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Münchner Merkur Nr. 31 | Montag, 8. Februar 2016
WIE EINE FAMILIE MIT DER BEHINDERUNG IHRES KINDES UMGEHT
Im Blickpunkt
3
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Roland, der Fröhliche
Als Roland Krieger geboren wurde, gaben ihm die
Ärzte maximal ein paar
Jahre. Heute ist Roland
42. Er ist auch Spastiker
und Epileptiker. Deswegen pflegen seine Eltern
ihn, sein ganzes Leben
schon. Er ist ihr größtes
Glück, so wie er ist.
VON VALERIE SCHÖNIAN
Aßling – Im Frühjahr 1994
schiebt Gertrude Krieger einen Rollstuhl in ein Büro im
Landratsamt Ebersberg. Darin sitzt ihr Sohn Roland.
Gertrude Krieger ist eine Frau
um die 40, Roland Anfang 20.
Seine rechte Hand ist so abgeknickt, dass sie im rechten
Winkel zu seinem Arm steht.
Das Büro gehört dem Mitarbeiter des Amts, der Gertrude Krieger einen Brief geschickt hat. Betreff: Verstoß
gegen die Bauvorschriften.
Gertrude Krieger schiebt Roland am Schreibtisch vorbei
zum Fenster. Sie steht hinter
ihm, als sie fragt: „Darf mein
Sohn nicht aus dem Fenster
schauen?“ Sie zeigt auf die
Fensterbank, die Roland
knapp unter das Kinn reicht.
Der Mitarbeiter schweigt. Er
schaut zu Roland. Er sagt, in
diesem Fall sei das wohl was
anderes. Keine 2000 Euro
Strafe für die Kriegers.
Als Roland geboren wurde,
meinten die Ärzte, er wird
nicht alt. Es gab Momente, in
denen die Ärzte sagten, die
nächste Stunde ist entscheidend. Einmal sagte einer, dass
Roland nicht älter als vier
wird. Und dass die Kriegers
froh sein sollen. Dann könnten sie noch andere Kinder
bekommen, gesunde Kinder.
Roland ist heute 42 Jahre
alt. Er trägt Brille und
Schnurrbart. Sein roter Haar-
Jeder in der Familie
hat seine Aufgaben.
Das ist Roland wichtig.
ansatz hat sich mit den Jahren
nach hinten verschoben. Um
seinen Körper liegt ein Ledergürtel, der ihn im Rollstuhl
hält. Rolands Hand ist noch
immer oft so abgeknickt wie
damals im Landratsamt. Ohne, dass er das will.
Roland ist Spastiker. Seine
Muskeln verkrampfen manchmal, einfach so. Deswegen bewegt er seinen Kopf ständig
von links nach rechts, deswegen geht sein Blick oft an die
Decke, deswegen sind seine
Knie so eng aneinander gepresst. Manchmal verkrampft
auch Rolands Gehirn. Das ist
die Epilepsie. Dann wirft er
seinen Kopf nach hinten,
beißt seinen Kiefer zusammen
und für ein paar Minuten zittert sein ganzer Körper.
Das Leben jeder Mutter, jedes Vaters ändert sich mit einem Kind. Sie müssen ihm
helfen beim Anziehen, beim
Zähneputzen, beim Trinken
und Essen, beim Leben. Roland kann all das auch mit 42
nicht allein. Gertrude und
Franz Krieger pflegen ihn. Rolands ganzes Leben, zwei Drittel ihres eigenen Lebens. 24
Stunden, jeden Tag. Roland
entscheidet, wann Gertrude
und Franz Krieger ins Bett gehen, wann sie Freunde treffen.
Er bestimmt, wann sie in den
Urlaub fahren. Und wohin.
Und sie richten sich nach ihm,
wie sie ein Haus bauen: zum
Beispiel mit Fenstern, die so
niedrig sind, dass er hinausschauen kann. Egal, was die
Bauvorschrift sagt. Damit Roland vom Esszimmertisch aus
den Garten sehen kann.
Gertrude Krieger ist 64,
Franz Krieger 68 Jahre alt. Sie
war Schneiderin, er Computerspezialist. Sie schneidet Ro-
Das Leben jeder Mutter, jedes Vaters ändert sich mit einem Kind: Roland Krieger mit seiner Mama Gertrude daheim in Aßling, Landkreis Ebersberg.
lands Käsebrot in 36 Stücke, er
räumt den Tisch ab. Sie redet
gern, er nicht. Sie wäscht Roland morgens und abends, er
liest Geschichten vom Pumuckl vor. Jeder hat seine Aufgaben. Das ist Roland wichtig.
Als Roland auf die Welt
kam, war Gertrude Krieger
22, Franz Krieger 26 Jahre alt.
Da waren sie gerade drei Jahre verheiratet. Zwei Österreicher, die für den Job von
Franz Krieger nach München
gezogen waren. Sie lebten in
einer Wohnung im zweiten
Stock, ohne Fahrstuhl. Sie
wollten mehrere Kinder haben. Und Enkel. Irgendwann.
Roland war eine Frühgeburt. Deswegen der Sauerstoffmangel. Die ersten drei
Monate seines Lebens verbrachte er im Krankenhaus.
Doch zu spät, sein Gehirn
war geschädigt. Der Arzt sagte, dass Roland Spastik hat.
Gertrude Krieger wusste
nicht, was das ist. Roland ist
behindert, sagte der Arzt.
Roland ist ein Fröhlicher,
sagt Gertrude Krieger. Über
seinem Bett hängt ein Bild.
Ein Strauch, der sich nach
rechts krümmt, bestehend aus
vielen kleinen Rosen. Das ist
für Gertrude Krieger ihr
Sohn: auf den ersten Blick
nicht perfekt, aber tatsächlich
eine Sammlung kleiner Wunder. Roland lacht gern, so
laut, dass er seine Eltern damit jedes Mal selbst zum Lachen bringt. Er mag Musik,
morgens Bayern 1, abends einen österreichischen Sender
mit Volksmusik. Die Katze,
Pascal, 23 Jahre alt, mag er
nicht. Als sie einmal auf ihn
sprang, schubste er sie hinunter. Seitdem lässt die Katze
ihn in Ruhe.
Roland kann zeigen, wenn
er etwas nicht mag. Er kann
auch sprechen, seine eigene
Sprache. Gertrude und Franz
Krieger verstehen sie. Wenn
er dieses bestimmte „ja“ sagt
zum Beispiel, ein bisschen
höher als sonst, muss er auf
Toilette. Dann hievt Gertrude
Krieger ihn auf den Plastiksitz
über dem Toilettensitz, links,
rechts, vorne und hinten
Stangen, an denen sich Roland festhalten kann.
Nicht nur die Toilette, alles
in ihrem Haus ist an Roland
angepasst. Gertrude und
Franz Krieger haben es für
ihn gebaut, in Aßling im
Landkreis Ebersberg, nahe
München. Das Haus hat keine Stufen, selbst die Dusche
ist eben. Es ist groß. Überall
ist Platz für Rolands Roll-
stuhl. Das Haus hat einen Deckenlift, der aussieht wie eine
Schwebebahn. Damit kann
Roland vom Bett ins Bad gefahren werden. Das ist das
einzige, das die Krankenkasse
am Haus bezahlte. Den Rest
mussten die Kriegers selbst
aufbringen. Zehn Jahre lang
keinen Urlaub.
Im Garten steht ein kleines
Häuschen mit einer Woh-
nung. Für jemanden, der Roland einmal pflegen soll,
wenn Gertrude und Franz
Krieger das nicht mehr können. Der sich dann auch um
sie kümmern kann.
Noch pflegen die beiden Roland selbst. Jeden Morgen um
5 Uhr wecken sie ihn. Um halb
8 kommt der Bus, der Roland
in die Behindertenwerkstatt
nach Steinhöring bringt. Dort
ist er montags bis freitags. Roland isst dort, trifft seine
Freunde, sitzt bei den Betreuerinnen, wenn sie über ihre
Männer- und Kinderprobleme
reden. Und er arbeitet: Zwei
Mal in der Woche sitzt er für
ein paar Stunden neben der
Sekretärin. Wenn das Telefon
klingelt, schreit er auf und die
Sekretärin weiß: Zeit, den Hörer abzuheben. Während Ro-
INTERVIEW ________________________________________________________________________________________________________________
Selbstständiges Leben mit Behinderung: „Es scheitert am bezahlbaren Wohnraum“
Roland Krieger wird in der
Förderstätte Steinhöring betreut. Die gehört zum Einrichtungsverbund, der 1600
Betreuungsplätze im Raum
Erding und Ebersberg hat.
Ein Gespräch mit der Leiterin
Gertrud Hanslmeier-Prockl.
heim behalten. Wir versuchen, sie durch Tagesbetreuung so gut es geht zu entlasten. Wir bieten nicht das was
eine Familie bietet, aber wir
haben andere Qualitäten,
das Zusammenleben mit
Freunden zum Beispiel. Unsere Bewohner fühlen sich
bei uns zu Hause.
-
Was hat sich bei der Betreuung von Menschen mit
Behinderung in den letzten
Jahrzehnten getan?
Seit den 70ern sehr viel, bis
1969 gab es kein Bildungsrecht für Menschen mit Behinderung. Inzwischen hat
sich ein System entwickelt,
das sehr individuell hilft.
-
Wie wurden die Menschen zuvor betreut?
Bevor es Werkstätten oder
Schulen wie unsere gab, wurden die Menschen in großen
Anstalten vor allem versorgt.
Und viele wurden zuhause betreut: Die Familien haben
schon immer die Hauptlast getragen und standen oft alleine
da. Da hat sich viel gebessert.
Es gibt heute zum Beispiel
durch unsere Frühförderstellen Therapien sofort nach der
Geburt, um die Folgen der Behinderung zu mindern.
-
Förderung und Betreuung – inzwischen Standard.
Tun sich Familien immer
noch schwer, ihre Lieben in
fremde Hände zu geben?
Das ist ein sensibler Bereich.
Die Familien holen sich Unterstützung, aber es gibt viele, die ihre Kinder lange da-
-
Der Einrichtungsverbund
Steinhöring – oben ein Bild
vom Betreuungszentrum
– wurde 1971 gegründet.
Dazu gehören längst auch
Kinderhäuser, Schulen oder
Seniorentagesstätten. Links
Leiterin Gertrud HanslmeierProckl, unten Roland Krieger
mit Heilerziehungspflegerin
Hilde Orend, seiner Bezugsperson in Steinhöring. Sie
liest ihm ein Märchen vor.
Viele Eltern, die älter
werden, möchten ihre behinderten Kinder nicht alleine lassen. Was raten Sie?
Wir beraten die Familien
schon dahingehend, dass die
Kinder irgendwann ausziehen – das ist nun mal die Normalität. Und dann sind sie
auch nicht alleine, wenn die
Eltern nicht mehr da sind.
-
Reichen die Plätze?
Nein. Deshalb wollen wir
zum Beispiel in Grafing gerade ein neues Wohnhaus bauen. Wir haben ein sehr differenziertes System vom ambulant begleiteten Wohnen
über Außenwohngruppen in
verschiedenen Orten bis hin
zu größeren barrierefreien
Häusern. Wir versuchen an
Grundstücke heranzukommen, aber im Ballungsraum
München ist das extrem
schwierig. Auch im ambulant
begleiteten Bereich: Die
Wohnungen dürfen nur einen bestimmten Betrag kosten, dafür bekommt man im
Speckgürtel nichts. Vieles
scheitert schlicht am bezahlbaren Wohnraum.
Interview: Carina Zimniok
FOTOS (4): STEFAN ROSSMANN
land in Steinhöring ist, erledigen die Kriegers, wofür sonst
keine Zeit ist: waschen, abwaschen, Mittagsschlaf, Arzt,
Krankengymnastik für sich
selbst. Um 16.30 Uhr kommt
Roland nach Hause.
In Steinhöring fühlt sich Roland wohl. Er kennt die Betreuerinnen, sie ihn, sie reden
mit ihm und fördern ihn. Irgendwann soll Roland dort leben. Gertrude Krieger hat reserviert. Für die Zeit, wenn sie und
ihr Mann nicht mehr da sind.
Es gibt Momente, in denen
sich Gertrude Krieger fragt,
was wäre wenn. Wenn Roland
seine Mutter zum Essen einladen könnte, seinen Vater zum
Fußball. Wenn er einen Bruder
oder eine Schwester hätte.
Wenn die Kriegers Enkel hätten. Aber sie ist froh, dass Roland ist, wie er ist. Das betont
sie immer wieder, wenn es um
ihren Sohn geht.
Jedes Jahr an seinem Geburtstag, am 1. September, fahren sie zum Herbstfest nach
Rosenheim. Freunde sind dabei, die Roland schon sein ganzes Leben kennen. Die Kriegers reservieren seit 17 Jahren
immer den selben Tisch im
Festzelt: mit Blick auf die BlasKapelle. Es gibt Bier, Pommes
und Hendl. Der Kapellmeister
gratuliert Roland über das Mikrofon, dann spielen sie sein
Lieblingslied, den Bayerischen
Defiliermarsch. Alle Menschen im Zelt schauen dann
auf Roland. Der beugt seinen
Rücken, schreit, reißt seinen
Mund lachend auf, strahlt. Alle
lachen mit.
Gertrude Krieger sitzt am
Esszimmertisch, gegenüber
der zu niedrigen Fenster. Sie
erzählt, wie glücklich sie ist,
dass Roland genauso ist, wie
er ist – mit seiner Spastik, seinem Rollstuhl, seiner Epilepsie. Seiner Fröhlichkeit. Später sitzt ihr Sohn neben ihr
am Tisch und nimmt die
Hand seiner Mutter. Keine
Spastik, kein Verkrampfen,
ein bewusstes Zufassen. Und
wenn Roland da so sitzt, neben seiner Mutter, gegenüber
der Fenster, kann er hinaus in
den Garten sehen.