Vorschau - Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung HUMORISTISCHE BRECHUNG UND TRICKMECHANIK D e r Roman„Herrn Brechers Fiasko" von Martin K e s s e l (Suhrkamp, Frankf u r t 1956) erschien zuerst im J a h r 1932. Inzwischen hat er jene Patina angesetzt, die erkennen läßt, aus welchem Stoff ein Buch gemacht ist. Denn bei weitem nicht alle Romane bringen es im Laufe der Zeit zu Patina. Viele werden einfach grau, verstaubt und gehen in der Masse unter. Vielleicht wäre es im Interesse des Publikums wichtiger zu sagen, daß Martin Kessels Roman in jeder Hinsicht aktuell geblieben sei oder — noch besser — daß er erst jetzt seine höchste Aktualität erreicht habe. Das wäre nicht einmal unrichtig, wenn man sich zuvor über den Begriff Aktualität verständigte. Aber das gehört nicht hierher — wie der Autor zu sagen liebt —, denn wir behaupten, daß sein Roman weit bessere als eben nur aktuelle Qualitäten hat. Wir finden in ihm etwas wieder, was uns schon bei Swift, Jean Paul, Sterne, in gewissem Maße auch bei Jean Giraudoux und in dem Geburtenkapitel des „Ulysses" von James Joyce — kurzum, bei klassischen Humoristen begegnet ist. Der echte Humorist läßt sich von der Realität faszinieren, die er mit Argwohn und Spott auf ihre geistigen Prätensionen hin p r ü f t . Der Blick, den er auf Dinge und Verhältnisse wirft, ist der Blick des absoluten Geistes oder der unbedingten Norm — und natürlich gerät er dabei mit sich selber in Widerspruch, da ja auch er nicht nur in seinem Körper, sondern in einem Beruf und einem Lebensmilieu steckt. Davon macht auch Herr Brecher — das aller ego von Martin Kessel — keine Ausnahme. Was für den Kauz Schoppe in Romanen von Jean Paul das reine Ich war — jener dämonische Doppelgänger, den wir als ein Materialisationsphänomen der Fichteschen Philosophie ansprechen dürfen —, das ist für Herrn Brecher die „nackte Existenz." Als Angestellter einer Berliner Versicherungsfirma totalen Charakters zu sitzender Lebensweise verurteilt und in Webstuhl oder Tretmühle eines Büros verhaspelt, spricht er von dem utopischen Standort seiner reinen, aber unrealisierbaren Existenz ein kritisches Nein zu allen Dingen. Er ist kein Misanthrop, kein Revolutionär, kein Apostel: all das zu sein verbietet ihm die Wesensspaltung des Humoristen, der als sein eigener Doppelgänger sich selber zusieht und ohne die Realität, an der er sich aufstachelt, schlotternd im Nichts stände. Sein Name — Brecher — verdient keine geringere Beachtung als der Name „Leibgeber" bei Jean Paul. Denn „Leibgeber" heißt ja soviel, wie die natürliche Harmonie zwischen Körper und Geist leugnen. Der Humorist ist so frei, sich zwischen beide zu stellen und einem Charakter den Leib zu geben, den er nach seinem Dafürhalten haben müßte und der ihm am ehesten anstände. Die satirische Tierfabel hat hier ihren Ursprung. Und vielleicht fand darum Goethe, der Leibstolze, den Humoristen Jean Paul so ganz unleidlich. Der Name Brecher hat auch dergleichen Nebenbedeutungen. Wenn wir ihn ins Lateinische übersetzen und aus Brecher einen „Fractor" machen, so kommt das Refraktäre seines Charakters, der gleichwohl den Wahlumständen seines Daseins verhaftet bleibt, noch besser zum Ausdruck. Ein „Leibgeber" ist er nicht, denn von der idealistischen Philosophie wird er kaum angesteckt sein, und so zieht er sich nicht auf das „reine Ich", sondern auf die „nackte Existenz" zurück. Als Brecher durchbricht er allenthalben gewohnheitsmäßig hingenommene oder moralisch sanktionierte Bindungen. Er ist aber auch insofern eine Art Selbstbrecher, als er in jedem Augenblick sein reales Drum und Dran von einer reinen, aber fiktiven Seinsweise abscheidet. Es gibt ein paar erleuchtende Äußerungen über Herrn Brecher, und zwar aus dem Munde seiner scharfsichtigen Kollegen. „Brecher erinnert mich oft an Goethe und Schiller", sagt die gebildete Gudula ölten. „Dieser Mensch hat in seiner Natur etwas Gewaltsames; er handelt oft zu sehr nach einer vorgefaßten Idee, ohne hinlängliche Achtung vor dem Gegenstand, der zu behandeln ist." Freilich ist das nur die eine Seite der Sache, die einer humorlosen Person wie dieser Sekretärin, die unter Brechers Zy-
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