Inklusion und Veränderungspotentiale in der ambulanten

Inklusion und Veränderungspotentiale in der ambulanten Gesundheitsversorgung
Dr. med. Peter Potthoff, Mag. iur.,Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung
Nordrhein
Sehr geehrte Frau Staatssekretärin,
sehr geehrte Referenten,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich begrüße Sie herzlich hier im Haus der Ärzteschaft zur Fachtagung „Barrieren abbauen in
der Praxis“.
Wir alle wissen: Arztpraxen, die ohne Barrieren erreichbar und auch barrierefrei ausgestattet
sind, gehören als wesentlicher Baustein zu einer inklusiven Gesundheitsversorgung. Dazu
hat sich auch die Landesgesundheitskonferenz in ihrer Entschließung im Jahr 2013 klar und
deutlich geäußert.
Wir haben damit auf Landesebene noch einmal ein sichtbares Ausrufezeichen gesetzt. Zur
Erinnerung: Seit Beitritt der Bundesrepublik zur UN-Behindertenrechts-Konvention 2009 ist
der Anspruch von Menschen mit Behinderung auf „Inklusion“ geltendes Recht.
Die Verwirklichung von Inklusion – als Form der größtmöglichen Teilhabe – ist jedoch nicht
nur eine Frage der Anpassung von Bundes- und Landesrecht an die Vorgaben der UNKonvention. Als Jurist, der ich auch bin, sind mir rechtliche Kategorien durchaus nicht fremd.
Als Arzt weiß ich aber auch: Inklusion bedarf einer inneren Bereitschaft und der Empathie
aller Beteiligten. Und diese Voraussetzungen sind nicht mit Paragrafen zu erzwingen.
Inklusion braucht außerdem – bei aller Sympathie für visionäre Ansätze – einen Sinn für das
Machbare. Ich bevorzuge daher eher den Begriff „barrierearm“ an Stelle von „barrierefrei“.
Ich bin überzeugt: Wir erreichen am Ende mehr, wenn wir Ärzte und Psychotherapeuten für
konkrete – manchmal auch kleine – Maßnahmen gewinnen können, als wenn wir per Stichtag einen umfassenden, aber kaum erreichbaren Goldstandard zum Maßstab der Barrierefreiheit erklären und zur Pflicht für alle machen.
Das ist aus meiner Sicht schon deswegen nicht angemessen, weil wir im Gesundheitswesen
deutlich weiter sind als in vielen anderen Gesellschaftsbereichen: Wir haben in der Versorgung von Menschen mit Behinderung keine „Sondersysteme“ etabliert – abgesehen von wenigen Ausnahmen für Schwerst- und Mehrfachbehinderte, für die wir besonderes Know how
in besonderen Strukturen auch auf Dauer brauchen werden.
Grundsätzlich aber werden Menschen mit Behinderungen in „normalen“ Krankenhäusern
und „normalen“ Praxen untersucht und behandelt.
[01.09.2015]
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Neben der baulichen Zugänglichkeit unserer Praxen muss auch die Kenntnis darüber leicht
verfügbar sein. Für die Betroffenen und ihre Angehörigen ist es wichtig, dass sie aktuelle
Informationen über die Erreichbarkeit und über Ausstattungsmerkmale der Arztpraxen erhalten: Wo gibt es einen Behindertenparkplatz? Wo einen Aufzug? Wo zusätzliche Orientierung
für Menschen mit eingeschränktem Seh- oder Hörvermögen?
Diese Überlegungen haben uns dazu bewogen, in diesem Frühjahr über 13.000 nordrheinische Kolleginnen und Kollegen zum Status der Barrierefreiheit ihrer Praxen zu befragen,
einschließlich Zweigpraxen und sonstiger Räumlichkeiten, soweit dort Patienten untersucht
oder behandelt werden.
Um es vorwegzunehmen: Die Ergebnisse unserer Umfrage sind sehr erfreulich! Sie haben –
das war zu erwarten – bestätigt, dass wir in puncto Barriere-Abbau noch nicht das Optimum
erreicht haben. Aber: Wir sind viel weiter, als wir es nach unseren bisherigen Daten erhoffen
konnten.
Erstens: Fast 60% aller Praxen haben geantwortet. Dieser Rücklauf ist für freiwillige Befragungen ein absoluter Spitzenwert. Das allein zeigt schon, dass die Ärzte und Psychotherapeuten in Nordrhein das Thema „Barrierefreiheit“ ernst nehmen.
Zweitens: Aufgrund der Rückmeldungen können wir künftig über unseren Online-Arztfinder
deutlich differenziertere und vor allem aktuelle Informationen zur Verfügung stellen.
Und drittens – das habe ich bereits angedeutet – ist der Fortschritt in Sachen Barrierearmut
gegenüber unserer letzten Erhebung 2010 beachtlich und ermutigend:

Der Anteil der barrierearmen Praxen in Nordrhein hat sich in den letzten 5 Jahren
um rund 30 Prozentpunkte erhöht.
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In absoluten Werten ausgedrückt: Die Zahl der barrierearmen Praxen ist von
2.300 in 2010 auf 6.200 in 2015 gestiegen.

Weiterhin hat sich die Zahl der – im Sinne der einschlägigen DIN Norm – vollständig barrierefreien Praxen im selben Zeitraum verdreifacht.
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Besonders erfreulich finde ich zudem die Tatsache, dass nicht nur Neu-Praxen,
sondern auch sehr viele Bestandspraxen beim Abbau von Barrieren teils massiv
nachgerüstet haben.
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Aktuell haben mindestens 47 Prozent aller Praxen in Nordrhein einen barrierearmen Zugang und eine – wenn auch nicht umfassende – behindertengerechte
Ausstattung. Es dürfte aber auch Praxen geben, die uns keinen Fragebogen zurückgesandt haben, die aber trotzdem mehr oder weniger barrierefrei erreichbar
bzw. ausgestatte sind. Daher dürfte der tatsächliche Prozentsatz barrierearmer
Praxen sogar noch etwas höher liegen!
Die Ergebnisse unserer Umfrage zeigen klar: Die Ärzteschaft in Nordrhein ist sensibilisiert –
und vor allem: Sie ist engagiert, Barrieren – wo sie noch vorhanden sind – systematisch abzubauen!
[01.09.2015]
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Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Ich habe vorhin den Begriff des „Machbaren“ zitiert. Tatsache ist: Eine vollständige Barrierefreiheit nach bautechnischen und sonstigen Normen ist in der Praxis-Wirklichkeit nicht immer
erreichbar! Zum Beispiel in den Altstadtquartieren unserer Städte. Hier braucht es weiterhin
pragmatische und unbürokratische Ansätze.
Apropos unbürokratisch: Der Entwurf einer neuen Landesbauordnung aus dem Ressort von
Herrn Minister Groschek enthält in dieser Hinsicht Licht – aber auch durchaus Schatten:
Einerseits ist es zu begrüßen, dass künftig Praxen in Bestandsbauten Maßnahmen zur Modernisierung ergreifen können, ohne dass automatisch die uneingeschränkte Verpflichtung
zum barrierefreien Bauen greift. Zumindest dann, wenn dies – etwa in der eben zitierten Altstadt-Immobilie – nur mit unverhältnismäßigem Aufwand zu erreichen wäre.
Andererseits wird barrierefreies Bauen künftig bürokratischer und teurer: So muss künftig zu
jedem Bauantrag für eine Praxis zusätzlich die Bescheinigung eines „Sachverständigen für
Barrierefreiheit“ vorgelegt werden. Dieser Sachverständige hat auch den Baufortschritt unter
der Maßgabe der Barrierefreiheit zu überwachen. Zudem ist eine Beteiligung des örtlichen
Behinderten-Beauftragten bei jeder genehmigungspflichtigen Baumaßnahme vorgesehen.
Dabei bleibt der Gesetzgeber mit Blick auf den rechtlichen Charakter der Stellungnahme des
Behindertenbeauftragten äußerst vage.
Die geplanten Regelungen bedeuten daher nicht nur zusätzliche Kosten, sondern auch erhebliche Verfahrensrisiken für Ärzte und Psychotherapeuten als künftige Bauherren. Dies
bremst am Ende den barrierefreien Ausbau unserer Versorgungseinrichtungen statt ihn zu
fördern.
Doch zurück zur heutigen Veranstaltung: Schon mit kleinen Schritten können wir dem Ziel
einer barrierefreien Gesundheitsversorgung näher kommen. Wie das konkret geht, was dabei konkret zu beachten ist – und wohin die Reise in den kommenden Jahren gehen wird;
das wollen wir mit Ihnen gemeinsam in den nächsten zwei Stunden erarbeiten.
Ich danke Ihnen allen für Ihr Kommen und für Ihr Engagement, als Referent oder als Teilnehmer dieses wichtige Thema in Wort und Tat voran zu bringen. Ich wünsche uns einen
informativen und spannenden Nachmittag.
Ich freue mich besonders, dass Sie, Frau Staatssekretärin, ins Haus der Ärzteschaft gekommen sind, um die Vorstellungen der Landesregierung zum Thema Inklusion zu erläutern.
Frau Hoffmann-Badache, Sie haben das Wort.
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