuttgart:
Klett-Cotta, 2011.
Ernesto Laclau, The Rhetorical Foundations of Society, London: Verso, 2014.
John W. Meyer, Weltkultur: Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, hrsg. von
Georg Krücken, dt. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005.